Meer und Mond von Schangia (Am Rande des Abgrunds) ================================================================================ Kapitel 1: Freiheit und Abhängigkeit ------------------------------------ Grenzenlose Freiheit. Das war es, womit die meisten Leute das Meer in Verbindung brachten, wenn man sie spontan danach fragen würde. Denn für sie war es ungestüm und wild, war ungezähmt und ließ sich von keinem Menschen kontrollieren. Genauso wie der Horizont, der zwar immer zu sehen, aber niemals zu erreichen war. Rin war immer der Meinung gewesen, dass das eine Lüge war. Das Meer war nicht ohne Herrn, war nicht ungebunden, war kein Symbol der Freiheit, schon gar nicht der grenzenlosen. Jede Strömung, Flut und Ebbe, jede einzelne Welle unterlag dem Willen des Mondes, der das Meer so lenkte, wie er wollte. Und nur zum Spaß den Schein aufrecht erhielt, dass es frei war in dem, was es tat. Bis heute wusste er nicht, wer von ihnen der Mond und wer das Meer gewesen war. Rin war Harus Mond, war es immer gewesen. Doch Haru übte auch auf ihn die gleiche Kraft aus, wie der Mond auf das Meer. Vielleicht war diese Unschlüssigkeit, waren diese Zweifel der Grund dafür, dass er an diesem Abend am Strand seiner Heimatstadt saß, von einem großen Felsen aus das Meer beobachtete, wie es ruhig vor ihm lag und die Menschen glauben machen wollte, es sei sein eigener Herr. Noch war der Himmel von einem klaren Blau, nur vereinzelt gesprenkelt mit rosaroten und orangefarbenen Flecken, die so verloren zwischen den wenigen Wolken aussahen wie er sich fühlte. Zwar hatte das Meer ihn nie von seiner vorgetäuschten Freiheit überzeugen können, doch Rin hielt sich trotzdem gerne in seiner Nähe auf. Es beruhigte ihn. Der Gedanke daran, dass selbst so etwas Großes einer stärkeren Macht unterlag, half ihm dabei, mit seinen eigenen Problemen besser umzugehen. Außerdem erhöhte es seine Chancen, ihn zu treffen. Für gewöhnlich belächelte er die Leute nur, die Kommentare über seine scharfen Zähne machten. Die meisten glaubten, dass sein Spitzname ›Sharp Shark‹ allein von der Beschaffenheit seines Gebisses herrührte, doch das war nur die halbe Wahrheit. Entgegen seines Temperaments war Rin ein aufmerksamer Beobachter, konnte winzige Veränderungen spüren, wenn er sich denn die Mühe machte. Wenn er sich in der Nähe eines Gewässers befand, waren seine Sinne immer bis aufs Äußerste geschärft. So entging Rin auch nicht, dass er plötzlich hinter ihm stand. »Haru.« Der Name schmeckte seltsam auf seinen Lippen. Vielleicht, weil er ihn lange nicht in den Mund genommen hatte; vielleicht, weil er zu viele Erinnerungen mit ihm verband. Er drehte sich nicht um, sah nicht zurück, denn er wusste, dass er sich nicht irrte. Auch, wenn Haru noch nichts sagte. »Was suchst du hier?« Rin hätte alles dafür gegeben, wenn die Antwort auf seine Frage ›Dich‹ gewesen wäre, aber er war nicht so dumm das anzunehmen. So präsent ihm ihre Beziehung auch war, sie war Vergangenheit. Lag schon seit drei Jahren hinter ihnen, nachdem sie alles versucht hatten und dennoch gescheitert waren. »Ach, lass stecken. Ich weiß es eh.« Selbst als sie noch zusammen gewesen waren hatte Haru immer das Wasser vorgezogen, wenn er ihn gedrängt hatte zu wählen. Aber das war Vergangenheit. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. »Und du?