High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 1: Der Typ, der den Wind riechen kann. ---------------------------------------------- Wenn sie ein Tagebuch geschrieben hätte, dann hätte der heutige Eintrag wohl so geklungen (selbstverständlich mit niedlicher Stimme nachgesprochen): „Liebes Tagebuch, heute ist der erste Tag nach den Sommerferien. Die Sonne scheint und es weht ein lieblicher Wind, der die ersten Herbstblätter von den Bäumen fallen lässt. Ich bin schon ganz nervös, denn heute beginnt mein neues Leben. Heute werde ich zum ersten Mal auf meine neue Schule gehen. Denn ich bin 15 Jahre alt, weiblich, gut aussehend (so mehr oder weniger) und voller Entschlossenheit neue Kontakte zu knüpfen und viel zu lernen Bis bald, deine Wendy!" … Nur hatte diese Sache einen Haken: Erstens konnte sie die Sonne nicht ausstehen – wie das nun einmal so war, wenn man helle Sommersprossenhaut hatte und nach zwei Minuten in der Sonne so rot war wie eine Krabbe in kochendem Wasser – und zweitens war ihr so überhaupt nicht danach neu anzufangen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit all ihren Freunden auf dieselbe Oberschule zu gehen, doch hielten es ihre Eltern es für das Beste, sie auf die altehrwürdige private Bonzen… – nein, Oberschule – zu schicken, wo Fossilien – ähem, Lehrer – unterrichten, die selbst ihre Eltern schon unter ihren Fittichen hatten. Der Mief des Alten und Abgenutzten stand in den Gängen wie ein ungewaschener Vorhang vor dem Fenster und egal wo man nur hinsah, nur glückliche Gesichter der langweiligsten Streber der Welt. Wie hieß es so schön? Man war im falschen Film? Wohl eher in der schlechtesten Serie, die sich die Autoren von Privatsendern so ausgedacht hatten. So schlecht, dass sie weit nach Mitternacht lief, wenn ohnehin nur Arbeitslose und schlaflose Mütter vor der Glotze abhingen und es im Grunde nur taten, damit sie wieder einschlafen konnten. Wendy seufzte langgezogen und verdrehte für einen Moment hinter geschlossenen Lidern die Augen. Je länger sie hier stand, desto stärker spürte sie den eisigen Hauch der Verwesung, der von der ganzen Schule Besitz ergriffen hatte, als stünde diese kurz vor einer Zombieapokalypse. Auch die Anzeigentafel, auf der die neuen Klassenlisten aufgehängt waren, hatte seine besten Zeiten schon lange hinter sich gebracht und war vor lauter Löchern und abgeblätterter Farbe nur noch dem Namen nach ein „schwarzes“ Brett. Wendy kniff die Augen zusammen und suchte unter dem Haufen von Klassenlisten ihren Jahrgang. Wenigstens das war ein Vorteil dieser Schule: Sie war so groß – und das lag nicht nur daran, dass es viele Schüler gab, sondern war auch der der Tatsache verschuldet, dass man es für das Klügste gehalten hatte, die ganze Schule in einer alten Ritterburg zu errichten – dass sie auf keinem Fall Gefahr laufen konnte negativ aufzufallen. Denn mit Sicherheit – und das wollte sie doch hoffen – gab es immer jemanden, der noch mehr Mist bauen konnte als sie selbst. Darauf drei Kreuze! Warum war es nur so schwer seinen eigenen Namen zu finden? O'Callaghan war zwar kein Allerweltsname, doch würde wohl niemand auf die Idee kommen ihn mit einer „0“ anstatt einem „O“ zu schreiben. … Oder etwa doch?! Gelangweilt trabte sie von Klassenliste zu Klassenliste. A-Klasse, B-Klasse, C-Klasse, … Ein Zucken ging durch ihre Schläfe. Also doch! Nicht nur, dass man sie in die D-wie-Deppen-Klasse gesteckt hatte, nein, man hatte sich auch noch verschrieben und sie ab dem ersten Tag ihres neuen Highschool-Lebens als Null gebrandmarkt. Böse, grausame Welt. Fehlte bloß noch, dass Koteletti oder Zahnspange aus ihrer alten Schule plötzlich neben ihr auftauchten und sie freudestrahlend mit einer dicken, fetten und herzlichen Umarmung begrüßen würden. „Wendy, ja das ist aber auch ein Zufall, du bist auch hier?!“ Nicht… umdrehen… Tief durchatmen. Stur lächeln und winken. „Was für eine Überraschung! Thorsten!“ Thorsten Odelssohn. Auch genannt: der Stinker. „Wendy, ich wollte dich fragen, ob…“ Ein tödlicher Blick folgte. Das Pochen hinter ihrer Schläfe nahm zu, während sie mit zusammengebissenen Zähnen herauspresste: „Versuch es erst gar nicht. Ja. JA?!“ Thorsten erschauderte, als er in Wendys hervorquellende Augäpfel blickte. „Ich kenne dich nicht. Und du kennst mich nicht. Ist. Das. Klar?“ Er nickte nervös und versteckte sich hinter seiner Schultasche. Was für ein Opfer! Sie knackte mit den Fingern. „Und solltest du jemals auf die Idee kommen, mich wieder auf diese Weise anzusprechen, dann zeige ich dir gerne mal ein paar Techniken, die mir mein Vater beigebracht hat, verstehst du?“ Thorsten schluckte, nickte ein weiteres Mal unruhig mit dem Kopf und wandte sich zitternd ab. Na toll! So wie der die Beine zusammenkneift, hat der sich bestimmt eingepinkelt! Wieder seufzte Wendy langgezogen und begann den Korridor entlang zum Klassenzimmer der D-Klasse zu schlurfen. Mit jedem Schritt nahm der muffige Gestank zu. Und wie es nicht anders zu erwarten war, war auch das Klassenzimmer so tief wie ihre Stimmung: im Keller. Über ihr das hohe Deckengewölbe aus unverputztem Gestein, unter ihr ein rissiger Parkettboden, auf dem eine Staubschicht lag, die so dicht war, als hätte man ihn jahrelang nicht mehr gewischt. Und die Bänke erst! So alt, dass auf ihnen Einkerbungen wie „Siegfried + Roy, 1950“ standen. Jemand klopfte auf das Pult und räusperte sich. Genervt hob Wendy den Kopf. Selbst der Klassenlehrer schien aus dem letzten Jahrhundert – ach was, Jahrtausend – zu sein und so wie er zitterte und ächzte, brauchte er bestimmt Melissengeist in seinem entkoffeinierten Kaffee und Einreibungen aus Latschenkiefernöl, um sich jeden Morgen vom Totenbett hochzudopen. „Liebe Klasse 1D“, fing er an mit einer Stimme, die so dünn und schwach klang, dass es augenblicklich mucksmäuschenstill wurde – selbstverständlich nicht aus Interesse am Gesagten, sondern lediglich zur Steigerung des Hörverstehens – „ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die wir euch bereiten müssen.“ Ja ja, mach' hin Alter. Und wisch' dir den Sprechkäse aus den Mundwinkeln. Ist ja nicht auszuhalten! „Dieses Jahr hat unsere altehrwürdige und renommierte Gebrüder Wright Schule besonders viele Neuzugänge zu verzeichnen, weswegen wir leider mit diesem Raum hier vorlieb nehmen müssen, bis man uns im Frühjahr nach den Abschlussprüfungen des aktuellen dritten Jahrgangs ein besseres Zimmer zuweisen kann.“ Ein Raunen der Entrüstung ging durch die Klasse. Wendy stützte den Kopf auf die Hände und blickte die kahle Wand an, um nicht länger die Sabberfäden vom Kinn des Lehrers tropfen sehen zu müssen. Wenigstens ist die Aussicht aus dem Fenster gut. Ach! Hier gibt es ja nicht mal Fenster! Was für ein Zufall! Ihr Zynismus war so beißend, dass er jedes lasche Toastbrot zu Fuß erledigt hätte. „Still, still!“, zitterte die Stimme des Lehrers. Kurz darauf formte sein fast zahnloser Mund ein Lächeln. „Wir werden einfach das Beste aus dieser Situation machen. Und jetzt … entschuldigt mich.“ Er griff sich an die Brust, atmete einmal tief ein und sagte dann nüchtern: „Ich habe einen Herzinfarkt.“ Das dumpfe Klatschen seines nach vorn gebeugten Körpers auf das Pult ließ Wendy für einen kurzen Moment aufschrecken. Alles wurde plötzlich ganz hektisch. Man riss die Tür auf und Schüler, die schon vom Aussehen her den Stempel „Streber“ und „Klassensprecher“ verdient hatten, stürmten hinaus und holten Hilfe. Wendy hingegen streckte sich, gähnte einmal kräftig, verzog die Mundwinkel zu einem süffisanten Lächeln und sagte zu sich selbst: „Das ist der beste erste Schultag, den ich je hatte!“ Es war kaum zu glauben, dass es sie gab. Doch sie war da, selbst an einer so großen Schule. Die Rede ist von Stille. Stille, wie sie in alten Gemäuern vorkam: Hallende, tickende Standuhren, das Knarzen und Ächzen im Gebälk, romantisch knisternde Kaminfeuer, … Das alles gab es nicht. Es gab nur eine alte Bibliothekarin, verschrumpelt wie eine getrocknete Pflaume, die jeden, der es nur wagte den Mund zu öffnen mit ihren flaschenbodendicken Brillengläsern anstarrte und wortlos den Zeigefinger an die Lippen legte. Alles in allem war die Schulbibliothek also ein ziemlich langweiliger Ort, an dem mit Sicherheit nichts passieren konnte, was Wendy auf irgendeine Weise zu einer Katastrophe machen konnte. Die Bücherregale waren so vollgestopft, dass sie vor Gewicht fast schon im Fußboden versanken und die meisten Bücher so unappetitlich und verstaubt, dass sie niemand auch nur mit spitzen Fingern anfassen wollte. Der perfekte Ort also, um die Zeit bis zur Vertretungsstunde totzuschlagen. Eigentlich wollte Wendy in Ruhe die neueste Ausgabe der „Monthly Wrestling“ lesen, doch der Blick von Fräulein Trockenpflaume in ihrem Nacken ließ sie rastlos die Gänge auf- und abwandern. Jeder Schritt verursachte ein lautes Knarzen, sodass es unmöglich war, sich unauffällig in eine Ecke zu verkriechen und die Zeitschrift auszupacken. Naja, vielleicht gab es unter all diesen Wälzern und Schinken ja doch ein Exemplar, das nicht unter ihren Fingern zerbröselte und sich gut als Versteck für ein Sportmagazin eignete… Sie kniff die Augen zusammen und legte den Kopf in die Seite, um zumindest dem Anschein nach die Buchtitel lesen zu können, doch keines schien groß oder stabil genug für ihre Zwecke zu sein. Argyrographie des Grauens, Quarternio und Sedez im Fokus der Gesellschaft, Tantiemen individuell reorganisiert, Inklusive Pädagogik mit Hühnern, Hunden und Alpakas. Ist das überhaupt meine Sprache? Fast war es ihr, als wollte sich ihr Gehirn im plötzlichen Fluchtreflex vor so viel geballter Intellektualität verflüssigen und durch die Nase hinaus auf den Boden tropfen. Oh Mann… Vielleicht hatte das ja doch einen Grund, dass sie mich in die D-Klasse gesteckt haben! Doch dann entdeckte sie doch noch etwas. Ganz hinten in der letzten Reihe stand ein Buch in passender Größe mit dunkelbraunem Ledereinband, auf das in teilweise abgeplatzten Goldlettern Folgendes geschrieben stand: Wind – Die Chronik der Drachenritter. Wendy zuckte mit den Schultern und befreite den Folianten aus dem Klammergriff des Regals, klopfte den Staub von seinem Deckel und wollte es gerade aufschlagen, als sie ein seltsames Geräusch vernahm. Sie spitzte die Ohren und blickte sich um. Was ist das nur? Stille. Ich frage mich… Das kann doch nicht sein, dass hier jemand ist. Bei dem Boden würde selbst eine Maus noch Lärm machen… Dann wieder: Ein leises, fast nicht hörbares Schnüffeln. Wendy kniff die Augen zusammen und schärfte ihre Sinne. Eins… Zwei… Drei!! Sie schnellte herum, um dem plötzlich aufgetauchten Angreifer ihren Ellenbogen in die Rippen zu stoßen, doch bevor sie ihre Bewegung vollenden konnte, packte man sie rabiat am Nacken und zog sie am letzten Bücherregal vorbei in einen kleinen Raum. RUMMS! Die Tür knallte ins Schloss. Für einen kurzen Moment war es finster, dann zog jemand an einem Schalter und eine Glühbirne an der Decke verströmte schummeriges, gelbes Licht. Draußen blickte die Bibliothekarin von ihrer Lektüre auf, rückte die Brille zurecht und zuckte mit den Schultern. Schüler… „Sag' mal, was fällt dir eigentlich ein? Hast du sie noch alle, mich hier in die Besenkammer zu ziehen?!“ blaffte Wendy ihren Entführer an, hielt dann aber für einen Moment inne und hob eine Augenbraue. „Also wenn du glaubst, dass rosafarbene Stirnbänder an Kerlen gut aussehen, dann muss ich dich leider enttäuschen!“ Der blonde Junge schnaubte vor Entrüstung und stemmte die Hände in die Hüften. „Prego? Dieses wunderschöne Stirnband ist nicht rosa, es ist lachsfarben! Ca-pi-sce?!“ Mit jeder Silbe kam er Wendy näher. Als er schließlich nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt war, schloss er die Augen, atmete tief ein und sagte verträumt: „Bellissima, deine kupferroten Haare riechen wundervoll nach gebratenem Speck!“ „WIE BITTE?!“ Wendy stieß ihn vehement von sich weg, sodass er gegen das Regal mit den aufgestapelten Putzutensilien fiel. Mehrere Lappen purzelten herunter. „Ich esse jeden Tag ein gesundes und gehaltvolles Frühstück! Wie meine Haare riechen geht dich ja wohl einen feuchten Dreck an!“ Ihre Stimme überschlug sich. Ein Freak. Mit 100-prozentiger Sicherheit ein Freak. Er lächelte, fuhr sich durch das blonde Haar und hob das Buch auf, welches Wendy vor lauter Schreck fallengelassen hatte. Oh nein. Jetzt fängt der auch noch an zu glitzern! Ich glaube, mir wird schlecht! „Du bist heute zum ersten Mal an unserer Schule und hast auf Anhieb die Chronik der Drachenritter gefunden, fantastico!“ Wendy verschränkte die Arme und legte skeptisch den Kopf schief. „Was redest du denn für einen Stuss?“ Es wurde echt immer besser. Erst wurde sie in die D-wie-Deppen-Klasse gesteckt (zum Glück war ihr wenigstens dort Thorstens Anwesenheit verwehrt geblieben), dann bekam der Klassenlehrer einen Herzinfarkt und jetzt war sie schon mit einem scheinbaren Geruchsfetischisten, der ein tuckiges Stirnband trug, Sterne sprühte und irgendwelches Kauderwelsch laberte, von dem sie nichts verstand, in der Besenkammer gelandet. Hoffentlich bin ich heute Abend noch Jungfrau! Der seltsame Typ strich über den Buchrücken und fuhr mit fast schon unheimlich ruhiger Stimme fort. „Du hast den Test bestanden. Unter all diesen Büchern hast du den Ruf dieses einen Buches vernommen.“ Was für ein Idiot. Definitiv. Am Ende verknalle ich mich noch in den! „WIE BITTE?!“Das war Zufall! Und nichts anderes!“ Sie war genervt. Sie wollte nur raus aus dieser Besenkammer und zurück in das staubige, muffige Keller-Klassenzimmer, das ihr auf einmal seltsam wohlig und angenehm vorkam. „Ma si! Ich habe mich entschieden“, fuhr er fort und nahm eine theatralische Pose ein. „Du gehörst zu den Auserwählten. Du wirst ein Mitglied in unserem Lenkdrachenclub werden!“ „WIE BITTE?!“ Zum dritten Mal. Staub rieselte von der Decke, als wäre er durch ihre laute Stimme aufgeschreckt worden. „In dir schlummert ein echter Drachenkämpfer. Dafür bürge ich mit meinem Namen.“ Dafür bürge ich mit meinem Namen! Hört der sich überhaupt zu? „Und ich … heiße Tornado Balotelli!“ Kapitel 2: Die Unterhosenwette ------------------------------ Spinner. Idiot. Penner. Wendy war fast schon erleichtert, als sie dem Klammergriff der Besenkammer entkommen und wieder in die schummerige Gruftigkeit des Klassenzimmers zurückkehren konnte. Es hatte sich etwas verändert. Sauber war das Zimmer zwar immer noch nicht, aber der tatterige Klassenlehrer wurde inzwischen gegen eine junge und verunsicherte Referendarin ausgetauscht, deren Brüste so groß waren, dass sie bei jedem leisen Zittern ihrer Stimme nervös auf- und abwippten. Aber was interessierte sie das? In Gedanken war sie noch immer bei dem gar nicht romantischen Intermezzo mit Mister Stirnband Balotelli in der Besenkammer. Zuerst hatte sie ihn noch zurückgewiesen, sich gewehrt gegen die heißen Avancen, die er ihr machte, doch dann war sie schließlich doch schwach geworden. Hatte zugesagt, dass er sie mitriss in seinen Strudel der Leidenschaft und des Wahnsinns, dort in der dunklen Enge zwischen Putzlappen und Scheuermittel. Was war geschehen? Sie hatte sich auf eine Wette eingelassen. „Ecco! Jetzt sieh' mich nicht so seltsam an. Ich kann riechen, dass in dir ein wahrer Drachenkämpfer steckt, auch wenn der Zweifel in dir noch überwiegt. Und deshalb...“, er machte eine kurze Pause und wischte sich den Staub von den Schultern, „...will ich dir ein Angebot machen, dass du nicht ablehnen kannst.“ „Ich lehne aber ab!“, kam es prompt zurück, doch bevor Wendy ihrem Unmut weiter Luft machen konnte, fuhr Tornado fort. „Dass es heute sehr windig ist, wirst du wohl schon gemerkt haben, Windy. Deshalb wette ich mit dir, dass ich heute nach der Schule mehr Unterhosenfarben der vorbeilaufenden Mädchen erraten kann, als du es wirst.“ Was hatte sie gerade gehört? Ein Ratespiel, wer die meisten Mädchenslips richtig benennen konnte, bevor der Wind ihnen die Röcke hoch wehte? Wendy schnaubte leise. „Erstens heiße ich Wendy, nicht Windy. Wendy! Merk. Dir. Das. Und zweitens... Dir ist schon klar, dass ich auch ein Mädchen bin, oder? Wenn hier jemand also Ahnung davon hat, was Frau so untendrunter trägt, dann bin das wohl ich!“ Tornado schmunzelte und hielt ihr die Hand hin. „Also gilt unser Deal als abgemacht? Wenn ich gewinne, dann musst du unserem Drachenclub beitreten. Basta!“ Sie schlug ein. „Abgemacht! Und wenn ich gewinne... dann wirst du nie wieder rosafarbene Stirnbänder tragen!“ Ihr Blick glitt zur Wanduhr, die über der alten Schiefertafel angebracht war. „Um Punkt 16 Uhr hinter der großen Eiche am Schultor. Und komm' nicht zu spät, sonst verpasst du das Beste!“ Warum? Warum in aller Welt hatte sie nur dieser hirnrissigen Idee zugestimmt? Unterhosen erraten. UNTERHOSEN! Sie schlug die Hand vor die Stirn. So war das nicht geplant, nie und nimmer! Sie wollte eigentlich etwas ganz anderes machen. Zum Beispiel Karate. Sumoringen. Jiu Jitsu. Eben das, was man als taffe und unabhängige Oberschülerin so machen musste, um sich nach einem anstrengenden Schultag mal so richtig abzureagieren. Und auf was lief es hinaus? Einen Drachenclub. Mit Sicherheit einer von dieser Sorte, bei dem man mit popeligen selbst gebastelten Lenkdrachen aufeinander losging und mit pseudocoolen Sprüchen wie „Lift 'em up!“ und „Ich werde dich aus der Luft verbannen!“ um sich schmiss, so wie es die verrückten Jungs – Und, ach, was spielte es denn für eine Rolle, es jetzt noch zu verbergen, sie auch! – aus ihrer alten Schule immer getan hatten. Sie seufzte. Naja. Wenigstens keine Kampfkreisel oder langweilige Sammelkartenspiele, die nur etwas für unsportliche Sesselfurzer waren. Ach. Sie würde es diesem Stirnbandheini schon zeigen. Was konnte ein Junge schon über die Unterhosen von Mädchen wissen? Auslachen würde sie ihn. In den Boden treten mit ihrer niederschmetternden Genauigkeit. Und dann... Ja dann würde sie dem Karateclub beitreten und alle würden Angst vor ihr haben, wenn sie nur mit den Fingerknochen knackte. Der Gedanke daran gefiel ihr so gut, dass sie leise zu lachen begann. Wie weggeputzt war das unangenehme Gefühl, dass sie seit heute Morgen begleitet hatte. Sie ballte die Faust und raunte leise: „Und wie ich es dir zeigen werde, Stirnband Balotelli!“ 15 Uhr 55. Wind. Die Frisur hält. Da stand dieser Penner ja. Angelehnt an einen alten Eichenbaum, der zwar noch grün war, aber seine Eicheln über die gesamte Einfahrt verteilt hatte. Hielt sich wohl für besonders cool, wie er lässig die Schultasche über die Schulter geworfen hatte und sein schwules Stirnband zur Schau stellte. Und überhaupt. Dieses Stirnband. Ehrlich gesagt machte es Wendy fertig. Höchstwahrscheinlich war er noch der Mädchenschwarm der Schule. Dieser seltsamen Schule, an der Mumien unterrichteten und man nichts anfassen durfte, weil man sonst Gefahr lief eine unwiderrufliche Kettenreaktion der Zerstörung loszutreten. Und jetzt zwinkerte er ihr auch noch zu. Widerlich! „Ciao! Da bist du ja, Wendy. Konntest es wohl kaum erwarten?“ Ihr Blick verfinsterte sich. „Fresse, Balotelli! Komm' einen Schritt näher und du hast mein Knie in den Eiern. Ist das klar?“ Er lachte und gab ihr einen leichten Klaps auf die Schultern. „Zu schade, dass dein Herz für mich verschlossen ist. Ich glaube wir hätten ein tolles Paar abgegeben!“ Ihre Faust zuckte. „Was weißt du schon über mich? Penner! Pisser! Idiot!“ Tornado hob die Hand und deutete auf seine Nase. „Schon vergessen? Ich kann den Wind riechen. Er offenbart mir alle Geheimnisse. Und jetzt komm hinter den Baum, sonst sieht man uns noch.“ Wendy presste die Lippen zusammen, nickte und nahm Position hinter der großen Eiche ein. „Du willst damit also andeuten, dass du eine äußerst feine Nase hast? Ist ja ekelhaft!“ Er schüttelte den Kopf. „Du missverstehst mich. Und jetzt bitte ich um deine Einschätzung, welche Farben die Unterhosen der drei Mädchen haben, die gerade vorbeilaufen. Denn in schätzungsweise 15 Sekunden wird eine starke Windböe auftreten.“ In schätzungsweise 15 Sekunden! Was bildete der sich eigentlich ein? Als konnte man so etwas voraussagen. „Die Kleine ganz rechts trägt mit Sicherheit einen weißen Slip mit roten Punkten. Die schwarzhaarige in der Mitte violette Spitzenunterwäsche. Und die mit der Brille klassisch weiß aus dem Discounter.“ Tornado grinste. Seine Nasenflügel zuckten, als er die Augen schloss. Dann sprach er sein Urteil: „Rechts: blau-gelbe Blockstreifen. Mitte: schwarzer String-Tanga. Links: Rosa mit Spitze.“ Wendy holte ihr Handy aus der Tasche und blickte auf die Uhr. Noch Fünf. Vier. Drei. Zwei. Bestimmt war Tornado nur einer von diesen Typen, die gerne große Reden schwangen, aber in Wirklichkeit hohl wie ein leeres Glas saurer Gurken waren. Dem würde sie es zeigen! Eins. … Ein Kreischen entwich den drei Mädchen, als die Windböe sie erfasste. Panisch umfassten sie ihre Röcke, doch da sie gerade an der großen Eiche vorbeigelaufen waren, offenbarte sich die unwiderrufliche Wahrheit von hinten. Blau-gelbe Blockstreifen, ein schwarzer String-Tanga. Und rosa mit Spitze. Tornado lachte laut auf. Wendy traute ihren Augen nicht. Wie? Wie war so etwas nur möglich? Nicht nur, dass er präzise die Ankunft der Windböe vorausgesagt hatte, nein, der Stirnbandheini lag auch noch komplett richtig mit seiner Einschätzung. Wendy spitzte die Lippen und schmollte. „Du kennst die drei Mädchen doch. Du weißt also ganz genau, was sie immer unter ihren Röcken tragen!“ Tornado verneinte. „Ma no! Diese Mädchen sind auch erst seit heute an unserer Schule. Vielleicht habe ich sie einmal getroffen, als ich Pizza ausliefern war, aber meines Erachtens hatten sie zu diesem Zeitpunkt alle etwas an!“ Wendy errötete. „So genau will ich das auch nicht wissen!“ Sie holte tief Luft und ballte die Fäuste. „Also wann kommt die nächste Windböe? Dieses Mal werde ich nicht falsch liegen!“ Tornado straffte die Schultern und schloss die Augen, um sich ganz auf seinen Geruchssinn zu konzentrieren. „Oh.“, stellte er dann fest. „Es könnte etwas knapp werden. Noch acht Sekunden. Also schnell deine Einschätzung!“ Er deutete auf vier Mädchen, die einen Kreis gebildet hatten und sich lachend miteinander unterhielten. Wendy zögerte nicht lange. „Blond trägt cremefarben mit Spitze, Brünett weiß mit blauer Schleife. Die mit den kurzen Haaren hat bestimmt ein paar Seidenshorts mit Spongebob-Motiv von ihrem Bruder geklaut. Und die andere Brünette trägt grüne Streifen!“ Dieses Mal musste sie einfach Recht haben! Immerhin stand nicht nur ihre Ehre als Mädchen auf dem Spiel, sondern auch ihre zukünftige Schullaufbahn als Mitglied in einem absolut uncoolen Drachenclub! Tornado fuhr sich durch das Haar und zog sein Stirnband etwas nach hinten, so dass seine blanke Stirn sichtbar wurde, eine Geste, die er immer dann zeigte, wenn es ernst wurde. „Che peccato! Du wirst schon wieder verlieren. Ich bin mir ganz sicher, dass diesmal zartrosa Rüschen, orientalisches Muster, klassisch Weiß und Lindgrün ohne Extras getragen werden!“ Wie auf Bestellung kam zum Ende seiner Einschätzung die nächste Windböe. Wieder Mädchengekreische. Lange Haare, die Gesichter umwehten, kurze Röcke, die sich nicht an die Schwerkraft hielten. Und wieder hatte Tornado recht. Er warf die Haare zurück und rückte sein Stirnband wieder in die gewohnte Position. „Ich würde sagen, dass ich gewonnen habe, Wendy!“ Er lächelte voller Selbstverliebtheit und verschränkte die Arme, um seiner Pose noch mehr Coolness zu verleihen, doch es wollte bei Wendy einfach nicht ankommen. Sie biss sich auf die Lippe und schüttelte vehement den Kopf. „Ich glaube dir nicht, dass du das einfach so riechen konntest! Und wenn doch, dann bist du nichts weiter als ein ekelhafter Perverser.“ Sie wandte sich ab. Ihre Hände zitterten. Sie sollte verloren haben? Niemals! NIE! „Mit Perversen wie dir will ich nichts zu tun haben. Wer weiß, was deine feine Nase noch alles erschnüffelt, wenn ich nicht aufpasse!“ Sie konnte doch nicht verlieren! Sie war ein Mädchen! Sie musste sich in Sachen Unterhosen doch schon aus biologischen Gründen besser auskennen als er! Dummer, eingebildeter Stirnbandheini! Tornado relativierte: „Deine Unterwäsche erkenne ich jedenfalls nicht. Denn das kann ich nicht.“ Wendy funkelte ihn gereizt an. „Wieso das denn? Scheinbar kannst du ja anhand des Geruchs der Stoffmischung die Farbe und Struktur voraussagen. Und bestimmt auch noch so manch andere Dinge, die ich mir jetzt nicht vorstellen werde, weil mir sonst schlecht wird.“ Tornado schloss die Augen, ließ die Schultern hängen und seufzte. „Ganz einfach, Bellissima: weil du Shorts über deiner Unterhose trägst. Ich kann nur Dinge aufspüren, die im direkten Kontakt mit der Luft sind.“ Klatsch! Tornado rieb sich die schmerzende Backe. Wendy hatte voll ins Schwarze getroffen. Sie schnaubte entrüstet und starrte ihn mit geweiteten Augen an. Widerlich! Einfach nur widerlich! Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei. Dann fing sie plötzlich an zu lachen. Erst nur mit vorgehaltener Hand, dann immer lauter und schallender, bis ihr schließlich die Tränen kamen und sie nach Luft schnappen musste. So ein Unsinn! „Tornado Balotelli. Dein Stirnband ist zwar hässlich wie die Nacht, aber deine Einstellung gefällt mir.“ Sie hob den Daumen. „Ich glaube, die ganze Sache könnte doch interessant werden. Wann findet das erste Clubtreffen statt?“ Kapitel 3: Das erste Treffen ---------------------------- Beschwingt öffnete Wendy die Beifahrertür und stieg in den rostroten Transporter ihres Vaters ein. „Hallo, Papa!“ Die Tür knallte. Der Anschnallgurt klickte. Dann heulte der Motor auf und die Heimfahrt begann. „Arr!“ (1) Wendy blickte aus dem Fenster und sah die Bäume der Allee vorbeifliegen. Grün, Rot, Gelb und Braun. Bunt durchgemischt wie der beginnende Herbst, doch alle noch voll im Laub. Sie schmunzelte. „Eigentlich ist heute viel zu viel passiert. Ich hätte nicht gedacht, dass es so aufregend werden könnte!“ Sie begann von der Klasseneinteilung zu erzählen, dem plötzlichen Herzinfarkt des Lehrers und von der Einladung in einen Schulclub. Ihr Vater, ein sehr wortkarger Geselle, antwortete hin und wieder einmal mit einem kehligen „Arr“ und nickte. „Nicht wahr? Ihr habt mir zwar erzählt, dass die Schule alt ist, aber so wie sie aussieht, muss das Gemäuer mindestens aus dem Mittelalter stammen.“ ... „Arr.“ (2) Er zwinkerte mit seinem verbliebenen linken Auge – das rechte lag verborgen unter einer schwarzen Augenklappe, was ihm mit seinem kupferroten Rauschebart das Aussehen eines waschechten Piraten verlieh – doch Wendy schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht, Paps. Ich muss morgen früh aufstehen, da wir vor der Schule ein Clubtreffen haben. Aber beim nächsten Mal gerne.“ Sechs Uhr früh hatte Tornado gesagt. „Beim ersten Sonnenstrahl auf der Wiese hinter der Schule, denn dort ist die Luft besonders gut.“ Eigentlich war das viel zu früh. Wendy verzog das Gesicht. Wenn sie nur daran dachte, dass sie den weiten Weg bis zur Schule mit dem Fahrrad auf sich nehmen musste und zudem noch ein gehaltvolles Frühstück verspeisen wollte, dann hieß das wohl um vier Uhr aufstehen. Juhuu! … NICHT. Alles Idioten. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?! „Arr?“ (3) „Doch, doch! Es ist nur...“ Sie suchte nach den passenden Worten. Der Wagen fuhr in die Einfahrt. „Ich war nur so lange nicht mehr so aufgeregt!“ Es dämmerte schon, als Wendy ihre Hausaufgaben beendet hatte. Sie setze ihre Lesebrille ab, schaltete das Licht der Schreibtischlampe aus und öffnete das Fenster. Auch wenn sie es im fahlen Zwielicht nur schwer erkennen konnte, wusste sie doch ganz genau, wo der dicke Ast des großen Baumes, der im Garten zwischen den Häusern stand, ihrem Zimmer am nächsten war. Langsam stieg sie auf das Fensterbrett und tastete sich vorwärts. Das Blattwerk war noch dicht und grün und raschelte leise, als sie auf den Ast stieg und die wenigen Schritte zu ihrem Baumhaus hinüber balancierte. Groß und stabil war die Bretterbude, die ihr Vater vor einer halben Ewigkeit in die Baumkrone gezimmert hatte. Sie machte zwar von außen nicht viel her, da sie vom Wetter gezeichnet war, doch in ihrem Inneren war sie Wendys kleines Himmelreich. Eine stille Zuflucht, die man aufsuchte, wenn man einmal Abstand vom Alltag gewinnen wollte. Und auch ein Ort, an dem geheime Treffen abgehalten worden waren. Die Wände waren mit Namen und Handabdrücken verziert. Kleine Hände, große Hände. Zeugnisse davon, wie sie und ihre Freunde gewachsen waren, eingeritzte Daten neben den Buchstaben, die Jahr für Jahr erweitert wurden, so dass Wendy nicht einmal mehr wusste, wie viele Abdrücke es überhaupt waren. Das rechteckige Loch in der Wand, durch das sie einst mühelos hinein geschlüpft war, war über die Jahre derart geschrumpft, dass Wendy nur noch gebückt eintreten konnte. Sie griff nach der oberen Kante, schwang sich hinein und... „Autsch!“ Polter. Tschiling. Koller-koller... Flaschen klirrten aneinander, als sie ein paar Schritte nach vorne stolperte und unsanft auf dem Hinterteil landete. „Das hatte ich ja ganz vergessen!“ Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. In der schummrigen Dämmerung hatte sie eine Reihe an Bierflaschen übersehen, die seit dem letzten kollektiven – es war ihr ja schon ein bisschen peinlich – Besäufnis am Anfang der Sommerferien in ihrem Baumhaus die Stellung gehalten hatten, weil sie bisher nicht dazu gekommen war diese zu entsorgen. Vielleicht war es unschicklich für ein Mädchen, sich ab und zu einmal die Kante zu geben. Und vor allem ganz und gar unerhört mit fünfzehn Jahren. Aber wem etwas vormachen? Ihre Familie war durch und durch irisch, die Trinkfestigkeit lag also in den Genen. Und Geselligkeit wurde ohnehin schon immer groß geschrieben. Sie zog die Knie an die Brust und seufzte leise. Was ihre Freunde jetzt wohl machten? Mit Sicherheit waren sie Feuer und Flamme ihren bescheuerten Drachenclub zu gründen, von dem sie bis heute Mittag noch gedacht hatte, dass er der einzige seiner Art werden würde. Doch jetzt... hatte alles eine Wendung genommen, mit der sie einfach nicht gerechnet hatte. Sie war mitten in eine Situation hineingeschlittert, die unendlich viele Türen für sie offen hielt. Und es war an ihr selbst zu entscheiden, welchen Weg sie nun nehmen würde; jetzt, da sie gezwungenermaßen in diesen blöden Drachenclub eintreten musste. Doch war es wirklich erzwungen und unfreiwillig? Ihr Blick schweifte zur Decke. Es war inzwischen so dunkel, dass man nur noch die Umrisse eines schwarzen Lenkdrachen erkennen konnte, auf den mit weißer Farbe eine Piratenflagge gemalt war. Böse grinste sie der Totenkopf an, fast noch unheimlicher als im Tageslicht. „Wer hätte gedacht, dass dieser Stirnbandheini so eine gute Nase hat?“ Sie musste schmunzeln. Vielleicht war es ja doch Schicksal gewesen, dass ausgerechnet sie an diesem Tag das Buch aus dem Regal gezogen hatte, schlummerte in ihr doch die kleine Seele eines Drachenkämpfers. „Morgen früh nehme ich dich mit in die Schule. Und dann zeigen wir es ihm! Nicht wahr, Cleaver?!“ Zeph gähnte langgezogen und steckte sich den Finger in die Nase, um genüsslich zu popeln. Immer schön tief hinein auf der Suche nach Goldklumpen, wurde er fündig und schnippte seinen Fund auf das vom Sommer trocken und fleckig gewordene Gras. Neben ihm lag ein Stapel neuer Autoreifen, die er – wie er immer zu sagen pflegte – „gefunden“ hatte, als er sich auf dem Weg zur Schule unbemerkt an die Fahrzeuge deren Besitzer heranpirschte, um mit fachmännischer Genauigkeit dafür zu sorgen, dass sein Schwarzmarkt für Reifen aller Art immer genug Nachschub hatte. Im „Finden“ war Zeph, eigentlich Zephyr Sokolewski, ein Experte. Ein eigentlich dauerhaft träger Geselle mit flinken Fingern, die schon das eine oder andere Mal nützliche und unnütze Dinge eingesteckt hatten und jetzt damit beschäftigt waren die spärlichen Bartstoppeln an seinem Kinn zu kratzen. Er lehnte sich zurück und blickte kopfüber in Richtung seines Teamchefs, der – die Augen geschlossen – gegen den Wind stand, seine Sinne ausgestreckt bis zum Horizont in Erwartung eines Hauchs einer Fährte, die ihm die Ankunft des neuen Clubmitgliedes verraten würde. „Und du bist dir sicher, dass dieses Mädchen kommen wird?“ Bei jedem Ch-Laut knarzte seine Stimme. Es war unverkennbar, dass er aus einer polnischen Familie stammte. Tornado nickte schweigend. „Ich hoffe, dass sie hübsch aussieht. So mit großen Brüsten und schönen Lippen, weißt du? So ein Mädchen hat unser Club noch nicht! Ich glaube...“, er beendete seinen Satz nicht, sondern drehte sich stattdessen auf den Bauch und verzog das Gesicht. „Iih! Was ist das denn? Ein Junge mit Rock und 'n bisschen Schminke?“ Atemlos stieg Wendy von ihrem Fahrrad ab. „Dieser Hügel ist wirklich... puh! Also ich bin jetzt da.“ Sie nickte Tornado zu. „Ich verstehe zwar immer noch nicht so recht, wie das mit den Mädchenunterhosen funktioniert hat, aber Wettschulden sind Ehrenschulden.“ Sie strich sich durch das durch die Fahrt ganz zerzauste kurze Haar, doch es fiel sofort wieder zurück in seine wirre Form. Nicht einmal die Haarspange, auf der ein grinsender Totenkopf prangte, konnte sie bändigen. Starr lächelnd stapfte sie ein paar Schritte vorwärts, bis sie direkt vor Zeph stand. „Und denk' nicht, dass ich das nicht gehört habe, mein Lieber.“ Er schluckte. In ihrer Stimme lag etwas bedrohliches, das ihm eindeutig sagte, sich besser nicht mit ihr anzulegen. „Also eigentlich...“, versuchte er die Situation zu retten, „bist du sehr gut gebaut, nie?“.  Eine Ader trat auf Wendys Schläfe hervor. „Ich meine, du hast einen tollen Hintern. Schön rund und so, nie?“ Ein Grummeln drang aus ihrer Kehle. Zeph suchte nach Worten. „Und gut aussehende... Schuhe!“ Ganz ruhig. Ganz ruhig. Er will ganz bestimmt nur nett sein. Tief durchatmen. Ganz tief. Ja, so ist es gut. Das Lächeln wurde immer unheimlicher. Fast war es, als stiegen Wogen dunkler Energie aus Wendys Körper empor. „Vielen... Dank.