« Haru kam langsam näher; ob aus freiem Willen oder weil ihn die Kraft des Mondes dazu zwang , wusste Rin nicht. Er wartete mit seiner Antwort, bis der andere sich neben ihn gesetzt hatte und ebenfalls aufs weite Meer hinaussah. »Nachdenken.« Sie schwiegen lange, sahen der Sonne dabei zu, wie sie langsam über den nicht mehr ganz so blauen Himmel tanzte und sich dem Horizont näherte. Bis Rin es nicht mehr aushielt und die Frage stellte, von der er wusste, dass sie unfair war, deren Antwort ihn aber gleichzeitig so sehr interessierte, dass er darauf keine Rücksicht nehmen wollte. »Sag, Haru. Wie hat es sich angefühlt?« »Was?« Rin hatte ihn noch kein einziges Mal angesehen, doch Haru bemerkte das gequälte Lächeln auf seinen Lippen, als er fortfuhr: »Mich in einem Rennen zu schlagen.« ›Mir mit einem Mal die beiden Dinge zu nehmen, die mir immer am wichtigsten gewesen waren‹ war der Vorwurf, der ihm aus jedem Wort entgegenschrie und ihn sprachlos machte. »Ich...« Er wollte nicht zu einer Antwort ansetzen, konnte das noch gar nicht, doch er wollte Zeit gewinnen. Zeit, die Rin nicht gewillt war ihm zu geben. »Hat es dir Spaß gemacht? Hast du hinterher mit den anderen über mich gelacht?« Noch immer sah er ihn nicht an, und Haru war froh darüber. Allein die Tonlage des anderen bewirkte, dass er sich in die Ecke gedrängt fühlte und nach Ausflüchten suchte. »Du hast unser letztes Rennen gewonnen.« »Bei deiner Kondition ist das auch keine Kunst!« Nun sah Rin ihn an, sah ihn an mit Augen, die Funken sprühten vor Wut und Vorwurf und ein bisschen Traurigkeit. Haru war schon immer ein schlechter Lügner gewesen, und so blieb er still, sah zur Seite und hoffte, dass Rin ihn nicht zwang, etwas dazu zu sagen. Nach einigen Augenblicken seufzte Rin. »Vergiss es. Warum sollte ich mit dir darüber re—« »Ich habe meinen eigenen Weg gefunden«, unterbrach Haru ihn mit leiser, aber fester Stimme. »Huh?« Als Rin ihm nur mit Unverständnis begegnete, wandte er sich ihm zu und sah ihn mit einem Blick an, von dem er hoffte, dass er all die Entschlossenheit zeigte, die er gerne gefühlt hätte. »Meinen Weg in die Freiheit.« Darauf schwiegen sie wieder, doch ihr Blickkontakt brach nicht ab. Aufmerksam beobachtete Haru, wie sich erst Unglaube, dann Angst und schließlich Ernst auf dem Gesicht des anderen zeigten, ehe er die Brauen zusammenzog und ihm Worte entgegenspie, mit denen er nicht gerechnet hatte: »Also denkst du, dass du mich nicht mehr brauchst.« Der Schock stand Haru ins Gesicht geschrieben. Er hatte den Gedanken daran, dass seine Freiheit und eine Beziehung zu Rin sich ausschließen könnten, bisher immer verbannt. Unbeholfen versuchte er, die Situation zu retten. »Das habe ich nicht gesa—« »Es ist offensichtlich.« Rins Worte ließen keine andere Interpretation zu, und so verfielen sie wieder in unangenehmes Schweigen, das dennoch keiner der beiden zuerst brechen wollte. Mittlerweile hatte die Sonne den Horizont erreicht, verabschiedete sich mit einem Meer aus Rottönen, das hinab in den Ozean blutete und ihm die gleiche Farbe verlieh. Irgendwo am Himmel musste sich schon die blasse Silhouette des Mondes abzeichnen, doch alles in Rin sträubte sich, danach Ausschau zu halten. Er dachte zurück an die Zeit, in der sie noch zusammen waren. Noch kein Paar, sondern nur zwei Freunde, die vom ersten Moment an miteinander verbunden gewesen waren. Schon damals war es ihm ein Rätsel gewesen, wer das Meer und wer der Mond war. Es war auch nicht von Bedeutung gewesen; in Freundschaften war es das nie. Erst, als die beiden erkannt hatten, dass Liebe nach anderen Regeln spielt als Freundschaft, war das Verhältnis von Freiheit und Abhängigkeit für sie zum Problem geworden. »Dein eigener Weg, pah. Du kannst alleine nicht bestehen, Haru.« Rins Stimme klang rau, als er nach einer gefühlten Ewigkeit wieder zu sprechen begann. Er schloss die Augen, weil er sich sicher war, Harus Gesicht nach seinen nächsten Worten nicht sehen zu wollen. »Ich habe dich immer begleitet. Ohne mich verirrst du dich.« »Ich will nicht mehr begleitet sein. Auch nicht von dir.« Es war nicht mehr als ein lächerlicher Versuch, Distanz zwischen sich und Rin zu bringen; eine Lüge, die sie beide bereits entlarvt hatten, noch bevor er sie überhaupt ausgesprochen hatte. Etwas leiser fügte Haru hinzu: »Ich muss mich nicht mehr leiten lassen.« In jeder Silbe schwang die Hoffnung mit, auch alleine stark genug zu sein. Obwohl er diese Hoffnung heraushörte, hielt Rin sich nicht davon ab, spöttisch aufzulachen. »Sich von der Welt abzukapseln ist nicht das Gleiche wie Freiheit! Mit deiner Unnahbarkeit schadest du den Menschen mehr, als dass du ihnen und dir selbst hilfst!« »Woher willst du das wissen? Du bist damals einfach gegangen!« Haru war selten wütend, und wenn er es war, dann nur vor Rin. Er fuhr herum und funkelte den anderen an, wollte ihn anschreien dafür, dass er nicht an ihn glaubte. »Wir haben uns getrennt, weil wir uns nicht gut getan haben.« Seine nächsten Worte würden Rin reizen, würden ihn nur weiter verletzen, das war ihm klar, doch darauf konnte er nun keine Rücksicht nehmen. Selbst dann nicht, wenn er nicht hinter dem stand, was er sagte. »Lassen wir es von nun an gut sein.« »Wir sollen es gut sein lassen? So tun, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen?« Sein Gelächter täuschte nicht über die Panik in seinen Augen hinweg, doch Haru war schlau genug, das nicht anzumerken. »Und wie willst du das anstellen, Haru? Du hast dich in mich verliebt, weil es Freiheit ohne mich nicht gibt. Du brauchst mich, um frei zu sein.« Es war die Wahrheit. Ihre hässliche, ungewollte Wahrheit, der sich keiner von beiden entziehen konnte. »Ebenso wie ich dich brauche, um weiterzumachen.« Rin sprach die Worte ganz leise aus, aber Haru hörte sie dennoch. Sie waren der zweite Teil ihrer Wahrheit. Danach schwiegen sie wieder, litten beide unter der Schwere der Stille. Sie wollten etwas sagen, wollten das Richtige tun, doch weder Rin noch Haru wusste wie. Rückblickend war es fraglich, ob sie jemals das Richtige getan hatten. Ob ihre Beziehung, ihre Freundschaft, ihr Aufeinandertreffen nicht ein einziger, schrecklicher Fehler gewesen war, der ihnen mehr Leid als alles andere gebracht hatte. »Ich habe dir damals weh getan«, gestand Haru sich und ihm irgendwann ein, während er der Sonne dabei zusah, wie sie langsam starb. Rin nickte nur. »Hast du, ja.« »Deswegen habe ich aufgehört, an Wettbewerben teilzunehmen.« »Weiß ich.« Der Anblick des Meeres und des sterbenden Himmelskörpers machte ihn krank. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Und ich kann nicht aufhören, gegen dich anzutreten.