“, presste sie gekünstelt hervor. „Aber ich muss dich leider enttäuschen. Ich mag nur große, starke Jungs, die Klartext reden. Und keine versuchten Schleimscheißer wie dich!“ Zeph drehte sich um, richtete sich auf und hob beschwichtigend die Hände. „Ich bin kein Schleimscheißer, nur ein scheiß Schleimer, haha~!“ Wendy legte ihm die Hand auf die Schulter und antwortete ruhig, fast schon zu ruhig: „Ja, das bist du!“ Ein Räuspern erklang. „Avanti! Wenn ich euer überaus herzliches Kennenlernen nun beenden dürfte, denn die Zeit schreitet voran und bald wird die Sonne so hoch stehen, dass die Luft auf Grund der gesteigerten Wärme nicht mehr dieselbe Tragfähigkeit entwickeln kann.“ Er musterte das Fahrrad und schmunzelte. „Ich wusste es! Was bist du nur für ein raffiniertes Luder, mir solch wichtige Information vorzuenthalten, Wendy! Du hast ja deinen eigenen Drachen mitgebracht!“ Wendy errötete und starrte den Boden an, als Tornado noch einen Schritt näher kam und sich vor dem Lenkdrachen niederkniete, um ihn ganz genau zu studieren. „Sieh nicht so genau hin. Diesen Drachen habe ich in der Mittelschule gebastelt. Der ist bestimmt nicht gut!“ Nein. Eigentlich wollte sie eine ganz und gar seriöse Oberschülerin werden, die nie wieder so einen Kinderkram wie Drachensteigen betrieb. Eine taffe Schülerin, die fleißig lernte und nebenbei ein bisschen Karate machte, sich irgendwann einmal verliebte, die Haare wachsen ließ und bloß noch hübsche Kleider und Röcke trug. Einfach Dinge tun, die echte Mädchen so taten, die irgendwann einmal heiraten und eine Familie gründen wollten. Und das bedeutete: nie wieder solche Prügelspiele mit den Jungs. Denn Mädchen machten so etwas einfach nicht. Zumindest nicht, wenn sie wollten, dass man sie auch als Mädchen und nicht als Junge ohne Eier ansah. „Wie ich sehe, ist der Drachen doch ganz gut verarbeitet. Vielleicht nicht sehr gut ausbalanciert, aber definitiv ein Drachen, der es wert ist die Luft dort oben zu schnuppern.“ Er löste den Drachen aus der Gepäckklemme und wog ihn in den Händen hin und her. „Trotz seiner Größe ist er sehr leicht. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht! Va bene!“ Wendy schoss das Blut ins Gesicht. Ihre Ohren wurden ganz heiß und pochten. „Würdest du bitte aufhören meine Arbeit zu loben? Du hast Cleaver doch noch nicht einmal fliegen gesehen! Wenn du weiter so viele positive Worte für mich übrig hast, fühle ich mich gleich wie eine schlecht geschriebene Mary Sue!“ Warum zitterte ihre Stimme plötzlich so sehr? Sie straffte die Schultern und ballte die Fäuste, doch das unangenehme Gefühl wollte nicht verschwinden. „Solltest du nicht eigentlich so etwas sagen wie: Du bist ein Anfänger, der noch viel lernen muss! Und dein Drache taugt allemal für die Altpapiertonne?“ - „Wenn Tornado mit dir fertig ist, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass genau dies eintreten wird, bei etwa 85 Prozent.“ Aus den Augenwinkeln sah sie einen etwa 14-jährigen dunkelhaarigen Jungen, der seine halbmondförmige Brille zurechtrückte und in seinem gesamten Gebaren eher wie ein mittelalter Mann wirkte. „Mit fünfprozentiger Wahrscheinlichkeit wirst du dieses Duell gewinnen, aber da die heutige Wetterlage einen Vorteil für Tornado indiziert, minimiert sich dieser Faktor um weitere drei Prozent, so dass du mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit unterliegen wirst.“ Das seltsame Gefühl verschwand. Wendy legte den Kopf schief und konnte sich einen giftigen Kommentar nicht verkneifen: „Wir hatten heute wohl Zahlen in den Frühstücksflocken, Kleiner?“ Er knurrte und schürzte die Lippen. „Nenn' mich nicht Kleiner! Wenn du es dir verdienst, darfst du mich gerne Ehrenwerter Meister nennen, aber sonst...“, er hob warnend den Zeigefinger und stampfte mit dem Fuß auf. „Angelo! Wendy! Basta!“ Beide wandten sich Tornado zu. Er nickte und gab Wendy den Drachen zurück. „Es ist an der Zeit auf Worte Taten folgen zu lassen! Wir werden nun unsere Startpositionen einnehmen. Angelo, du wirst der Schiedsrichter sein.“ – „Und was soll ich tun?“, meldete sich Zeph desinteressiert zu Wort und gähnte einmal kräftig. „Du?“, Tornado umfasste grübelnd sein Kinn. „Du siehst zu und lernst! Und nun...“ Er warf theatralisch die Haare zurück, ließ ein strahlendes Lächeln aufblitzen und rief mit pathetischer Stimme: „Möge das Duell beginnen! Auf deine Position, Drachenkämpfer!“ Kapitel 4: Showdown im Morgengrauen ----------------------------------- Ba-dum. Ba-dum. Ba-dum. Eine leichte Brise verwandelte das Gras in ein wogendes Meer aus grüner Farbe, gesprenkelt mit trockenen gelben und braunen Flecken, die träge wie Seetang im Wind schwammen. Wendy umfasste die beiden Spulen des Lenkdrachens fester. Ihr Herz schlug vor Aufregung so laut, dass es nicht nur in den Ohren pochte, sondern bis in die Fingerkuppen spürbar war. Ihre ganze Körperhaltung straffte sich. Auch Tornado tat es ihr gleich, nachdem er noch einmal lässig sein Stirnband zurechtgerückt hatte, und machte einen großen Ausfallschritt nach vorne. Fast schien es, als spielte sich die ganze Szene im Wilden Westen ab. Zwei Duellanten, beide bereit jeden Moment den Colt zu ziehen, um dem Gegner den Garaus zu machen. Angelo hob eine Fahne, auf die ein silbernes Wappen gestickt war. „Leichter Fallwind aus westlicher Richtung. Anlaufrichtung im Uhrzeigersinn. Das 30 Sekunden Zeitlimit zum Steigen der Drachen beginnt in fünf Sekunden. Vier. Drei. Zwei. Eins. Die Leinen... LOS!“ Wie ein Fallbeil schnellte die Fahne herab und schnitt den ihr umgebenen Wind mit einem knatternden Flattern in zwei Hälften. Wendy atmete tief ein, schluckte einmal kurz und rief: „LIFT 'EM...“, sie stockte. „Hey, was wird DAS denn?“ Tornado lief bereits an und baute so durch seine Geschwindigkeit einen Gegenwind auf, um seinen Drachen, auf den weiße Federn gemalt waren, in die Luft zu katapultieren, doch als er die entrüstete Stimme seiner Kontrahentin vernahm, hielt er inne und fischte den Lenkdrachen aus der Luft. „Prego? Gibt es ein Problem?“ Wendy ballte die Fäuste. „Und ob es das gibt! Wo blieb denn der coole Spruch zu Beginn der Aufwärmphase?“ Tornado sah sie fragend an und legte den Kopf schief. Schamröte stieg ihr ihr Gesicht. „Ich meine... So ein Duell erfordert doch einen coolen Spruch, oder nicht? So mit Posen... und gegenseitigem Anstacheln...“ Wieder hatte sie den Kopf gesenkt und riskierte nur ab und an einen flüchtigen Blick auf den Clubleiter. Tornado konnte nicht anders, als in schallendes Gelächter zu verfallen. „Ein Spruch? Ridicolmente! Hahaha~!“ Wendy verzog das Gesicht und druckste herum. „Kennt ihr das hier nicht? Aber ich dachte, dass man das immer so macht. Zumindest haben das die Jungs früher immer so getan...“ Angelo räusperte sich. „Wenn ihr euch nicht beeilt, endet das erste Duell mit einem Unentschieden durch das Nicht-Erheben der Drachen!“ Tornado nickte ihm zu, dann trat er wieder zurück auf die Startposition. „Na dann lass mal deinen Spruch hören, Wendy!“ Eigentlich hatte sie jetzt gar keine Lust mehr dazu. Denn eigentlich war dieses affige Rumgepose und -geschreie so gar nicht cool. „Okay...“, sie sog scharf die Luft ein. „Dann pass' mal auf und lerne.“ Oh Mann, war das peinlich! „Erst stellt man sich so hin.“ Sie machte einen Ausfallschritt zur Seite und ging leicht in die Knie. „Dann kann man zum Beispiel seinen Drachen auf die Schulter nehmen, während ein Arm eher lässig, der andere aber angespannt ist. Etwa so.“ Tornado nickte und tat es ihr gleich. „Und jetzt...“, sie machte eine theatralische Pause. Ihr Blick wurde plötzlich ganz hart und ernst. „Jetzt nimmt man Anlauf, zählt dabei von Eins bis Drei und sagt schließlich...“ Sie wagte es kaum, den Satz über die Lippen zu bringen, so peinlich war er ihr. „...em up...“ Tornado hob die Hand ans Ohr. „Prego? Kannst du das noch einmal wiederholen?“ Wendy presste die Lippen aufeinander. Ihre Zähne mahlten. Nein, das war schon in Ordnung so. Dieser Spruch war absolut richtig und total cool. „Es heißt: Lift 'em up! LIFT 'EM UP! Verstanden?“ Tornado hob erstaunt eine Augenbraue. „Lift 'em up? Das ist...“, er rang nach Worten. Wendy wollte vor Scham im Boden versinken. Warum hatte sie nicht die Klappe gehalten? „Fantastico! Das ist der coolste Spruch, den ich je gehört habe! Warum bin ich nicht früher darauf gekommen!“, platzte es aus ihm heraus. Was für ein Idiot. Definitiv ein Idiot! „Zehn, neun, acht...“, unterbrach Angelos Stimme das kurze Intermezzo. Tornado nickte Wendy zu. „Bereit?“ Sie bejahte. „Dann geht es jetzt also endlich los! Eins!“ „Zwei!“ „Drei!“ „LIFT 'EM UP!“ Wie auf Bestellung schwoll der Wind an, verwandelte sich in eine Sturmböe, die zusammen mit dem Strudel, den Tornado und Wendy im Anlauf erzeugten, zu einem Wirbelsturm wurde, der die ersten Herbstblätter vom Boden fegte. Die Leinen strafften sich, als die beiden Lenkdrachen Halt auf einer günstigen Strömung fanden. Fast lautlos flatterten sie im Wind und zerrten angriffslustig an den Griffen, die fest und sicher in den Händen ihrer Piloten lagen. „Wendy, O'Callaghan!“, fing Tornado pathetisch an. „Es ist mir eine Ehre, mich heute mit dir duellieren zu können! Und jetzt bitte ich mich zu entschuldigen, denn gleich...“, er wechselte die rechte Spule zu der in der linken Hand und schob sein Stirnband zurück, „...machen Icarus und ich richtig ernst!“. Die Spule wechselte in die richtige Hand zurück. Keinen Augenblick später schnellte seine rechte Hand wie bei einem Schlag hervor, während er mit seinem Körper einen Halbkreis beschrieb. Der weißgeflügelte Drache flog eine scharfe Kurve und sauste mit atemberaubender Geschwindigkeit auf den nur wenige Meter entfernten Totenkopfdrachen, doch Wendy reagierte schnell. Sofort zerrte sie die Leinen zur Seite, um Cleaver nach unten ausweichen zu lassen, während sie selbst ein paar Schritte rückwärts machte. „Va bene!“, konstatierte Tornado. „Wirklich nicht schlecht!“ Er passte sich der Bewegung an und spurtete einige Schritte auf sie zu. Dies katapultierte Icarus zwar einige Meter zurück, doch gab es ihm genug Gegendruck, um seinen nächsten Angriff zu starten. Er breitete die Arme aus und warf sie nach vorne, um eine Rammattacke zu starten, doch Wendy reagierte keinen Moment zu spät. Sie sprintete los, direkt auf Tornado zu, nur um sich in letzter Sekunde nach hinten zu werfen und auf den flachen Absätzen ihrer Schuhe an ihm vorbei zu schlittern. Rasch fing Tornado Icarus ab, beschrieb eine liegende Acht mit seinen Armen und drehte sich um, als sich der Drache stabilisiert hatte und auch Wendy Cleaver wieder sicher auf den Aufstrom gebracht hatte. „Respekt.“, sagte er. „Ausweichen kannst du wirklich gut!“ Wendy verzog das Gesicht. „Im Weglaufen war ich schon immer unschlagbar...“ Tornado wischte sich den Schweiß von der durch das hochgeschobene Stirnband feucht gewordenen Stirn. „Du bist wirklich talentiert. Doch den nächsten Angriff kannst du nicht überstehen.“ Er machte eine leichte Verbeugung. „Ich präsentiere dir nun die Seele meines Drachen. Icarus, erscheine!“ Er schloss die Augen und spannte seinen ganzen Körper an. Zuerst passierte gar nichts, doch dann begannen die beiden Drachenleinen zu vibrieren wie die Saiten einer Violine, die mit einem Bogen angespielt wurde. Eigentlich wäre jetzt der perfekte Moment für einen Angriff, doch ich muss einfach wissen, was er gemeint hat! Wendy konnte ihren Blick nicht abwenden. Die Seele seines Drachen? Was für einen Stuss erzählte der Stirnbandheini da, der – nebenbei gesagt – mit hochgeschobenem Stirnband aussah wie ein Mädchen mit rosafarbenem Haarreifen. So etwas gab es doch nicht. Es gab nur Wind, Bewegung und Kraft. Gewinnen konnte nur derjenige, der seine eigenen Schwächen kompensieren konnte. Derjenige, der seine Trägheit durch Stärke und seinen körperlichen Nachteil durch Flinkheit ausgleichen konnte. Und der den Weg des Windes voraussehen konnte. Wusste, welche Bewegungen des Piloten den Lenkdrachen auf welche Weise in seiner Bahn beeinflussten. Das alles. Und nichts mehr. Den Geist des Drachen rufen? Das war doch nur Esoterik! Am besten würde Tornado gleich anfangen die Kräfte des Kosmos anzurufen und mit Außerirdischen telepathischen Kontakt aufzunehmen. Doch dann geschah es. In dem Moment, als die Morgensonne sich ihren Weg über die Zinnen der Burg gebahnt hatte und die Schatten verblassen ließ, begann der weiße Lenkdrachen zu strahlen. Spiralen aus gleißendem Licht bahnten sich ihren Weg von Tornados Handflächen nach oben und umschlossen den Drachen vollständig. Dann blitzte es, gefolgt von einem lauten Donnergrollen. Wendy kniff die Augen zusammen und hob schützend die Arme vor das Gesicht. Cleaver schwankte unruhig im Wind. Sogar der Boden unter ihren Füßen begann zu erzittern, als auf den Tragflächen des Drachen der geflügelte Icarus auftauchte und seinen Lichtbogen spannte. „Du... Du verarschst mich doch gerade, oder?“ Sie glaubte nicht an das, was sie sah. Sie wollte es einfach nicht glauben. „Ikarus! Entfessle den Zorn des Himmels! Avanti!“ Die Lichtgestalt breitete die Flügel aus, zog die Bogensehne bis auf das Maximum zurück – und schoss. Plötzlich ging alles ganz schnell. Gleißendes Licht, gefolgt von einer Schockwelle, die Wendy mitten ins Herz traf und sie von den Füßen fegte. Meterweit trug es sie, bis sie schließlich unsanft auf dem Rücken landete und vor Schreck die Leinen losließ. Cleaver geriet ins Trudeln, hielt sich noch für einen Augenblick auf der Luftströmung, stürzte dann aber wie ein Stein zu Boden, wo er schließlich mit einem lauten Krachen zum Stillstand kam. „Das Duell ist entschieden! Der Sieger ist Tornado!“, erklang Angelos gnadenlose Stimme, während das Licht langsam abebbte. Tornado holte die Leinen ein und fischte Icarus aus der Luft, als er nur noch einen Meter über ihm schwebte. Dann ging er zu Wendy, die noch immer ganz geblendet war und sich schmerzend das Hinterteil rieb, und streckte ihr mit aufgesetztem Siegerlächeln die Hand entgegen. „Das war ein großartiges Duell. Fantastico!“ Wendy starrte abwechselnd von der Hand zu Tornados Gesicht und zurück. Sie wollte es immer noch nicht glauben, doch der stechende Schmerz in ihrer Brust war ein untrügliches Zeichen dafür, dass gerade etwas geschehen war, was sie niemals für möglich gehalten hatte. Zögernd nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. „Das ist doch nicht möglich...“, murmelte sie vor sich hin und schüttelte den Kopf. Tornado nickte stürmisch und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Ma si! Das was du eben gesehen und gespürt hast, war mein Kirit – mein Drachengeist.“ Kapitel 5: Das Manifest der Drachen ----------------------------------- Das Manifest der Drachen Auf und ab. Auf und ab. Leichtes Schaukeln, wie auf einem Boot, das in ruhigem Gewässer trieb. Dunkelheit. Wärme. Nur weiter treiben lassen. Schaukeln, schaukeln. Tap-tap-tap. ...MOMENT MAL! Wendy schreckte hoch. Trübes Tageslicht. Wände aus Stein. Eine Treppe, die sich immer weiter nach oben wandte, immer im Kreis, höher und höher. An sich nichts ungewöhnliches, wenn man die Architektur der Schule bedachte, doch warum konnte sie dann ihre Beine nicht bewegen? Direkt neben ihrem Gesicht: lange braune Locken. Unter ihren Kniekehlen: dürre blasse Arme. Ihr gesamter Torso: gebettet auf einen knochigen Rücken. „Iiih!“ Wendy zuckte zusammen und versuchte sich aus dem Huckepack zu befreien, doch der Griff Zephs war stärker. „Sag' mal, was soll das hier?“, keifte sie giftig. „Hab dich gefunden, lagst auf dem Boden! Würde mich auch nicht soviel bewegen, sonst fallen wir noch die Treppe herunter. Tut sehr weh, solltest du mir glauben!“, stellte er nüchtern fest. „Hat dich ganz schön mitgenommen, bist direkt ohnmächtig geworden, nie.“ Wendy wollte es nur ungern zugeben, doch der Brünette hatte recht. Noch immer stach und ziepte es in ihrer Brust, dort wo der Lichtpfeil sie getroffen hatte und ihr ganzer Körper fühlte sich seltsam schwach und blutleer an. Dabei war es erst sieben Uhr Morgens! Wie sollte sie so nur den Schultag überleben? Tornado lachte. „Ich hatte nicht erwartet, dass dich mein Kirit so von den Socken haut, Wendy!“ Selbstbewusst warf er sein blondes Haar zurück. „Ich bin eben ein toller Kerl! Migliore!“. Mir wird gleich schlecht! „Er kann es eben nicht lassen. Gewöhnst dich schon noch dran, nie. War nur ein Kirit der Stufe 3, gibt schlimmeres!“ Kirits. Windgeister. Stufe 3. Wendy schwirrte der Kopf von all den neuen Dingen, die sie heute schon gelernt hatte. Wo in aller Welt war sie hier nur gelandet? Gab es auf dieser Welt denn überhaupt jemanden, der normal war? „Ah, da sind wir schon!“, unterbrach Tornado ihren Gedankengang und deutete auf eine massive Holztür am oberen Ende der Treppe, die mit einem silbernen Wappen verziert war, auf das man neben einem Schwert und einem Lenkdrachen, der wohl einen Schild darstellen sollte, auch einen Drachen und den Schriftzug „Wright Kite Knights“ gedruckt hatte. Tornado schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und sagte pathetisch: „Benvenuta! Willkommen im Club der Drachenritter! Von heute an dein neues Zuhause, der Inhalt deines Lebens und deine einzige Freizeitbeschäftigung!“. Wendy schüttelte den Kopf. Hörte er sich selbst überhaupt beim Reden zu? In Gedanken äffte sie seinen Tonfall nach. „Willkommen im Club der Drachenritter!“. Immer dieser italienische Singsang! Tse! Fehlte bloß noch, dass er auf einem Thron saß und sie sich alle wie die Ritter der Tafelrunde um ihn versammeln mussten! ... Während Zeph Wendy dabei half, sich auf einen der Stühle zu setzen – auch wenn ihr es noch so unangenehm war, ihre Beine zitterten ganz schön – nahm Tornado auf dem großen, mit tiefrotem Stoff bezogenen Thron platz, schlug die Beine übereinander und ließ sich von einem weiteren Jungen, der wohl in seinem Alter war, eine Tasse Tee einschenken. Wendys Gesicht entgleiste. „Da sitzt der doch tatsächlich auf einem Thron!“ Sie lachte nervös. „Am Ende will er noch, dass wir ihn mit 'Ihre Majestät' und 'Mein Gebieter' anreden.“ Sie schlug die Hand vor das Gesicht. Idioten. Alles Idioten. Und das alles nur wegen einer lächerlichen Wette, die sie verloren hatte! Sie blickte aus dem Fenster. Ach, warum hatte sie nicht einfach abgelehnt und wäre stattdessen in den Karate-Club gegangen! Aber nein, jetzt war sie hier, zusammen mit ein paar Drachen steigenden Freaks und wartete darauf, dass so ein Satz fiel, wie: „Wir sind die Auserwählten! Wir sind die einzigen, die diese Welt noch vor der Zerstörung bewahren können! Durch unsere Lenkdrachen!“. Na ja, wenigstens kein Sammelkartenspiel!   Ein großes Glas gefüllt mit Obstsaft wurde vor ihr auf dem Tisch abgestellt. Es folgten Teller, Besteck, diverse Sorten Brötchen, Marmelade, gebratene Eier mit Speck, Würstchen und Bohnen, noch mehr Obst und eine Käseplatte, die eine Familie in Afrika wohl eine Woche lang satt gemacht hätte. Stühle wurden gerückt, als alle Mitglieder des Clubs Platz nahmen und sich am reich gedeckten Frühstückstisch bedienten. Tornado war der erste, der die Stille aus klirrendem Besteck auf Tellern durchbrach. „Attenzione! Ehrenwerte Clubmitglieder! Ich bitte um eure Aufmerksamkeit!“ Wendy lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und starrte die Decke an. Ihr war, als konnte sie den Schleim aus seinem Mund tropfen sehen. „Heute beginnt das zweite Jahr in der Geschichte unseres Clubs. Mehrere Mitglieder haben uns mit Abschluss des letzten Schuljahres verlassen und es ist nun an uns, ihr Erbe aufrechtzuerhalten.“ Die Decke war so hoch, dass sich ihr Ende im Dunkeln verlor. Eine handvoll Lenkdrachen hing von ihr herab. Teilweise klein, teilweise groß und breit, einige in ungewöhnlichen Formen, aber alle bunt bemalt. Und nicht nur das. In allen konnte Wendy eine Seele schlummern fühlen. „Wie auch vor den Sommerferien werden wir uns wie gewohnt dreimal die Woche um sechs Uhr früh auf der Ebene hinter der Schule treffen, um unsere Kräfte zu messen.“ Zeph stöhnte entnervt auf und ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Pathetisch fuhr Tornado fort. „Nur in einem edlen Gemüt schlummert wahrlich edler Drachengeist, der geführt und geleitet werden will, Sfaticato!“ Seine Gestik wurde immer ausladender. Wendy verdrehte die Augen. War der immer so? Kaum auszuhalten! Na ja, wenigstens das Essen war gut! „Wie jeder von euch weiß, können nur Auserwählte Mitglied in unserer Vereinigung werden, die den Ruf des Buches wahrgenommen haben.“ Er nickte abwechselnd allen Anwesenden zu. Wendy stützte den Kopf auf die Handfläche und nippte an dem Saft. Er war frisch und kalt, genau richtig nach so einer intensiven Begegnung mit einem Kirit. „Dieses Jahr vermag ich es mit Stolz zu sagen, dass uns die Geister des Windes eine wahre Perle gesandt haben. Auf ein Wort, edle Ritterin Wendy!“ Die Anrede kam so plötzlich, dass sie sich verschluckte. Sie hielt sich die kratzende Nase und hustete heftig. Edle Ritterin! Der wollte sie doch verarschen! Hieß sie etwas mit Zweit- und Drittnamen Mary Sue? Wenigstens packte er jetzt nicht seine „Ich habe es gerochen!“-Masche aus! Angelo reichte ihr ein Taschentuch. Schweigen. Jeder wartete darauf, dass sie etwas sagte. Tornado nickte lächelnd. Sie tupfte sich den Mund ab, warf einen skeptischen Blick nach links und rechts und stand dann zögerlich auf. „Wendy O'Callaghan,“ begann sie, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, „15 Jahre, Einzelkind. Ich mag Rockmusik, Piraten und alles, was mit Totenköpfen zu tun hat. Und das da...“, sie deutete zu den aufgehängten Lenkdrachen, unter denen auch ihr leicht lädierter schwarzer seinen Platz gefunden hatte, „...ist Cleaver!“. Leichter Applaus erfolgte. Wendy errötete, als sie Platz nahm. Derartige Aufmerksamkeit musste echt nicht sein! Als nächstes erhob sich Zeph. „Kennst mich ja schon. Bin Zeph, eigentlich Zephyr Sokolewsky. 18 Jahre. Bin ziemlich gut darin Sachen zu finden, die andere Menschen verloren haben. Und der da oben ist Aquila.“ Er deutete auf einen großen braunen Drachen mit weiten Schwingen, der die Form eines Steinadlers hatte. „Angelo Devlynn, 14 Jahre. Außerdem ein Jahr über dir, also nenne mich ruhig Meister. Ich bin hier der Techniker, also hörst du besser auf das, was ich dir sagen werde.“ Er verschränkte die Arme und setzte sich. „Mich kennst du ja schon. Tornado Balotelli, vor knapp sechs Wochen wunderschöne 17 Jahre alt geworden. Ich bin schwedischer Italiener – frag nicht, so etwas funktioniert tatsächlich – und meine Eltern haben eine Pizzeria. Bene! Wohlgemerkt die beste Pizzeria der Stadt. Jeder hier kennt und liebt Balotelli-Pizza. Du sicher auch!“ Prompt zog er eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche und reichte sie ihr. „Und wenn nicht: Wir haben einen 24-Stunden-Lieferservice, immer heiß, immer frisch, immer von allerbester Qualität zum absoluten Vorzugspreis! Fantastico!“ Er hob den Daumen zur Bestätigung und zwinkerte. War das hier gerade eine Werbesendung? Oh Mann, wenn der so weiter schwafelte, bekam sie wirklich noch Lust auf Pizza oder Pasta! „Rabattpunkte für regelmäßige Bestellungen gibt es auch. Aber was rede ich da, zurück zum Thema!“ Er deutete zur Decke. „Mit meinem grandiosen Lenkdrachen Icarus hast du ja schon Bekanntschaft gemacht.“ Er machte eine kurze Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und allen eine Pause zu gönnen, dann fuhr er fort und zog plötzlich seine Geldbörse aus der anderen Hosentasche. Als er sie öffnete, klappten etwa zehn Fotos nach unten, alle fein säuberlich in Plastikhüllen verstaut. Und alle mit ein und demselben Motiv. „Und das ist meine kleine Schwester Okarina!“. Seine Stimme veränderte sich ganz plötzlich. „Ist sie nicht süß mit ihren roten Haarschleifen? Und da geht sie spazieren mit unserem Hund! Und hier ist sie beim Eis essen! Und einen Drachen hat sie auch, mit dem sie...“ Er wollte weiter schwärmen, doch eine weitere Person, die bisher im Hintergrund geblieben war, räusperte sich. Sofort nahm Tornado wieder seine gewohnt geschwollene Art an. „Ah, ich ließ mich ablenken!“ Er deutete auf den unscheinbaren Jungen, der eine Schürze über seiner schwarzen Schuluniform trug. „Das hier ist Hayate, 16 Jahre. Nicht sehr gesprächig, aber gut kochen kann er. Er ist ein japanischer Austauschschüler.“ Hayate nickte und verbeugte sich leicht. „Es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen!“ Wendy tat es ihm gleich. „Ebenso!“ Noch so einer! Der konnte mit Balotelli ja direkt eine Schneckenschleimzucht aufmachen! „Ich hoffe, das Frühstück mundet deinem Gaumen, Wendy-san?“ Hayates Stimme war so leise, dass sie sich anstrengen musste ihn zu verstehen. „Nach Tornado-samas Kirit-Attacke ist es wichtig, dass man schnell wieder seinen Energiehaushalt auffüllt.“ Er goss Wendy weiteren Saft in das fast leere Glas. „Ich sage ihm immer wieder, dass er es nicht übertreiben soll, aber du wirst sicher schon bemerkt haben, dass er keine halben Sachen macht.“ Und wie! Dankend nahm sie das Glas entgegen und trank einen weiteren großen Schluck. Hayate hatte Recht. Sie konnte fast schon spüren, wie die Lebensgeister in ihre Glieder zurückkehrten. Doch es reichte nicht. Ein Glas Saft konnte vielleicht körperliche Leiden lindern, doch half es nichts gegen das nagende Gefühl allein wegen ihres Unwissens über Kirits und ihrer Unfähigkeit selbst einen zu erwecken unterlegen gewesen zu sein. Sie seufzte und stellte das Glas ab. Irgendwann. Irgendwann würde sie es diesem aufgeblasenen Stirnbandheini schon zeigen. Und zwar mit einem viel cooleren, größeren und besseren Kirit, bei dessen Anblick er sich vor Angst in die Hose machen würde! Sie schmollte, verschränkte die Arme und sagte leise zu sich selbst: „Irgendwann bist du dran, das schwöre ich dir!“. Tornado hielt ihr das kleine Buch vor die Nase, welches sie gestern aus dem Bücherregal in der Bibliothek gezogen hatte. „Ich freue mich schon darauf!“ Wendy zuckte zusammen. „Vor dir kann man echt nichts verbergen!“ Sie riss ihm das Buch aus den Händen. „Und da drin steht also, wie das mit den Kirits funktioniert?“ Sie wog es leicht hin und her und musterte es von allen Seiten. Für eine legendäre Drachenchronik war dieses Buch eigentlich viel zu unscheinbar. Sie hatte zumindest einen verzierten Einband erwartet, einen besonderen Schließmechanismus oder sonst irgendeine Spielerei, die dem Buch etwas besonderes und unnahbares gab. Aber da war nichts! Überhaupt nichts. „Ziemlich poplig...“, stellte sie trocken fest. Tornado lächelte wissend. „Schlag es mal auf!“ Er nahm wieder auf seinem Thron platz und stützte den Kopf auf die rechte Hand. Mit einem Mal herrschte Stille. Jeder der Anwesenden hatte sein Frühstück zur Seite gelegt und starrte gebannt auf Wendy, die kritisch eine Augenbraue gehoben hatte. „Na wenn es weiter nichts ist...“ Sie setzte ihre Lesebrille auf, legte das Buch in die linke Hand und klappte mit dem rechten Zeigefinger die erste Seite auf.   Eine starke Windböe fegte durch den Raum, erfasste die Seiten des Buches und blätterte es an einer bestimmten Stelle auf. Vor Schreck ließ Wendy das Buch fallen. Es stürzte auf den Boden, sprang einmal kurz hoch und blieb dann mit der Seite, die der Wind geöffnet hatte, nach unten liegen. „Was war das denn für ein abgefahrener Scheiß?!“, platzte es aus ihr heraus. Sie ging einen Schritt zurück und betrachtete das Buch skeptisch. Tornado nickte. „Nur diejenigen, in denen ein Geist des Windes schlummert, können dieses Buch öffnen. Für alle anderen sind diese Seiten wie zusammengeklebt. Und nur, wer durch den Wind begrüßt wird und von ihm als der Seine anerkannt wird, der wird die wahre Botschaft zwischen den Zeilen finden können. Und jetzt... Lies, was der Wind dir mitteilen will!“. Wendy schluckte. Ihr Herz schlug ihr plötzlich bis in den Hals. Laut pochend in ihren Ohren. Ba-tumb. Ba-tumb. Sie holte tief Luft, bückte sich nach dem Buch, drehte es um und begann zu lesen. „Einst existierte ein Bündnis zwischen den Menschen und den Drachen. Äolus, der Gott des Windes, schlief jenseits der Wolken und erhielt mit seinem Atem die Bewegung der Welt aufrecht. Doch Finsternis kroch über das Land, als die Ritter ihre Tugend beweisen wollten und die Drachen ausrotteten. Äolus erzürnte und wandte sich von der Erde ab. Kein Wind wehte mehr. In ihrem Elend wandten sich die Menschen an die sieben Weisen. Sie sagten: „Oh ihr Weisen, sagt uns was wir tun können, um das Unheil von unserer Welt zu nehmen?“ Und die Weisen sprachen: „Die Drachen sind die Kinder des Windes. In ihnen hat Äolus einst seinen Lebensatem versiegelt, damit sie über die Menschen wachen. Doch eure Torheit hat das Siegel gebrochen, so dass der Atem sich verflüchtigte und die Welt aus ihrem Rhythmus gebracht hat. Darum sei es, dass ihr stattdessen eigene Drachen zum Himmel schicken sollt, die mit eurer Lebensenergie gespeist werden. Versucht so Äolus zu besänftigen, auf dass er der Erde erneut seine Seele einhaucht!“ Die Menschen taten, wie ihnen gesagt wurde. Fortan sandten sie Drachen zum Himmel, die auf den Luftströmungen trieben und übergaben ihnen all ihre Kraft, um den Atem Äolus' aufzufangen und zu erhalten. Das war die Geburt der Drachenritter.“ Wendy klappte das Buch zu. Auch wenn sich die Textpassage eher wie ein Ausschnitt aus einem Sektenprogramm anhörte, hatte es sie doch bewegt. Unheimlich bewegt. So sehr, dass ihre Hände zitterten. „Fantastico!“, konstatierte Tornado. „Diese Botschaft war eindeutig.“ Wendy blickte ihn skeptisch an. Ihr rechtes Augenlid zuckte. „Soll ich jetzt glauben, dass hinter all dem, was wir hier tun, ein tieferer Sinn steckt?“ Sie legte das Buch zurück auf den Tisch. Wut stieg in ihr auf. Er nickte. „Äolus hat dich mit Sicherheit ausgewählt, um Großartiges zu vollbringen. Da bin ich mir ganz sicher!“ Sie ballte die Faust und schnaubte leise. Das war zu viel! Viel zu viel! Ein seltsames Gefühl kroch ihren Hals hinauf, staute sich hinter den Augen und ließ die Lider ganz feucht werden. Jetzt bloß nicht heulen! Sie steckte das Buch in ihre Tasche und schulterte sie. Wo bin ich hier nur herein geraten? Ich will das alles doch gar nicht. Kann das nicht einfach ein normaler Club mit normalen Leuten und normaler Beschäftigung sein. So wie sich dieses Buch liest, fühle ich mich wie kurz davor in eine okkulte Sekte abzurutschen, die sich der Rettung der Welt verschrieben hat! So ein Unsinn! Sie wischte sich über die Augen. „Ihr spinnt doch alle. Allesamt!“ Sie wollte zurück. Zurück in die Mittelschule, als es nur den langweiligen alten Deich am Fluss gab und weder Drachengeister, noch eine mysteriöse Drachenchronik ihr heiles Weltbild durcheinander brachten. „Entschuldigt mich!“, ihre Stimme flatterte. „Ich werde jetzt gehen! Und kommt ja nicht auf die Idee, mich auf irgendeine Weise an zu quatschen, wenn wir uns in der Schule oder sonst wo über den Weg laufen. Ich hasse den Wind! Und ich hasse Drachen. Merkt euch das – ein für allemal!“   Die Tür fiel krachend ins Schloss. Tornado lehnte sich zurück und seufzte, während Zeph mit einem Zahnstocher nach den Resten des Frühstücksspecks zwischen seinen Zähnen suchte. Dann zuckte er mit den Schultern und lächelte siegessicher. „Sie wird wiederkommen. Assolutamente! Das kann ich riechen!“ Kapitel 6: Geschwindigkeit ist alles! ------------------------------------- Neue Nachricht verfassen: Empfänger: Real_Batman Absender: ThePirateBride Betreff: Windgeister »Habe heute zum erstem Mal Bekanntschaft mit einem Kirit gemacht. Kaum zu fassen, dass es sie wirklich gibt! Dachte, ihr habt mich verarscht, als ihr gesagt habt, dass Julius das mal geschafft hat. Genaueres über sie steht in dem „Manifest der Drachen“. Habe im Anhang einen Auszug beigefügt. Vielleicht können wir gemeinsam das Geheimnis entschlüsseln. Die neue Schule ist seltsam. Wäre jetzt viel lieber bei euch. Kommen die Planungen für einen Drachenclub voran? Wie geht es den anderen? Bis bald, Wendy « Entwurf speichern. Löschen. Senden. Klick. Nachricht wurde gesendet. Weiterleitung zum Posteingang. Wendy klappte den Rechner zu und zog die Beine an sich heran. Seufzend vergrub sie den Kopf zwischen den Knien. Das war gar nicht gut. Sie hatte sich falsch verhalten und war einfach davongelaufen. Dabei war der ganze Drachenclub so freundlich zu ihr gewesen! Hatten ihr geholfen, als sie ohnmächtig war, sich ihr vorgestellt und ihr zugehört, als sie aus dem Buch vorgelesen hatte. Und was hatte sie getan? Sie angeblafft, weil sie insgeheim kalte Füße bekommen hatte, anstatt sich für neue Erfahrungen zu öffnen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Durch die Augenwinkel musterte sie das kleine in Leder gebundene Buch, welches auf ihrem Schreibtisch lag. „Vom Wesen der Windgeister“ lautete das letzte Kapitel, welches sie gelesen hatte. „Windgeister werden von der Kraft des Herzens genährt. Gespeist durch die Energie des Himmels wird eine Brücke zwischen ihnen und ihrem Träger geschaffen, die es ihnen erlaubt aus der unsichtbaren Sphäre in die Menschenwelt überzutreten. Ihre Erscheinung wird bestimmt von der Seele ihres Trägers. Sie sind wie Schutzengel, die von Geburt an einen jeden Menschen begleiten, doch nur die wenigsten unter uns können ihre leise Stimme vernehmen und ihre wahres Erscheinungsbild erkennen. Ihre Stärke hängt nicht von der körperlichen Kraft des Trägers ab, sondern einzig und allein von der Kraft dessen Seele.“ Wenn das so war, dann war ihr Kirit bestimmt eine hässliche kleine Kreatur, ganz schwach und unnütz. Ganz im Gegenteil zu Balotellis geflügeltem Krieger Icarus. Sie streckte den Arm aus und musterte ihre gespreizte Hand. Was hatte Zeph gesagt? Icarus war nur ein Kirit der Stufe 3? Und trotzdem hatte sie die Wucht seiner Attacke von den Socken gehauen und ihr einen großen Teil ihrer Energie entzogen. Sie fröstelte. Was wohl jenseits der Stufe 3 auf sie wartete? Kaum vorzustellen, dass es noch größere und Furcht einflößendere Windgeister als Icarus geben sollte. Wenn sie jetzt schon nicht mithalten konnte, wie sollte dann erst die Zukunft werden? Wendy ließ sich zur Seite fallen und starrte die Pinnwand an. Alte Fotos aus ihrer Mittelschulzeit hingen dort. Lachende Gesichter, skurrile Situationen, alles aus und vorbei. So gesehen kein schöner Anblick. Aber da war noch mehr. Leere Stellen an ihrer Pinnwand, die noch mit Fotos gefüllt werden wollten. Fotos von ihrer neuen Schule. Und von ihrem neuen Drachenclub. Tau spiegelte sich im Morgenlicht. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Letzte Nacht hatte es geregnet, so dass die Luft frisch und kristallklar war. Zeph zog den Reißverschluss seiner – selbstverständlich Nachts zufällig vor einem schicken Designerladen auf der Erde gefundenen und ganz und gar nicht geklauten – Jacke noch weiter zu und kratzte sich den Hinterkopf. „Und du bist dir wirklich sicher, dass sie kommen wird?“ Tornado nickte. „Si! Wendy ist wie eine Feder im Wind, das weiß ich.“ „Wenn du damit ausdrücken willst, dass meine Meinung äußerst instabil ist und sich jederzeit ändern kann, dann muss ich dir zur Abwechslung einmal Recht geben!“ Wendy hob die Hand zum Gruß. „Ich habe nachgedacht...“. Sie holte tief Luft und seufzte. „Ich habe zwar keine Ahnung, wohin mich dieses Abenteuer noch bringen wird, aber wenn ich mich nicht mit dem Wind treiben lasse, dann werde ich es nie erfahren.“ Tornado hielt ihr die Hand hin und lächelte. „Buon giorno!“ Wendy schlug ein. „Also Jungs!“, begann sie und stimmte in das Lächeln des blonden Anführers ein, „zeigt mir, wie das mit den Kirits funktioniert!“. „Leichter Aufwind aus nordwestlicher Richtung! Anlauf im Uhrzeigersinn! Die 30 Sekunden zum Aufsteigen der Drachen beginnen in... Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Und Start!“ Wieder einmal ließ Angelo die mit dem Clubwappen verzierte Fahne nach unten schnellen. Dieses Mal würde sie sich nicht so leicht unterbuttern lassen! Cleavers Winden lagen fest in ihren Händen, bereit entfesselt zu werden und den Lenkdrachen in die Luft zu erheben. „Eins! Zwei!“ Wendy rannte, was ihre Füße hergaben, ließ die Leinen locker und erzeugte einen Gegenwind, der den schwarzen Drachen nach oben katapultieren sollte. „Drei! LIFT 'EM UP!“ Sie schwang ihre Arme herum. Seltsamerweise war ihr der Spruch heute nicht mehr ganz so peinlich wie noch vor zwei Tagen. Ganz im Gegenteil. Irgendwie war er ja doch cool. Ließ sie gleich ganz taff wirken. Oder zumindest in dem Glauben lassen, dass sie etwas gänzlich lässiges und hippes tat. Der Zug an den beiden Nylonfäden nahm zu. Cleaver legte sich auf die Luftströmung und wog leicht hin und her. Keine großen Reden. Keine Experimente. Einfach nur das gute Gefühl mit dem Himmel verbunden zu sein. Zeph keuchte erschöpft, schlug ein paar Haken und schaffte es schließlich mittels großer Schritte Aquila in die Lüfte zu erheben. Auch er hatte Gefallen an dem Spruch gefunden, auch wenn sein „Lift 'em up!“ unter schnappenden Atemzügen hervor gepresst war. Wendy hob skeptisch eine Augenbraue. „Sonderlich sportlich bist du aber nicht!“ Zeph grinste verlegen. „Gibt wichtigere Dinge als Sportlichkeit! Werde ich dir gleich zeigen, pass auf!“ Mit einem langgezogenem „Chaa~!“ stürzte er nach vorne und ließ Aquila krachend auf den deutlich kleineren Cleaver stürzen. Wendy biss die Zähne zusammen und umklammerte die Spulen fester. Nur keinen Schritt zurückweichen. Balotelli und die anderen beobachteten ganz genau, was sie tat. Volle Konzentration. Eins sein mit Himmel und Erde. Vielleicht gelang es ihr ja dann einen ebenso coolen Kirit hervorzubringen wie ihr Anführer. Zeph legte ein weiteres Mal sein gesamtes Körpergewicht in eine Rammattacke, doch das Gras unter ihren Füßen bremste den Stoß ab. Cleavers Halteleinen schwangen wie Gitarrensaiten, doch der Lenkdrachen blieb stabil. „Nicht schlecht!“, rief der Brünette zu ihr herüber. „Dachte nicht, dass du stehen bleibst. Dachte mehr so an Rennen wie aufgescheuchtes Huhn, nie.“ Wendy schmunzelte. „Und ich dachte nicht, dass so ein Schlaffi wie du doch Kraft in den Armen hat!“ Ihr Blick verfinsterte sich. „Aber damit ist jetzt Schluss! Ich werde dich vom Himmel fegen!“ Zeph legte den Kopf schief. „Viel zu klein, der Drachen! Aber versuche es doch mal!“ Wendy nickte. „Und ob!“ Sie begann Anlauf zu nehmen, kreuzte einmal das Feld, schwang herum und ließ Cleaver in hohem Bogen auf die Leinen Aquilas stürzen. Es war eine riskante Taktik, die sie ausspielte. Nur einen Moment zu langsam und Zeph würde ausweichen. Nur einen Moment zu spät die Richtung geändert und die Drachen würden sich verhaken. Doch Wendys Strategie ging auf. Der plötzliche Zug an den Steuerleinen brachte Zeph ins Trudeln. Er machte ein paar Schritte rückwärts, stolperte dann über seine eigenen Füße und fiel auf sein Hinterteil. Schnell zog Wendy die Arme zurück und ließ Cleaver eine Linkskurve fliegen. Das hatte gesessen. Damit Zeph jetzt noch gewinnen konnte, musste ein Wunder geschehen, denn so wie er selbst zurückgeworfen wurde, musste auch sein Drachen zwangsläufig in Richtung Boden geflogen sein. Tornado verschränkte die Arme und schloss die Augen. „Subito! Gleich kommt es...“ Er konnte es spüren. Ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut, den Hauch einer Fährte in seiner Nase. Und er sollte Recht behalten. Ein Vogelschrei ertönte. Für einen Moment verdunkelte ein Schatten die Morgensonne, dann erschien ein brauner Adler, spreizte seine Flügel und zielte im direkten Sturzflug auf Zeph hinab. Wendy traute ihren Augen nicht. „Warum greift der mich nicht an?“ Der Adler rauschte an ihr vorbei und wehte ihren Rock nach oben, doch keine Unterhose blitzte auf. Nur ein paar eng anliegende Shorts waren zu sehen. Grashalme wurden aufgewirbelt und formten kleine Windteufel hinter dem Drachengeist, der jeden Augenblick sein Ziel erreichte. Kurz über dem Boden fing er den stürzenden Lenkdrachen ab, schlug ein paar Mal kräftig mit den Flügeln und hob ihn anschließend erneut hoch in die Luft. Dann verschwand er. Zeph grinste und richtete sich wieder auf, die Hände noch immer gen Himmel gestreckt. „Hättest du nicht gedacht, nie?“ Wendy schüttelte den Kopf. „Das war...“, sie suchte nach den passenden Worten, „...total abgefahren!“ Ihre Wangen röteten sich vor Aufregung. „Ich wusste gar nicht, dass man einen Kirit auch so benutzen kann!“ Der Brünette nickte. „Kann man alles mit machen. Wirst du auch noch erfahren. Und jetzt... Tut mir leid, aber ich muss meine Ehre als Mann retten!“ Wieder stieß er heroisches Kampfgebrüll aus und stürzte sich auf Wendy. Doch sie war zu schnell. Wich kurz vor dem Aufschlag Aquilas zur Seite aus und schwang die Arme so herum, dass Cleaver hinter den Adlerdrachen befördert wurde und ihm einen Rammangriff von hinten verpasste. Doch Zeph zuckte nicht einmal mit der Wimper und reagierte sofort. Er wiederholte seinen Angriff und schaffte es tatsächlich zu treffen, doch Wendy hielt tapfer stand. Sie wusste, dass sie eine Chance hatte, wenn sie nur lange genug durchhalten konnte. Zephs Kondition war nicht die beste und er pfiff bereits jetzt aus dem letzten Loch. Nur noch ein bisschen länger. Wieder sprang sie zur Seite, schlug einen Haken und lief in die entgegengesetzte Richtung, um das Kampffeld erneut zu öffnen. Zephs Schritte gingen schwerfällig, doch die Wucht seiner Attacke machte dies wieder wett. Schweiß stand ihm auf der Stirn und ließ einzelne Haarsträhnen zusammenkleben. „Du bist wirklich schnell, Wendy!“ Er nickte ihr zu. „Doch hast du leider etwas übersehen!“ Wendy hielt in der Bewegung inne und geriet ins Schlittern. Was hatte er gerade gesagt? „Du redest Stuss, mein Lieber!“ Wieder stürzte sie im Eilschritt auf ihn zu und ließ Cleaver auf Aquila hinabsausen. Fast kam es ihr so vor, als hätte Zeph seinen Kampfgeist begraben, so träge reagierte er auf ihre Attacke. Ein weiterer Angriff. Und noch einmal. Wenn schon kein Kirit aus ihren Händen entwuchs, dann musste es eben die klassische Handarbeit erledigen. Zeph kam der Begrenzung des Kampffeldes immer näher. Und noch näher. Noch zwei Schritte. Ein Schritt. Eine letzte Rammattacke. Doch plötzlich ging alles so schnell, dass Wendy hinterher nicht mehr genau sagen konnte, was überhaupt passiert war. Wieder ertönte ein Vogelschrei und wieder sauste der braune Adler vom Himmel herab. Doch diesmal galt sein Sturzflug nicht der Errettung des Lenkdrachen, sondern zielte direkt auf Wendys Füße. „Tut mir leid!“ entschuldigte sich Zeph und zwinkerte. „Jetzt kommt Aquilas Spezialattacke: Windschnitt!“ Der Drachengeist schrammte Wendys Waden entlang und hinterließ eine Spur brennenden Schmerzes, der sie in die Knie zwang. Darauf hatte Zeph gewartet. Bevor Wendy auch nur monieren konnte, holte er weit aus und schlug mit der vollen Breitseite seines Drachen gegen die Leinen Cleavers. Das war zuviel für den kleinen schwarzen Lenkdrachen. Ein Schnipsen ertönte, direkt gefolgt von einem weiterem. Dann hatte Wendy die losen Leinen des Drachen in der Hand. „Das Duell ist entschieden! Sieger ist Zeph durch Zerstörung des gegnerischen Drachen!“ Wendy starrte auf die Reste der Halteleinen in ihren Händen. Es war ein komisches Gefühl. Es wurmte sie nicht wirklich, dass sie verloren hatte, doch der Anblick ihres führerlosen und lädierten Drachen dort drüben im Gras machte sie seltsam traurig. Sie wischte sich über das Gesicht. Nein, sie würde jetzt sicher nicht das Heulen anfangen! Zeph bückte sich und lächelte sie an. „Deinen Füßen geht es gut?“ Wendy tastete nach ihren Waden und nickte stumm. „Ist nicht so stark wie Icarus, nie?“ Es stimmte. Der Kirit mochte sie zwar überrascht haben, doch im Vergleich zu den Schmerzen, die sie nach Icarus' Lichtpfeil verspürt hatte, war es kaum wahrzunehmen. Er klopfte ihr auf die Schulter. „Hast mich fast gekriegt! Bin nicht so schnell wie du, musste also kreativ sein, nie.“ Wendy sah ihn fragend an. „Tut mir leid wegen deines Drachen. Kann man aber wieder reparieren, alles kein Thema!“ Er deutete auf Angelo, der sich in ein Notizbuch vertieft hatte und wild mit dem Stift vor sich hinschrieb. „Macht Angelo schon wieder heil. Und dann ist er besser als zuvor!“ Er streckte sich ausgiebig. „Hat mir Spaß gemacht, Wendy. Und jetzt... Frühstück?!“ Kapitel 7: Erinnerungen an Halloween ------------------------------------ Regenrauschen. Grau verhangener Morgenhimmel. Monotones Tropfen an die Fensterscheiben. Definitiv kein Tag, um Drachen steigen zu lassen. Dafür aber ging es im Clubraum umso geschäftiger zu. Oder auch nicht. Stille herrschte, nur durchbrochen vom Geräusch einer Feile, herrschte. Leises Schnarchen, wabernde Ströme negativer Energie – fast wie aus einer Gruft – lagen über dem Turmzimmer. Dann wurde die Tür geöffnet und noch bevor sie wieder ins Schloss fiel, ertönte ein spitzer Schrei. „Was... Was machst du da mit meinem Drachen?“ Wendys Stimme überschlug sich, als sie panisch zu den Resten des schwarzen Cleavers stürmte und ein paar Tropfen kalten Regenwassers auf den Steinboden fielen. Angelo hob nicht einmal den Kopf, als er sie über den Rand seiner Brille hinweg ansah. „Die neuerliche Beschädigung machte eine gründliche Wartung obligatorisch.“ Er pustete kurz über das Ende einer Fiberglasstange und fuhr dann fort diese mit der Feile zu bearbeiten. Bei jedem Streich zuckte Wendy zusammen. Obligatorisch! Ich gebe dir gleich obligatorisch eins auf die Nase! Sie fasste sich an die Stirn. „Ja, ja!“, seufzte sie frustriert, „Ich habe dir erlaubt, dich um Cleaver zu kümmern, aber ich dachte, dass du nur die Haltungsleinen erneuerst und nicht, dass du den ganzen Drachen auseinandernimmst!“ „Meinen Berechnungen zufolge herrschte ein evidentes Ungleichgewicht zwischen den Stäben, welches eine adäquate Verteilung der Luftströmung minimierte.“, antwortete der 14-jährige trocken, während Wendy die kläglichen Reste ihres selbst gebastelten Drachen in den Händen wog. Sie hätte heulen können! Nicht nur, dass Angelo das Gestänge entfernt hatte, nein, er hatte auch die Klebeverbindungen gelöst und die einzelnen Nähte aufgetrennt. „Außerdem war eine Erneuerung der Steuerungsleinen ohnehin von Nöten, da sie aus Nylonfäden bestanden haben.“, fuhr er fort, pustete noch ein weiteres Mal den Plastikstaub von der abgeschliffenen Stange und griff nach der nächsten, um auch diese mit fachmännischem Blick zu begutachten und aufzubessern. „Eigentlich solltest du wissen, dass Nylon absolut nicht geeignet für Lenkdrachenleinen ist, da es bei starkem Zug nachgeben kann und so die Flugeigenschaften negativ beeinflusst werden. Ich frage mich wirklich, warum unser Chef so große Erwartungen an dich hat...“ Wendy fühlte ihre Schläfe pochen. Ihr Blick verfinsterte sich in gleichem Maße, wie sie ihre Fäuste ballte. Die weißen Knöchel traten hervor. Ihre Zähne mahlten. „Angelo...“, knurrte sie bedrohlich, nahe daran die Beherrschung zu verlieren, doch die monotone Stimme Tornados schaltete sich dazwischen. „Angelo, Wendy... Silenzio! Bitte beherrscht euch...“ Verwirrt wandte Wendy den Blick zum blonden Teamleiter, von dem sie nicht wirklich glaubte, dass er es war, so anders wie seine Stimme heute klang. Doch er war es, leibhaftig, saß wie immer auf seinem Thron und beobachtete das Geschehen. Nein. Eigentlich war er es nicht. Die Gestalt, die Tornado darstellen sollte, hatte tiefe Augenringe und der gebräunte Teint sah seltsam fahl aus. Eingesunken und kraftlos saß er da, kaum in der Lage die Teetasse zu halten, in die der japanische Hayate soeben eine weitere Portion eingeschenkt hatte. Zeph gähnte und streckte sich. Dass er immer von einer gewissen Morgenmüdigkeit betroffen war, war für Wendy inzwischen nichts neues mehr, immerhin war er des Nachts fast immer unterwegs, um Autoreifen und Fahrräder zu „finden“, um sie anschließend auf eBay und Konsorten zu verhökern, doch dass der Stirnbandheini so fertig war? Fast schon entspannend! Hayate deutete auf ihren Platz und rückte den Stuhl zurück. Als sie sich setzte, stellte er auch vor ihr eine Tasse ab und füllte sie mit Tee. „Etwas Milch dazu?“ Wendy nickte. Als er sich vorbeugte, um diese einzuschenken, vernahm sie seine leise Stimme. „Tornado verträgt den Regen nicht. Für ihn ist Wasser wie ein paar Ohrenschützer. Oder eher gesagt wie eine Nasenklammer.“ Er nickte und stellte noch ein paar Milchbrötchen auf den Tisch, bevor er sich zurück auf seinen Platz setzte und mit seiner angefangenen Arbeit fortfuhr. Er schnitzte einen Kürbis, so konzentriert und filigran, dass er nicht einmal ein Gesicht vorzeichnen musste. Stimmt ja! Bald war Halloween! Kein Wunder, dass es draußen so trüb und grau war. Halloween, Halloween! Ihr Herz machte einen Sprung der Vorfreude. Ja, sie liebte Halloween – besonders wegen der Streiche! Aber wer hätte gedacht, dass Balotelli so eine interessante Schwäche hatte? War ja fast schon angenehm, dass er heute nicht in der Lage dazu war große Reden zu schwingen und sein weißes Zahnpastalächeln ihr keine Kopfschmerzen verursachte! Sie zuckte mit den Schultern und nippte an der Teetasse. Auch Angelo hatte seine Arbeit beendet und gesellte sich zu der Gruppe. Obwohl... „Gesellen“ traf es eigentlich nicht. Etwas in seinen Augen ließ ihn immer weit entrückt wirken. Und wie er so in seiner Kakaotasse rührte und nachdenklich auf das halb herausgearbeitete Kürbisgesicht starrte, wirkte er fast schon traurig. Wendy hob eine Augenbraue und gab ihm einen Stoß in die Rippen. „Was ist denn mit dir los?“, scherzte sie. „Das war doch nicht so ernst gemeint! Natürlich freue ich mich, wenn du Cleaver verbessern kannst!“. Angelo kniff die Augen zusammen. „Das ist es nicht...“, brachte er gequält hervor. „Ich kann Halloween nur so absolut nicht leiden!“. Angelo hasste Menschen, denn die anderen Menschen hassten ihn. Schon immer war er der Außenseiter gewesen. War ein Kind gewesen, dem man nach der Schule auflauerte, um es zu verprügeln und alle Hefte und Bücher zu verstreuen. Ein Kind, welches man auf dem Pausenhof mied. Niemand wollte mit ihm spielen. Jeder piesackte ihn, beschimpfte ihn als „Streber“ und „Brillenschlange“. Sie konnten einfach nicht anders. Denn niemand verstand, was in seinem Kopf vorging, konnte nicht nachvollziehen, dass die Nachkommastellen der Zahl Pi viel spannender waren, als sich nach der Schule zu treffen um gemeinsam Ball zu spielen. Dass der Inhalt der Schulbücher so langweilig und einfach war, dass er die Nachmittage damit verbrachte ganze Lexikonartikel auswendig zu lernen. Als er in die Grundschule kam, ging es los. Im Kindergarten waren sie alle noch gleich gewesen, doch sobald sie anfingen zu Lesen und zu Schreiben, ging die Bildungsschere auseinander. Plötzlich war Angelo ein Außenseiter. Wurde schief angesehen, weil er alles wusste und immer mehr und mehr wissen wollte. Wurde zu einem Exoten, als er zum ersten Mal eine Klasse übersprang und von den Lehrern geliebt, als ihm dies auch ein zweites Mal gelang. Niemand verstand ihn. Und er verstand ebenso niemanden. Er ließ es einfach geschehen, dass sie ihn schubsten und traten, bis er im nassen Oktobermatsch lag und über und über mit blauen Flecken bedeckt war. Es war ihn egal. Er konnte nicht einmal weinen, als er klitschnass vor der Haustür stand und in die Augen seiner Mutter blickte, die die Hände über den Kopf schlug und nicht wusste, was sie sagen sollte. „Ist schon in Ordnung,“ sagte er monoton. „Sie verstehen mich einfach nicht.“ Er zuckte mit den Schultern und zog die Schuhe aus, während seine Mutter davon eilte, um ihm ein Handtuch zu bringen. Nein, es tat nicht weh. Nur ein bisschen. Ein weiches Handtuch wurde über seinen Kopf gelegt, die Haare trocken gerieben. Schmutz verfärbte das Handtuch, gemischt mit etwas Blut. Er hatte wohl doch mehr abbekommen. Doch was kümmerte es ihn schon? Irgendwann würden sie schon damit aufhören. Würden die Lust verlieren, wenn er nur wartete und sich nichts anmerken ließ. Und doch... Irgendwie tat es weh. Er weinte. Halloween. Halloween. Immer nur Halloween. Als gab es nichts anderes mehr in der Welt! Seit Tagen schon redete sein ganzes Umfeld von nichts anderem mehr, dabei war Halloween nichts anderes als ein christlicher Feiertag namens „All Hallows' Eve“, der Abend vor Allerheiligen, der kommerzialisiert und ausgenutzt wurde, um einen zweiten Fasching im Jahr feiern zu können. „Als was wirst du dich verkleiden?“ „Wo wollen wir uns treffen?“ „Bringst du faule Eier und Klopapier mit?“ Nein. Nein. Nein. Er würde da nicht mitmachen. Würde nach der Schule nach Hause gehen und lernen. Und hoffen, dass niemand seiner Klassenkameraden klingelte, um ihn zu belästigen. Immerhin gab es nächste Woche ein benotetes Diktat. Und darauf konnte man nie genug lernen. Einfach nicht darüber nachdenken. Nach der Paukschule nach Hause gehen. Die Hauptwege meiden und vorsichtig sein. Und doch... „Da ist ja die kleine Brillenschlange!“. Angelo zuckte zusammen. Argwöhnisch pirschte sich eine Stimme von hinten den Weg an ihn heran. Gelächter folgte. Seine Schultern versteiften. Nur nichts anmerken lassen. „Hallo Jungs!“, presste er hinaus und wandte sich um. Niemand sollte sehen, wie nervös er war, wie viel Angst er hatte erneut ein Opfer ihrer Brutalität zu werden. Dort standen sie. Zwei Köpfe größer, verkleidet als Vampir, Mumie und Zauberer. Grinsten ihn an, der Zauberer seinen Stock drohend in den Händen wiegend, bereit ihn zum zuschlagen zu benutzen. „Warst wohl noch in der Paukschule, kleiner Streber?“. Wieder Gelächter. Konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? „Ja! Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss nach Hause!“ Er wandte sich zum Gehen. Seine Schritte beschleunigten sich. „Geh' nur zu Mami und weine! Bu-huu, heul' nur!“ Nur nicht hinhören. Einfach den einen Fuß vor den anderen setzen und laufen. Nur noch laufen. Der Vampir grinste und ließ seine spitzen Eckzähne blitzen. „Du willst doch nicht etwas weglaufen?“, drohte er. „Jungs! Fasst ihn!“ Ein Ei schnellte durch die Luft und zerplatzte zwei Schritte hinter ihm auf dem Boden. Noch eines. Und noch eines. Angelo keuchte und schnaufte. Im Sport war er noch nie gut gewesen. Doch er musste rennen! Schneller, noch schneller! Das vierte Ei traf. Und auch das fünfte. Er taumelte, stolperte über seine eigenen Füße und fiel hin. Schmerz durchfuhr seine Handflächen und Knien. Blutende, schmutzige Schürfwunden. Und es wollte nicht aufhören. Gleich würden sie ihn eingeholt haben, ihn wieder treten und schlagen wollen. Nur weglaufen. Er robbte weiter, doch er war chancenlos. Augen zu. Herzschlag bis in den Hals. Das unvermeidbare erwarten. Dann würden sie schon irgendwann aufhören. „Halt!“ Jemand schob sich zwischen Angelo und die drei Angreifer. Ein wehendes rotes Cape über einem blauen Spandex-Anzug. Rote Stiefel, eine rot abgesetzte Unterhose über dem Anzug, sowie ein gelb leuchtendes „S“ auf der Brust. Angelo rieb sich die Augen. Wären die blonden Haare nicht gewesen, dann hätte er für einen kurzen Moment geglaubt den echten Superman vor sich zu sehen. Doch er war es nicht. Es war ein Junge, vielleicht zwei Jahre älter als er, aber größer als die drei Angreifer, der sich zwischen sie stellte und durch seine ausgebreiteten Arme verhinderte, dass man Angelo wieder verprügelte. „Schämt ihr euch nicht, euch an Schwächeren zu vergreifen? Ohibò!“ Er ballte die Faust und blickte die drei verkleideten Jungen drohend an. „Kommt noch einen Schritt näher und ich zeige euch einmal, wie das ist, wenn man zu den Schwächeren gehört, senti!“ Er meinte es ernst. Die Jungen wichen zurück. Sie kannten ihn. Wussten, dass der blonde Junge aus der Parallelklasse keinesfalls zu unterschätzen war und zudem weitere Freunde hatten, mit denen man sich besser nicht anlegte. „Tse!“, der Vampir verzog das Gesicht. „Hältst dich wegen deiner Verkleidung wohl heute für den echten Superman, Balotelli?“ Der Junge warf den Kopf zurück und grinste. „Selbstverständlich! Denn heute ist Halloween. Heute bin ich besonders stark. Neugierig geworden?“ Mit festem Schritt ging er auf die drei Jungen zu, die immer mehr in sich zusammensanken, je näher er ihnen kam. „Ich rate euch, diesen Jungen von jetzt an in Ruhe zu lassen!“ Er verschränkte die Arme und zwinkerte. „Ihr wisst doch, dass ich Italiener bin. Meine ganze Familie ist bei der Mafia! Basta!“ Eine theatralische Pause folgte, in der er den Jungen noch näher kam, bis er schließlich dem Vampir direkt ins Ohr flüstern konnte: „Du willst doch nicht, dass ich deine Füße einbetonieren lasse, um dich anschließend im Fluss zu versenken?“ Der bleich geschminkte Vampir wurde noch weißer im Gesicht. Nervös schüttelte er den Kopf. Auch die Mumie und der Zauberer taten es ihm gleich. „Dann lasst ihr ihn also in Ruhe?“ Sie nickten. Er lächelte. „Sehr schön! Und jetzt zieht Leine! Andare!“ Während die Jungen davonrannten, beugte sich Superman herab und legte seine Hand auf Angelos Schulter. „Alles in Ordnung bei dir?“ Angelo nickte stumm und putzte seine Brille mit dem unteren Ende seines Pullovers. Als er sie wieder aufgesetzt hatte, nahm der andere Junge schon seine Hände und begutachtete sie. „Ahi! Das sieht aber nicht gut aus! Und deine Knie bluten ja auch!“ „So etwas passiert einfach. Immer wieder.“ Angelos Stimme klang monoton wie immer. Doch dann gab ihm der blonde Junge einen Klaps auf die Schultern und lachte: „Aber ab jetzt nicht mehr! Ich werde ab jetzt auf dich aufpassen! Promessa!“ Angelo wollte etwas entgegnen, doch der Junge ließ sich nicht unterbrechen. „Wir müssen jetzt erst einmal deine Wunden versorgen. Und dann ist es Zeit für eine Pizza! Weißt du, meine Eltern haben nämlich eine Pizzeria!“ Hörte der auch einmal auf zu reden? „Wie heißt du überhaupt? Mein Name ist Tornado Balotelli und ich bin 12 Jahre alt!“ - „Angelo Devlynn, 10 Jahre.“ Wann hatte ihn das letzte Mal jemand nach seinem Namen gefragt? Fühlte sich auf jedem Fall komisch an. „Freut mich dich kennenzulernen! Benvenuto, Angelo.“ Er lächelte und hielt ihm die Hand hin. Angelo blickte schüchtern von der Hand zu Tornados Gesicht und wieder zurück. Dann nahm er zögerlich die Hand und entgegnete errötend: „Mich auch, Tornado!“ Kapitel 8: Die Unglückslotterie ------------------------------- Kürbissuppe. Tief liegende Nebelschwaden. Kürbiskuchen. Prasselnde, kalte Regenschauer. Kürbispudding. Nasses Laub auf den Straßen und Wegen. Wendy liebte Halloween! Nicht nur des guten Essens, sondern auch der Tatsache wegen, dass sie dieses eine Mal im Jahr nach Herzenslust die Grundstücke der Nachbarn mit Klopapier, Tretminen und faulen Eiern dekorieren konnte, ohne dass jemand sich beschwerte oder gar die Polizei rief. Klingelstreiche. Zahnpasta an Türklinken. Stinkekäse unter der Veranda. Ja, an Halloween konnte man endlich einmal wieder Streiche spielen und sich kindisch aufführen, ohne dass man dafür bestraft wurde, denn an diesem Tag wurden selbst die verknöcherten alten Nachbarn für ein paar Stunden zu erträglichen Gesellen, auch wenn sie nur Backpflaumen, Nüsse und Rosinen an die Kinder verteilten, die an ihren Türen klingelten. Wendy zog sich ein paar Handschuhe an und öffnete den Ofen. Lecker! Goldbraune Muffins, perfekt auf den Moment ausgebacken, verströmten einen süßlichen Duft von Vanille und Schokoladenstückchen. Vorsichtig zog sie das Blech hinaus und stellte es auf einen Untersetzer. Nur noch etwas abkühlen lassen und dann in jeden der Muffins Himbeersoße spritzen, damit es wie Blut aussah. Und bis dahin noch den Zucker auf den Schalen mit Kürbispudding karamellisieren, den Quiche mit Käse überbacken und den Speck für die Kürbisspieße anbraten, denn heute war ein ganz besonderer Tag: heute hatte sie zum ersten Mal die Clubmitglieder zu sich nach Hause eingeladen. „Du meine Güte, Spätzchen!“ Wendy wandte sich zur Küchentür. Ihre Mutter – ebenso rothaarig und sommersprossig wie sie, nur einen Kopf kleiner, da Wendy in Sachen Größe mehr nach ihrem Vater kam – rückte ihre Brille zurecht und blickte sich erstaunt um. „Wie viele Gäste kommen denn? Das sieht ja auch, als würde ein ganzes Bataillon anrücken!“ Sie schüttelte den Kopf und holte eine Käsereibe aus der Schublade. „Es sind nur die drei Jungs aus meinem Club, die kommen! Gibst du mir bitte den Gouda aus dem Kühlschrank?“ Ihre Mutter nickte und reichte ihr das Stück Käse. „Hast du nicht erzählt, dass es vier wären?“ – „Das schon, aber Angelo – unser Technikgenie – wollte an Halloween lieber Zuhause bleiben. Macht sich sonst vor Angst in die Hose, oder so ähnlich, Weichei...“ RRT. RRRT. RRT. Noch mehr Käse. Immer schön auf den Quiche reiben. RRT. RRRT. RRT. „Drei Jungen...“, sie seufzte. „Spätzchen, bei allem Respekt, das ist viel zu viel zu essen, selbst wenn ihr das mit uns teilt und wir noch Stanizlav einladen!“ Der herzhafte Kürbiskuchen wurde in den noch warmen Ofen geschoben, damit der Käse schmelzen und eine leicht braune Kruste bilden konnte. Wendy griff nach dem Gasbrenner, streute etwas Zucker auf die fertigen Schalen mit Pudding und begann diesen zu erhitzen, damit er schmolz und sich in Karamell verwandelte. „Oder wie wäre es, wenn du V...“ – „Nein!“ Sie drückte plötzlich so fest auf den Auslöser, dass es eine kleine Stichflamme gab. Seit dem vergangenen Sommer durfte niemand das V-Wort in den Mund nehmen, wenn er nicht wollte, dass Wendy sich tierisch aufregte und in eine Phase des grundlosen Vandalismus überging. NIEMAND! „Der arme Junge wohnt doch jetzt ganz alleine! Wer weiß, wann er das letzte Mal etwas Ordentliches zu essen bekommen hat? Du könntest ihm morgen wenigstens die Reste vorbeibringen!“ Danke, Mama. Wirklich fürsorglich. Aber nein! Wendy schmollte und karamellisierte den zweiten Pudding. „Soll er doch verhungern! Ich hab dir doch schon gesagt, dass er mich angelogen hat! Und mit Lügnern will ich nichts zu tun haben!“ Gereizt knallte sie den Gasbrenner auf den Tisch. „Kannst du bitte weitermachen? Die Gäste kommen bald und ich wollte mich noch umziehen!“ Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Küche und stürmte die Treppe nach oben zu ihrem Zimmer. „Aber Spätzchen, willst du nicht wenigstens mal mit ihm reden?“ – „NEIN!“ Die Tür knallte zu. Als zwei Stunden später das Festgelage beendet war, begann es draußen zu dämmern. Schummeriges Oktoberlicht fiel durch die kahlen Ästen des großen Baumes, der auf dem Grundstück der O'Callaghans stand und in dessen Krone das Baumhaus thronte. Wendy zündete ein paar Kerzen an, die – wie nicht anders zu erwarten – in Windlichtern und Leuchtern mit Totenköpfen standen, und verteilte diese im ganzen Zimmer. Ja, so konnte es funktionieren. Jetzt nur noch die berühmt-berüchtigten zwei Kisten aus dem Schrank holen und der Spaß mit der alljährlichen Unglückslotterie konnte beginnen. Sie grinste, öffnete die Zimmertür und rief: „Alles soweit fertig, ihr könnt jetzt hochkommen!“. Ja, das würde ein Spaß werden, mit den Jungs um die allerfiesesten Fiesigkeiten zu spielen und zu erfahren, wer bei seiner Strafe zuerst die Nerven verlieren würde! Träge und vollgefressen bewegten sich Tornado, Zeph und Hayate zur Treppe, die Augen schon halb am Zufallen, so sehr hatte man sie gemästet. „Mamma Mia, Wendy, wer hätte gedacht, dass du so gut kochen kannst!“ Er zwinkerte ihr zu und hob den Daumen. „Du solltest unbedingt einen Küchenjob in unserer Pizzeria annehmen, fantastico!“ Wendy lachte nervös. „So gut bin ich jetzt auch nicht! Ich hatte einfach eine gute Ausbilderin namens Mama!“ Zeph gähnte herzhaft. „Bin so vollgefressen! Könnte jetzt schlafen!“ – „Aber, aber, Sfaticato! Wir wollen eine Dame doch nicht warten lassen, mein lieber Freund!“ Der Clubchef klopfte ihm ein paar Mal auf die Schultern und schubste ihn die Treppen hoch, setzte aber noch im Flüsterton nach: „Und die geklauten Silberlöffel würde ich ganz schnell wieder zurücklegen!“ Der Brünette schüttelte hastig den Kopf. „Geklaut? Nie, nie, habe ich gefunden! Die lagen einfach so in der Küche, einfach so! Glaub mir!“ Hayate war der einzige, der sich vor Wendys Mutter verbeugte und sich – wie es sich für einen gut erzogenen Japaner gehörte – für die Gastfreundschaft bedankte. Er wandte sich ab und hatte nicht einmal einen Fuß auf die Treppe gesetzt, da meldete sich die Mutter noch einmal zu Wort. „...ihr drei Süßen, wartet doch mal!“ Leichter Tadel lag in ihrer Stimme. „Bella Mamma, was gibt es denn?“ Tornado setzte sein charmantestes Lächeln auf und drehte sich um. Die rothaarige Frau ging zur Kommode und öffnete eine Schublade. „Jungs, bevor ihr da hochgeht, muss ich euch noch etwas geben!“ Fehlanzeige. Nächste Schublade. „Ja wo habe ich die denn hingelegt? Ah, hier!“ Triumphierend trat die Mutter an die drei Jungen heran. „Los, Hand auf!“ Ihr Blick wurde mit einem Mal so schneidend und kommandierend, dass alle drei wortlos gehorchten. „Eines für dich! Und eines für dich!“, fest drückte sie dem blonden Italiener und dem Japaner mit den violetten Haaren ein kleines Päckchen in die Hand, „Und dir gebe ich besser mal zwei! Du siehst mir sehr ungeschickt aus!“. Zeph stutzte und betrachtete kritisch die flachen, viereckigen Pakete. Was sollte man darauf nur antworten? „Nie, ist nicht nötig, aber danke!“ – „Und ob! Man kann ja nie wissen, was passieren wird!“ Nein, Gummibärchen waren es nicht. Es waren... Ein hysterischer Schrei schreckte die ganze Nachbarschaft auf. „...K... Kondome?!“ Wendy lief knallrot an. Ihre Mutter nickte eifrig und setzte ihr fürsorglichstes Lächeln auf. „Ja, Spätzchen, heutzutage muss man ganz besonders aufpassen, mit wem man sich einlässt!“ Die Jungen lachten nervös. Wendy schnaubte. „Aber doch nicht...“, sie blickte gereizt von einem Gesicht in das nächste. „Das sind meine Freunde. FREUNDE! Verstehst du?“ Wendys Mutter seufzte und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Aber Spätzchen, denk nur mal daran, was mir passiert ist! Willst du wirklich mit sechzehn Mutter werden?“ Peinlich. Peinlich! PEINLICH!! Und jetzt nahm ihre Mutter sie auch noch in den Arm und drückte sie wie ein Baby, so gut das bei ihren stolzen 173 Zentimetern Körpergröße noch ging! „Jetzt geht hoch und habt Spaß!“ Na toll! Nach der Aktion kann ich den Jungs doch nicht mal mehr in die Augen sehen. Danke, dass du meinen Ruf als coolstes Mädchen der Schule soeben zerstört hast! Ihr Kiefer mahlte, als sie sich aus der Umarmung zu winden versuchte. „Ich bin nicht wie du! Ich werde nie so ein versoffenes Fli-“ – „Bellissima, deine Mamma ist eine wirklich liebreizende und fürsorgliche Persönlichkeit!“, rettete Tornado die Situation und zwinkerte der Mutter ein weiteres Mal in bester Flirtabsicht zu. Sein Lächeln war so strahlend, dass Wendys Mutter den Klammergriff löste und sich an die errötenden Wangen fasste. „Nein, du bist mir aber einer, Balotelli!“ Sie kicherte wie ein Schulmädchen. Wendy seufzte erleichtert. Na wenigstens zog er sie nicht damit auf! „Können wir jetzt anfangen? Ich wollte nachher eigentlich noch Süßigkeiten sammeln gehen – und sagt nichts, das ist TOTAL COOL! – und wenn wir jetzt nicht anfangen, dann haben die ganzen kleinen Kackbratzen schon alles mit Klopapier dekoriert!“ Wenig später saßen sie alle in einem Halbkreis auf dem mit Decken und Kissen bequemer gemachten Boden von Wendys Zimmer und starrten gebannt auf ihre Gastgeberin, die sich einen Hexenhut und ein Cape in tiefstem Schwarz übergeworfen hatte. „Meine sehr verehrten Herren! Ich bitte um Aufmerksamkeit!“ Wendy läutete eine kleine Glocke. „Wie jedes Jahr freue ich mich, Ihnen zwei meiner besten Freunde vorstellen zu können!“ Sie senkte den Kopf und breitete die Arme aus. Im tanzenden Kerzenlicht bildeten sich dunkle Schatten unter ihren Augen, die dem ganzen eine gruselige Atmosphäre gaben. „Zu meiner Linken sehen Sie: die rote Box! In dieser befinden sich Nummern von Eins bis Zwanzig, von denen nun jeder von uns eine ziehen wird!“ Sie reichte Hayate die Box, damit sich alle bedienen konnten. Als letztes zog sie selbst eine Nummer. „Ah, die Vierzehn!“ Zeph betrachtete die schwarze Kugel mit der Nummer Zwei in seiner Hand. Tornado hatte die Neun gezogen, Hayate die Zwanzig. Wendy räusperte sich und setzte eine unheimliche Stimme auf. „Was es mit diesen Kugeln auf sich hat, offenbart der Freund zu meiner Rechten: Die schwarze Kiste!