« »Obwohl es dir nicht gut tut.« »Für unser Alter sind wir ganz schön kaputt, meinst du nicht auch?« Schwach lächelnd tastete er nach dem festen Gestein unter sich, gab sich kurz der Überlegung hin, ob ein Felsen nicht freier war als das Meer. »Ich brauche dich nicht mehr.« Haru sprach mit Nachdruck, so als wäre Rin nicht die einzige Person, die er damit überzeugen wollte. Aber beide wussten, dass er niemanden mit so einer Lüge überzeugen konnte. »Doch, brauchst du.« Als Rin etwas Warmes an seiner rechten Schulter spürte, öffnete er die Augen wieder und beobachtete immer noch lächelnd, wie Haru sich an ihn lehnte. »Ich kann auch alleine bestehen.« Schwarze Haarsträhnen kitzelten ihn am Kinn. »Kannst du nicht.« »Ich will dir nicht mehr weh tun. Nicht noch einmal.« Es war nur ein Flüstern, kaum hörbar über das stete Rauschen der Wellen. Für einen Moment überlegte Rin, was er darauf erwidern konnte, ohne entmutigend zu klingen, doch ihm fiel nichts ein. Stattdessen suchte er mit den Fingerspitzen nach Harus Hand und umschloss sie schließlich mit festem Griff, sobald er sie gefunden hatte. »Wirst du aber. So wie ich dich auch wieder verletzen werde.« Die Sonne war untergegangen. Ein letzter blutroter Schimmer an der Grenze zwischen Himmel und Meer war der einzige Kontrast gegen das dunkle Blau hoch über ihnen. Rins Blick war weiterhin starr auf den Horizont gerichtet, denn nur so konnte er verhindern, den Mond ansehen zu müssen. Sie waren mit den verstreichenden Minuten immer näher zueinander gerückt. Harus Verstand begründete das mit dem auffrischenden Wind, doch sein Herz wollte ihm beharrlich andere Gründe für seine Gänsehaut nennen. Irgendwann legte er seinen Kopf auf Rins Schulter, ob aus Gewohnheit oder aus Einsamkeit konnte er nicht sagen. »Haru?« Auch ohne ihm ins Gesicht zu blicken wusste er, dass Rin lächelte. Seine Stimme verriet es ihm. »Hmm?« »Wenn wir beide nicht frei sein können ohne den anderen, wollen wir dann nicht lieber weiterhin voneinander abhängig sein?« Nachdenklich legte Haru die Stirn in Falten, zögerte. Die Richtung, die ihr Gespräch schon vor einiger Zeit eingeschlagen hatte, war eine völlig falsche. Sie führte in eine Sackgasse. So konnte es nur enden, wenn sie zusammen waren. »Wir sind beim letzten Mal gescheitert. Warum sollte es jetzt funktionieren?« »Weil ich dich brauche, Haru«, gestand Rin leise, drehte den Kopf so, dass er nicht mehr das Meer, sondern seinen Freund ansah. Der Griff um seine Hand wurde fester, verzweifelter. »Und du brauchst mich.« Schweigend blickte Haru hinab auf ihre Hände, verlor sich in dem vertrauten Gefühl von fremden Fingern um seinen. Er hatte seine Entscheidung schon lange getroffen, nicht mit dem Kopf, aber mit dem Herzen. Lautlos seufzend festigte auch er seinen Griff, hob Rins Handrücken an seine Lippen. »Das hat nichts mit Freiheit zu tun...«, nuschelte er gegen die weiche Haut, ehe er die Augen schloss und nicht mehr darüber nachdenken wollte, dass er schon wieder gelogen hatte. Natürlich hatte ihre Beziehung mit Freiheit zu tun. Ebenso sehr, wie sie nichts anderes war als ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen zwei Menschen, die zu kaputt waren, um ohne einander zu funktionieren. Denn die schönste Form der Freiheit war die freiwillige Abhängigkeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)