“ Sie hob den viereckigen Kasten an und schüttelten ihn. Er klang voller als der rote Kasten. „Dies, meine verehrten Herren, ist die Unglückslotterie! In ihr befinden sich viele schöne und unschöne Strafen, die denjenigen treffen werden, der die passende Nummer in seinen Händen hält!“ Ein gemeines Grinsen erfasste ihr Gesicht, als sie die Kiste vor den drei Jungen abstellte. Tornado schluckte nervös und blickte zur Tür, die Wendy vorsorglich abgeriegelt hatte. Hoffentlich waren die Prüfungen nicht allzu schlimm, immerhin hatte er einen guten Ruf zu verlieren! Wieder breitete Wendy die Arme aus. „Hinter mir seht ihr mehrere kleine Tische, die mit schwarzen Tüchern verhüllt sind – und um euch nicht länger auf die Folter zu spannen, werde ich nun die Tücher lüften!“ Sie ging zum Stapel ganz links und befreite diesen von seiner Verhüllung. „Hier ist sie: Die Strafe des Geschmacks! Derjenige, der das Glück besitzt entsprechende Prüfung zu ziehen, muss eine dieser Substanzen trinken.“ Das Grinsen wurde breiter. „Vielleicht ist es nur Limonade oder Kaffee, aber hier haben wir auch ranziges Frittierfett, saure Milch, Bratensaft, Tabasco, verbrannte Soße, Seifenblasenlösung, ...“ Mit jedem weiteren Gegenstand wurden die Gesichter der Jungen blasser. Wendy fuhr fort. „Kommen wir zum zweiten Stapel! Die Strafe des Schmerzes! Auf Grund einiger nicht jugendfreier Gegenstände auf diesem Tisch unterlasse ich die Erklärung besser einmal!“ Ein Aufatmen ging durch die Reihe der Gäste, „...aber seid gefasst, dass ein mit Nägeln besetzter Baseballschläger noch zu den harmloseren Dingen gehört!“ Das dritte Tuch wurde gelüftet. „Das hier ist die Strafe des...“, ihre Mundwinkel zuckten für einen Augenblick, „nein, ich verrate euch nicht, was in diesen Umschlägen drin ist, das werdet ihr noch selbst herausfinden!“ Sie lachte leise. In Zephs Gesicht stand „Ich will nach Hause! Sofort!“ geschrieben, Tornado dachte an perverse Fragen und Aufgaben im Stil von „Wahrheit oder Pflicht“ und Hayate... Hayate war wieder einmal unlesbar. „Und schließlich...“, sie hob das letzte Tuch an, „die Strafe der Peinlichkeit!“. Tornados Gesicht entglitt. Er hatte ja mit vielem gerechnet, aber das... „Schminkzeug und Haarspangen?“ Zeph legte den Kopf schief. „Ist das alles?“ Wendy rieb sich die Hände und hob die Augenbrauen. „Oh ja, das ist es!“ Doch der Ausdruck in ihrem Gesicht verriet etwas ganz anderes, nämlich blanken Sadismus. Zeph zuckte zusammen. „Also jetzt... Strafen ziehen?“ Sie nickte und machte eine einladende Bewegung. „Nur zu, Nummer Zwei darf zuerst ziehen!“ Der brünette Pole atmete tief durch, steckte seine Hand in die runde Öffnung der schwarzen Kiste und holte eine Kugel hervor. „Nur zu, lies vor!“, sagte Wendy voller Vorfreude, als er diese geöffnet und den kleinen Zettel darin entnommen hatte. „Die Strafe der Peinlichkeit! Lasse dich von deinen Mitspielern schminken und stylen und schicke anschließend ein Foto davon an alle deine Freunde vom anderen Geschlecht aus deiner Mail-Kontaktliste.“ Er lächelte erleichtert. „Ist nicht peinlich! Ich werde eine wunderschöne Frau sein, wenn auch etwas haarig, nie?“ Doch Wendy schüttelte den Kopf: „Du hast den Nachsatz vergessen, mein Lieber!“ Ernüchterung. Zeph fuhr fort. „Die Strafe entfällt auf denjenigen, der die zweithöchste Nummer hat!“ Wendy triumphierte und hielt die Nummer Vierzehn nach oben. „YES! So eine leichte Strafe hatte ich noch nie!“ – „É andata bene!“ Tornado applaudierte. „Dann bin jetzt ich dran mit dem Ziehen?“ Konzentriert rührte er mit der Hand in der Kiste, bis er schließlich – „Si! Die hier ist gut!“ – eine Strafe hervorholte. „Die Strafe des Geschmacks!“ Alle hielten die Luft an. Würde es eine harmlose Strafe sein, oder würde sie schmerzhaft und ekelerregend sein? „Oh-oh! Du wirst ein Schnapsglas voller Tabasco trinken müssen!“ Er machte eine theatralische Pause, dann las er den letzten Satz vor. „Die Strafe entfällt auf denjenigen, der die niedrigste Zahl gezogen hat!“ - „NIEEEEEEEEEEET!“ Zeph sprang auf und rüttelte an der Tür. Raus hier! Nur raus hier! Doch Wendy hielt den Zimmerschlüssel angriffslustig in der Hand. Hätte es nicht wenigstens Wodka sein können? Oder Frittierfett? Warum Tabasco? Ausgerechnet das, was er am wenigsten vertrug! Sie griff nach der Flasche und schenkte ihm ein Schnapsglas voll der feurigen Flüssigkeit ein. „Willst du jetzt schon trinken, oder sollen wir noch warten, bis die letzten beiden Strafen verkündet worden sind?“ Zeph presste die Lippen zusammen und straffte die Schulter. „Bin ein richtiger Mann! Ich kann das! Gib her damit!“ Bevor noch irgendwer etwas sagen konnte, hatte er sich das Glas geschnappt und in einem Zug heruntergespült. Und es passierte... Nichts. Zumindest für einen Moment. Stumm saß er auf dem Fußboden und starrte die Wand an. Dann begann sein Gesicht plötzlich rot anzulaufen. Schweiß trat ihm aus allen Poren und seine Augen füllten sich mit Tränen. Nur nicht schreien. Ganz ruhig bleiben – auch wenn es schlimmer wie Feuer brannte. „Ist alles okay bei dir?“, fragte Hayate fürsorglich und legte seine Hand auf die kochend heiße Schulter Zephs. „Mh-hm!“ Er nickte wortlos. Dann kippte er plötzlich zur Seite, hielt sich den Bauch und blieb bitterlich weinend liegen. Wendy applaudierte schallend lachend. „Zeph, du steckst ja voller ungeahnter Gefühle!“ - „Mh-hm!“ Er wollte den Mund nicht aufmachen, um nicht zu riskieren, dass die Luft den Brand in seinem Rachen noch verstärkte. Fühlte es sich so an, wenn man sterben musste? Schmerzen, Qualen! Er konnte nicht aufhören zu weinen, so sehr nahm ihn die Schärfe mit. Inzwischen hatte auch Hayate eine Kugel gezogen. „Die Strafe des Drachen!“, begann er mit gewohnt leiser Stimme. „Du selbst wirst mit einem getauschten Drachen an einem Ort deiner Wahl ein Duell austragen. Dein Tausch- und Duellpartner ist der Spieler, der die zweitniedrigste Nummer gezogen hat!“ Er blickte sich um. „Wer von euch ist das?“ Zeph hatte die Zwei, Wendy die Vierzehn, er selbst die Zwanzig. Blieb nur... „Ich bin das, mio Amico! Ich habe die Neun!“ Mit Siegerlächeln hielt Tornado seine Nummer nach oben. Hatte er aber ein Glück gehabt, nicht auch noch eine ekelhafte Flüssigkeit trinken zu müssen, sondern etwas zu tun, das ihm ganz und gar nicht wie eine Strafe vorkam. Zeph stöhnte entnervt. Warum musste er als einziger heute so viel Pech haben?! Wendy reichte Hayate die zehn Umschläge, nachdem sie diese noch einmal durchgemischt hatte. „Hier sind zehn Orte, die wir schnell zu Fuß erreichen können. Angefangen vom Spielplatz und dem Dach der Lagerhalle bis hin zum Umspannwerk. Und glaube mir, in der Nähe von Starkstromleitungen wollt ihr nicht eure Drachen steigen lassen!“ Wieder dieses unheimliche Grinsen im flackernden Schein der Kerzen. „Ich rate dir also gut zu ziehen!“ Hayate erbleichte. Starkstrom? Welcher wahnsinnige Mensch würde sich in der Nähe von Stromleitungen duellieren wollen? Mit Sicherheit nur Lebensmüde, aber dazu gehörten er und Tornado-sama ganz bestimmt nicht. Er atmete tief durch. „Ich ziehe jetzt.“ Seine Hände zitterten. Nahm er diesen Umschlag? Oder doch eher den ganz rechts? Nein, am besten einen aus der Mitte. Er schloss die Augen und reichte den Umschlag seiner Wahl der Gastgeberin. Diese nickte stumm, öffnete ihn und verkündete: „Glück gehabt! Euer Duell mit getauschten Drachen wird am alten Deich stattfinden! Und ich hoffe, ihr habt warme Jacken dabei, denn dort drüben weht immer eine steife Brise!“ Kapitel 9: Das Duell am alten Deich ----------------------------------- Der alte Deich lag wie ein dunkler Strich inmitten von Nebelschwaden, die vom nahegelegenen Fluss aufstiegen. Scharf pfiff der Wind, so dass sie alle froh waren, dass die zehn Windlichter, welche die Begrenzung des Kampfringes markierten, überhaupt angezündet werden konnten und brannten. Zeph, dessen Augen vom Weinen ganz rot unterlaufen waren, hatte sich – selbstverständlich auf einem geklauten Autoreifen sitzend – in eine dicke Lammfelldecke eingewickelt und putzte sich nun schon zum zehnten Mal in dieser Stunde die Nase. Nein, nie wieder würde er so viel Tabasco auf einmal trinken! Dann schon lieber eine ganze Flasche Wodka! Oder Bratensaft! Oder... Ach, alles war besser als Tabasco! Und es grauste ihn schon jetzt davor, dass dieser morgen früh wieder aus ihm herauskommen musste, denn ein weiser Mensch hatte einmal gesagt: „Richtig scharf ist es erst, wenn es zweimal brennt!“. Hayate und Tornado hatten ihre Drachen ausgetauscht und die Anfangsposition eingenommen. Da Angelo Halloween immer mied, musste Wendy notgedrungen als Schiedsrichter herhalten. „Sind alle bereit?“ Sie stellte eine Stoppuhr auf dreißig Sekunden ein und hob eine Trillerpfeife an die Lippen, da der Einsatz der Clubfahne bei derartig schlechten Sichtverhältnissen eher kontraproduktiv war. „Auf meinen Pfiff beginnt die Lift-Phase! Drei. Zwei. Eins.“ FFFFRRRIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII~TT! Wie gewohnt nahm Tornado Anlauf, um mittels Erzeugung von Gegenwind den Drachen nach oben zu befördern. Diesmal würde es ihm leichter von der Hand gehen – da war er sich sicher – denn Shinigami, Hayates Drachen, war wie Wendys Cleaver ein Leichtbaumodell, das auf Grund seiner schlanken Form hohe Geschwindigkeit aufbauen konnte, dadurch allerdings schwerer zu steuern war als sein Drachen Icarus. „LIFT 'EM UP!“ Seine Stimme hallte in der Stille des nächtlichen Deiches, die nur durch den beständig wehenden Wind durchbrochen wurde, nach. Gekonnt wie er vorging dauerte es keine fünf Sekunden, dann schwebte Shinigami, der in seiner Form an eine doppelte, mit Blut beschmierte Sense erinnerte, auf dem Windstrom. Im Gegensatz zu ihm ruhte Hayate in sich selbst. Er war nicht der Typ von Duellant, der laut schreiend durch die Gegend rannte, sondern eher ein Genießer, der sich vom Wind treiben ließ, so dass er Icarus einen halben Meter über dem Boden vor sich baumeln ließ und daraufhin begann eine anmutige Schrittfolge zu tanzen, in deren Zusammenhang er die Arme immer wieder hob und senkte, zur Seite schwang und eine Umdrehung nach der anderen vollzog, bis er einen Luftstrom erzeugt hatte, der wie Thermik auf den Drachen Icarus wirkte. „Lift 'em up... Sakura Dance Style!“ Icarus wurde von einer Windböe erfasst und mühelos in den Himmel getragen, wo er sich mit den tief hängenden Wolken vereinte. Wendy nickte zur Bestätigung und stellte die Stoppuhr ab. Zwanzig Sekunden. Kein Grund auf zeitliche Engpässe hinzuweisen. Jetzt hieß es nur noch zu beobachten, zu lernen und nebenbei darauf aufzupassen, dass die Windlichter nicht ausgingen. Denn wie, wenn nicht durch hell leuchtende Markierungen, sollte man auch sonst bei diesem Mistwetter erkennen, wer am Ende der Verlierer sein würde? Hayate verbeugte sich leicht. „Es ist mir eine Ehre, dir heute Abend im Duell gegenüberstehen zu dürfen, Tornado-sama!“ Der Angesprochene tat es ihm gleich und zwinkerte. „Bellissimo, die Freude ist ganz meinerseits! Aber das heißt nicht, dass ich es dir besonders leicht machen werde!“ Er warf sein blondes Haar zurück und schob sein Stirnband nach oben. „Heute will ich es besonders schnell und hart tun!“ Hayate schmunzelte schüchtern. „Sehr wohl! In wenigen Minuten wirst du unter mir am Boden liegen!“ Hatte sie sich gerade verhört? Die Sprüche, die sich die beiden Jungen da um die Ohren warfen, waren seltsam zweideutig. „Ich doch nicht, mio Amore! Solange ich deinen Drachen in meinen Händen halte, wirst du mir hörig sein!“ Nein! Ganz bestimmt nicht! Da ging nur ihre gesunde Fantasie als fast Sechzehnjährige mit ihr durch, ganz sicher! Tornado preschte voran. „Auf einen Stoß! Los, Shinigami, Rammattacke!“ Er riss die Arme nach vorne und ließ Shinigami in einem Bogen nach unten schnellen. Doch Hayate reagierte sofort, machte eine galante Drehung und zog Icarus aus der Schussbahn. „Ein echter Samurai vergisst niemals seine Deckung!“ Er lief einen flinken Bogen und täuschte mit Icarus eine Bewegung nach Innen vor, um Tornado mit Shinigami aus der Reserve zu locken. Der Blonde reagierte sofort und schwang seine Arme nach oben, um die beiden Drachen gegeneinander rammen zu lassen und tappte in die Falle, ganz wie Hayate es erwartet und gewollt hatte. Sofort zog er Icarus zurück, flog einen kleinen Kreis und startete einen Rammangriff von hinten. „Ah!“ Die Wucht der Attacke kam so plötzlich, dass Tornado aufstöhnen musste. Er wusste ja schon seit längerem, dass Hayate ein wahrer Könner war, doch die Kraft, mit der er durch Icarus auf ihn einwirkte, nahm ihm den Atem. Und noch mehr verwirrte es ihn, als Hayate plötzlich direkt hinter ihm stand und ihm mit lasziver Stimme ins Ohr hauchte: „Habe ich etwa deinen empfindlichen Punkt getroffen?“. Wendy räusperte sich. „Jungs! So gerne ich euch auch dabei zuschaue, aber Körperkontakt ist während eines Duells verboten!“ Es fiel ihr schwer angesichts der eindeutigen Spielereien der beiden ein Erröten zu unterdrücken. Das ließ sich Tornado nicht zweimal sagen und sprintete bis zur Begrenzung des Rings. Er wusste, wie vorausschauend Hayate seine Duelle führte. Und er wusste auch, dass dieser – wenn er einmal in Fahrt kam – nicht mehr so leicht zu bremsen war. Und außerdem... Der Gedanke an das, was der Japaner mit seinem Kirit anstellen konnte, ließ ihm kalte Schauer den Rücken herunterlaufen. Er schüttelte den Kopf. Nein, nur nicht unterkriegen lassen. Immerhin war er der Anführer der „Wright Kite Knights“ und hatte so gar keine Lust, sich von der männlichen Hausfrau des Clubs die Leviten lesen zu lassen. Er presste die Lippen zusammen und sog scharf die kalte Oktoberluft ein. Jetzt war es soweit! Jetzt musste er seinen Drachengeist beschwören! „ICARUS!“, rief er mit lauter Stimme und streckte die Arme weit nach oben, um sich mit dem Himmel zu verbinden. Sofort begannen die Drachenleinen wieder wie Gitarrensaiten zu schwingen. Lichttropfen bildeten sich, die sich an der Spitze des Drachen konzentrierten. Und dann erschien er: Icarus, der geflügelte Bogenschütze, bereit seine Ladung zu verschießen! Hayate blieb die Ruhe selbst und machte nicht einmal Anstalten sich von der Stelle zu bewegen. „Nur zu“, sein Blick wurde fest, „komm endlich! Ich bin bereit!“. Tornado hob die Augenbrauen und formte ein Siegerlächeln. „Für dich doch immer, Bellissimo!“ Icarus spannte den Bogen. Die gesamte Energie sammelte sich an der Pfeilspitze, die plötzlich immer mehr verschwamm und bald nur noch als gleißende Kontur zu erkennen war. Noch einen Moment. Noch ein bisschen mehr. Der Schuss musste so präzise erfolgen, dass er seinen Kontrahenten von den Socken haute. Tornado befeuchtete die Lippen und biss die Zähne zusammen. Warum griff Hayate nur nicht an? Jetzt wäre doch die beste Gelegenheit, ihm mit einem festen Stoß ein Ende zu bereiten! Oder plante er gerade etwa seine Spezialattacke? Hoffentlich nicht! Dann lieber schnell seinen Angriff beenden und den Lichtpfeil abschießen! „Attenzione!“, rief Tornado und umklammerte die Drachenspulen fester. „Ich komme! Icarus, Lichtpfeilregen!“ Auf Kommando verschoss Icarus seine Ladung. Tropfen aus gleißendem Licht schlugen rings um Hayate auf dem Boden ein und blieben als weiße Pfeile stecken. Und auch Hayate selbst wurde mit einem mal überschüttet von Lichtenergie, die ihn mit beiden Beinen auf den Boden festnagelte. „Wie bitte?“ Hayate blickte sich erstaunt um, doch seine Füße bewegten sich unter den weißen Pfeilen kein Stück. Es war kein Schmerz, der seinen Körper durchfuhr, sondern eher ein Gefühl als hätte man seine Beine mit schweren Bleigewichten fixiert, die es unmöglich machten auch nur einen Schritt zu gehen. Tornado lachte laut auf. „Ich habe dich festgenagelt! Gib es zu, dass du verloren hast und ich es voll drauf habe, Bellissimo!“ Hayate schloss für einen Moment die Augen. Dann schüttelte er den Kopf und blickte seinen Teamchef mit eisigem Blick an. „Ich habe doch nur darauf gewartet, dass du deine Ladung verschießt! Denn jetzt kann ich dir den Rest geben!“ Er leckte sich über die Lippen. „Vielleicht kann ich meine Beine nicht mehr bewegen, aber meine Hände sind dafür frei und aktiv wie immer, Tornado-sama!“ Der Angesprochene schluckte. Und auch Wendy, die irgendwann aufgehört hatte die unanständigen Andeutungen während dieses Duells mitzuzählen, sah skeptisch zu dem Japaner mit den violetten Haaren. Konnte das wirklich sein? Hatte Hayate etwa absichtlich nicht reagiert, nur damit der Chef seine Kirit-Energie aufbrauchte? Ihr Blick glitt zum blonden Teamleiter. Oh-oh. Und er steht auch noch direkt am Rande des Kampfringes! „Hayate, lass es ruhig angehen...“ Tornado lachte nervös. „Ich bin schon ganz K.O., also bitte mach es nicht zu fest, prego?!“ Doch Hayate hörte nicht auf ihn. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem unheimlichen Grinsen. „Sayonara, Tornado-sama!“ Dann ließ er Icarus in einem Halbkreis auf den Blonden schnellen und fegte ihn aus dem Ring. „WAAAH!“ Die Attacke traf Tornado so fest, dass er die Leinen von Shinigami losließ und mehrere Meter durch die Luft geschleudert wurde. Und noch mehr: Gerade, als er wieder unsanft auf dem Rücken gelandet war, überschlug sich sein Körper mehrmals und er rollte die Böschung hinab. PLATSCH! „Das Duell ist entschieden! Gewinner ist Hayate mit Icarus!“ Wendy pfiff ab. Die Lichtpfeile verblassten, so dass der Japaner sich wieder frei bewegen konnte. Augenblicklich stürzte er zum Rand des Ringes, hinter dem der Teamchef in den Fluss gefallen war. „Tornado-sama? Ist alles in Ordnung?“ Sein Gesichtsausdruck und seine Stimme waren mit einem Mal wieder die alten, nämlich sanft und unscheinbar wie eine japanische Kirschblüte im Wind. Ein mitleidiges Stöhnen erklang aus dem Nebel. „Alles in bester Ordnung! Das werden ein paar schöne blaue Flecken, danke auch, mio Amore!“ Tornado rappelte sich auf und schüttelte sich das Wasser aus der Kleidung und den Haaren. „Ist das kalt! Ich bin klatschnass!“ Wendy schnappte sich die Lammfelldecke von Zeph, der noch immer unter den Nachwirkungen des Tabascos litt – und somit nur ein leises Murren des Widerstands verlauten ließ – und ging vorsichtigen Schrittes mit Hayate das Gefälle zum Flussbett hinab. „Herzlichen Glückwunsch!“ Sie reichte ihm die Decke, damit er zumindest etwas Wärme abbekam. „Ihr beide wart heute großartig! Ihr habt die Prüfung des Drachen bestanden!“ Sie applaudierte. „Ha-tschi!“ Hayate reichte Tornado ein Taschentuch. „Ich würde sagen, dass die Party damit für heute gelaufen ist?“ Der Blonde fröstelte. Wendy blickte auf die Uhr. „Oh je! Ja, das ist sie! Es ist schon nach 23 Uhr!“ Sie seufzte enttäuscht. „Ach Mann, ich wollte doch Süßigkeiten sammeln gehen! Jetzt habe ich ganz umsonst vier Wochen lang Eier stehengelassen! Soll ich jetzt Küken züchten, wenn ich sie heute nicht mal mehr an Hauswände werfen kann?“ Tornado klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Bellissima! Nächstes Jahr können wir das ja machen! Und dann bringe ich meine kleine Schwester mit – und die ist so süß, dass sie die meisten Süßigkeiten von allen bekommen wird! Haaa-tschii!“ Das Lächeln kehrte in Wendys Gesicht zurück. „Versprochen?“ – „Versprochen!“ Etwa zehn Minuten später schloss Wendy leise die Tür auf und trat auf Zehenspitzen in ihr Zuhause ein. Draußen auf der Veranda brannten noch immer die Kürbislaternen, doch im Haus selbst war es stockdüster. Sie tastete die Wand nach dem Lichtschalter ab und trat in die Küche ein, denn nach all der Aufregung war es jetzt an der Zeit für einen kleinen Nachtimbiss und eine kühle Limonade! Als das Licht anging, stach es ihr für einen Moment in den Augen, so dass sie die Stirn kräuseln und blinzeln musste. Nanu? Wo war den der Rest des Kürbis-Quiche hin? Und wo Speckröllchen mit Kürbisfüllung? Keine Muffins? Nicht ein Kürbispudding? Waren hier geheime Kräfte des Verschwindens am Werk? Schmollend ließ Wendy sich auf einen Stuhl fallen und äffte gedanklich den Tonfall ihrer Mutter nach. „Erwartest du ein ganzes Bataillon? Das ist viel zu viel zu essen!“, hatte sie am Nachmittag noch gesagt und am Ende waren sämtliche Reste verschwunden und verputzt. Sie stützte den Kopf in die Hände und ließ ihren Blick über den Küchentisch schweifen. Drei Teller standen da, mehrere leere Flaschen Guinness, sowie eine dreiviertel geleerte Flasche Schnaps. Ihre Eltern hatten also doch noch Besuch bekommen, den sie großzügig mit den Resten verköstigt und danach in allerbester irischer Gastfreundschaft abgefüllt hatten? Sie rümpfte die Nase. Oh nein. So verschmutzt, wie der eine Platz war, wusste sie genau welches Schweinchen wohl zum Abendessen vorbeigekommen war und wohl mit dem dämlichen „Süßes, sonst gibt’s Saures!“ Spruch und einem Sixpack Bier nach ihr gefragt hatte. Sie schüttelte den Kopf. Oh Mann! Ihre Eltern waren schon echt unverantwortlich, wenn sie mit einem Sechzehnjährigen zusammen ungeniert Alkohol tranken, zumal Wendy bei dieser Kombination nicht einmal sagen konnte, wer am Ende wen unter den Tisch gesoffen haben musste. Und nein. Das gefiel ihr so ganz und gar nicht gut, was in ihrer Abwesenheit hier geschehen war. Entweder, weil sie es verpasst hatte, oder weil sie sich Sorgen machte, dass der Besucher wieder irgendetwas im Suff anstellen würde, was er später bereute. Nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Sie öffnete die Schnapsflasche und gab einen kleinen Schuss in die kalte Limonade. Ja, sie ärgerte sich maßlos. Nicht nur über das, was passiert war, sondern auch, dass sie es wieder einmal verpasst hatte sich zu versöhnen. Sie seufzte und ließ den Kopf auf die Tischplatte gleiten. Freundschaft war schon eine komplizierte Sache, denn irgendwer war immer derjenige, der mehr gab, als er effektiv zurückbekam, so dass irgendwann auch mal Schluss sein musste. Irgendwann war das Maß einfach voll, musste die Notbremse gezogen und einfach mal eine Pause gemacht werden. Nur... Warum tat es dann so weh? Wendy knirschte mit den Zähnen und blickte den leeren, aber vollgekrümelten Stuhl an. „Du kannst manchmal echt ein Arschloch sein! Aber du bist und bleibst mein bester Freund!“ Sie hob das Limonadenglas an und prostete dem Stuhl zu. „Cheers! Oder eher... ¡Chinchín!“ Kapitel 10: Tanz der Geschwister -------------------------------- Nach der kürzlichen Schlechtwetterphase zeigte sich der Herbst nun endlich von seiner schönen Seite. Langsam wurden die Äste der Bäume kahl und braunes Laub kroch vom Wind getrieben über die Straßen und Wege. Tief hing die Herbstsonne und glänzende Spinnweben tanzten auf und ab. Und so wie der Herbst wieder in Fahrt gekommen war, war auch Tornados Stimmungstief wie weggeblasen. Sehr zum Unmut von Wendy. Je strahlender der blonde Italiener sie angrinste, desto stärker hingen ihre Mundwinkel. Und heute, an diesem wunder-, wunder-, wunderschönen Herbsttag war es besonders schlimm. Weiße, makellose Zähne im Sonnenlicht. Perfekt gestyltes Haar, zusammengehalten von einem rosafarbenen – PARDON! – lachsfarbenen Stirnband und eine Haltung, die der ganzen Welt entgegen schreien wollte: „Ich bin ein Gewinner! Seht mich an!“ Womit hatte sie das nur verdient? Es war kalt und ihre Nase lief, weil sie sich bei dem Duell von Hayate und Tornado an Halloween unterkühlt hatte. Eigentlich hatte sie heute den Aufsatz für die kommende Projektwoche über die Stadtgeschichte anfangen wollen, doch war ES schon wieder passiert. Es. Dieser nervige Typ, der sich als „der ehrenhafte Anführer der Drachenritter“ betitelte und der enthusiastischen Meinung war, dass Wendy ihn „un-be-dingt“ heute zum Training seiner kleinen Schwester in rhythmischer Tanzgymnastik mit Drachen begleiten sollte, denn „mia bellissima sorella Okarina“ würde sich ganz bestimmt darüber freuen, mal zusammen mit „Jetzt guck' nicht schon wieder so, es wird dir bestimmt gefallen!“-Wendy Bewegungsabläufe für das in zwei Wochen stattfindende Turnier zu üben, zumal „Hey, geh' doch nicht weg, bevor ich nicht alles erzählt habe!“-Wendy mit dem von Teamtechniker Angelo verbesserten Cleaver üben sollte, bevor sie sich erneut in ein „ritterliches Duell unter ehrenwerten Drachenkämpfern“ stürzen würde. Wendy seufzte und schnallte die längliche Tasche, in die der zusammengeklappte Drachen verstaut war, fester. Wie auch immer. Damit der Stirnbandheini endlich die Klappe hielt, hatte sie doch zugesagt. Und jetzt stand sie hier, vor der Turnhalle der Grundschule, auf die sie früher auch mal gegangen war und von deren Dach sie im Sommer trotz der berühmt-berüchtigten Wassereimer-Steh-Strafe des öfteren Wasserbomben auf vorbeigehende Passanten geworfen hatte. „Aha! Du kannst ja doch lächeln!“, konstatierte Tornado und kniff ihr in die Backen. Mist. Sie hatte sich gehen lassen! „Selbstverständlich kann ich meine unbändige Freude über diese überaus großzügige Einladung an diesem wunder-, wunderschönen Tag nicht verbergen!“, korrigierte sie seinen Enthusiasmus trocken. „Können wir es hinter uns bringen? Ich habe heute noch mehr vor als sinnloses Rumgehampel im windstillen Raum!“ Wendy öffnete die gläserne Eingangstür und trat ein. Der Geruch nach Turngeräten und Putzmittel lag in der Luft. Und dass die Heizung lief, machte ihren Schnupfen auch nicht gerade besser. Sie holte ein Taschentuch hervor und wollte gerade kräftig hinein schnäuzen, als ein spitzer Schrei sich anschickte ihr Trommelfell zu malträtieren. Die Tür fiel ins Schloss. Der Schrei verhallte und wurde zu einem Japser. Und als Wendy endlich genervt in die Richtung der Störung sah, erkannte sie auch deren Quelle. Ein kleines, blondes Mädchen, ebenso blauäugig wie der Teamchef und nicht minder gebräunt als dieser. Das war sie also. Das war die von ihrem Bruder heiß geliebte Okarina Balotelli, dieses elfenhafte, grazile und bezaubernde Wesen, das Balotelli stets in höchsten Tönen lobte. Nerviges, kleines Kreischbalg! „Bellissima! Was ist denn das für eine Begrüßung?“ Tornado breitete die Arme aus und ging auf seine Schwester zu, doch diese verschränkte die ihren und blies die Backen auf. „Toto, du bist doof! Ich mag dich nicht mehr!“ Demonstrativ stampfte das blonde Mädchen mit den roten Schleifen in ihrem zu Zöpfen gebundenem Haar mit dem Fuß auf und drehte den Kopf zur Seite. „Scusi!“ Er hob beschwichtigend die Hände und kniete sich zu ihr herunter. „Ich dachte wir hätten geklärt, dass ich heute jemanden zum Training mitbringe. Sei so nett und sag Wendy Buongiorno!“ - „Ma no!“ Wieder stampfte Okarina mit dem Fuß auf. „Du bist der aller-, allerdoofste Bruder auf der ganzen Welt! Ein richtiger Blöd-Bruder!“ Tornados allzeit präsentes Lächeln erstarb und er erwiderte weinerlich: „Ich habe doch nichts falsch gemacht, mia chiara sorella?“. Prompt schnellte der Finger des Mädchens hervor und deutete auf Wendy, die gerade herzhaft in ihr Taschentuch schnäuzte und nur mit halb geöffneten Augen die bizarre Szene zwischen den Geschwistern beobachtete. „Du hast gesagt, dass du mich heiraten wirst, wenn ich groß bin, Toto. Und jetzt...“, sie schluckte, „jetzt bringst du einfach eine andere mit!“. Mit einem Mal brach der Damm und Okarina begann heftig zu weinen, wie es Kinder in ihrem Alter des Öfteren taten. Wendys Augenbraue zuckte. „Komm mal wieder runter, Kleine, als würde ICH etwas von...“ - „Mach dir keine Sorgen, mia chiara sorella!“ Tornado nahm das heulende Bündel in seine Arme und strich ihm beruhigend über den Kopf. „Ich habe dir doch gesagt, dass Mamma und du die einzigen Damen seid, die ich jemals lieben werde!“ Das klang ja fast so, als ob der Teamchef... Nein. Darüber wollte Wendy gar nicht nachdenken. Und selbst wenn... Was ging sie das an? Und machte ihn das zu einem schlechteren Menschen? Eher nicht. Aber es würde zumindest erklären, warum er neben seinem lachsfarbenen Stirnband auch – das hatte sie neulich mit Schrecken feststellen müssen – auch rosafarbene Socken trug. Das Weinen klang dumpf gegen seine Brust und ebbte nur langsam ab. „Und du wirst sie auch wirklich nicht heiraten?“ Okarina blickte ihren Bruder mit großen, niedlichen Augen an, so dass Tornados Herz vor Freude große Sprünge machte und das übliche Grinsen wieder zurückkehrte. „Nein, nein! Wenn ich jemals eine Frau heiraten sollte, dann nur dich!“ DAS war ja fast schon zu offensichtlich. Das war kein Wink mit dem Zaunpfahl, das war ein Schlag mit einem Holzbrett mitten in die Fresse. Na ja. Wenigstens musste sie sich so keine Sorgen mehr machen, dass er irgendwann in einem „Dein Haar riecht heute besonders gut nach gebratenem Speck und Würstchen!“-Anfall über sie herfiel und ihre Jungfräulichkeit in Gefahr brachte. Sie seufzte laut. Genug Drama für heute. Fehlte bloß noch rosa-fluffige Hintergrundmusik und ein bisschen Glitzer, um diese Szene gebührend zu untermalen. Tornado tätschelte noch ein paar Mal den Kopf seiner Schwester, dann löste er die Umarmung und stand auf. Ein schwungvolles Zurückwerfen der Haare folgte, dann meinte er gewohnt pathetisch: „Wir haben schon genug getrödelt! Auf, auf zu neuen Ufern! Folgt mir!“. Schon als die ersten Töne von Johann Strauss' „An der schönen blauen Donau“ erklangen, war der Geschwisterstreit vergangen wie ein Sommergewitter. Und so wie nach einem heftigen Regenschauer die ganze Welt in malerischer Harmonie erschien, erkannte auch Wendy, dass Tanzgymnastik mit Drachen ganz und gar nicht albern, sondern eine ernst zunehmend und höchst ästhetische Art des künstlerischen Ausdrucks war. Sie saß auf dem Boden der Turnhalle und hatte beim Zusammenstecken Cleavers innegehalten, so sehr irritierte und faszinierte sie die Synchronizität, mit der Tornado und seine kleine Schwester Okarina ihre Drachen führten. Das achtjährige Mädchen war ein wahrer Meister im Umgang mit seinem einleinigen Drachen, der die Gestalt einer Hummel hatte und auch Bumblebee genannt wurde. Und Tornado, der mit der doppelten Leine von Icarus spiegelverkehrt in ihre Choreographie einstimmte, zeigte, dass auch Lenkdrachen dazu in der Lage waren im windstillen Raum allein durch erzeugten Gegenwind und rasche Bewegungen gesteuert zu werden. Eigentlich war die ganze Sache hier und heute ziemlich cool. Nein, Moment?! DAS hatte sie jetzt nicht wirklich gedacht, oder? Stirnbandheini hätte genau so gut ein – sie äffte seinen Tonfall nach – lachsfarbenes Tutu tragen und Pirouetten drehen können, so wie er rumsprang und -hampelte, immerzu sein strahlendes Lächeln zeigend, doch der Anblick zusammen mit seiner Schwester war so herzallerliebst, dass Wendy hätte Regenbogen erbrechen können. Warum musste sie ausgerechnet an so einen Typen geraten sein? Hätte der Anführer des Drachenclubs nicht wenigstens wie richtige Kerle Kickboxen betreiben können? Oder zumindest charakterlich nicht so selbstverliebt und extrovertiert sein können, sondern einfach nur cool und gelassen, wie sich das für einen Teamchef gehörte? Aber nein – er war eine Witzfigur! Genau wie Zeph, der alte versoffene Penner, Hayate, das männliche Mädchen für alles und Angelo... nein, Moment, an dem war gar nichts zum Lachen, sondern eher alles zum Heulen! Und das war noch nicht mal das schlimmste an der ganzen Sache. Noch schlimmer war nämlich, dass sie sich mittlerweile daran gewöhnt hatte. Und mehr noch: Es machte ihr sogar richtig Spaß ihre Freizeit mit dem Drachenclub zu verbringen. Sie schlug die Hand vor das Gesicht. Oh. Mein. Gott. Die Idiotie färbte langsam auf sie ab. Wohin sollte das bloß noch führen? Immerhin war sie erst drei Monate an der neuen Schule, von insgesamt drei Schuljahren, was hochgerechnet 36 Monate, 156 Wochen, oder auch 1095 Tage bedeutete, an denen sie – abzüglich Sonn- und Feiertagen, sowie Ferien, in denen sie hoffentlich weit weit weg verreisen würde – dem Einfluss des Clubs ausgesetzt war. Auslachen würden ihre Freunde sie! Besonders... Ihre Augenbrauen zuckten aggressiv. Nur nicht darüber nachdenken! Denn irgendwann würde schon noch der Tag kommen, an dem sie diesen, diesen – das konnte sie einfach nicht in Worte fassen – in Grund und Boden stampfen würde. Und dass dies ausgerechnet mit einem neuen Drachenclub sein würde, verschaffte ihr bereits jetzt ein kleines Bisschen das Gefühl von Genugtuung. „Du lächelst ja schon wieder so fröhlich, Wendy!“. Tornados verschwitztes Gesicht erschien direkt über ihrem und riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Da hatte sie sich doch so sehr in ihr Kopfkino hineingesteigert, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie die Musik endete! „Fantastico! Ich bin höchst erfreut, dass dir unser kleiner Auftritt so sehr gefallen hat!“ Er wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß ab und setzte sich zu ihr. Okarina stand schweigend neben ihm und nippte an einer Apfelschorle. Auch sie war erschöpft, doch hielt sie das nicht davon ab, Wendy einen bösen Blick zuzuwerfen. Wendy streckte ihr die Zunge heraus und antwortete giftig: „Haltet euch mal nicht für so gut! Ich habe schon bessere Choreographien gesehen!“ Tornado legte den Kopf schief, ließ sein Zahnpastalächeln blitzen und entgegnete freundlich: „Prego? Gib' es schon zu, in Wirklichkeit liebst du unseren Tanz abgöttisch und kannst es kaum erwarten, es selbst einmal auszuprobieren, ma si?“ Wendy zuckte zusammen. Volltreffer. Die Schamröte stieg ihr ins Gesicht. „Na ja. Es ist nicht im geringsten so cool wie das richtige Drachensteigen, aber...“, sie druckste herum, „...es ist eine akzeptable Art des Ausdrucks, die ihr beide... beherrscht...“. Tornado lachte laut auf und klopfte ihr auf die Schultern. „Bene! Hast du das gehört, mia chiara Sorella? Wir haben einen neuen Fan gewonnen!“ Er sprang auf und reichte ihr die Hand. „Worauf warten wir dann noch? Jetzt bist du dran!“ Auf und ab im Walzerrhythmus. Links und rechts, immer die Schrittfolge beachten. Und nie stehen bleiben. Irgendwann hatte Wendy einfach aufgehört zu zählen, wie oft Cleaver zu Boden stürzte, sie wieder Anlauf nehmen und erneut den Takt finden musste. Kein Wind hielt den Drachen in der Luft, so dass es auch keinen Augenblick gab, in dem sie unaufmerksam sein durfte. Ihr Kopf schwirrte vor all den Richtungen, in die sie den Drachen steuerte. Hier gab es keinen Gegner, auf den man stets fixiert war. Hier gab es Höhen und Tiefen, Geraden, Schleifen, Wellen und Kreise. Und immerzu den Dreivierteltakt des Walzers, von dem sie ganz vergessen hatte, wie oft er schon aufgehört und wieder angefangen hatte. Ein guter Freund hatte einmal gesagt: „Drachensteigen ist wie ein Tanz! Es ist der Einklang zwischen Erde und Himmel, die ultimative Verschmelzung zwischen Drachen und Mensch!“. Noch vor drei Monaten hätte sie ihm dafür nur ein müdes Lächeln geschenkt, doch jetzt erkannte Wendy, wie falsch das gewesen war. Ja, Drachensteigen war ein Tanz. Und es war kein Wunder, dass sie bisher immer verloren hatte, so schlecht wie ihr eigener Rhythmus war! War das vielleicht der Grund dafür, dass es ihr bisher verwehrt geblieben war einen Kirit zu erschaffen? Wenn ja, dann war es jetzt wohl an der Zeit dies zu ändern. Sich treiben zu lassen, alles auszublenden außer Cleaver und sich selbst. Spüren, wie die Energie nach oben fließt. Dann würde doch sicher... Die Musik endete. Applaus von beiden Geschwistern. „Bellissima, das war unglaublich!“ Tornado konnte seine Freude nicht verbergen, stürmte auf sie zu und umarmte sie herzlich. Wendy schnappte nach Luft. DAS kam unerwartet! Okarina nickte verhalten. „Gut gemacht... für deinen ersten Versuch!“ „Fantastico! Ich kann es kaum erwarten mich erneut mit dir zu messen, Wendy!“ Tornados Stimme überschlug sich. „Ich wusste, dass es richtig war, dich für meinen Club anzuwerben! Assolutamente! Mit dir wird unser Team noch viel stärker werden!“ Herzklopfen. Auch wenn der Klammergriff reichlich ungewohnt für sie war, fühlte es sich doch gut an. Ein wohliges, warmes Gefühl in ihrer Brust. „Äh, danke?“ Zögerlich legte sie ihre Arme um seinen Rücken und erwiderte die Umarmung mit leichtem Druck. Nein, sie war nicht verliebt. Und erst recht nicht nach der indirekten Offenbarung, die ihr Teamchef ihr vor ein paar Stunden gemacht hatte. Es war eher... „Chef?“, begann sie verhalten. Tornado hielt inne und blickte sie immer noch euphorisch an. „Si?“ Wendy druckste herum. „Ich wollte nur... danke... sagen.“ Sie konnte ihn nicht ansehen. „Ich bin wirklich froh, dass ich Mitglied in deinem Drachenclub sein darf... Und...“, ihre Stimme begann vor Nervosität zu zittern, „...dass wir Freunde sind!“. Das Gesicht des Italieners entgleiste. Erschrocken löste er die Umarmung und wandte sich seiner Schwester zu. „Hast du das gehört, mia chiara Sorella?“ Okarina begann zu lächeln. „Si! Sie hat gesagt, dass ihr NUR Freunde seid!“ Wendy hielt sich die Stirn. Das war auch eine Art der Interpretation. „Ma si! Freunde... Freunde!“ Tornados Faust schnellte jubelnd nach oben. „Fantastico! Endlich gehört Wendy richtig in unser Team! Das schreit doch fast schon nach einer Gratispizza für alle, nicht wahr?!“ Kapitel 11: Der 16. Geburtstag ------------------------------  „Alles Gute zum Geburtstag!“ Knallendes Tischfeuerwerk, Pizza über Pizza, eine Tiramisu-Torte mit sechzehn brennenden Kerzen und außerdem alle Clubmitglieder versammelt. Wendy war gerührt. So gerührt, dass sie sich beherrschen musste, um nicht das Heulen anzufangen. Ja, natürlich hatte sie damit gerechnet, dass man sie unter irgendeinem dummen Vorwand in die Pizzeria Balotelli locken würde, nur um dann – oh nein, was für ein Zufall! – eine Überraschungsparty zu feiern. Trotzdem war es eine Aktion, die man sich noch so oft ausmalen konnte und die sich am Ende doch ganz anders anfühlte. Heute war der 22. November. Und das hieß, dass sie heute endlich auch 16 Jahre alt geworden war. 16 Jahre. Aus der Perspektive von Erwachsenen gesehen kein großes Ereignis, gab es doch viel wichtigere Dinge als den alljährlichen Geburtstag. Doch für jemanden, der gerade dieses magische Alter erreicht hatte, war es wie ein Wunder, das neue Türen aufstieß. Nicht nur, dass sie jetzt unbehelligt Alkohol trinken durfte – Tornado setzte dies gleich um und schenkte ihr ein Glas Pfirsichbowle ein – oder ohne Begleitung in die härteren Kinofilme gehen durfte, nein, Sechzehn zu werden hieß auch das erforderliche Mindestalter erreicht zu haben, um an der Lenkdrachen-Weltmeisterschaft partizipieren zu können. Nicht, dass Wendy das in irgendeiner Weise interessiert hatte, nur schwärmte ihr Clubleiter schon seit Wochen davon, dass man doch könnte, wenn man wollte, und sie zudem mit Wendy endlich die nötige Mindestanzahl an Piloten – man brauchte drei aktive und mindestens eine Reserve – hatten, um – selbstverständlich nur rein theoretisch – an der Weltmeisterschaft teilzunehmen. Sie wollte sich gerade für die nette Geste bedanken, als das hauseigene Telefon klingelte. Sofort schnellte der blonde Gastgeber herum und hob den Hörer ab. „Pronto?“ Wendy blies die Kerzen aus. Volltreffer. Alle sechzehn auf einmal. Das würde Glück bringen! „Nein, ich bringe dir heute keine Pizza vorbei! Basta!“ Tornados Stimme klang ungewohnt gereizt. Wendy nahm das Messer und schnitt den Kuchen an. „Ist mir egal, ob du verhungerst oder nicht. Heute haben wir hier eine geschlossene Gesellschaft!“ Seine Gestik wurde immer hektischer. „Nein, du kannst jetzt nicht vorbei kommen. Geschlossene Gesellschaft heißt, dass der Laden heute geschlossen ist! Basta!“ Er schüttelte den Kopf. „Ma no! Ich kann jetzt nicht ausliefern. Und schon gar nicht, wenn du in diesem unanständigen Tonfall mit mir redest! Ohibò!“ Die Kuchenstücke wurden gerecht an alle Clubmitglieder verteilt. Zeph begann sofort seinen Anteil in sich hinein zu schaufeln, während Hayate noch die Hände zusammenfaltete und „Itadakimasu!“ vor sich hinmurmelte und Angelo akribisch alle Komponenten des Tiramisu untersuchte. Tornado seufzte. „Verstanden. Morgen gibt es dafür einen Nachtisch frei Haus. Arrivederci! Si!¡Adiós!“ Er legte auf. „Ah, dieser Typ macht mich fertig!“ Wendy hob kritisch eine Augenbraue. „Ein aufdringlicher Kunde?“ – „Aufdringlich?“ Tornado lachte nervös. „Das ist noch untertrieben! Der Typ bestellt so gut wie jeden zweiten Tag Pizza bei uns! Und wenn die Lieferung zu lange braucht, dann pöbelt er mich immer an!“ Er setzte sich zurück an die lange Tafel und griff nach der Kuchengabel. „Ah, wenn er nur nicht so gut aussehen würde, würde ich mich weigern immer wieder zu seiner Wohnung zu fahren. Aber seine Haare sind so wunderschön pink und riechen immer wie frisch gewaschen!“ Wendy verschluckte sich fast an ihrem Kuchen. Mit einem Mal wurde ihr Gesicht ganz rot. Tränen schossen ihr in die Augen. Und wieder einmal war es Angelo, der ihr sofort eine Serviette reichte, damit sie ihren Mundinhalt nicht über den gesamten Tisch versprühte. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Er teilte sein Tortenstück und nahm einen Bissen. „Ah, fantastico! Ich bin einfach der beste Bäcker der Welt!“ Wendy schüttelte den Kopf und tupfte sich den Mund ab. „Kann es sein, dass dein aufdringlicher Kunde groß, durchtrainiert und gebräunt ist, mit spanischem Akzent spricht und immer so ein Gesicht macht?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen und imitierte ein breites Grinsen, das ihre Zähne wie weiße Backsteine wirken lies. „Ma si!“ Tornado schlug mit der Hand auf den Tisch. „Woher weißt du das? Und warum kannst du diesen Gesichtsausdruck so gut nachahmen?“ Zeph nahm sich ein zweites Stück Kuchen und beobachtete Wendy, deren Gesichtsausdruck sich mit einem Mal verfinstert hatte. Unruhig fuhr ihr Blick hin und her, bis er schließlich an einer noch heißen Pizza hängen blieb. Augenblicklich sprang sie auf. „Tornado?“ - „Si?“ - „Du packst jetzt sofort diese Pizza ein.“ Wild entschlossen schnitt sie ein großes Stück von der Torte ab. „Und das hier auch!“ Sein Lächeln erstarb. „Warum das denn?“ Nach der Auseinandersetzung am Telefon war ihm so gar nicht danach, jetzt noch einen Lieferdienst zu erledigen, denn das würde mit Sicherheit schmerzhaft werden! Wendy ballte die Fäuste, das Gesicht zu einem bedrohlichen Grinsen verzogen. „Ganz einfach. Du fährst jetzt zu seiner Wohnung und gibst diesem Grobian das Essen. Und wenn er dich fragt warum, dann sagst du ihm einfach folgendes: Er soll Ethan fragen, was er im Gegensatz zu ihm heute vergessen hat!“ Mistwetter. Kaum, dass er den Botengang hinter sich gebracht hatte, fing es an wie aus Eimern zu gießen. Und als hätte dies nicht schon genug auf seine Stimmung gedrückt, kam es ihm fast so vor, als wären die Regentropfen pechschwarz. Seine Sinne waren wie betäubt und er fror. Und bei nasser Straße Inlineskates zu fahren, machte es auch nicht besser. Warum hatte er auch kein richtiges Paar Schuhe mitgenommen? Ach so, weil Wendy ihn so schnell und überzeugend losgeschickt hatte, dass er ganz vergessen hatte daran zu denken. Über was sie jetzt wohl gerade redeten? Er würde es gleich erfahren. Nur noch um diese Straßenecke biegen und knapp fünfzig Meter geradeaus fahren, dann... KLIRR! Scheiben splitterten. Ein spitzer Schrei erklang. Tornado beschleunigte seinen Lauf. Das kam doch von Zuhause! Große Unruhe brach los. Kaum, dass er die Einfahrt erreicht hatte, stürmten ihm auch schon die anderen Clubmitglieder entgegen. Hayate war der erste, der sich zu Wort meldete: „Es ist schrecklich!“. Er legte seine Hände auf die durchnässten Schultern Tornados. „Es ging alles so schnell... Plötzlich kam dort ein schwarzer Schatten, und...“ Er konnte nicht weiter reden. Wendy schaltete sich ein. „Man hat deine Schwester entführt! Und diesen Zettel hinterlassen!“ „Genug ist genug! Die Stadt braucht keine Balotellis! Entweder ihr schließt eure Pizzeria, oder die Kleine muss sterben! Mit freundlichen Grüßen, Olaf“ Tornados Hände zitterten. Wütend knüllte er den Zettel zusammen. „Olaf...“ Seine sonst so sonnige Miene war einem aggressiven Gesichtsausdruck gewichen. Zeph musste niesen. Sein Immunsystem war nicht gerade das beste. „Wer ist dieser Olaf überhaupt?“ Er putzte sich die Nase mit einer bunten Serviette ab, doch Tornado antwortete ihm nicht, sondern wandte sich stattdessen an den jungen Teamtechniker, der als einziger daran gedacht hatte, sich eine Jacke anzuziehen. „Angelo? Hol bitte sofort deinen Computer und finde mittels GPS heraus, wohin dieser arrogante Brezelkönig Okarina gebracht hat!“ Seine Stimme überschlug sich. Wendy erschauderte. Noch nie hatte sie ihn so wütend erlebt. Das war ja fast schon männlich und cool, wie sehr er sich in die Sache hineinsteigerte. Ach, warum konnte er nicht immer so ein taffer Anführer sein? Moment? Was dachte sie hier gerade? Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über solche Dinge nachzudenken, jetzt musste gehandelt werden! Angelo nickte. „Ich werde das sofort erledigen. Die Trackingfunktion wird schätzungsweise zehn Minuten und dreiundzwanzig Sekunden brauchen, um das Ziel zu finden.“ - „Also gehen wir besser rein und essen noch mehr Kuchen und Pizza, nie?“ Super, Zeph. Das waren jetzt genau die richtigen Worte, um Balotelli wieder aufzuheitern! Und wie das wirkte! Mit einem Mal fing der blonde Teamchef das Lachen an, erst nur ganz leise, doch dann immer lauter und hysterischer, nur um die Tränen zu verbergen, die er inmitten den ungewöhnlichen Regenschauers vergoss. Als nach nicht einmal sieben Minuten endlich die GPS-Suche zuschlug – zum Glück trug Okarina Tag und Nacht einen Anhänger bei sich, der ihre Position bestimmen konnte – hatte der Regen aufgehört. Alle Teammitglieder hatten sich notdürftig abgetrocknet und ihre Drachen geschultert. Denn wenn es schon eine Entführung gab, die sich gegen ein Mitglied des Clubs richtete, dann musste der Club auch gemeinsam handeln und das Problem stilvoll mit Lenkdrachen lösen. Im Industrieviertel sollte Tornados Schwester sein. Irgendwo dort bei den großen Containern, die am Fluss auf Binnenschiffe verladen wurden, wartete der Brezelkönig Olaf darauf Tornado und seiner Familie den Rest zu geben. Wendy seufzte genervt und schüttelte unmerklich den Kopf. Warum? Warum konnten sie nicht einfach die Polizei anrufen? Warum mussten sie jetzt auf einen blöden Trip der Selbstjustiz gehen und versuchen, den Entführer mit ihren Drachen zu stellen? Weil es eine Frage der Ehre war? Weil es cool war? Und was hatte dieser Olaf überhaupt mit Drachen zu tun? Würde er am Ende in einem Duell mit einem brezelförmigen Drachen gegen sie kämpfen? Na ja. Wenigstens keine Kartenspiele. Oder Kampfkreisel. Oder arme kleine Tiere, die dazu abgerichtet waren, sich gegenseitig so lange zu beißen und zu kratzen, bis eines von ihnen ohnmächtig wurde! Sie grinste. War ja auch egal. Jetzt würde sie Cleaver endlich wieder bei starkem Wind steuern können. Und bestimmt war nun der perfekte Augenblick gekommen, um einen Kirit zu erwecken. Tornado hatte eine Kamera an Icarus befestigt und ließ den Drachen emporsteigen. Angelo nickte, als sein Laptop ein Nachtsichtbild zeigte und setzte sich daraufhin auf den Gepäckträger von Zephs altem Fahrrad, das bei jeder Tretbewegung quietschte und ächzte. Auch Wendy und Hayate stiegen auf ihre Fahrräder, während Tornado noch einmal die Bindung seiner Inlineskates überprüfte. Schließlich klopfte er sich mehrmals auf die Wangen, schob sein Stirnband nach oben und rief zuversichtlich: „Ehrenwerte Drachenritter? Los geht’s!“ Kollektives Herzrasen. Ba-dum. Ba-dum. Alle starrten gebannt auf den Bildschirm. Dort oben war sie. Dort oben hatte dieser verrückte Brezelverkäufer Tornados Schwester angekettet. Ihr die Arme an den Körper gebunden und sie wie ein Sandsack in fünfzehn Meter Höhe von der Verladebrücke im Hafen baumeln lassen, die normal nur zum Umladen von Containern benutzt wurde. Tornado knirschte mit den Zähnen und drehte Icarus im Wind hin und her, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Dort, auf der linken Seite des stählernen Krans, war eine Treppe, die sich eng nach oben wandte. Er musste es versuchen! Er musste einfach dorthin! Er verband die Haltegriffe mit Zephs Fahrradlenker, zog die Skates aus und wollte gerade in Socken losspurten, da packte ihn Hayate an der Schulter und zog ihn zurück. „Warte!“ Tornado starrte ihn mit fiebrigem Glanz in den Augen an und schlug den Arm weg. „Lass mich! Da oben hängt meine Schwester – und sie hat furchtbare Angst. Ich muss sie einfach da runter holen, bevor noch schlimmeres passiert!“ Seine Stimme wurde immer lauter. Hayate schüttelte den Kopf. „Wir müssen vorsichtig sein! Siehst du das hier?“ Er deutete auf den Bildschirm. Dort drüben, am anderen Ende des Krans, hoch oben auf einer Plattform, stand der Brezelkönig Olaf. Eigentlich war Olaf ja ein sehr umgänglicher Mann, der mehrere Bäckereien in der Stadt besaß, doch heute... Heute war er ein anderer Mensch. Wie wahnsinnig stand er dort oben, in der Hand eine Fernbedienung, und wartete. Angelo nickte. „Der Vergrößerung nach zu urteilen trägt er den Auslöser einer Bombe mit sich, welche...“, er vergrößerte den Ausschnitt ein weiteres Mal, „direkt an die Befestigung gekoppelt ist, die deine Schwester dort oben hält.“ Tornado biss sich so fest auf die Lippen, dass das Blut floss. Noch nie war er so angespannt und ratlos gewesen. Sein ganzer Körper zitterte, als er den riesigen schwarzen Kasten erkannte, der mit den Seilen verbunden war, an denen Okarina baumelte. „Wir müssen doch irgendetwas tun können?“ Er ballte die Fäuste. „Ich muss da einfach hoch, sofort!“ Hayate wollte etwas erwidern, doch Wendy hielt ihn zurück. „Lass ihn. Zeph, wir werden unsere Drachen nehmen und diesen Verrückten ablenken, während Balotelli sich von hinten heranschleicht.“ Der Angesprochene nickte und löste die Drachentasche von seiner Schulter. Mit wenigen Handgriffen hatte er seinen Drachen aus der Hülle befreit und zusammengesteckt. Auch Wendy tat es ihm gleich. Keine halbe Minute später flogen Cleaver und Aquila auch schon hoch oben, während ihre Piloten auf die Verladebrücke stürmten. Angelos Finger flogen währenddessen über die Tastatur des Laptops. Die Bombe entschärfen. Irgendwie. Irgendwie erst einmal die Funkfrequenz unterbrechen, damit dieser Verrückte nicht den Auslöser drücken konnte. Das war er Tornado schuldig, bei all dem, was er schon für ihn getan hatte! „Schluss jetzt!“, brüllte Zeph. Sofort wandte sich der wahnsinnig gewordene Bäckermeister den beiden Drachensteigern zu. „Ihr! Was wollt ihr hier? Die Zeit zum Spielen ist lange vorbei!“ Er stampfte mit dem Fuß auf und schrie: „Ich will endlich Genugtuung! Die Balotellis machen mir mit ihrer Pizzeria mein ganzes Geschäft kaputt! Jetzt haben sie auch noch kalte Pizzabrötchen im Angebot, das geht doch nicht! Dafür sollen sie sterben, allesamt!“ Er fuchtelte wild mit der Fernbedienung umher. „Kann nicht still halten, das nervt!“ Auch Zephs Blick hatte sich verfinstert. Wogen der Energie flossen durch seine Hände hinauf in den Drachen. Es gab einen hellen Blitz, dann löste sich der Adler von seiner physischen Hülle und setzte zum Sturzflug an. Tornado keuchte. Noch wenige Meter, dann hatte er die Spitze des Turms erklommen. Und dann noch etwa zwanzig waghalsige Meter hoch über dem Abgrund balancieren, bis er seine Schwester erreicht hatte. Ein Glück, dass er keine Höhenangst hatte! Olaf lachte. „Kommt bloß nicht näher! Wenn dieses Ding mich trifft, dann drücke ich den Auslöser!“ Doch Zeph verneinte. „Nie, habe ich auch nicht vor. Ich will die Leinen durchtrennen und dann das kleine Mädchen mit Aquila auffangen. Das wird sicher...“ – „Tu es nicht! Du bringst sie sonst um!“ Wendy blickte sich überrascht um. So laut hatte sie Hayate doch noch nie rufen gehört! Zephs Adler-Kirit kreischte und beendete seinen Sturzflug, indem er ihn in einem Bogen ausflog. Er flatterte ein paar Mal mit den Schwingen, dann kehrte er zu Zeph zurück und verschmolz wieder mit der Silhouette des Drachen. „Wenn die Bombe durch irgendeine Erschütterung instabil wird, dann explodiert sie sofort!“ Auch Tornado hielt vor Schreck inne. Mit einem Mal wurde ihm ganz schwindelig und er musste die Augen zusammenkneifen, um das plötzlich aufkommende Gefühl der Ohnmacht zu unterdrücken. Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein! Seine Schwester hatte niemandem etwas getan und trotzdem wagte man es, ihr so etwas Grausames anzutun? Niemals. Niemals! Er wischte sich über das Gesicht. Das alles war ihm zu viel. Es machte ihm so viel Angst, dass er seine Tränen nicht zurückhalten konnte. Angelo und Hayate taten ihr Bestes, um den versteckten Code zu entschlüsseln. Zeph war machtlos, denn die physische Kraft des Adlers konnte nur mehr Schaden anrichten, als dass sie die Rettung war. Fehlte bloß noch... „Wendy!“ Tornado schrie, so laut er konnte. Irritiert blickte die Angesprochene zu ihm hinauf. „Prego, du musst es schaffen! Erinnere dich an das, was wir neulich geübt haben!“ Er schluckte. „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen! Jetzt muss dein Kirit erwachen!“ Mit einem Mal wich sämtliche Farbe aus Wendys Gesicht. Ihre Hände begannen zu zittern, so stark, dass auch Cleaver im Wind hin- und herschwankte. „Aber ich...“ Ihr Herz schlug bis in den Hals und pochte laut in ihren Ohren. Ba-dum. Ba-dum. Ba-dum. „Ich bitte dich! Prego! Du bist die einzige, deren Kirit wir noch nicht kennen. Du musst einfach einen Weg finden ihn so zu nutzen, dass er uns helfen kann!“ Nein. Niemals. Nicht sie. Konnte das nicht einfach die Polizei machen? Mit dem Entführer verhandeln, ihn schließlich von dort oben abschießen, sobald er die Fernbedienung fallen gelassen hatte und dann die Bombe entschärfen? Was war das heute nur für ein beschissener Geburtstag! Ihr ganzer Körper bebte. Entspann dich! Tief durchatmen. Wie sie es geübt hatten, dort beim Training in der Turnhalle. Eins werden mit dem Lenkdrachen. Die Verbindung von Himmel und Erde spüren. „Ich kann das...“, versuchte sie sich zu beruhigen. „Ich kann das ganz bestimmt!“ Ihre Hände gruben sich noch fester in die Drachenspulen. Ruhig bleiben. Zeph nickte. „Du kannst das! Einfach laufen lassen, ist wie aufs Klo gehen!“ Wärme bildete sich. Seltsame Schwingungen ließen ihre Finger kribbeln. „Ich schaffe das...“ „DU SCHAFFST DAS!“ Mehr Energie, immer mehr. Wärmer, heißer. Noch heißer! Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Immer stärker gewann die Hitze aus ihrem Inneren die Oberhand. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie atmete schwer. Noch einen Moment. Einen kurzen Moment. Jetzt... Sie blickte nach oben und fokussierte den wahnsinnigen Bäckermeister mit weit aufgerissenen Augen. „Bitte! Hör auf damit, auf der Stelle!“ Sie riss ihre Arme empor, um die Energie fließen zu lassen. Dann gab es einen lauten Knall. Kapitel 12: Alles auf Null! --------------------------- „AQUILA!“ Ein Adlerschrei ertönte, als Zephs treuer Kirit aus dem Lenkdrachen empor schnellte und das fallende Mädchen vor dem sicheren Tod bewahrte. Blind tastete sich der Adler hervor, denn die Luft war mit einem Mal erfüllt von Staub. Ja, die Bombe war explodiert. Der Brezelkönig war so verunsichert von der plötzlichen Energieansammlung, dass er vor Schreck den Auslöser gedrückt hatte. Das war der Moment, in dem der ganze Schwindel aufflog. Die kräftigen Krallen des Adlers schlangen sich um den ohnmächtigen Körper von Tornados Schwester. Mehrere Flügelschläge formten kleine Wirbelstürme in der großen Staubwolke, dann war der Sturz kurz über dem Boden abgefangen. Vorsichtig setzte der Kirit das Mädchen ab, dann wurde er in Zephs Drachen zurück gesogen. „Okarina! Mia chiara Sorella, hörst du mich?“, presste Tornado unter Husten hervor. Die Bombe war direkt neben seinem Kopf explodiert und dennoch war er... am Leben? Er hatte den Geschmack von Brezeln und Salz auf der Zunge. Und als er sich über die Augen wischte und seine Haare ausschüttelte, stoben viele kleine Brotkrumen davon. „Alles klar hier unten, nix passiert!“, rief Zeph mit zu einem Trichter geformten Händen nach oben. „Hab nur ein Stück Brezel an die Stirn bekommen, blutet ein bisschen!“ Tornado atmete erleichtert auf. „Geht es dem Rest auch gut?“ Er tastete sich weiter auf der Verladebrücke voran. Nicht einmal ein Loch hatte die Bombe in den Stahlträger gefressen. Es war alles nur eine billige Show gewesen, um seine Familie einzuschüchtern. Fast schon zu komisch! Hätte dieser verrückte Bäckermeister Mehl anstatt gemahlenen Brotresten und Brezeln für seine Bombe verwendet, dann hätte sich durch den Funken alles in ein brennendes Inferno verwandelt, doch so waren sie – Gott sei Dank! – alle mit dem Schrecken davongekommen. Wirklich alle? Noch immer stand Wendy kerzengerade da. Apathisch. Mit starrem Blick verfolgte sie durch die Staubwolke hindurch die helle Spur des kleinen Skorpions, den sie unter Aufbringung all ihrer Kraft beschworen hatte. Flink krabbelte das rosarote Tier wie auf einer unsichtbaren Leiter empor, bis es schließlich die Plattform erreicht hatte, auf welcher der Brezelkönig zusammengesackt war. Dann ging alles ganz schnell. Der spitze Stachel schnellte empor und stach Olaf mitten ins Herz. Während dessen Gesicht langsam wieder eine normale Farbe annahm, verblasste der Kirit, bis er schließlich ganz verschwunden war. Olaf riss die Augen weit auf. Er zitterte. „Was... habe ich nur getan?“ Er fasste sich an die Brust. Das Bild vor seinen Augen war unscharf und veränderte sich mit jedem Atemstoß. Mit einem Mal fühlte er... Ja, was fühlte er? Entsetzen. Und Reue. Was hatte ihn nur dazu gebracht, solche schlimmen Dinge zu tun? Ja, natürlich war die Konkurrenz im Gastronomiegewerbe hart, aber bisher war doch alles gut gelaufen. Wann, wann hatte ihn der Hass nur so verzehrt, dass er... Er konnte es kaum in Worte fassen. Mit wackeligen Beinen stand er auf und wandte sich Tornado zu. „Es... tut mir leid!“ Olaf nickte. Tränen standen ihm in den Augen. Vor Scham. Vor Wut über sich selbst. „So etwas schlimmes werde ich nie wieder tun!“ Dann fiel er in Ohnmacht. Kippte vornüber, direkt in den Abgrund. Doch er fiel nicht. Fest packte Tornado seine Schulter und bugsierte ihn zurück auf die Hochfläche. Noch immer war er von oben bis unten mit Paniermehl eingestaubt, doch kehrte langsam die gewohnte Coolness zurück. Lässig setzte er sich neben den bewusstlosen Bäcker und ließ die Füße baumeln. Sie hatten überlebt. Sie alle hatten Glück gehabt. Und das beste... Wendy war es endlich gelungen, ihren Kirit zu erwecken. Auch wenn er eher damit gerechnet hätte, dass dieser eine Raubkatze und kein giftiger Skorpion war. Ja, Wendy war schon eine Bereicherung für seinen Club. So sehr, dass er sich sicher war, dass sie, wenn er in anderthalb Jahren... KA-BUMM! Für eine Sekunde setzte sein Herz aus. Ein greller Blitz erhellte die Nacht. Wendy schrie. Schrie vor Schmerz, als sich die angestaute Energie plötzlich nicht mehr halten konnte und Cleaver in Stücke aus heißer Glut zerriss, die sich tief in ihre Handflächen fraßen. Starr vor Schreck sahen die Clubmitglieder, wie Wendys Arme Feuer fingen und die Plastikspulen in ihren Händen zu glühender Lava wurden. Beißende Hitze, die sich ihren Weg durch ihre Kleidung bahnte, gierig ein Stück Fleisch zu zerfetzen. „Wendy!“ Tornado hastete augenblicklich zu der steilen Treppe, die auch an der rechten Stahlsäule des Krans in die Tiefe führte. Doch er würde zu spät kommen. Egal wie sehr er sich beeilte. Zeph reagierte keine Sekunde zu spät. Mit ganzer Körperkraft stürzte er sich auf Wendy, die immer lauter schrie und weinte, ihre Arme wild hin- und herschüttelte, doch nicht Herrin über das Feuer werden konnte. Er machte es gleich einer Horde Footballspieler: er warf sich auf sie und erstickte die Flammen, indem er sie mit seinem Körper in den matschigen Boden drückte. Rauch stieg auf, der den Geruch verbrannten Fleisches mit sich trug. Vom Himmel regneten die zu Asche gewordenen Überreste von Wendys Drachen Cleaver herab, fast wie grauer Schnee, nur dass dieser Schnee an einem Ort fiel, an dem die Luft noch immer heiß und stickig war. Die letzten zwei Meter sprang Tornado herab. Seine lachsfarbenen Socken platschten in die nasse Erde und verspritzten Matsch, der seine feuchte und staubbedeckte Kleidung noch mehr verdreckte. Doch es spielte keine Rolle. „Okarina! Wendy!“ Die Luft brannte in seinen Lungen, als er auf die Gruppe zuraste. „Toto!“ Das blonde Mädchen wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und schluckte. „Mir geht es gut, bene! Aber Wendy ist...“ Der Teamleiter ging neben seinem jüngsten Clubmitglied auf die Knie und nahm ihren zerzausten und rußgeschwärzten Rotschopf auf den Schoß. Müde öffnete Wendy die Augen. „Ist alles vorbei?“ Sie spürte die Schmerzen schon gar nicht mehr, so tief war sie schon in sich hinein gesunken. Tornado nickte zögerlich. Es fiel ihm schwer, doch er rang sich dazu durch sein Siegerlächeln aufzusetzen, seine Haare lässig zurückzuwerfen und den Daumen zu heben. „Si! Wir haben es geschafft! Und dein Kirit ist wirklich eine Wucht!“ Wendy lächelte schwach. Dann verlor sie das Bewusstsein. Weiße Schneeflocken vor grauem Himmel. Lautlos fallend, wie Federn im Wind. Weiter, immer weiter, hinunter auf die im trüben Zwielicht liegende Welt. Eine Woche war vergangen, seit der verrückt gewordene Brezelkönig Tornados Schwester entführt und ihnen allen eine Falle gestellt hatte, aus der sie nur mit Mühe und Not entkommen waren. Eine Woche, in der sie schon hier lag. Mehr schlafend als wach, träge und ohne die Kraft, auch nur einen Finger zu rühren. Doch sie lebte. Sie alle lebten. Hatten den Kampf für sich entschieden, auch wenn der Preis dafür viel zu hoch war. Wendy hatte die Augen geschlossen und versuchte nicht an die Schmerzen zu denken. Wann immer sie wach war spürte sie es. Spürte den dumpfen Schmerz, betäubt durch das Betäubungsmittel, das Stunde um Stunde, Minute um Minute in ihre Venen tropfte. War das der Preis dafür, dass sie zu gierig gewesen war? Dass sie unbedingt auch einen Kirit haben wollte und dafür all ihre Energie geopfert hatte? Sie erinnerte sich nur bruchstückhaft. Plötzlich war er da und rief zu ihr tief aus ihrem Inneren. „Wendy... Wendy...“ Ein überschäumendes Glücksgefühl überkam sie. „Endlich kannst du mich hören! Ich habe so lange auf dich gewartet!“ Sie war tief in sich hinein gekehrt, versunken in einer anderen Sphäre. Dort stand er ihr gegenüber. Ein rosarot schimmernder Skorpion mit kindlichem Gemüt. „Sting...“, erwiderte sie wie in Trance. „Ja, so lautet mein Name. Und wenn du mich lässt, dann werde ich dir helfen!“ An alles weitere konnte sie sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie wusste noch, dass der Skorpion zugestochen hatte und ihr Gegner mit einem Mal große Reue empfand. Doch dann stand alles um sie herum in Flammen. Flammen, die Cleaver komplett verzehrten und sich tief in ihre Handflächen fraßen. Zeph, der das Feuer ausdrückte, Balotelli, der sie aufmunterte. Dann Schwärze. Und als sie dann wieder aufwachte, lag sie hier. Im Krankenhaus. Und sie empfand Leere. Nichts als Leere. Weder Trauer, noch Wut, noch Verzweiflung. Keine Befriedigung und keine Freude. War es die Strafe, die jeden Helden erwartete? Jeden rastlosen Wanderer, der einen Gipfel erklommen hatte und feststellen musste, dass all das, was er erreicht hatte, eigentlich nur so viel wert war wie die dünne Luft und der leere Himmel über ihm? Es spielte keine Rolle. Denn was geschehen war, war geschehen und war nicht rückgängig zu machen. War die Folge einer Verkettung von Ereignissen, die aufgereihten Dominosteinen gleich gefallen waren und ein Bild der Zerstörung erschaffen hatten. Eigentlich hatte sie Glück gehabt. Eigentlich hatten sie alle Glück gehabt. Davongekommen zu sein. Etwas gutes getan zu haben. Sie wandte die Augen vom Fenster ab, wagte es aber nicht sie zu schließen. Immer und immer wieder holte sie die Feuersbrunst ein, brannte sich erneut in ihre Hände und entfachte ein Inferno in ihrer Lunge, das den Geschmack von Eisen und verkohltem Fleisch mit sich zog. Finsternis. Egal, wie oft man ihr erzählt hatte, was danach geschehen war, die Erinnerung wollte nicht zurückkehren, war nichts mehr als ein stummes Echo in ihrem Herzen. „Ich werde dir helfen! Gemeinsam schaffen wir es!“ Lügner! ...LÜGNER! Fast umgebracht hatte er sie! Hatte ihr fast alle Energie entzogen und Cleaver einfach pulverisiert. Den armen Cleaver, der doch gar nichts dafür konnte, außer dass er für sie als eine Art Blitzableiter fungiert hatte. Schwerfällig richtete sie sich auf. Nie wieder. Nie wieder würde sie auch nur Hand an einen Drachen anlegen. NIE WIEDER! Es klopfte verhalten. Stille. Wendy seufzte. Lasst mich doch einfach alle in Ruhe! „Herein?“ Bestimmt wieder nur einer dieser so genannten „Bekannten“, die sich an ihrem Leid ergötzten, nur um sich durch den kleinen Akt der Nächstenliebe in ihrer eigenen Existenz besser zu fühlen. Einfach nur ertragen. Genau wie die Schmerzen, die ihr trotz Betäubungsmittel in regelmäßigen Abständen wie Meereswogen durch den Körper jagten. „Darf ich eintreten?“ Immer diese Japaner mit ihrer „Maxime der Höflichkeit“! „Nur zu.“ Selbst die einfache Geste auf den Stuhl neben ihrem Krankenbett zu deuten, bereitete Wendy Schwierigkeiten. Der Besucher nickte schweigend und nahm Platz, nachdem er seinen Mantel über die Stuhllehne gehängt hatte. „Ich dachte ein Krankenbesuch wäre angesichts deiner Lage angebracht.“ Er musterte sie wortlos mit seinen grauen Augen. Wendy wandte den Blick ab. „Sieh mich nicht an! Ich sehe furchtbar aus!“ Immer dieser Analytiker. Aber wenigstens verkniff er sich den Klassiker aller Fragen, die jeder Patient seinen Besuchern beantworten musste: „Tut es weh?“. Natürlich tat es das. Das sah man doch. Immerhin explodierte einem nicht jeden Tag ein Lenkdrachen in den Händen und fraß sich so tief ins Fleisch, dass man echt Glück haben konnte danach noch alle Finger zu haben! „In der Tat“, konstatierte er. „Furchtbar trifft es ziemlich gut.“ Nein, wie charmant! Ihre Augenbrauen zuckten. Der Besucher öffnete seine Tasche und reichte ihr einen kleinen Handspiegel, in dem mit japanischen Schriftzeichen sein Familienname eingraviert war. „Du hast da... etwas... im Gesicht.“ Etwas. Etwas. Was denn? Es fiel ihr schwer mit den bandagierten Händen den Spiegel zu greifen, so dass sie ihrem Gast dankbar war, dass er ihn so hielt, dass sie hineinblicken konnte. „Hääää~?!“ Augenblicklich entgleiste ihr Gesicht und nahm eine tiefrote Farbe an. Das konnte doch nicht wahr sein! Da hatte ihr doch jemand mit schwarzem Filzstift im Gesicht herum geschmiert, während sie geschlafen hatte. „Das gibt es doch nicht!“ Nervös fuhr sie sich über die rechte Wange, doch die Farbe wollte nicht abgehen. Peinlich! SO PEINLICH! „Ich hab' nen Pimmel im Gesicht!“ „Das ist nicht das einzige...“, ergänzte der japanische Besucher und deutete auf ihre linke Wange. „Dir wurde auch eine Botschaft hinterlassen.“ Wendy drehte das Gesicht, um das Gesamtkunstwerk besser im Spiegel betrachten zu können. Sie biss sich auf die Lippe. „¡Lo siento!“ Wut stieg in ihr auf. Diese Sauklaue war eindeutig zuzuordnen. „Ich gebe dir gleich ¡Lo siento!!!“ Typisch. So typisch! Kaum dass sie einmal außer Gefecht gesetzt war, nutzte dieser Volltrottel Vald die Gelegenheit ihr einen Streich zu spielen! Ihre Zähne mahlten. „Was bildet der sich eigentlich ein? Einfach wehrlosen Kranken während sie schlafen Schweinereien ins Gesicht zu kritzeln!“ Sie sprang auf und hastete zum Waschbecken, doch als ihre bandagierten Arme kurz über dem Wasserhahn waren, resignierte sie und wandte sich mit hilflosem Blick dem Besucher zu. „Ethan... Es tut mir leid, aber... kannst du mir helfen?“ Er nickte und strich ein paar dunkelblaue Strähnen aus der Stirn. Als er aufstand und zum Waschbecken ging, schwebte er fast dahin, so viel Ruhe strahlte sein Gang aus. Er befeuchtete den Lappen und deutete auf das Krankenbett. „Setz dich.“ Wendy nickte und kroch zurück unter die Bettdecke. Als sie die Augen schloss, spürte sie wie ihr Ethan vorsichtig das Gesicht abtupfte. Sie seufzte. „Warum macht der nur so etwas?“ – „Das ist Vald, was erwartest du?“ Stimmte auch wieder. Seit Ethan und sie den impulsiven Chilenen vor über vier Jahren kennengelernt hatten, war es des Öfteren zu unberechenbaren Situationen gekommen. Und das schlimmste daran? Eigentlich machte es Wendy nicht einmal etwas aus! Eigentlich war es sogar ganz lustig. Nur nicht, wenn man gerade mit schweren Brandverletzungen im Krankenhaus lag und nicht mal selbstständig essen, geschweige denn sich den Hintern abwischen konnte! „Ist ja nett von ihm, dass er mir eine Entschuldigung ins Gesicht schreibt, aber durch diese Pimmelzeichnung wurde diese sofort wieder vergolten!“ Sie drehte den Kopf, damit Ethan auch die andere Gesichtshälfte mit dem Waschlappen reinigen konnte. „Ich sehe, bist du immer noch nicht gut auf ihn zu sprechen?“, drückte er mit gemäßigter Stimme den Sachverhalt aus. Wendy schmollte. „Niemals! Nach seiner Hopp-und-Weg-Umzieh-Aktion braucht es mehr als eine kurze Entschuldigung, um es wieder gut zu machen! Und dann hat dieser Vollhorst es nicht mal geschafft mir an meinem Geburtstag eine Nachricht zu hinterlassen. Ich habe keine Lust mehr auf den, soll der doch in seiner Siffbude verrecken!“ Ihre Stimme überschlug sich. Vald war für sie wie ein rotes Tuch. Jemand, der es nach jahrelang gehegter Freundschaft geschafft hatte alles einzureißen, fast wie ein wild gewordener Hai, der seine Beute zerfetzte. „Die ganze Geschichte ist wirklich unglücklich verlaufen. Dass ihr nicht mal mehr miteinander reden könnt...“ Oh Ethan. Du hast ja auch nicht jahrelang Tür an Tür mit ihm gewohnt! Und dir hat er mit Sicherheit mitgeteilt, dass er in den Sommerferien endlich von seiner Pflegefamilie weggehen und in eine eigene Wohnung ziehen würde! Wendy knirschte mit den Zähnen. „Dass der es überhaupt wagt hier aufzukreuzen! Wenn ich könnte, dann würde ich ihn auf der Stelle windelweich prügeln, bis ihm sein blödes Backsteingrinsen vergeht!“ Sie wollte die Fäuste ballen, doch der Schmerz und die Bandagen hielten sie zurück. „Autsch...“ Ethan brachte den Waschlappen zum Waschbecken zurück, spülte ihn aus und befeuchtete ihn erneut, um die letzten Reste der hartnäckigen Farbe zu bezeichnen. „Vald ist mit Sicherheit nicht einmal bewusst, dass er dir damit weh getan hat.“ Er setzte sich erneut und wischte ein weiteres Mal vorsichtig über ihre Wangen. Sehr gut. Langsam verblassten auch die restlichen Spuren des Textmarkers. „Das er emotional noch auf dem Stand eines Kindes ist, entschuldigt sein Verhalten trotzdem nicht!“ Nein, am besten sie dachte gar nicht erst darüber nach. Sonst kam ihr noch die Galle hoch. „Dennoch war er bereit, heute Vormittag eine Stunde seiner Zeit zu opfern, um nach dir zu sehen. Ziemlich schade, dass du seine Anwesenheit komplett verschlafen hast.“ Eine Stunde? EINE STUNDE?! Ethan, jetzt übertreibst du aber! Sie senkte den Kopf. „Und warum hat er mich dann nicht geweckt?“ Super. Sich an ihrem komatösen Zustand ergötzen und Sauereien in ihr Gesicht schmieren, aber nicht offen mit ihr reden. So ein Idiot! „Du warst so weggetreten, dass du nicht einmal aufgewacht bist, als man deine Verbände gewechselt hat, hat er erzählt.“ Ethan fasste sich grübelnd ans Kinn. „Ich hätte nicht erwartet, dass du genau dasselbe Verhalten wie Julius an den Tag legst, wenn du deine Kirit-Energie aufgebraucht hast.“ Er nickte verhalten. „Das ist wirklich... interessant...“ Na toll. Mit diesem kiffenden Lahmarsch von Julius wollte Wendy eigentlich auch nicht verglichen werden, denn wenn es etwas gab, das sie nicht war, dann war es ein fauler Drachensteiger, der jede Herausforderung mit „Ist mir zu anstrengend!“ zurückwies. „Jedenfalls...“ Ethan beugte sich zur Seite und öffnete seine Tasche, um eine kleine Geschenktüte hervorzuholen, „...soll ich dir das hier von ihm geben. Vald meint, dass du das brauchen wirst, so übel wie deine Hände zugerichtet sind.“ Er reichte ihr die Papiertüte, die zum Glück geöffnet war, so dass Wendy sie problemlos umdrehen und deren Inhalt empfangen konnte. Ein Paar Handschuhe fiel hinaus. Es waren schwarze, fingerlose Handschuhe, auf deren Handrücken man Totenköpfe gestickt hatte. Wendy rang nach Luft. Dieser... Dieser Bastard! Warum nur... Warum wusste er ganz genau, was sie mochte und was sie brauchen würde, wenn sie erst einmal diese quälenden Verbände los war? Sie senkte den Kopf und atmete tief durch. Ganz ruhig. Tief durchatmen! Tropf. Tropf. Zwei Tränen fielen auf die Bettdecke. Sie wollte doch stark sein. Sie wollte es sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie durch den plötzlichen Verlust ihres Drachen und den ungeahnten Energieausbruch ihres Kirits geschockt war. Und doch... wurden plötzlich, nur durch diese eine Geste, die sicher nicht mal so besonders und ernst gemeint war, sämtliche Türen und Tore geöffnet, die der Schock verschlossen hatte. „Ich habe Angst!“, brachte sie unter Tränen heraus. „Ethan, ich habe furchtbare Angst!“ Er musterte sie stumm. Offene Gefühlsregungen waren noch nie seine Stärke gewesen. „Warum? Warum musste mir das passieren? Ich wollte doch nur...“, sie schluckte. „Ich wollte doch nur wie alle anderen auch endlich einen Kirit haben. Wollte stärker werden und mich weiterentwickeln, doch dann...“ Wieder diese Explosion vor ihren Augen. Dieser brennende Schmerz, der sich in sie hineinfraß, als sich die Haltegriffe in Feuer verwandelten. Sie blickte auf. Ihre Pupillen waren schreckgeweitet. Ihr ganzer Körper zitterte. „In mir drin steckt ein Monster, Ethan! Und es wollte mich umbringen!“ Sie lachte hysterisch. Erst nur ganz leise, dann immer lauter, bis ihr ganzer Körper nur noch bebte. Dann brach das Lachen ab. Der Damm, der die Tränen zurückhielt, war endgültig gebrochen. Sie stürzte nach vorne und umklammerte den blauhaarigen Japaner, der erst überrascht und irritiert war und sie am liebsten zurückgewiesen hätte, dann aber doch der Freundschaft wegen seine Arme vorsichtig um ihren Rücken legte und es stumm ertrug, dass sie sich an seiner Schulter ausweinte. „Ich wollte doch nur stark sein!“ Ihre Stimme klang dumpf neben seinem Ohr. „Jetzt habe ich nur noch Angst. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder einen Drachen steigen lassen kann. Nicht, wenn in mir drin so ein Monster schläft...“ Tornado tat das, was er am Besten konnte: Pizza ausliefern. Auch er hatte von der Entführung seiner Schwester leichte Blessuren davongetragen. Ein paar Schürfwunden und blaue Flecken, nichts schlimmes. Nach einer kurzen Routineuntersuchung im Krankenhaus hatte man ihn gehen lassen. Nicht so wie Wendy, der die Erweckung ihres Kirits – es war ein Skorpion, daran erinnerte sich Tornado genau – sämtliche Energie entzogen hatte und der man nach dem Ausbruch des Feuerinfernos die verbrannte Haut von den Handflächen schälen musste. Er wusste nicht, was er hätte tun können. Er war immer ein optimistischer Mensch gewesen. Nie hatte es Probleme gegeben. Und wenn doch, dann war er stets der lächelnde Gewinner, der alles mit Links wieder ins Lot rücken konnte. Doch jetzt? Was waren die angebrachten Worte? Wie verhielt man sich richtig? Egal was es war, er hatte Pizza dabei. Und Pizza heilte bekanntlich alle Arten von Verletzungen! Er wollte gerade klopfen, dann hielt er inne. Stimmen drangen aus dem Krankenzimmer. Eine war eindeutig Wendys, aber die andere? Eindeutig männlich! Skeptisch legte er sein Ohr an die Tür und lauschte. Was ging da nur vor? Fast lautlos öffnete er die Tür. Unbemerkt, nur einen kleinen Spalt, gerade groß genug, um mit einem Auge hinein zu schielen und um genau zu hören, was dort geredet wurde. Ethan nickte. „Das war schon immer dein Stil gewesen. Nur keine halben Sachen machen, entweder ganz oder gar nicht.“ Er tupfte mit einem Taschentuch die letzten Tränen aus Wendys Gesicht weg. „Es ist wirklich bedauerlich, dass dich deine Eltern auf eine anderen Schule geschickt haben. Nachdem Julius mit dem Drachensteigen aufgehört hat, hätten wir dich gut in unserem neuen Team gebrauchen können.“ Wendy presste die Lippen zusammen. „Ich werde nie wieder kämpfen.“ Sie schluckte. „Das was mir passiert ist, ist doch ein Zeichen genug, dass ich mit der ganzen Sache aufhören sollte!“ Wieder wollte sie die Fäuste ballen, doch die dicken Verbände bewegten sich kein Stück. „Das ist wirklich schlecht. Ich hatte mich eigentlich schon mental darauf vorbereitet, dass dein Team gegen meines antreten wird, sobald unsere Gruppenstärken ebenbürtig sind.“ Das war Ethan. Immer auf der Suche nach höheren Idealen. Wendy nickte und seufzte. „Ja, vielleicht hast du Recht, mit dem, was du sagst. Nur ist es so... Damals in der Mittelschule war alles einfacher. Aber jetzt gehen wir getrennte Wege und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob sie sich jemals wieder auf dem Drachenfeld kreuzen werden.“ Stille. Für ein paar Augenblicke war jeder seinen eigenen Gedanken überlassen. „Wendy, was denkst du...“, begann Ethan schließlich eine Frage. „Hm?“ – „Besteht die Möglichkeit dich für meinen Drachenclub zu gewinnen, sobald wir auf die Universität gehen?“ – „Als würde ich jemals wieder...“ Er ließ sie nicht ausreden. „Ich vertraue darauf, dass du dich erholst und noch stärker und besser werden wirst. Gilt diese Vereinbarung also als abgemacht?“ Sie zögerte. Sollte sie wirklich..? Was, wenn alles noch schlimmer werden würde und die aktuellen Verletzungen nur die Spitze des Eisbergs waren? Sie blickte ihn stillschweigend an. Eine Sekunde. Zwei. Drei. Dann musste sie lächeln. Mit solchen Freunden konnten selbst die größten Krisen überwunden werden. Dem war sie sich sicher! „Abge-“ – „HALT!“ Die Tür knallte gegen die Wand. Bevor Ethan und Wendy ihre Vereinbarung mit einem obligatorischen Handschlag beschließen konnten, stand Tornado in der Tür und trat mit festem Schritt in das Zimmer hinein. „Du...“, er zeigte drohend auf Ethan. Sein Arm zitterte vor Anspannung. „Ich?“ Ethan deutete fragend auf sein Gesicht und hob kritisch eine Augenbraue. „Wenn hier jemand das Recht hat Wendy für ein Team zu rekrutieren, dann bin das wohl ICH!“ Seine Stimme wurde von Wort zu Wort immer lauter. Ethan legte den Kopf schief. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Und wer bist du, dass du derartige Schlüsse ziehen kannst?“ „Ich bin... Tornado Balotelli! Teamleiter der ehrenhaften Drachenritter der Gebrüder Wright Oberschule. Und hiermit... fordere ich dich zu einem Duell heraus!“   Kapitel 13: Der Drachenladen ---------------------------- Zwei Männer. Eine Leidenschaft. Mit einem Mal kam es Wendy so vor, als wäre sie mitten in den Wilden Westen katapultiert worden. Ethan hatte sich erhoben und blickte Tornado mit kühlem Lächeln an. Tornado konterte, straffte die Brust und setzte ein schiefes Siegerlächeln auf. „Ich sehe, wir verstehen uns?“ Ethan nickte. „Du weißt nicht, worauf du dich einlässt. Mit Sicherheit wirst du es noch bereuen mich herausgefordert zu haben.“ Er warf sein kinnlanges schwarzblaues Haar zurück und strich sich durch den schräg geschnittenen Pony. „Wenn hier jemand seinen Gegner unterschätzt, dann bist das wohl du! Icarus und ich, wir werden dich tief in den Schlund der Hölle stürzen – und dann wirst du nie wieder auf die Idee kommen Wendy aus meinem Team abwerben zu wollen.“ Hallo? Ethans Mundwinkel zuckten flüchtig. „Bat und ich sind die Gesandten der Hölle selbst. Und ich denke nicht, dass du ein Recht darauf hast etwas besitzen zu wollen, was ursprünglich zu uns gehört hat!“ Hallo-hoo? Hört ihr euch überhaupt selbst reden? Tornado schnaubte und verschränkte die Arme. „Du hast es nicht einmal geschafft ihren Kirit zu kultivieren! Du hast ihr ganzes Potenzial fehlgedeutet!“ Wendy räusperte sich. Keine Reaktion. „Man hat ja gesehen, wie gut du sie kultiviert hast. Hätte ich sie trainiert, dann wäre es nie so weit gekommen, dass sie fast ihre gesamte Energie aufgebraucht hätte!“ Das hatte gesessen! Oh Ethan. Fühlten wir uns heute mal wieder besonders cool und allwissend?! „Jungs...“, schaltete Wendy sich ein, doch keiner der beiden bemerkte sie. Zu groß war die Anspannung, in diesem Wortgefecht als der Sieger hervorgehen zu wollen. „Wendy ist eine wahre Heldin! Sie ist mir so loyal ergeben, dass sie nur für die Errettung meiner Schwester bereit war ihr Leben aufs Spiel zu setzen!“ Wendys Schläfe begann vor Wut zu pochen. Ethan sog scharf die Luft ein. „Du kennst sie doch nicht einmal. Wie lange ist sie jetzt schon auf deiner Schule? Drei Monate? Du weißt überhaupt nichts!“ Tornado stutzte. Volltreffer. Er holte tief Luft und machte sich bereit für eine weitere verbale Attacke. „Du hast sie aber im St...“ - „HÖRT ENDLICH AUF, ALLE BEIDE!“ Wendy keuchte. Der laute Ausbruch war doch zu viel für ihren kraftlosen und lädierten Körper. „Wenn jemand darüber entscheiden darf, was mit mir geschieht, dann bin das immer noch ich selbst, verstanden! Und jetzt hört auf mit diesem Machogehabe und vertragt euch!“ Sie schmollte und verschränkte die Arme. Tornado knackte mit den Fingern. „Das hier ist und bleibt ein Duell unter Männern.“ Ethan pflichtete ihm bei. „Du hältst dich also am besten aus der Sache heraus!“ Männer. MÄNNER! Wendy schüttelte resignierend den Kopf. Das war SO TYPISCH! „Wo waren wir stehen geblieben?“, fuhr Tornado fort und schob sein Stirnband zurück. Es wurde ernst. „Dabei, dass du mich herausfordern wolltest. Und nebenbei gesagt: Dieses rosafarbene Stirnband ist wirklich hässlich!“ Ethan ging aufs Ganze. „Ich schlage vor, dass wir uns in sechs Wochen auf dem Feld hinter meiner Schule treffen werden, um diese Fehde auszutragen. Immerhin will ich dir die Zeit lassen, dich angemessen auf deine Niederlage vorzubereiten, Batman!“ Er grinste siegessicher. „Und nebenbei gesagt: Dieses wunderschöne Stirnband ist lachsfar-ben!“ Er hielt Ethan die Hand hin. „Derjenige, der verlieren wird, bist du. Ich nehme die Herausforderung an!“ Ethan schlug ein. „Abgemacht?“ Tornado nickte ihm zu. „Abgemacht!“ Sechs Wochen. In sechs Wochen sollte ein Duell entscheiden, welcher Teamleiter der bessere sein würde. Und bis dahin gab es reichlich zu tun. Inzwischen waren die Temperaturen empfindlich unter Null gesunken. Raureif überzog die Grashalme mit einer Schicht ähnlich wie Glas und auf den Dächern lag der erste Schnee wie Puderzucker auf einem Kuchen. Und nicht nur das: überall lag der Geruch von Lebkuchen und Glühwein in der Luft. Egal wo man hineinging: es war wohlig warm und duftete nach Tannengrün und Orangenschalen. So auch im „Café Balotelli“, eine in der Fußgängerzone liegende Eisdiele, die den Winter über hauptsächlich italienisches Weihnachtsgebäck und heißen Tee verkaufte. Dort hatte sich der Drachenclub verabredet. Denn heute, so kurz vor Weihnachten, wollte man sich ein letztes Mal treffen, um Besorgungen für das kommende Jahr zu erledigen und um Weihnachtsgeschenke auszutauschen. Italienische Weihnachtsmusik der Marke „Eros Ramazotti“ klang aus den Boxen, als die kleinen Messingglocken über der Tür klingelten und ein dick eingemummter Balotelli mit vor kalter Luft geröteten Wangen eintrat. „Ciao!“ Er hob die Hand zum Gruß und näherte sich einem großen Tisch in der Ecke, an welchem der gesamte Club Platz gefunden hatte. „Wartet ihr schon lange?“ Er legte seine Jacke und den weißen Schal ab und setzte sich. Zeph schüttelte den Kopf. „Geht so. Sind alle ganz beschäftigt im Moment.“ Sein linker Arm steckte in einer Schlinge, da er sich bei der kürzlichen Rettungsaktion – er hatte Wendy mittels vollem Körpereinsatz davor bewahrt, dass sie sich nicht mehr verbrannte als die Arme – die Schulter ausgekugelt hatte. Müde wie immer verfolgte er stumm das Gespräch von Angelo und Wendy, die sich über den Bauplan eines neuen Drachen vertieft hatten. Wendy hatte beschlossen, dass es nach dem Verlust Cleavers an der Zeit war, etwas an ihrem Image zu verändern. Jetzt, da sie wusste, dass ihr Kirit die Gestalt eines Skorpions hatte, sollte sich auch der neue Lenkdrachen an dieser Form orientieren. „Und du denkst wirklich, dass wir eine elastische Windfahne mit einem Skorpionstachel ansetzen können, ohne dass die Tragfähigkeit darunter leidet?“ Wendys Hände waren zwar noch immer nicht vollständig abgeheilt, doch da das Risiko einer Entzündung gebannt und sich eine dünne Hautschicht gebildet hatte, hatte man sie unter regelmäßiger Kontrolle aus dem Krankenhaus entlassen. Dennoch galt es vorsichtig zu sein. Und da kamen die schwarzen Handschuhe, die sogar über den ringförmigen Verband an den Handflächen passten, genau recht. „Selbstverständlich wird das funktionieren. Meinen Berechnungen zufolge müssen wir nur die Spannweite etwas erhöhen, um den Luftwiderstand zu verstärken.“ Er schrieb ein paar unlesbare mathematische Formeln auf und ergänzte weitere Linien auf seiner Zeichnung. Tornado linste kopfüber auf das Papier. „Fantastico! Du scheinst endlich erkannt zu haben, was lachsfarben für eine wundervolle Farbe ist!“ Wendy nippte an ihrem mit Lebkuchen und Karamell aromatisiertem Milchkaffee und warf ihm einen finsteren Blick zu. „Das ist nicht lachsfarben, das ist pink!“ Sie seufzte und stellte die Tasse ab. Noch immer waren ihre Hände leicht zittrig und taten sich schwer Dinge zu greifen. „Ich dachte mir, dass so ein schwarzer Skorpion schon fies genug aussieht. Und ich mag Pink!“ Er grinste und klopfte ihr auf die Schulter. „Bellissima! Du überraschst mich jedes Mal von neuem! In dir steckt ja doch eine richtige Dame!“ Wendy errötete. Blödmann! So wie er das formulierte, klang das ja, als wäre sie bisher immer der fünfte Junge in seinem Team gewesen. Aber damit war jetzt Schluss! Es hieß zwar nicht, dass sie jetzt das unschuldige Blödchen mimen würde, das aus jeder Gefahr gerettet werden musste – einmal und nie wieder! – aber für nächstes Jahr hatte sie sich definitiv vorgenommen mehr für ihren weiblichen Charme zu tun, so peinlich das auch war! „Fertig!“ Angelo reichte die Skizze herum. „So wird der neue Drachen aller Wahrscheinlichkeit nach aussehen. Und ich finde, du solltest unbedingt einen feuerfesten Stoff verwenden. Nur für den Fall der Fälle...“ Er senkte den Kopf. „Ehrlich gesagt... Ich hatte ganz schön Angst, als wir dort draußen im Industrieviertel waren und Cleaver explodiert ist.“ Er kratzte sich die Wange. So offenherzig war er sonst nie. Wendy legte den Kopf schief und lächelte. „Vielen Dank! Und dieses Mal möchte ich meinen Drachen gerne selbst bauen. Du hast dir so viel Mühe gegeben Cleaver zu verbessern und ich nutze die erstbeste Gelegenheit und mache ihn kaputt...“ Sie trank ihre Tasse aus. „Ah, das war jetzt genau das richtige bei diesem Wetter!“ Ihr Blick glitt zum Fenster. Es hatte schon wieder angefangen dicke Flocken zu schneien. Dieses Jahr würde es definitiv weiße Weihnachten geben! Tornado erhob sich. „Balotelli ist eben immer am Besten! Viel besser als diese amerikanischen Kaffeeketten, ma si!“ Er zwinkerte. „Sind alle fertig? Dann würde ich vorschlagen, dass wir in den Drachenshop gehen. Ich denke nach dem aufregenden Jahr können alle unsere Drachen eine Generalüberholung gebrauchen! Avanti!“ Er zog die Jacke wieder an. „Sag mal, Wendy... Hast du dir schon einen Namen für deinen neuen Drachen überlegt? Ich würde ihn „Principessa“ oder „Lucia“ nennen, wie sich das für einen lachsfarbenen – entschuldige, pinken – Drachen gehört.“ Wendy verzog das Gesicht und verneinte. „Was hast du denn für einen seltsamen Geschmack? Ist ja kaum auszuhalten, da kommt mir noch rosa glitzernde Galle hoch!“ Sie setzte sich ein paar Ohrenschützer mit – wie nicht anders zu erwarten – Totenköpfen auf den Schalen auf und zog den Reißverschluss ihrer schwarzen Lederjacke zu. „Dieser Drachen wird genau so heißen, wie sich mein Kirit mir vorgestellt hat: Sting!“ „So, da wären wir! Herzlich Willkommen im Herzstück der Drachenwelt, Bienvenudo!“ Tornado öffnete allen die Tür zu einem kleinen Geschäft in einer Seitenstraße, dessen Auslage vollgestopft mit allerhand Drachenzubehör war. Erstaunt blickte sich Wendy um. Was für ein unglaublicher Laden! Früher hatte sie immer das Bastelmaterial verwendet, das Ethan ihnen allen mitgebracht hatte. Dieses war zwar gut, doch entsprach es nicht im Geringsten der Auswahl, die sich ihr nun feilbot. Sie klopften sich den Schnee von den Sachen und traten ein. „Du warst noch nie hier?“ Tornado lächelte strahlend wie immer. „Das muss jetzt ja das reinste Paradies für dich sein!“ Wendy nickte stumm. Sie wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. So viele verschiedene Stoffe in allen Strukturen und Farben, mindestens zwanzig verschiedene Arten von Gestänge, verschieden geformte Drachenspulen und allerhand Schnickschnack, um seinen Drachen noch stärker zu individualisieren. Kurzum: es war der Himmel auf Erden! „Wenn ich dir jemanden vorstellen dürfte...“ Er schubste sie sanft in Richtung der Theke. „Das hier ist der Inhaber des Ladens. Jeder nennt ihn nur den Drachenmeister!“ Ein bärtiger mittelalter Mann erhob sich und hob die linke Hand zum Gruß. „Ah, ein neues Gesicht! Guten Flug wünsche ich!“ Guten Flug? Was war denn das für eine dämliche Begrüßung? Und noch dämlicher – oder auch schockierend – war, dass der Typ sich „Drachenmeister“ nannte, aber nur einen Arm hatte. Sie erwiderte die Begrüßung, indem sie die seltsamen Worte auf der Zunge auskostete. „Guten... Flug...“ Er stützte sich auf die Theke und blickte sie durchdringend an. „Und, was darf es sein, junge Dame? Wir haben alles, was das Pilotenherz begehrt, also zögere nicht zu fragen, wenn du etwas wissen willst!“ Das ging aber schnell! Angelo schaltete sich ein und reichte den zuvor angefertigten Zettel über die Theke. „Ich habe eine detaillierte Liste mit allen Materialien erstellt, die benötigt werden.“ Der Drachenmeister legte grübelnd die Hand an sein Kinn und kraulte seinen Bart. „Interessant. Ein feuerfestes Geschwindigkeitsmodell?“ Wendy sah sich derweil die unterschiedlichen Spulen an und ignorierte derweil gekonnt, dass Zeph sich wieder einmal heimlich alles in die Taschen stopfte, das ihm zwischen die Finger kam. Ringförmig waren die letzten Haltegriffe gewesen, die sich letztendlich verflüssigt und in ihre Handflächen gebrannt hatten, so dass ihr ganz mulmig bei der Betrachtung solcher wurde. Lieber etwas anderes nehmen! Das hier zum Beispiel! Sie griff nach ein Paar rechteckigen schwarzen Spulen, bei denen die Drachenleine im Unterschied zu den alten Griffen nicht um einen Plastikring geführt wurde, sondern sich flach über dem Griff wand. War vielleicht auch besser solche zu nehmen, da sich der Zug des Drachen so auf die Finger verteilte und nicht in den Handflächen ruhte. Ungewohnt zu steuern, aber mit Sicherheit machbar. „Eine gute Wahl. Solche benutze ich für Bat auch.“ Vor Schreck ließ Wendy die Spulen fallen. „Oh Mann, Ethan, erschreck' mich doch nicht so!“ Sie wandte sich um. War das die Möglichkeit, dass ihr Freund aus der Mittelschule sich wie ein Ninja an sie herangeschlichen hatte?! Er hob die Spulen auf und reichte sie ihr. Ihre Hände zitterten. „Wie ich sehe sind die Wunden soweit verheilt? Aber deine Motorik ist noch nicht voll wiederhergestellt...“ Sie nickte. „Die Verbrennungen gingen doch tiefer als erwartet, aber in ein paar Wochen soll es wieder vollständig verheilt sein – zumindest bis auf die Narben.“ Ethan zog eine abgezählte Menge an Fiberglasstäben aus dem Regal. Auch er war dabei die Vorräte seines Clubs aufzustocken. Das Lachen von Tornado und dem Drachenmeister schallte durch den ganzen Laden. Ethan verzog das Gesicht. „Wie ich höre, bist du nicht allein hier?“ Wendy verneinte. „Unser ganzes Team ist heute gemeinsam unterwegs. Immerhin ist gleich Weihnachten und die Ferien fangen an. Und du? Ist Mopsi heute nicht mitgekommen?“ Er hob eine Augenbraue. „Wenn „Mopsi“ eine Anspielung auf die großen Brüste meiner Schwester Harriet ist... Nein, sie hatte heute schon etwas anderes vor.“ Es war kein großes Geheimnis, dass Harriet und Wendy nicht gut miteinander auskamen. Die eine war eine vollbusige Lady, die sich mit allen legalen und illegalen Mitteln nahm, was sie wollte, die andere eine burschikose Emanze, die Lügen und Intrigen auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Wendy, Bellissima!“, rief der blonde Teamleiter und trat zu den beiden hinzu. „Wen haben wir denn hier? Dass wir uns hier und nicht erst auf dem Duellfeld begegnen!“ Sein charmantes Siegerlächeln und das neckische Augenzwinkern ließen imaginäre Sterne in Ethans Richtung fliegen. „Das muss Schicksal sein! Ich finde, du solltest mal mit mir ausgehen, Bellissimo!“ Ethans Augenbraue zuckte bedrohlich. Machte der ihn etwa gerade an? Die Stäbe in seiner Hand knirschten aneinander, als er ein künstliches Lächeln aufsetzte. „Dieses Angebot werde ich mit Freuden ablehnen! Was willst du, Balotelli?“ Der Blonde warf sein Haar zurück und ignorierte die Abfuhr gekonnt. „Der Drachenmeister hat vorgeschlagen, dass ich mit einem Leihdrachen gegen ihn antreten soll, um das neue Material auszutesten, bevor es bestellt wird. Ich nehme an, dass du aktuell kein Interesse hegst, es selbst zu tun, Wendy?“ Wendy schreckte aus ihren Gedanken hoch. Diese bizarre Vorstellung, dass Ethan und Balotelli ein... ein schw... EGAL! Sie schüttelte den Kopf und hob abwehrend ihre Hände. „Ich möchte nicht riskieren, dass die Narben wieder aufplatzen. Aber zuschauen würde ich schon gerne. Was denkst du, Ethan?“ Ethan begann unheimlich zu lächeln und strich sich den schwarzblauen Pony zur Seite. „Mit Sicherheit! Ich lasse mir doch nicht entgehen, wie Balotelli in einem Duell fertig gemacht wird!“ Kapitel 14: Balotelli und der Drachenmeister -------------------------------------------- Nachdem das Ladenschild auf „GESCHLOSSEN“ gedreht und alle Lichter gelöscht worden waren, versammelte man sich auf dem Fußballplatz im Hinterhof des Ladens. Eigentlich war das kein guter Ort, um Drachen steigen zu lassen, doch dank des Windzuges, der permanent durch die für die Durchfahrt von Autos angelegten Häuseröffnungen pfiff, war genug Spannung in der Luft vorhanden, um die Drachen der Kontrahenten in den Himmel zu befördern.   Kritisch beäugte Wendy das Spektakel. Wie? WIE sollte es gehen, dass ein Einarmiger einen Lenkdrachen steuern konnte? Es war überflüssig zu erwähnen, dass es sich dabei um einen Drachen mit ZWEI Griffen handelte, für dessen Steuerung man ZWEI Arme brauchte. Macht er es mit dem Mund? Mit einem Fuß? Oder ganz anders? Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen!   Angelo holte die Clubfahne aus seinem Rucksack – dies ging nur unter kompletter Umschichtung des Inhaltes, da seine Mutter es wieder zu gut mit ihm gemeint und ihm mindestens fünf Butterbrote eingepackt hatte – und streckte den Arm aus. In der Tat, es wehte eine scharfe Brise. Und jetzt, da es aufgeklart hatte, gab es auch kein störendes Schneegestöber mehr, welches das Duell hätte behindern können. „Aufsteigender Westwind mit zu erwartenden Anomalien! Das Duell beginnt in… Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins… LIFT 'EM UP!“ Die Fahne schnellte nach unten. Während Balotelli sofort mit Anlauf begann Gegenwind zu erzeugen, um den Drachen nach oben zu befördern, hielt der Drachenmeister mit geschlossenen Augen inne. Fast war es, als würde er meditieren, wenn nicht seine Zunge herausgestreckt gewesen wäre, wie als wollte er den Wind schmecken. Ethan lächelte stumm in sich hinein. Wer hätte gedacht, dass sein cooler Startspruch sich solcher Beliebtheit erfreuen würde? Ja, er war eben ein Genie, was solche Dinge anging. Unübertroffen! „Lift 'em up!“ war einfach zu gut, um nicht gebraucht zu werden! Balotellis Füße waren bereits jetzt durch den knöcheltiefen Schnee durchnässt. Warum hatte er auch seine normalen Turnschuhe angezogen und keine Stiefel? Mamma Mia, da war Italien schon geformt wie ein Stiefel und dann hatte er trotzdem keinen Schuhtick, der ihm morgens die richtige Wahl passend zu seinem Outfit ermöglichte! Er musste sich stärker als sonst gegen den Drachen lehnen, da dieser in Sachen Größe und Gewicht Icarus um Längen übertraf. Dennoch hatte es ihm keine Schwierigkeiten bereitet ihn in den Himmel zu befördern. Klare Sache also: Wendy würde – selbst wenn sich die Motorik ihrer Finger nicht vollständig wiederherstellen sollte – kein Problem damit haben, einen Drachen aus demselben Material meistern zu können. „Noch zehn Sekunden, dann ist das Zeitfenster zum Aufsteigen abgelaufen!“ Eigentlich wollte Angelo den Drachenmeister in Aktion sehen, doch Regeln waren da, damit sie eingehalten wurden. Er wollte gerade auf seine Stoppuhr blicken und die Sekunden rückwärts bis Null zählen, da öffnete der bärtige Drachenmeister seine Augen, die angriffslustig blitzten. „Ja, jetzt ist es gut! Jetzt hat der Wind die beste Konsistenz!“   Wendy legte den Kopf schief und fasste sich an die Stirn. Hatte der tatsächlich den Wind geschmeckt? Das war ja noch dämlicher als den Wind zu riechen, so wie es der Teamchef immer tat! Wieder einmal fragte sie sich, warum sie sich nicht ein weniger gestörtes Hobby hätte suchen können, so etwas wie Voltigieren, rhythmische Tanzgymnastik oder anderen Mädchenkram wie Synchronschwimmen? Aber nein, es musste Drachensteigen sein! Und mal ganz ehrlich… Ihr Blick wandte sich zu Ethan, der mit verschränkten Armen und kritischem Blick das Duell analysierte. Ohne das Drachensteigen hätte sie Ethan wohl nie kennengelernt und wäre irgendwann sicher mal im Jugendknast gelandet, bei all den makabren Streichen, die sie und Vald anderen Leuten schon gespielt hatten!   „Wie sagt ihr jungen Leute immer so schön? Lift 'em up? Dann passt mal auf!“ Der Drachenmeister befeuchtete die Lippen. „LIFT 'EM UP, ROLLING PUNCH!“ Mit beiden Drachenspulen in der linken Hand bewegte er seinen Arm wie ein Schaufelrad. Die Drachenleinen ließ er dabei so kurz, dass der Drachen beim Vornüberschwung nicht auf dem Boden schleifte. Dann plötzlich schnippte er mit dem kleinen Finger und Daumen die Haltespangen der Leinen auf, genau in dem Moment, in dem der Drachen von hinten wieder nach oben schnellte, sodass durch den Zug, den er verursachte, die Leinen losgelassen wurden. Und … es funktionierte! Dem ganzen Drachenclub stand der Mund offen, als der unscheinbare Delta-Lenkdrachen mit einem Mal hoch oben in der Luft schwebte, nur gesteuert durch einen Arm und den Drachenspulen eingehakt unter Ring- und kleinem Finger, sowie dem Daumen.   „Dieser Mensch ist ein wahrer Könner!“ Ethan war die Ruhe selbst. Das war nicht das erste Mal, dass er den Drachenmeister in Aktion gesehen hatte. „Ich freue mich schon auf Balotellis Gesicht, wenn er gleich verlieren wird!“ Wendy musste schmunzeln. „Du bist ja heute ungewohnt gut drauf, Ethan!“ Er blickte sie an. „Du hättest doch sicher auch deine Freude daran, Vald verlieren zu sehen.“ VOLLTREFFER! Das Lächeln erstarb. „Das ist wahr… Aber DAS hat andere Gründe!“   „Fantastico! Welch bemerkenswerte Technik, ich bin begeistert!“, rief Balotelli euphorisch. „Attenzione! Jetzt werde ich ein paar Rammattacken starten!“ Der Drachenmeister nickte. „Nur zu, Bürschchen! Halte dich nicht zurück!“ RUMMS! Der geliehene Drachen traf voll ins Schwarze. Balotelli war ganz überrascht von der Wucht, die nur durch eine leicht veränderte Materialbeschaffenheit erzeugt werden konnte. Doch sein bärtiger Gegner war nicht im Geringsten beeindruckt. Ganz im Gegenteil: er streckte ihm sogar die Zunge entgegen. „Ohibò! Wie unhöflich!“ ZACK! Ein weiterer Treffer. Doch der Drachenmeister bewegte nicht einen Finger, sondern kostete weiter seelenruhig die Luft aus. Balotellis Blick glitt zur Seite. Dieser Ethan mit seinem unterdrückten süffisanten Grinsen! Er durfte nicht verlieren! Und was das Schlimme an der ganzen Sache war: er durfte seinen Kirit nicht beschwören, wenn er nicht in dem in drei Wochen stattfindenden Duell im Nachteil sein wollte! Nein, die Blöße gab er sich nicht. Icarus durfte heute nicht geweckt werden. Heute musste Balotelli-Power völlig ausreichend sein! Ein weiterer Treffer! Balotelli rannte, was das Zeug hielt und ließ den Leihdrachen von allen Richtungen auf den Drachenmeister hinunter schnellen, doch dieser war noch immer nicht im Geringsten beeindruckt. Bloß nicht verlieren! Dass er gegen einen Einarmigen ins Schwitzen kam, der nicht mal seinen Drachen bewegte, war eine Ungehörigkeit! Die Zunge verschwand wieder im Mund des Drachenmeisters. „Ja, jetzt ist gut!“ Er machte einen Ausfallschritt nach vorne und ballte die Faust. Der Delta-Lenkdrachen schwankte unruhig im Wind hin und her.   Ethan nickte wissend. Er hatte die Arme verschränkt und tippte unruhig mit seinen Fingern. „Gleich ist es vorbei.“ Wendy beäugte ihn kritisch. Oh Mann, Ethan. Du kriegst dich innerlich ja kaum ein vor Vorfreude!   „Auf geht’s, Bürschchen! Spüre meine Götterfaust!“ – „Und du die unbändige Balotelli-Power! Haa!“ Balotelli stürzte auf den Drachenmeister zu, bereit für eine finale Rammattacke, die dessen Drachen zurück auf die Erde schicken sollte. Alles lief perfekt! Diesem Gegendruck konnte der Bärtige nichts entgegensetzen! „HAA!“ Die Faust des Drachenmeisters schnellte nach vorne. Im selben Moment frischte der Wind auf und stob Schneeflocken gleich Kristallen auf. Balotelli musste die Augen zukneifen. Seine Attacke ging daneben. Darauf hatte der Drachenmeister gewartet. Die Faust verwandelte sich in pures Licht, flog einen Bogen und traf Balotelli so empfindlich im Rücken, dass er nach Luft rang. Er geriet ins Taumeln, stolperte ein paar Schritte nach vorne, rutschte wegen seiner Turnschuhe auf dem Schnee aus und landete im Gebüsch. „Das Duell ist vorbei! Sieger ist der Drachenmeister durch offensichtliches Verlassen des Rings durch Tornado!“, fällte Angelo sein Urteil und ließ die Fahne sinken. Ethans süffisantes Grinsen wurde offensichtlich. „Das ist er, der Fall des großen Balotelli!“ Wendy warf ihm einen giftigen Blick zu. „Du kannst manchmal echt ein Arsch sein, Ethan!“ Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, stapfte sie durch den unter ihren Stiefeln knirschenden Schnee zu ihrem Teamleiter, dem die dornenbesetzte Hecke die Kleidung aufgerissen hatte. „Alles in Ordnung?“ Sie wollte ihm die Hand reichen, um ihm aufzuhelfen, doch hielt sie diese im letzten Moment zurück. „Tut mir leid, die Wunden sind noch zu frisch…“ Mühevoll rappelte sich Balotelli auf und klopfte sich den Schnee von der Kleidung. „Nicht nur deine…“ Dann nickte er und trat selbstbewusst wie eh und je auf den Drachenmeister zu. „Das hast du gut gemacht, Bürschchen!“ Er rollte erst die eine Drachenspule auf, während die Andere noch auf dem Boden lag, und dann die Zweite. „Ich habe Sie und das Lenkdrachenmaterial wirklich unterschätzt, scusi!“ Er senkte den Blick, doch der Drachenmeister schüttelte den Kopf. „Daran lag es nicht. Du hast dich selbst überschätzt, mein Junge!“ Balotelli zuckte zusammen. Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag. „Du musst noch viel lernen, sonst wird dich der Junge da“, er deutete auf Ethan, „noch grün und blau schlagen, wenn ihr euch duelliert!“ Dieses Urteil schmeckte wie bittere Medizin! Was sollte das nur? Er war doch Italiener! Und Italiener waren selbstbewusst und allzeit bereit voranzupreschen! Sollte er… Sollte er mehr nach seiner Mutter gehen und sich in schwedischer Gelassenheit und Fröhlichkeit üben? Er seufzte. Na gut! Er würde gleich nachher ein schwedisches Regal aufbauen gehen und dabei nicht die Geduld verlieren! „Nun hab' dich mal nicht so! Wird schon werden! Und mit den neuen Materialien, die ich euch jetzt bestellen werde, seid ihr sicher ebenbürtige Gegner!“ Er klopfte ihm väterlich auf die Schulter und wandte sich dann dem Rest zu. „Wie wäre es jetzt mit heißem Glühwein und Lebkuchen für alle?“   Wenig später wurden die Geschenke ausgetauscht und sich verabschiedet. „Mi Amici! Wir sehen uns dann am Flughafen in einer Woche, si? Arrivederci!“ Balotelli winkte allen zum Abschied zu und wandte sich dann doch einmal Ethan zu. „Ich habe ganz genau gesehen, wie du dich über mich lustig gemacht hast, Batman!“ Er ballte die Faust. „In drei Wochen werde ich dafür sorgen, dass dir dein Lachen vergeht, versprochen!“ Ethan blieb cool wie immer. „Ich freue mich schon darauf, dich erneut verlieren zu sehen, Balotelli!“ – „Tse! Ich werde gewinnen! Und danach“, wieder zwinkerte er flirtend, „lade ich dich auf eine Pizza bei uns im Lokal ein. Und die wird dir so gut schmecken, dass du danach sicher noch eine Portion „Sugo di Balotelli“[1] in meinem Zimmer kosten willst! Ciao bello!“ Als er sich abgewandt hatte, verzog Ethan das Gesicht. „Wie hält man es mit so einer Person nur aus, Wendy?“ Sie seufzte resignierend. „Frag' nicht! Irgendwann gewöhnt man sich noch daran. Und dann ist es eigentlich ganz witzig!“ Sie öffnete ihre Tasche und holte zwei Geschenktüten hervor, die sie Ethan in die Hand drückte. „Bevor ich es vergesse: Ich habe wieder Lebkuchen und Plätzchen gebacken! Und ein kleines Geschenk ist selbstverständlich auch mit dabei!“ Prompt reichte er ihr eine Tüte zurück. „Das ist für Vald, nicht?“ Wendy senkte den Blick und nickte stumm. „Ich bin nicht dein persönlicher Postbote! Wenn du ihm schon ein Weihnachtsgeschenk machst, dann solltest du wenigstens den Anstand haben es ihm selbst vorbeizubringen!“, fällte er harsch sein Urteil. Keine Antwort. Er schloss die Augen, tippte mit den Fingern an die Stirn und sog scharf die Luft ein. „Mein Chauffeur wartet im Auto auf mich. Ich bin bereit dich zu seiner Wohnung fahren zu lassen, aber den Rest musst du allein tun.“ – „Ich will aber ni-“, Ethans Blick wurde hart. Eindeutig. Er duldete keine Widerrede. Wendy sagte kein Wort mehr. Auch nicht, als sie schon im Wagen saßen und sie stumm die Schneeflocken beobachtete, die erneut angefangen hatten vom Himmel zu fallen. Erst als der Wagen anhielt, wurde die Stille durchbrochen. „Von hier aus kann ich selbst nach Hause laufen. Ist ja nicht weit weg.“ Sie war nervös und ihre Stimme zitterte. Und das vor Ethan, wie peinlich! Er hob die Hand zum Gruß. „Bis in drei Wochen! Frohe Weihnachten!“ Die Tür wurde geschlossen. Das Auto fuhr los. Nun war sie ganz allein. Und das fühlte sich gar nicht gut an! Unruhig ging sie die paar Schritte zur Haustür des Mehrfamilienwohnhauses. Sie konnte nicht einmal hinsehen, als sie die Klingel betätigte. Keine Reaktion. Noch einmal. Immer noch nichts. Penner! Pisser! Idiot! Ich hab' keine Lust mehr auf dich! Da will ich einmal ein klärendes Gespräch führen, um unsere Freundschaft noch zu kitten und dann bist du nicht Zuhause! Sie ballte die Fäuste. Schmerz durchzuckte die noch frischen Narben. Das war nicht gut! Dann eben bei den Nachbarn! Wenigstens reagierte dort jemand auf das Klingeln. „Hä?“ „Entschuldigen Sie die Störung, aber ich wollte Vald etwas vorbeibringen. Nur ist der irgendwie nicht da. Kann ich es vor seine Wohnungstür stellen?“ „Hä?“ Oh je! Der alte Mann musste wohl schwerhörig sein! Trotzdem öffnete er anstandslos die Tür, sodass sie das Geschenk wenigstens indirekt abgeben konnte. Wieder nichts. Wieder hätte sie sich nur ärgern können! Hätte schreien können vor Wut, wenn nicht der Schnee eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt hätte. Dann eben nach Hause. Wenigstens konnte sie so sagen, dass sie es versucht hatte! Ein bekanntes Frauenlachen ertönte. Reflexartig versteckte sich Wendy hinter einer dichten Tanne. Schnee rieselte herab, als sie misstrauisch durch die mit Nadeln besetzten Äste schielte. Harriet! Was machte DIE denn hier? Augenblicklich kam ihr die Galle hoch, denn sie war nicht allein. Sie hatte sich bei Vald eingehängt und drückte ihre dicken Megabrüste an seinen Arm, um schließlich einen klischeehaften Satz zu sagen: „Oh, mir ist so kalt, meinst du nicht, dass ich mit reinkommen und mich ein bisschen an dir wärmen kann?“ Oh bitte! Vald. Jetzt fang' nicht das Sabbern an. Dieses Miststück nutzt dich doch bloß aus! Früher hat sie dich doch auch ignoriert! Wendy umklammerte die Zweige so fest, dass die Nadeln schmerzhaft in ihre Hände stachen. „Naja, ich weiß ja nich'…“ Vald zögerte. „Ist doch schon spät und wenn du nich' nach Hause gehst, dann kriegt Ethan noch was mit…“ ALTER! Ihr macht das auch noch heimlich?! Harriet legte ihre Hände in seinen Nacken und zog ihn langsam zu sich heran. „Ach komm schon!“ Sie lachte leise. „Dein schmutziges Geheimnis ist bei mir sicher! Aber natürlich nur“, sie schlug kokettierend die Augen nieder, „solange du lieb zu mir bist.“ Wendy konnte nicht sehen, was für ein Gesicht Vald machte, doch ihr eigenes sprach Bände. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie sich die Lippen der beiden näherkamen. Warum tut ihr das? Noch näher. Das ist voll eklig! NOCH NÄHER. Hey, und warum kann ich nicht wegsehen?! KRACK! Der Ast brach ab. Vald und Harriet hielten für einen Moment inne und lauschten. Nichts. Nur Stille. War wohl nur ein Tier. Wendy zuckte zusammen. Scheiße, scheiße, scheiße! Ich muss hier weg! Instinktiv hob sie den Ast vor das Gesicht und setzte leise einen Fuß vor den Anderen. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhsohlen, während sie sich einen Weg – durch den Zweig getarnt – an den Mülltonnen vorbei, bis hin zu einem Auto bahnte. Während Harriet ungeduldig „Jetzt komm' schon, ich habe schon ganz kalte Hände!“ sagte, warf Wendy den Ast zu Boden und rannte, was das Zeug hielt. Was war denn nur heute mit ihr los? Eigentlich hätte es ihr doch egal zu sein. Und wenn sie jetzt weglief und erwischt werden würde, dann würde es sicher nicht so aussehen, als wäre sie „nur zufällig“ vorbeigekommen. Boah Vald! Aber Harriet! Die ist ja nicht gerade dafür bekannt, dass sie besonders treu ist! Die hatte doch schon was mit fünf Typen gleichzeitig, da waren wir noch in der Mittelschule! Du kannst mir also echt nicht sagen, dass du … dass du das ernst mit ihr meinst… Als sie kurz vor dem Haus ihrer Eltern angelangt war, hielt sie inne. Sie keuchte atemlos, stützte die Hände auf die Knie und schloss für einen Moment die Augen. Weiße Wolken bildeten sich vor ihrem Gesicht. Es fühlte sich grauenhaft an. Hätte ich dazwischen gehen sollen? Damit sie denken, ich wäre eifersüchtig, oder sowas in der Richtung? Oh Vald, wie kann man nur so naiv sein? Letztendlich wird sie dir wehtun, egal was passiert. Weil sie einfach keine Ahnung hat, wer du bist und was du durchgemacht hast! Das Gartentor ging quietschend auf, als sie mit ihrem Fuß dagegentrat. „Dein schmutziges Geheimnis ist bei mir sicher! Aber natürlich nur solange du lieb zu mir bist.“ Was hatte sie damit nur gemeint? Und hieß das, dass sie ihn erpresste? War Vald ihr persönlicher Callboy, oder was? Wendy kramte den Schlüssel hervor und sperrte die Haustür auf. Nachdem sie sich die Schuhe abgeklopft, die Tür geschlossen und die Jacke ausgezogen hatte, lehnte sie sich erschöpft zurück. Was war nur letzten Sommer passiert, dass er jetzt an Harriet hing und Harriet an ihm? Da war sie gerade einmal eine Woche bei ihren Großeltern und als sie zurückkam, war alles anders. Vald war umgezogen, ohne es vorher auch nur mit einem Wort erwähnt zu haben. Und jetzt auch noch Harriet. Als sie ihr Zimmer betrat und das Licht angeschaltet hatte, blickte sie mit versteinerter Miene auf die Pinnwand. Wenn ich diese Fotos noch länger sehen muss, muss ich kotzen! Vielleicht ist es also besser… Sie begann ein Foto nach dem anderen von Vald von der Pinnwand herunterzureißen. …ich vergesse alles! Ich vergesse dich und all die Erinnerungen. Als das letzte Bild im Mülleimer lag, ließ sie sich ins Kopfkissen fallen. Vielleicht war das ja der eigentliche Grund, warum ihr Drachengeist bisher nicht richtig erwachen konnte? Weil sie nicht loslassen konnte? Ja, so musste es sein. Einfach loslassen und neu anfangen. Dann würde alles sicher wieder gut werden. Als sie dies beschlossen hatte, wurde ihr Inneres plötzlich ganz leer. So leer, dass sie darüber nur noch lächeln konnte.     [1]Balotelli-Saft Kapitel 15: Das Trainingslager auf Sizilien ------------------------------------------- Zeph traute sich kaum vom Boden aus über den Bettrand zu schielen, denn der Zettel, der dort lag, war sein Albtraum schlechthin. Nein. Am besten er würde diesen so schnell wie möglich verschwinden lassen und so tun, als hätte er ihn nie bekommen, nur damit er für den Rest des Jahres im beheizten Hallenbad des Feriendomizils der Balotellis auf Sizilien auf einer Liege vor sich hin dösen und die Strapazen der letzten Zeit hinter sich lassen konnte. Aber nein. Da lag er. Dieser gemeine Zettel der Folter. Diese ausführliche Excel-Tabelle, die ihm minutiös vorschreiben wollte, wie er die Weihnachtsferien verbringen sollte. Die regelte, was er wann essen sollte, wie lange er am Strand Dauerlauf machen und wie viele Bahnen er im Pool schwimmen sollte, wie hoch die Gewichte eingestellt sein sollten, die er stemmen musste und wie oft er die Einheiten wiederholen sollte. Kurzum: dieser Plan war die Hölle pur. Und schon gar nichts für jemanden, dessen einzige sportliche Betätigung, neben dem Drachensteigen, das regelmäßige Klauen – nein, FINDEN – von Autoreifen, Zaunlatten und Gartenwerkzeugen war. Vielleicht... Vielleicht sollte er doch mal einen Blick darauf riskieren? Nein! Lieber nicht. Er würde sich jetzt gaaaaanz langsam umdrehen, den Rücken gegen das Bett lehnen und so tun, als hätte er nichts gesehen. Und einfach nur schlafen, bis das Festessen auf dem Tisch stand und er sich so richtig den Bauch vollschlagen konnte. Es klopfte an der Tür. „Tak?“ Träge richtete sich Zeph auf und öffnete. Es war Wendy, die nach ihm sah. Und ebenso wie er hatte auch sie den neuen Trainingsanzug des Drachenclubs an, der zwar ebenso schwarz war und neben „Balotelli Pizza“ als Sponsor einen Aufdruck des Clubwappens, des Nachnamens und der Rangnummer hatte, aber anstatt grünen Streifen und Bündchen pinke aufwies. Sie hob eine Augenbraue und musterte ihn kritisch. „Also langsam finde ich das echt diskriminierend! Der Chef hat Blau, Angelo hat Orange, du hast Grün und Hayate – wen wundert es – Violett! Aber nein, das einzige Mädchen des Clubs muss natürlich Pink tragen!“ Sie verzog das Gesicht. „Nicht, dass ich das nicht mögen würde... Aber... Allgemeine Männerlogik, ich könnte kotzen!“ Zeph lächelte schief. „Sieht aber gut aus. Passt du deinen Haaren!“ Er klopfte ihr auf die Schulter. „Was willst du? Willst du mich zu diesem Folterprogramm abholen? Nie, nie, mache ich nicht mit, bin hier für Urlaub!“ Wendy verneinte und reichte ihm einen Zettel, nicht unähnlich dem, der auf dem Bett lag. „Das hier ist für dich!“ Sie ging an ihm vorbei und schnappte sich das andere Papier. „Na also, da steht mein Name ja drauf! Scheinbar hat man unsere Zettel vertauscht. Hätte mich auch gewundert, wenn ich so viel hätte tun müssen!“ Zeph erbleichte. Seine Hände begannen zu zittern, als er den Trainingsplan überflog. „So viel... Und das auch noch... Nie, da hat sich der Chef sicher einen Scherz erlaubt. Ist viel zu viel!“ Wie auf Kommando stand Tornado an der Türschwelle, hob den Daumen und sah Zeph mit einem strahlenden Lächeln an. „Sportsfreund, wie ich sehe, bereitest du dich mental auf die effektivste Trainingswoche deines Lebens vor? Fantastico!“ In seinem neuen Trainingsanzug sah er noch mehr wie ein charismatischer Anführer aus, zumal auf seinem Rücken über dem großen Clubwappen die Nummer 1 prangte, während Zeph zu Wendys Verwundern nur die Nummer 3 hatte, da sie selbst den Platz als Clubvize eingenommen hatte. „Bin kein Sportsfreund! Bin ein Sportsfeind! Ein bisschen Wagenheben ist ja gut gut, aber nix mit Dauerlauf, Schwimmen und Gewichtheben. Bin ich dagegen!“ Er verschränkte die Arme, doch sein schlaffer Blick zeugte nicht gerade von Durchsetzungsfähigkeit. Tornado schüttelte den Kopf. „Zeph, Sfaticato, du wirst mir eines Tages noch dankbar für diese Züchtigung sein! Und jetzt los, wir haben viel zu tun!“ Er hängte sich bei ihm ein und zerrte ihn auf den Flur hinaus. Zeph blickte zurück und sah Wendy mit wehleidigem Gesichtsausdruck an. „Tu was, Nummer Zwei, ich will nicht.“ Doch Tornados Griff war unbarmherzig und fest. „NIEEEEEEEEET!!“ Wenig später hatten sich alle fünf Clubmitglieder im geräumigen Wohnzimmer versammelt und auf einer weißen Ledercouch Platz genommen. Der blonde Teamleiter hatte eine Flipchart mitgebracht und befestigte mit Magneten ein Poster daran. „Tutti quanti, attenzione!“ Er tippte mehrmals mit dem Finger auf das Poster. „DAS hier... ist unser Ziel!“ Ein Raunen ging durch die Bank. Ja, Tornado hatte schon einmal davon geredet, aber damals hatten sie es alle noch als ein Hirngespinst abgetan und ihm nicht weiter Beachtung geschenkt. Doch jetzt, wo er sie alle nach Sizilien geholt und einen Trainingsplan für sie erstellt hatte, schien es, als würde dieser Plan doch ein Körnchen Wahrheit beinhalten. „Ich als euer Teamchef habe beschlossen – und wenn ich als der Teamchef etwas festlege, dann gilt das auch so, basta! – dass wir an der Kite-Weltmeisterschaft teilnehmen werden!“ Zur Bestätigung tippte er noch einmal fest auf das Poster, welches ein offizielles Werbeplakat für eben dieses Event war. „Allerdings...“, er beugte sich nach vorne und holte einen weiteren Zettel und Magneten aus einer kleinen Pappkiste, die auf dem Couchtisch stand, „müssen wir unsere Teilnahme um ein Jahr verschieben, da unser werter Teamtechniker Angelo erst Ende Januar 2014 die erforderlichen sechzehn Jahre für die Teilnahme erreichen wird!“ Er befestigte die Jahreszahl „2014“ so neben dem Titel „Kite-WM“, das sie die 2013 verdeckte und nun „Herbst 2014“ auf dem Plakat stand. „Somit haben wir also über ein Jahr Zeit, uns ausgiebig auf den Wettbewerb vorzubereiten – und glaubt mir, diese Zeit werden wir auch brauchen, um unser Kampfniveau zu erhöhen!“ Zur Bestätigung schaltete er den Fernseher ein und begann eine DVD abzuspielen. Erst verfolgten Zeph, Wendy, Hayate und Angelo noch gespannt die Aufzeichnung der Drachenduelle, doch schon nach wenigen Minuten waren selbst die emotional so gefassten Hayate und Angelo kreidebleich geworden. Zephs Kinnlade kippte herunter. „Ist nicht dein Ernst, oder?“ Wendy pflichtete ihm bei. „Wir schaffen es doch niemals, auf so ein Niveau zu kommen! Gib es zu, Balotelli, das sind keine Menschen, sondern Außerirdische! So wie die kann sich doch kein normaler Mensch bewegen!“ Doch Tornado straffte nur die Schultern und nickte felsenfest entschlossen. „Si, das sind ganz normale Menschen wie du und ich! Und falls es euch interessiert: letztes Jahr hat sogar eine Oberschulmannschaft gewonnen. Unmöglich ist es also nicht!“ Siegessicher streckte er den Arm aus und deutete in den Himmel – oder eher an die Decke, an der ein geschmackloser protziger Kronleuchter angebracht war. „Gemeinsam werden wir in den Himmel aufsteigen, bis hin zu den Sternen! Avanti!“ Es begann schon zu dämmern, als Wendy endlich ihr Tagespensum absolviert hatte. Jeder Muskel tat weh und ihre Knochen ächzten und knarzten bei jeder Bewegung. Erst waren sie mehrere Kilometer bei gerade einmal zehn Grad Außentemperatur barfuß am Strand joggen gewesen, waren anschließend – durchnässt bis auf die Unterwäsche, da der Chef es für das beste hielt von allen noch ein Erinnerungsfoto zu machen, auf dem natürlich eine besonders große Welle über sie alle hinweg schwappen musste – zum Schwimmen in das beheizte Hallenbad des Anwesens zurückgegangen, um nun, zum krönenden Abschluss des Tages noch das letzte bisschen Schlacke in der Sauna aus zu schwitzen. Und das sollte sich jetzt für die nächsten zehn Tage wiederholen? Am Besten Balotelli vergaß gleich seine über-ambitionierten Pläne und sie verwandelten den Drachenclub gleich in eine entspannende Kartenspiel AG um. Aber was würde das bringen? Am Ende beschworen sie dadurch noch die Kraft der Finsternis aus der grauen Vorzeit und mussten um das Schicksal der Welt kämpfen, wie es wirklich nur bei Kartenspielen passieren konnte. Drachensteigen, das war ungefährlich. Zumindest, wenn man davon absah, dass man immer irgendwo herunterfallen, sich einen tödlichen Stromschlag holen oder gar schwere Schnitt- und Brandverletzungen erleiden konnte. Wendy lächelte flüchtig und öffnete die Tür zur – wie nicht anders zu erwarten – schwedischen Sauna, die nach Holz und einem Aufguss von Tannenöl roch. Eine Wand aus Hitze schlug ihr entgegen. Fehlte bloß noch, dass man durch die Kraft eines Kirits Psychosen erleiden konnte und darauf selbst im Wahn von irgendwelchen Dächern und Ruinen in den Tod sprang! „Ah, Bellissima, genau richtig!“ Warum? Warum konnte Balotelli nicht EIN MAL auch erschöpft sein? „Wir sind auch gerade erst reingekommen. Da können wir direkt ein kleines Wettschwitzen machen, wer es von uns die meisten Aufgüsse hier drin aushält!“ Zeph stöhnte entnervt. „Ist viel zu warm! Essen wäre jetzt viel besser!“ – „Geduld, Geduld! Nimm Platz, Wendy!“ Der blonde Italiener machte eine einladende Geste, doch Wendy war mit einem Mal wie zu einer Salzsäule erstarrt. Ihre Augenbraue zuckte. Pimmel. Überall Pimmel! Groß, klein, haarig, glatt wie ein Babypopo, beschnitten, runzlig! Oh. Mein. Gott. Sie wurde rot. Feuerrot. Bis zum Haaransatz, wenn nicht sogar bis in die Spitzen ihres ohnehin schon kupferroten Haares. Tornado lachte schallend. „Mamma Mia, schockiert dich der Anblick von ein bisschen wilder Natur so sehr?“ Er stand auf und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Nun hab dich mal nicht so, Bellissima! Wir sind ein Team! Eine große Familie! Eine symbiotische Einheit!“ Ihr Verstand setzte aus. Da waren Dinge, die wollte sie nicht sehen und auch nicht wissen. Danke, vielen Dank auch, dass du mir meinen unschuldigen und jungfräulichen Geist so verderben musst! Sie presste die Lippen zusammen. „Bellissima, willst du nicht auch dein Handtuch ablegen! In der Sauna schwitzt es sich am besten, wenn man komplett nackt ist!“ Er begann an dem schwarzen Totenkopfhandtuch zu zerren, bis es sich halb gelöst hatte. „He... hey! Sag mal, geht’s noch?“ Wendy fing sich keinen Augenblick zu spät. Reflexartig packte sie das Handtuch, zerrte es Tornado aus der Hand und wickelte sich so fest ein, wie es ging. „Oh, hast ja nicht nur im Gesicht Sommersprossen, nicht schlecht!“, stellte Zeph mit stierendem Blick fest. Noch immer pochte das Blut in ihren Ohren. Sie schmollte. „Ihr seid echt peinlich, wisst ihr das!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Habt ihr denn keinen Respekt davor, dass ich ein Mädchen bin?“ Oh nein. Jetzt fange ich auch noch an zu Heulen! „Ich meine, ist ja ganz schön, dass ich für euch nicht die allgemeine Clubmatratze bin, aber...“, sie schluckte, „das heißt nicht, dass ihr mich deshalb gleich für Euresgleichen halten sollt!“. Sie ballte die Faust. „Vielleicht benehme ich mich nicht sehr oft so, aber ich bin immer noch eine Frau und ich habe auch Gefühle! Ihr könntet mich...“, sie senkte den Blick und suchte nach den passenden Worten, „wenigstens ein kleines bisschen für weiblich und attraktiv halten!“. Die Tür knallte zu. Tornado atmete tief durch. „Mamma mia, das war aber ein Gewitter!“ Er griff nach seinem Handtuch und band es sich um die Hüfte. „Che peccato! Da ist jetzt wohl eine Entschuldigung fällig!“ Er öffnete die Tür und trat hinaus, doch bevor er sich auf die Suche nach Wendy machte, zwinkerte er den anderen drei Jungen noch einmal zu. „Nicht vergessen, alle fünf Minuten ein Aufguss und mindestens 30 Minuten drin bleiben! Denkt an die Weltmeisterschaft, avanti!“ Wendy konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal so heftig geweint hatte. Nicht einmal, als Ethan sie im Krankenhaus besucht hatte, kamen so viele unterdrückte Gefühle aus ihr heraus, die nun mit dem heißen Wasser der Dusche hinweg gespült wurden. War dies vielleicht der Grund gewesen, weswegen sie ihren Kirit nicht richtig beschwören konnte? Wegen all der kleinen Dinge, die sie über Jahre hinweg angesammelt hatte wie in einem Pulverfass, das nun endlich explodiert war? Sie wusch und schrubbte sich so gründlich wie seit Ewigkeiten nicht mehr, so lange, bis ihre Haut ganz rot war. Erst dann ebbte das ungute Gefühl langsam ab. Sie zog einen der bereit liegenden Bademäntel an, rubbelte sich die Haare mit einem Handtuch trocken und ging zurück in ihr Zimmer. Schweigend nickte Tornado ihr zu. Er hatte seine Trainingsklamotten wieder angezogen und saß wartend auf dem kleinen Sofa neben dem Fenster. Wendy verstand schon, was er ihr damit sagen wollte. Und sie war einverstanden. „Es tut mir leid, dass ich so aufbrausend war.“ Sie setzte sich in den der Couch gegenüber stehenden Sessel und legte sich das Handtuch über die Schultern. Na toll. Jetzt sah sie mit Sicherheit noch abgewrackter und unattraktiver als sonst aus, so mit rotgeweinten Augen und ganz ohne Schminke. Kein Wunder, dass in ihr alle immer nur den netten Kumpel sahen, der sich für keinen Spaß zu schade war! „Mir tut es leid, Bellissima!“ Sein Blick war aufrichtig und voller Reue. „Das war so unsensibel von uns allen!“ – „Ja, das war es! Jetzt werde ich mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen, wie eure Pimmel aussehen!“, keifte sie ihn an. „Das sind Dinge, die sollten zumindest aus Anstand zwischen Männern und Frauen immer geheim bleiben, außer man geht jetzt in einen FKK-Club und ist mental darauf vorbereitet, solche Dinge zu sehen!“ Wieder wurde sie rot. „Ich meine... Es ist ja nicht so, als würde ich von euch auf ein stupides Love Interest reduziert werden wollen, dessen einziger Zweck es ist kurze Röcke zu tragen und am Ende auch noch den coolsten Typen der ganzen Geschichte ab zu bekommen, aber so ein bisschen mehr Respekt gegenüber dem, was ich bin, erwarte ich schon von euch!“ Sie machte eine kurze Pause und rang nach Luft. Wenigstens jetzt hielt Balotelli mal die Klappe und ließ sie ausreden! „Und nein, ich bin kein giftiger Skorpion – zumindest nicht immer – sondern einfach nur Wendy. sechzehn Jahre alt, weiblich und noch voller naiver Träume und Wünsche!“ Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen, doch diesmal war sie nicht allein. Diesmal war jemand da, der ihr zuhörte. Jemand, der ihr ein Taschentuch und eine Schulter zum Ausweinen reichte. Und jemand, der zum richtigen Zeitpunkt einfach die richtigen Worte fand. „Wendy, Bellissima! Erinnerst du dich noch an Halloween?“ Sie schniefte und blickte ihren blonden Teamchef kritisch an. „Ja, da bist du in den Fluss gefallen und klatschnass nach Hause gelaufen. Und wer hatte am Ende die Erkältung? ICH!“ Tornado lachte. „No, no, das meine ich nicht! Ich rede von deiner Strafe!“ – „Meine... Strafe?“ Erst wusste sie nicht, wovon er redete, doch dann traf es sie wie einen Schlag. „Die Strafe der Peinlichkeit? Ernsthaft?“ Er bejahte. „Si, Bellissima! Du meintest wohl, dass du davonkommen würdest, bloß weil du dich jeden Tag schminkst, aber ich habe es nicht vergessen!“ Er sprang auf und begann wild zu gestikulieren. „Weißt du was? Ich habe mir von meiner Cousine ein paar Sachen ausgeborgt. An Silvester mache ich aus dir einen wunderschönen Schwan, promessa!“ Was für ein Enthusiasmus! Da konnte man einfach nicht nein sagen. Ein zartes Lächeln stahl sich auf Wendys Gesicht. Dass er daran noch gedacht hatte! „Wettschulden sind Ehrenschulden!“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Aber wehe, du verunstaltest mich, dann schicke ich dich in Einzelteilen zurück nach Hause!“ Er wandte sich zur Tür und setzte sein strahlendstes Zahnpastalächeln auf. „Bellissima! DAS wird nicht passieren! Und wenn doch überlasse ich dir gerne ab dem ersten Januar die Leitung des Clubs!“ Der 31. Dezember kam schneller heran, als es der ganze Drachenclub erwartet hatte. Vier Tage lang hatten sie sehnsüchtig auf diesen Tag gewartet, nur damit er am Ende wie im Flug verging. Schon war es draußen dunkel geworden. Hayate hatte den Grill angeworfen und briet frisch gefangene Makrelen. Angelo versuchte sich an Risotto nach einem auf ein Milligramm genau berechneten Rezept von Tornados Vater und Zeph... der hing mal wieder nur schlapp auf dem Sofa herum und erholte sich von den Strapazen. Der Muskelkater machte ihm fast noch mehr zu schaffen, als die ausgekugelte Schulter von neulich. Immer wieder nickte er kurz weg, nur um dann in Gedanken an das kommende mediterrane Festmahl wieder hochzuschrecken. Vier Tage schon hatte er fast nur eiweißreiche Kost und frisch gepresste Obst- und Gemüsesäfte bekommen, so dass er froh war, endlich einmal wieder Kohlenhydrate und etwas Alkohol abzukriegen. Vier Tage! Eigentlich ein guter Grund die Fliege zu machen und sich ein anderes Hobby zu suchen, doch wann immer er in Gedanken auf der Flucht war, war es Balotelli, der ihm mit einem Siegerlächeln den Riegel vorschob. Wo war der Chef überhaupt? Es war schon eine Stunde her, seit er sich das letzte Mal hatte blicken lassen. Und Wendy? Die war auch weg. Zeph grinste versaut. Nicht dass beide gerade einander besser kennenlernten und eine Runde Bettgymnastik miteinander machten! Hö-hö, schon allein die Vorstellung! Vielleicht wurden davon ja Wendys Brüste endlich mal größer, denn wie lautete der Spruch so schön: „Männerfinger sind Busendünger!“. Zumindest mit einer der beiden Sachen hatte er recht – und das war Wendy ziemlich peinlich. Ausgeliefert war sie ihm, wie damals in der Besenkammer, nur dass es ihr jetzt nichts mehr ausmachte, dass er ihr so nahe kam. Das er sie berührte, während er mit fachmännischer Präzision Make- Up in ihrem Gesicht verteilte, ihr Kajalstift und Lidschatten auftrug, als hätte er nie etwas anderes gemacht und ihr schließlich auch noch die Haare frisierte, sofern es bei ihren Borsten überhaupt möglich war. Eigentlich wollte Wendy schlafen, denn die ganze Sache dauerte schon viel zu lange. Aber wenn sie jetzt einnickte und Balotelli die Schminke versaute, dann musste sie für den Rest ihrer Schullaufbahn den Club leiten, genau so wie er es angekündigt hatte. Nicht, dass sie ungern in einem Thron gesessen hätte, aber Lust darauf alle herumzukommandieren und jeden Furz entscheiden zu müssen war so gar nicht ihr Bestreben. Sie seufzte laut. „Sind wir bald mal fertig? Das nächste Mal trinke ich freiwillig ranzige Milch, das dauert wenigstens nicht so lange!“ Tornado legte die Schminkpinsel beiseite, schob sein Stirnband zurück in die Stirn und musterte sie kritisch. Dann hellte sich sein Gesichtsausdruck auf und er klatschte in die Hände. „Wendy, Principessa! Du siehst wunderschön aus!“ Skeptisch blickte sie ihn an. „Und du lügst mich auch nicht an?“ Er reichte ihr einen Spiegel. „No, no, du bist jetzt wirklich ein Schwan!“ Während sie sich verdattert betrachtete – es war wirklich schockierend, wie viel so ein bisschen Make-Up ausmachte – holte der Blonde ihr Mobiltelefon und strahlte sie an. „Du musst mir nicht danke sagen! Los, lass uns raus auf die Terrasse gehen, das Alibifoto für deine Jungs fehlt noch!“ Ihr schoss das Blut in die Ohren. Oh Mann, warum hatte sie nur so eine empfindliche Haut, bei der man ihr sofort ansah, was in ihr vorging! Strafe der Peinlichkeit. Oh ja! Wer hätte gedacht, dass sie sich so schämen würde! Warum eigentlich? Weil die Wendy, die sie dort aus dem Spiegel anblickte, fast wie eine andere Person wirkte. Tornado bugsierte sie an das weiße Marmorgeländer, wenige Meter von einer Laterne entfernt, damit sie nicht im Dunkeln stand, das Licht aber auch nicht zu stark auf dem Foto strahlen würde. „Ecco! Und jetzt einmal eine sexy Pose, Bellissima! No, no, nicht so verkrampft, etwas mehr die Schultern zurück, den Kopf nach oben und die Brust raus! Si, so ist es gut, fantastico!“ Der Auslöser klickte mehrmals. Dann war Wendy auch schon erlöst und betrachtete nervös die Bilder. „Was mache ich denn hier für ein Gesicht? Das geht ja gar nicht. Und das hier ist unscharf. Aber das... Das ist gut!“ Sie nickte zuversichtlich. „Und jetzt noch an alle männlichen Kontakte verschicken. Oh, das wird aber teuer! Die Handyrechnung werde ich dir schicken, Balotelli!“ Er winkte ab. „Bene!“ Mit einem Grinsen fügte er hinzu. „Ich bin schon gespannt, wer sich in dieses schöne Mädchen verlieben wird! HUAAA~H!“ Er rang nach Luft, denn Wendys Ellenbogen landete wie im Reflex in seinen Rippen. Sie knurrte aggressiv. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht vorhabe, mich auf ein dummes Love Interest reduzieren zu lassen! Ich bin mir selbst die nächste und alles andere ist absolut nicht von Bedeutung!“ Tornado rieb sich den Bauch. „Wirklich nicht?“, ächzte er. „Ich dachte da zum Beispiel an ETHANDY!“ „Negativ.“ „ZENDY?“ „Gott bewahre! Nein!“ „ANGENDY?“ „Stehe ich auf Kinder, oder was?“ „VALDY?“ „NIEMALS! Bin ich Kindergärtnerin?“ „Wie heißt dieser Kleinwüchsige nochmal, dessen ganze Wohnung nach exotischen Kräutermischungen der Marke Eigenanbau riecht?“ „Julius?“ „JULIENDY?“ „Sag mal, reicht das nicht langsam?“ Jetzt hatte er es geschafft! Der Geduldsfaden war gerissen. „Am besten ich mache das gleich bei dir, damit du mal merkst, wie sich das anfühlt!“ Tornado schmunzelte. „Versuch' es doch mal!“ Wendy blickte ihn ernst an. „Okay... HAYATELLI!“ Schweigen. „Was denn, keine... Ups?“ Sie wollte gerade mit einem sarkastischen Kommentar fortfahren, da bemerkte sie die kirschrote Farbe, die das Gesicht des blonden Teamleiters angenommen hatte. VOLLTREFFER! Mit einem Mal war der ach so selbstbewusste Balotelli total schweigsam und schüchtern. Wendy legte den Kopf schief. „HAYATELLI? Wow, das glaube ich nicht!“ Sie kniff die Augen zusammen und versuchte seinen Blick zu kreuzen, doch er sah nur auf den Boden und nickte stumm. „Und du bist dir sicher, dass es nicht BALOTATE ist?“ Er verneinte. Wendy lachte hinterlistig. „Balotelli, Balotelli, wer hätte gedacht, dass du die Matratze der Clubhausfrau bist!“ – „STOP!“, platzte es aus ihm heraus. Ihre Augen begegneten sich für einen Augenblick, dann sah er wieder nervös auf die Steine unter seinen Füßen. „Du könntest das doch ein bisschen romantischer ausdrücken, Bellissima...“ Seine Stimme war kaum hörbar. Wendy atmete laut ein. „Es ist nur, so... Ich meine... Hayate... Der ist nun nicht gerade das, was man sich unter einem waschechten Kerl vorstellt!“ Diesmal war es sie, die ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte. „Seit wann geht das schon so?“ Er druckste herum. „Eigentlich, schon länger... So richtig aber erst seit der Nacht, in der mia bella Sorella entführt worden war.“ A-ha! So war das also. Beruhigungssex, während sie, die arme, arme Wendy, total entkräftet und voller Brandwunden im Krankenhaus lag und nicht mal mehr wusste, wo oben und unten war! Ihre Mundwinkel verformten sich zu einem unheimlichen Grinsen. Er hob den Zeigefinger. „Aber behalte das bloß für dich, sonst bin ich meinen Ruf als Mädchenschwarm los! Das ist schlecht für das Geschäft als Lieferjunge!“ Das unheimliche Grinsen wurde noch breiter. Tornados Augenbrauen zuckten. „Würdest du dir bitte diesen perversen Ausdruck aus dem Gesicht wischen?“ Seine Stimme nahm wieder einen aggressiven und lauten Tonfall an. „Prego! Bellissima! Ich verrate dir dafür auch ein kleines Geheimnis!“, flehte er und sah sie wie ein nasser Welpe an. „Und das wäre?“ Er deutete auf seine Nase. „Ich habe vorhin ganz genau gerochen, für wen du etwas übrig hast! Deine Pheromone haben dich verraten!“ – „Tse!“ Wendy verschränkte die Arme. „Da weißt du ja mehr als ich!“ Das Zahnpastalächeln kehrte zurück. „Ich kenne also dein schmutziges kleines Geheimnis und werde es allen verraten, wenn du über Hayate und mich tratschst, ist das klar?!“ Er legte die Hand in ihren Nacken und zog sie ganz nah an sich heran, bis seine Lippen fast ihr Ohr berührten. „Die Person, in die du verliebt bist, ist...“ Er sprach so leise, dass das Meeresrauschen die letzten Silben verschluckte, nicht aber den Aufschrei der Überraschung, der sich in Wendys mit einem Mal zartrosa und so gar nicht mehr pervers grinsendes Gesicht schlich. Hatte er etwa Recht? Konnte das etwa der Grund sein, warum ihr Kirit bisher nicht richtig beschworen werden konnte? Nur wegen dieser einen Tatsache, die ihr bis dato noch nie – wirklich NIE – in den Sinn gekommen war? Sie wusste es nicht. Als sie um Mitternacht alle gemeinsam am Strand waren und kleine Himmelslaternen zu den Sternen schickten, nahm sie sich ganz fest vor, es herauszufinden. Schon bald. Im neuen Jahr. Kapitel 16: Das Strandrennen ----------------------------  „Drei! Zwei! Eins! Lift 'em up! Ich meine... KNUUUU~T!“ Eigentlich hatte Tornado es nicht so mit dem schwedischen Teil seiner Familie. Bis auf das blonde Haar und die blauen Augen gab es nur wenig, was ihn mit der mütterlichen Linie verband, so dass der gesamte Drachenclub erstaunt war, als er am Morgen des Dreikönigstages voller Elan in die einzelnen Zimmer gestürmt kam und alle dazu aufforderte, mit ihm gemeinsam den Weihnachtsbaum vom Schmuck zu befreien und über die Brüstung auf den Strand zu werfen. Alle? Na ja, fast alle! Zeph, der sonst immer der Letzte war, wenn es um das Aufstehen ging, war wie vom Erdboden verschluckt. Und so waren sie nur zu viert, als der Tannenbaum hinab plumpste und sie alle ihre Rucksäcke packten, voller gemischter Gefühle ob der Dinge, die auf sie zukommen würden. Denn heute war in vielerlei Hinsicht ein besonderer Tag. Heute war nicht nur der letzte Urlaubs- und außerdem Dreikönigstag, nein, heute hatte sich der Clubchef etwas ganz besonderes einfallen lassen. Und das hieß nicht – wie jeder erst mit entnervtem Stöhnen vermutet hatte – dass das Trainingspensum erneut erhöht wurde, sondern dass man sich später einmal einer gänzlich anderen Herausforderung stellen sollte, und zwar... DÖÖT-DÖÖÖÖT! Ein Auto hupte in der Einfahrt. Sofort setzte Tornado sein allzeit bewährtes Siegerlächeln auf. „Pünktlich auf die Minute! Sind alle bereit? Dann... Avanti!“ Er riss die Haustür auf und wollte gerade zu dem schäbigen Transporter sprinten, der sich durch das laute Hupen bemerkbar gemacht hatte, doch das, was er vor seinen Augen sah, ließ seine Gesichtszüge entgleisen. Wie hieß es so schön? „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht“? Hier war wohl eher „Man sieht das Auto vor lauter Bäumen nicht“ die Regel, denn seine Sicht wurde durch einen Wald an alten Weihnachtsbäumen versperrt. Und als ob dies noch nicht alles gewesen wäre, jaulte plötzlich eine Kettensäge auf. „Ah, da ist Zeph also abgeblieben!“, stellte Hayate freundlich wie immer fest und bahnte sich seinen Weg durch den toten Nadelwald bis hin zu dem schäbigen alten Wagen, an dessen Steuer ein dicker junger Mann mit dunkelgrünen Haaren saß, den Zeph in seinem Elan weder kommen, noch hupen gehört hatte. Erst als er einen weiteren Weihnachtsbaum in seine Einzelteile zerlegt und für einen kurzen Moment die Kettensäge abgestellt hatte, blickte er sich irritiert um. „Was ist los hier? Cha-tschu!“ Die Holzspäne stachen in seiner Nase, als er aus halb geschlossenen Augen den tadelnden Blick des blonden Teamleiters wahrnahm und sich über das Gesicht wischte. „Scusi? Das könnte ich dich fragen! Hast du vergessen, was wir gestern Abend besprochen haben?“ Zeph legte den Kopf schief und grübelte einige Sekunden lang, bis – „Ah!“ – ein imaginäres Ausrufezeichen über ihm erschien. „No, no, nicht 'Ah'! Wir wollten heute gemeinsam Kiteboarden gehen und was machst du? Geklaute Weihnachtsbäume zersägen!“ Er machte eine ausladende Bewegung mit den Händen, wie als wollte er nicht vorhandenen Dreck auf den Brünetten werfen. „Und wo hast du überhaupt diese Kettensäge her, Sfaticato?“ Zeph winkte ab. „Ist nix geklaut! Habe ich alles gefunden! Gutes Brennholz, konnte ich nicht liegen lassen! Und eben ist auf dem Strand noch ein Baum gelandet, den muss ich auch noch holen! Sehr gut, nie?“ Er wollte gerade wieder die Kettensäge anschalten, als es erneut hupte. Müde kräuselte er die Stirn. „Was ist denn das für ein ungeduldiger Speckknödel? Dessen Autoreifen sind so schäbig, die kann man nicht mal verkaufen, nie!“ Der sonst so coole Balotelli war nahe daran, sein volles italienisches Temperament in Form einer Schimpftirade auf den Polen loszulassen, doch Wendy, die mit Angelo noch ein paar Dinge geholt hatte, rettete die Situation. „Der da? Das ist doch bestimmt Costas Nixas, dem der Kite-Verleih gehört, wenn ich mich gestern nicht verhört habe?“ Sie zwinkerte. „Und an deiner Stelle würde ich vorsichtig sein, was du in seiner Nähe sagst, denn er gehört zu den letztjährigen Drittplatzierten bei der Drachen-Weltmeisterschaft!“ Zeph legte die Kettensäge ab und klopfte sich die Sägespäne von der Kleidung. Jetzt wo jemand es erwähnte... „...der mit dem riesigen Krokodil-Kirit?“ – „Genau der! Costas Nixas, Anführer von Team Concordia, auch 'Costas Concordia' genannt!“ Der dicke Grünhaarige, der seinem Akzent und Äußerem zu folgen eindeutig ein Grieche war, hatte das Fenster herunter gekurbelt und den Daumen erhoben. „Und jetzt alle Mann an Bord, denn Zeit ist Geld und Geld ist bei uns Griechen bekanntlich immer knapp! Opa-Opa!“ Kaum eine Viertelstunde später stand der Club – mit Ausnahme von Angelo, der es sich mit seinem Laptop auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte und tief versunken in ein Rechenprogramm war – in voller Kiteboarding-Montur auf einer kleinen Rampe. Jeder der vier hielt einen großen Drachen in den Händen, dessen vier Leinen an einem Trapez befestigt waren. Aufsteigend nach Körpergewicht hatte Wendy das kleinste und Zeph das größte der so genannten Traction-Kites, die gebraucht wurden, damit sich jeder mit Hilfe eines All-Terrain-Boardes – eines Skateboardes mit stabileren und dickeren Reifen zum Fahren auf allen Untergründen – unter der Zugkraft des Windes auf dem festen Sandboden fortbewegen konnte. Und damit auch nichts passieren konnte – immerhin würden sie gleich nicht nur gegeneinander ein Rennen fahren, bei dem sie bis zu 50 Kilometer pro Stunde schnell fahren und auch etwa fünf Meter hoch und etliche Meter weit springen konnten – trugen sie neben der obligatorischen Zugleine in der Hüfte auch noch Helme in den Farben ihrer Clubjacken. Träge blickte Zeph zu den anderen hinüber. „Muss das wirklich sein? Ist doch der letzte Tag hier, will mich endlich auch mal ausruhen dürfen!“ Tornados Zahnpastalächeln verursachte bei ihm Kopfschmerzen. „Selbstverständlich, mein werter Freund! Und erinnere dich daran, dass wir an Silvester und Neujahr schon eine Pause gemacht haben, das muss reichen!“ Wendy pflichtete ihm bei. „Und denk nur daran, dass wir uns ab übermorgen jeden Morgen vor der Pizzeria treffen, um gemeinsam zur Schule zu joggen!“ Sie setzte ein diabolisches Grinsen auf, das Zeph noch mehr erbleichen und an sein Intermezzo mit dem Tabasco an Halloween zurückdenken ließ. Nein. Noch einmal wollte er sich nicht dem Willen der Nummer Zwei des Clubs entgegenstellen. Nicht, wenn sein Magen-Darm-Trakt intakt bleiben sollte! „Können wir jetzt loslegen?“, unterbrach sie der dicke Grieche und zückte eine Trillerpfeife. „Der Wind steht günstig und ich habe nachher noch etwas vor. Wenn ihr also nicht wollt, dass ich pleite gehe, dann kommt mal in die Gänge!“ Er nickte abwechselnd jedem der Vier zu. „Mister Fantastic!“ Ein Blick zu Tornado. „Johnny und Susan Storm!“ Er sah erst Wendy und dann Hayate an. „Hey, wieso bin ich der Teamrüpel und Hayate das Mädchen?“ Sie schnaubte entrüstet. „...und: Das... Ding...“ Er rümpfte die Nase, als er Zeph, dessen Finger wie so oft ungeniert popelte, mit einem flüchtigen Blick bedachte. „Sind die Fantastischen Vier bereit? Dann: Drei! Zwei! Eins!“ FFRRRIIIIIIIIIIIIEEET!!! Auf Kommando stiegen alle vier Kite Knights mit ihrem zweiten Fuß auf die Landboards, lehnten sich etwas nach vorne und schossen die Rampe herunter. Unten angekommen hatte jeder von ihnen schon so viel Schwung, dass die sich blähenden Lenkmatten wie ein Katapult auf ihre Geschwindigkeit wirkten. Wendy, die am leichtesten war, schoss als erste voran. Sand wurde aufgewirbelt, als ihr Kiteboard an Fahrt gewann und sie sich in die erste Kurve legte. Es war... Ein seltsames Gefühl. Mal abgesehen von dem leichten Stechen in ihren vernarbten Händen war es doch etwas gänzlich anderes, sich von der Kraft des Windes ziehen zu lassen, anstatt sich dagegen zu stemmen und die aufgebaute Zugkraft in einer Rammattacke umzulegen. Es war fast wie ein Flug, wenn nicht... „H... Hey!“ Tornado schoss so plötzlich so knapp an ihr vorbei, dass sie ins Trudeln kam. „Bellissima, nicht träumen, sondern fahren, avanti, avanti!“ Er kreuzte ihre Spur und setzte sich mehrere Meter von ihr ab. Auch Hayate war mit einem Mal auf ihrer Höhe, rief nur „Ki o tsukete, kudasai!“ und setzte zum Sprung an. Mit einem Mal war er nicht mehr neben, sondern über ihr und flog mitsamt Drachen und Board meterweit durch die Luft. Vor Schreck steuerte Wendy nach links. Erst der Chef, jetzt auch noch sein Geliebter, fehlte nur noch... „AQUILA!“ Zeph schrie laut gegen den Wind an und beschwor seinen Adler-Kirit. Mit einem Vogelschrei entstieg dieser der grünen Lenkmatte und schoss auf den bereits ein gutes Stück voran gepreschten Tornado zu. Doch dieser reagierte keinen Moment zu spät und vollzog einen ebenso galanten Sprung wie Hayate, so dass der braune Adler ihn nicht traf, sondern unter ihm hindurch flog. Wendy wusste nicht, worauf sie sich konzentrieren sollte. Drei Gegner, von denen mindestens zwei wild entschlossen waren ihren Drachengeist einzusetzen, ein Untergrund, der immer wieder mit kleinen und großen Buckeln übersät war, sowie den mit den Händen zu steuernden Drachen über und ein mit den Füßen zu steuerndes Landboard unter sich. Und es wurde noch besser: Dort, nicht mal fünfzig Meter entfernt von ihnen, stand plötzlich ein Fischernetz mitten in der Fahrspur. Oh-oh! Jetzt hieß es entweder ausweichen – oder springen. Nervös blickte sie sich um. Sie war eingekesselt zwischen Hayate und Zeph, von denen keiner auch nur im Traum daran dachte für sie Platz zu machen. Zephs Drachengeist Aquila lieferte sich ein Duell mit Icarus, der sich inzwischen ebenfalls offenbart hatte und wie wild mit Lichtpfeilen um sich schoss. Dort! Schon wieder ein neues Hindernis! Wendy fühlte sich wie in der Fahrradprüfung, bei der man aufgestellten Pylonen ausweichen musste, nur dass diese keine orangen Hütchen waren, sondern weiß glänzende Pfeile, die so lange im Sand stecken bleiben würden, wie Balotellis Kirit über ihnen schwebte. Gleich! Noch dreißig Meter. Zwanzig. Zehn. Acht. Sechs. Und Absprung! Wendy zog die Beine an und ließ sich nach vorne fallen. Sofort zerrte der Wind noch stärker an ihrem Traction-Kite und hob sie so hoch in die Lüfte, dass ihr ganz mulmig wurde. Jetzt nur nicht das Trapez loslassen! Weiter. Weiter! Noch weiter! RUMMS! Die Landung war etwas unsanft, doch sie gelang. Und das war erst der Anfang. Bereits in weiteren fünfzig Metern waren weitere Hindernisse aufgebaut, diesmal mit Schaumstoffmatten geschützte Säulen, die sich wie im Slalom über den Strand zogen. Der Höllenritt ging also weiter! Und Wendy dachte so gar nicht daran, sich von den drei Jungen unterbuttern zu lassen, von denen einer schon in wenigen Augenblicken... „WAAAAH!“ Tornado, der durch Wendys weiten Sprung auf die zweite Position zurückgefallen war, konnte trotz einer sofortigen Reaktion unter einem überraschten Ausruf nicht mehr verhindern, dass er die Kontrolle verlor und sich mehrmals überschlug. Er hatte nicht aufgepasst. Das Duell zwischen Icarus und Aquila hatte ihn so sehr eingenommen, dass er die tiefe Grube, welche direkt hinter dem Fischernetz ausgehoben worden war, übersehen hatte – beziehungsweise direkt hinein gesprungen und dann wegen des sich verkeilendem All-Terrain-Boards vornüber gestürzt war. „Ist alles okay?“, rief Hayate besorgt im Vorbeifliegen und sah aus den Augenwinkeln, wie sich der blonde Italiener wieder aufrappelte und Sand ausspuckte. Gott sei Dank musste er nicht anhalten! Na so was! Die selbst ernannte Nummer Eins des Drachenclubs war diesmal auch die Nummer Eins im Ausscheiden! Wendy grinste zuversichtlich. Sie hatte Blut geleckt. Jetzt musste es doch ein leichtes sein, auch noch die beiden anderen Kerle aus dem Rennen zu schmeißen, wobei Zeph ohnehin schon viel zu viel Energie durch den Einsatz von Aquila verbraucht hatte, während Hayate und sie noch relativ frisch waren. Die Säulen kamen immer näher, so dass sie versuchte den kürzesten und besten Weg durch den Hindernisparcours zu erspähen. Dort! Erst ganz nach rechts, dann zwei nach links, wieder eins nach rechts, dann durch die Mitte und... „MIST!“ Bevor sie auch nur die erste Säule passiert hatte, blockierte der braune Adler ihre erwünschte Route, so dass sie abrupt abbremsen musste. Zeph lachte und zog an ihr vorbei. „Hast wohl gedacht, du könntest hindurch schlüpfen, nie?“ Ehe sie die Richtung geändert und erneut an Fahrt gewonnen hatte, war auch Hayate an ihr vorbeigerauscht. Na ja, wenigstens war sie nicht mit vollem Karacho gegen eine der Säulen geknallt! „Aquila! Sturzflug und Bohrschnabel!“ Wieder rief Zeph seinen treuen Drachengeist zu sich und ließ ihn mit brutaler Wucht auf Hayate zustürzen. Hayates dünne Augenbrauen zuckten angespannt. „Das könnte dir so passen!“ Er würde nicht so leicht zu besiegen sein. Diesmal nicht! Galant wich er der Attacke aus, so dass Zeph selbst ein Ziel des braunen Adlers wurde, der unaufhaltsam immer näher geschossen kam. „Aquila, nein!“ Er setzte zum Sprung an, doch der feste Schnabel traf ihn schmerzhaft am linken Bein. „Ächz!“ Das Brennen war so intensiv, dass er sein Gesicht verzog. Dann ging alles ganz schnell. Zeph geriet ins Trudeln, fuhr erst einen großen Bogen nach rechts, um dann in Schlangenlinien immer weiter in Hayates Richtung zu kommen. Sand wurde aufgewirbelt, der dem Japaner die Sicht versperrte, so dass er reflexartig die Arme nach oben riss, um seine Augen zu schützen. Das brachte sein Traction-Kite aus der Balance, so dass es nach rechts kippte und ihn direkt in die Bahn von Zeph beförderte. Es gab ein lautes Rumpeln und Krachen, dann stürzten beide Drachen ab. Als sich die Staubwolke lichtete, war nicht nur Wendy über die Ziellinie gerast, sondern beide Jungen zu einem undefinierbaren Knäuel verschlungen, das vor Schmerz stöhnte. Hayates Schläfe pochte, als er scharf die Luft einzog und sich aus der menschlichen Brezel befreite. „Sehr gut gemacht, Zeph, wirklich sehr gut!“ Sein Blick verfinsterte sich. „Durch deine Grobmotorik habe ich den sicheren Sieg verspielt!“ Zeph drehte sich auf den Rücken und befreite sich von Board und Helm. „Hast du aber gut gemacht, sehr gut! Hast mich sehr überrascht, wie du Aquila auf mich gehetzt hast! Oha. Wie das weh tat, hätte ich nicht gedacht, nie?“ Trotz Schmerzen war er noch immer so locker drauf wie eh und je – und schon wieder dümmlich am grinsen. „Gut gemacht? GUT GEMACHT!“ Hayate biss die Zähne zusammen. Mit einem Mal war es, als hätte sich seine komplette Persönlichkeit gewandelt. Wutentbrannt packte er Zeph am Kragen seiner Jacke und schüttelte ihn. „Du! DU! Ich würde dich am liebsten auf der Stelle dazu zwingen, dir selbst im Seppuku den Bauch aufzuschlitzen, aber dafür bist du mit Sicherheit nicht nur zu faul, sondern auch noch zu schwach!“ Er schleuderte ihn zu Boden, so dass Zeph Staub in den Mund bekam und husten musste. Tornado und Wendy traten zu den beiden hinzu. „Mio Amore, alles in Ordnung mit dir?“ Hayate lachte bitter. „In Ordnung? Sieh dir diesen Versager hier an! Er hat meine Ehre als Drachenkämpfer mit seiner Unfähigkeit der körperlichen Koordination beschmutzt!“ Tornado hob beschwichtigend die Hände. „Calma e gesso! Es war doch nur ein Spaßrennen! Ich habe doch auch verloren, das macht doch nichts, si?“ Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, doch es wirkte nicht. Wütend ballte Hayate die Faust. „Ich will Genugtuung, sofort! Los, duelliere dich mit mir, du unfähiger Klotz!“ Sein ganzer Körper zitterte. Nein, das war nicht mehr der Hayate, der stets lächelte und tief in sich ruhte. Das hier war „Black Hayate“, eine unangenehme Persönlichkeit, die man besser nicht weckte, wenn man seines Lebens noch lieb war. „Tut mir leid!“ Zeph deutete auf seine blutende linke Wade. „Geht jetzt nicht, brauche eine Pause!“ – „Du!!“ Seine Zähne mahlten. Nur die Anwesenheit von Tornado und Wendy hielt ihn noch davon ab, nicht endgültig die Beherrschung zu verlieren und Zeph krankenhausreif zu prügeln. „Du bist eine Schande für den Club! Entweder du kämpfst jetzt gegen mich, oder ich werde dafür sorgen, dass Tornado-sama dich herauswirft!“ Seine Stimme war inzwischen so laut geworden, dass er nach Luft ringen musste. „Aber mein Bein, geht jetzt nicht. Wäre sonst unfair! Ich kann nicht...“ – „Ich mache das!“ Fest entschlossen trat Wendy zwischen die beiden Streithähne. Zu lange schon hatte sie wortlos mit angehört, wie Hayate den armen Brünetten angiftete. Zu lange nicht reagiert, bis ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn nicht mehr länger schweigen konnte und beiden am liebsten einen Schlag in die Magengrube verpasst hätte, damit der Spuk aufhörte. Doch für Schläge war jetzt keine Zeit. Jetzt sollten Worte alles richten. Und gute Taten. „Wenn du gegen mich gewinnst, dann hast du offiziell auch dieses Wettrennen gewonnen und Zeph ist aus dem Schneider, weil du keinen Grund mehr hast sauer auf ihn zu sein.“ Sie verschränkte die Arme und nickte ihm zu. „Und wenn ich gewinne, dann will ich für den Rest meiner Clubaktivität jeden Morgen gebratenen Speck mit Eiern zum Frühstück von dir zubereitet bekommen, einverstanden?“ Hayate fuhr sich nachdenklich durch das inzwischen zerzauste violette Haar. „Das ist eine außergewöhnlich seltsame Abmachung. Tse!“ Er verzog das Gesicht. „In Ordnung. Abgemacht!“ Beide machten einen Handschlag. „Nur... gibt es da ein kleines Problem...“, druckste Wendy herum und kratzte sich die Wange. Das hatte sie ja ganz vergessen! „Und das wäre?“ Hayate sah sie abschätzig an. „Ich habe im Moment keinen eigenen Drachen.“ Sie blickte Tornado und Zeph mit nervösem Lächeln an und versuchte einen bittenden Blick aufzusetzen. „Wer von euch leiht mir seinen?“ Kapitel 17: Shinigami, der Albtraumgott --------------------------------------- Akribisch kalkulierte Angelo die sich im präsentierenden Zahlen auf dem Bildschirm. „Noch ein bisschen weiter nach rechts. Und die Leinen einen halben Meter kürzer fassen. Ja, ja, so ist es gut!“ Die Anzeige wechselte auf Grün. Damit konnte er arbeiten. Tornado hatte Icarus erhoben, an dessen Gestänge Angelo zuvor neben einer Kamera auch einen Wind- und einen Temperaturmesser angebracht hatte. Der junge Techniker hatte sich nämlich im neuen Jahr vorgenommen von allen Drachenduellen Videoaufzeichnungen zu machen, damit sich das Team dadurch einen Eindruck über die Stärken und Schwächen machen konnte, an denen es bis zur Weltmeisterschaft in anderthalb Jahren zu arbeiten galt. Costas warf einen kritischen Blick über seine Schultern. „Warum brauchst du ein Thermometer? Solange der Wind günstig weht, kann einem die Temperatur doch egal sein, Kleiner!“ Angelo zuckte zusammen. Hatte dieser fette Grieche ihn gerade „Kleiner“ genannt? Nur nicht die Beherrschung verlieren! „Wendy dort drüben hatte beim letzten Mal Schwierigkeiten mit der Synchronisierung ihres Kirits. Um einen erneuten Hitzeausbruch zu vermeiden, gilt es ihren Status permanent zu observieren.“ Er nahm seine Brille ab und putzte die halbmondförmigen Gläser mit einem karierten Stofftaschentuch, auf dem seine Mutter die Initialen „A.D.“ – Angelo Devlynn – gestickt hatte. Costas pfiff erstaunt. „Das Mädel hat so viel Energie? Oh Mann, würde mich ja nicht wundern, wenn die auch im Bett 'ne Granate ist! Ob die was für Südländer übrig hat?“ – „Ganz bestimmt nicht für solche Fettknödel wie dich, selbst wenn dein Drachengeist riesig ist!“ Ihre Augenbrauen zuckten. „Ich habe alles gehört!“, blaffte Wendy. 'Ne Granate im Bett... Was dachte der sich nur? Und wenn, dann ging das nur sie etwas an. Und vielleicht auch... Sie errötete. FUCK! Warum musste der Stirnbandheini ihr auch diesen Floh ins Ohr setzen! Das, was er an Silvester behauptet hatte, denjenigen, den sie mochte, den sie sehr mochte... Warum konnte er das nicht für sich behalten?! „He, he, he!“ Costas rieb sich schelmisch über das Kinn. „Du magst also dicke Dinger?“ Sie knurrte gereizt. „Halts Maul! Halt einfach dein Maul und sieh zu!“ Oh-oh. Bloß keine schlechte Laune bekommen! Wendy atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Denk daran, was du mit Balotelli und seiner Schwester geübt hast. Und daran, was die anderen gesagt haben. Ihr Blick wanderte zu Zeph, der inzwischen einen Verband um die linke Wade trug und erschöpft wie immer drein blickte. „Ist wie aufs Klo gehen, einfach laufen lassen!“, hatte er zu ihr gesagt, kurz bevor Cleaver explodiert ist. Und jetzt stand sie hier, hatte sich Aquila ausgeborgt und hoffte inständig, dass nicht wieder dasselbe passieren würde. Nur die Ruhe bewahren! Wird schon schief gehen! Gischt sprühte empor. Das heutige Duellfeld lag zwar am Strand, doch anstatt des ebenen Sandbodens hatte man sich diesmal für eine Ansammlung von porösen schwarzen Felsen entschieden, die zum Teil mit glitschigen Algen überwuchert und stets von Wellen umspült waren. Es würde also schon allein wegen der Örtlichkeit ein spannendes Duell werden, an dessen Ende aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens eine Person klatschnass im Wasser landen würde. „Attenzione! Ich werde nun die Lift-Phase starten! Es duellieren sich heute Hayate mit Shinigami und Wendy mit Aquila. Auf die Positionen!“ Tornado wechselte kurz die Drachenleinen in eine Hand, um eine Trillerpfeife hervorzuholen. „Dreißig Sekunden Startsequenz beginnt... JETZT!“ Er blies so kräftig in die Pfeife, dass sich alle – bis auf die beiden Kontrahenten – die Ohren zuhielten. Sofort sprintete Wendy los und sprang mit großen Schritten von Stein zu Stein, um ausreichend Gegenwind aufzubauen. „Drei, Zwei, Eins! LIFT 'EM UP!“ Sie war erstaunt, wie schnell sich Zephs Drachen trotz der animalischen und ganz und gar nicht aerodynamischen Form erheben ließ. Keine fünf Sekunden dauerte es, bis sich Aquila unter starken Windböen auf den Aufwind gelegt hatte, so dass sich Wendy mit all ihrer Kraft dagegen lehnen musste, um die Kontrolle zu behalten. „LIFT 'EM UP, Sakura Dance Style!“ Hayates Blick war noch immer der eines von Furien Getriebenen, doch seine Stimme blieb die Ruhe selbst. Fast kam sie nicht gegen das Brausen der Brandung an, doch dafür erhob sich Shinigami umso schneller und aggressiver in die Lüfte. Tornado nickte und lehnte sich zurück. „Alles klar... Das wird spannend werden!“ Er konnte beim besten Willen nicht einschätzen, wer bei diesem Duell im Vorteil war. Hayate, der seinen eigenen Drachen benutzte und über einen äußerst gefährlichen Kirit verfügte, oder doch Wendy, sofern es ihr gelang ihren eigenen Kirit nun unter Kontrolle zu bringen. „Los jetzt, schaffst du!“, feuerte Zeph die Rothaarige an. „Aber nicht Aquila kaputt machen, nie?“ Wendy nickte entschlossen. „Ich gebe mein Bestes...“ Mit fixen Augenbewegungen machte sie einen sicheren Weg über die Felsen aus. Dann rannte sie los, bereit Hayate mit einer schnellen Rammattacke ins kalte Meerwasser zu befördern, bevor der überhaupt in Fahrt kam. Doch Hayate war diesmal ein anderer Hayate als der, gegen den sich Tornado auf dem alten Deich an Halloween duelliert hatte. Dieser Hayate war getrieben von Hass und bereit dazu kompromiss- und gnadenlos zuzuschlagen. Noch bevor Wendy den letzten Stein erreicht und ihre Arme herum schwingen konnte, um Aquilas Schnabel volle Breitseite gegen Shinigami zu donnern, war Hayate ausgewichen und mit flinkem Schritt hinter sie getreten. Das alles ging so schnell und lautlos, dass Wendy ins Taumeln geriet. Das salzige Meer kam ihr bedrohlich nahe, doch Aquila, der sich tapfer auf dem Aufstrom hielt, fing sie ab, so dass sie wieder sicher auf beiden Beinen stand. Sie atmete auf und wandte sich um. „Und deshalb sollten Männer immer den ersten Schritt machen...“ Nein. Sie hatte nicht vor denselben Fehler wie der Chef zu machen. Sie wollte sich nicht dazu hinreißen lassen, immer und immer wieder einen Angriff zu starten, um am Ende dann kraftlos mit einer einzigen Attacke aus dem Ring gepfeffert zu werden. Den Gefallen wollte sie Hayate nicht tun! Schweigend blickten sich die beiden Kontrahenten an. Allein das Halten der Drachenleinen erforderte heute viel Kraft in den Armen, so dass sich jeder sicher war, dass dieses Duell nicht allzu lange dauern würde. Wendy legte den Kopf schief. „Was ist denn? Willst du mich nicht angreifen?“ Warum grinste Balotellis Stecher nur so süffisant, als dachte er gerade an etwas äußerst Perverses? Nichts geschah. Sie sog scharf die Luft ein. „Gut, dann muss ich eben wieder angreifen! Ha~!“ Erneut spurtete sie mit voller Geschwindigkeit auf den Japaner zu und ließ Zephs Drachen auf Shinigami krachen. RUMMS! Volltreffer! Diesmal war Hayate nicht ausgewichen. Doch gebracht hatte es auch nicht viel. Dann eben noch einmal! WUMMS! Und noch einmal! RATSCH! Aquilas spitzer Schnabel riss ein kleines Loch in die Tragflächen des sichelförmigen Drachen. Shinigami bekam einen leichten Drall nach rechts, doch Hayate reagierte sofort und verkürzte die linke Drachenleine, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Noch einmal! RUMMS! Eine große Welle brandete gegen die Felsen und verwandelte sich in kleine Tropfen und weißen Meerschaum. Sogar die Luft schmeckte nach Salz. Immer noch blickte Hayate ernst und süffisant grinsend drein und dachte nicht im Traum daran auszuweichen. Wendy hob eine Augenbraue. „Hast du nicht langsam mal genug?“ Leichte Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Musste sie wirklich mit Aquilas Schnabel den anderen Drachen zerpicken, um Hayate aus der Reserve zu locken? Oh Mann! Dieser Typ war echt ein Buch mit sieben Siegeln! Langsam schüttelte Hayate den Kopf und erhob schweigend den rechten Zeigefinger. „Habe ich was im Gesicht?“ Wendy blickte irritiert an sich herab und dann wieder zurück zu Hayate, der leise zu lachen angefangen hatte. „Das nicht, Wendy-san...“ Seine Stimme klang so unheimlich, dass ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. „Es ist nur so... In wenigen Minuten wirst du sterben!“ Sie zuckte zusammen. „Was? Wie? Du redest doch Unsinn!“ Nervös blickte sie zu Tornado und den anderen, um sich zu vergewissern, dass Hayate nur geblufft hatte, doch dort, wo die anderen bis eben noch standen, war nun... „FEUER! FEUER!!“ Panisch wandte Wendy sich um, doch egal in welche Richtung sie auch blickte, überall loderten giftig grüne Flammen. Auf dem Sandboden, auf den Felsen – und sogar auf dem Wasser selbst. „Scheiße, Mann, wie machst du das nur?“ Sie wich ein paar Schritte zurück. Wenn rings herum alles in Flammen stand – die komischerweise keinerlei Wärme verströmten – dann konnte das Duell auch nicht durch ein Verlassen des Rings entschieden werden, sondern nur durch Aufgabe, die Kraft vom eigenen Geist und Körper oder durch das Zerstören des gegnerischen Drachen. Hayate warf sein violettes Haar zurück und zwinkerte. „Ich will bloß sichergehen, dass du für den Hauptteil meiner Vorstellung bereit bist. Denn jetzt kannst du nicht mehr fliehen, Wendy-san!“ Sie schluckte und umfasste die Drachenspulen fester. „Das... hatte ich auch nicht vor...“ Wieder schüttelte Hayate den Kopf. „Keine Sorge, das wirst du noch wollen! Erlaube mir, dir nun meinen Drachengeist vorzustellen: Shinigami, erwache!“ Er riss die Hände nach vorne und machte ein paar meditative Fingerzeichen. Dann erklang plötzlich ein lautes Pochen ähnlich eines Herzschlages. Alle Umgebungsgeräusche verstummten. In Hayates Händen bildete sich eine Wolke aus gleißendem Licht, die sämtliche Farben aus dem Kampfring anzog, bis er schließlich vollständig in kaltes Grau getaucht war. Wendy zog vor Anspannung die Schultern hoch. War das wirklich Hayate, der gerade mit seiner Kraft spielte? So wie sie ihn bisher kennengelernt hatte, konnte das doch nicht möglich sein. Das musste doch einfach ein Hayate-Klon sein, ein schlechter Schauspieler, den sie bisher nicht erkannt hatte, weil für sie als Europäerin Asiaten so schwer auseinanderzuhalten waren! Oder ein Außerirdischer. Ja, mit Sicherheit ein Außerirdischer, denn diese Fähigkeiten, die er zu offenbaren begann, waren nicht mehr normal! Mist! Warum hatte sie keinen Alufolienhut dabei, wenn sie schon nicht weglaufen konnte! „Sag, Wendy-san...“, begann Hayate mit unheimlich ruhiger Stimme. „Gibt es etwas, wovor du dich fürchtest?“ Wendy presste angespannt die Lippen zusammen und nickte. „Das ist schön... Dann hat Shinigami ja eine prächtige neue Spielkameradin gefunden!“ Wieder dieses Lachen. Und so wie es lauter und wahnsinniger wurde, hob Hayate seine Hände empor, um die Energiewolke aufsteigen zu lassen, bis sie schließlich über dem Drachen stand und ein wirklich albtraumhaftes Wesen gebar. Während Icarus ein geflügelter Krieger mit Pfeil und Bogen war, der aus dem Licht geboren wurde, war Shinigami ein Wesen der Finsternis, wenn nicht die Finsternis selbst. Mit wehendem Gewand stand ER plötzlich auf dem Drachen, der aschfahle Gevatter Tod mir der großen Sense, bereit seinem Opfer ohne mit der Wimper zu zucken den Garaus zu machen. „Oh Scheiße...“ Wendy zitterte am ganzen Körper. „Aquila, los, Rammangriff!“ Sie stürzte voran, um ihrer Niederlage nicht völlig tatenlos ins Auge zu blicken, doch eine unsichtbare Mauer stieß sie zurück und ließ sie gegen die ebenso undurchdringbare Flammenwand prallen. Mit schreckgeweiteten Augen musste sie mit ansehen, wie Shinigami mit seiner Sense weit ausholte und sie direkt auf ihren Hals sausen ließ, während Hayate noch immer mit unheimlichem Lächeln schweigend über das Geschehen wachte. FLATSCH! Blut spritzte. Gleich einer Fontäne schoss es aus ihr hinaus und presste sämtliche Luft aus ihren Lungen. Doch es war nicht rot und warm. Nein, es war pechschwarz und teerig. Und anstatt den Lebenssaft aus ihr herauszusaugen, legte es sich wie eine schwere Decke um sie und verwandelte den gesamten Ring in tiefste Nacht, die nicht ein Lichtstrahl zu durchdringen vermochte... Kapitel 18: Stings Geburt ------------------------- Tick-tack, tick-tack, tick-tack. Das Echo einer unsichtbaren Uhr hallte durch den leeren Raum. Ba-dum. Ba-dum. Herzschläge. Nur das Geräusch des eigenen Atem. Sonst nichts. Schweben wie eine Feder, langsam und leicht hinab auf den Grund. Dann... Füße, die den Boden berühren. Finsternis, die langsam aufklart. Und doch... Grauer Nebel überall. Hastig fasste sich Wendy an den Hals. Erleichterung! Doch wie konnte das sein, dass sie, obwohl ihr der Sensenmann die Halsschlagader zerfetzt hatte, noch immer am Leben und unversehrt war? Ratlos blickte sie sich um. Wo war überhaupt Aquila abgeblieben? Und wo waren Hayate und Shinigami? Der Kampfring auf den von Wellen umspülten Felsen? Sie seufzte. Ja, sie war allein. Ganz allein. Irgendwo, nur nicht da, wo sie sein sollte. Hatte Hayate am Ende doch Recht gehabt? War sie tot und dieses Jenseits die Strafe für all ihre Sünden? Wenn ja, dann tat es ihr leid. Alles, was sie jemals an schlimmen Dingen gesagt und getan hatte. Wirklich alles... Und besonders, dass sie... Kinderlachen. Wendy zuckte zusammen und spitzte die Ohren. Woher kam das nur? Dort! Schon wieder! Ganz sicher aus dieser Richtung! Sie begann dem Lachen nachzulaufen. Tap-tap-tap... Mit jedem Schritt bildeten sich kleine Windteufelchen im Nebel. Und es war kalt. Bitterkalt. Die Stimmen wurden lauter. Wortfetzen drangen an ihr Ohr. „Karottenkopf, Karottenkopf, speckstinkender Karottenkopf!“ Oh ja. Sie erinnerte sich. „Ginger! Ginger! Geh weg mit deinen Gingerpocken, sonst kriegen wir alle noch Gingervitis!“ „Iiiih!“ „Wendy ist 'ne Hexe! 'Ne hässliche rothaarige Hexe! Hexe! Hexe!“ „Kobold! Kobold! Pumuckel!“ Kinder konnten so grausam sein. Doch es gab noch grausamere Dinge, als gehänselt zu werden... Der Nebel lichtete sich und offenbarte die Gesichter ihrer Peiniger. Wendy stand neben sich, selbst nur ein grauer Schatten neben dem kleinen Mädchen mit den zwei abstehenden Zöpfen, welches wutentbrannt von Gesicht zu Gesicht starrte, dort, in eine Ecke des Pausenhofs gedrängt, umzingelt von einer Gruppe von etwa zehn Gleichaltrigen. Ja, sie hatte Angst. Doch Angst würde ihr nicht helfen. Angst machte alles nur noch schlimmer, machte sie schwach, verletzlich und angreifbar. „Ich bin keine Hexe! Ich bin eben reinblütig Irisch, also hört auf so einen Mist zu sagen!“ Die Stimme der kleinen Wendy überschlug sich so sehr, dass sie zu krächzen anfing und ihr Gesicht ganz rot wurde. „Oh-oh! Die abnormale Hexe meint, dass sie von einem irischen Kobold abstammt! Passt auf, dass sie euch nicht verhext, hahaha~!“ Beklemmung machte sich in der Brust der großen Wendy breit. Es tat ihr noch immer weh, wenn sie an die Grundschulzeit erinnert wurde, doch noch mehr schmerzte die Erinnerung an das, was nun folgen würde. „Ihr seid so gemein! Hört endlich auf damit!“ Das Mädchen biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Sie war wütend. So wütend, dass ihr ganzer Körper zitterte und ihr die Tränen in die Augen schossen. „Fängt der Karottenkopf jetzt an zu heulen? Bu-huu! Passt auf, dass euch die Tropfen nicht treffen, sonst bekommt ihr auch noch rote Haare und eklige Sommersprossen, haha!“ KLATSCH! Der älteste Junge rieb sich überrascht die Wange. Die Ohrfeige hatte einen Handabdruck hinterlassen. „Du... Du haust mich?“ Die kleine Wendy zog die Augenbrauen zusammen und nickte ernst. „Und jetzt bekommst du auch Gingervitis! Und du auch!“ Sie holte aus und schlug dem nächsten Jungen die Faust in die Magengrube. Als er nach Luft rang und zu Boden ging, trat sie ihm mehrmals voller Wut ins Gesicht, wandte sich dann einer Gruppe von Mädchen zu und schubste auch diese, bis sie alle hingefallen waren. Sie zerrte an deren Haaren, bis sie kreischten und schrien und plötzlich so gar keine Lust mehr hatten, sie zu hänseln. Wut. Hass. Unbändiger Zorn! Hinaus damit! Hinaus! Man schlug ihr ins Gesicht, bis ihre Lippe aufplatzte, doch sie hörte nicht auf. Raufte, schlug, schrie, trat so lange, bis ein Lehrer sie von hinten packte und sie aus dem Pulk hinauszog. Sie wehrte sich, doch der Klammergriff war stärker, verfrachtete sie in das Zimmer des Direktors, wo man sie für eine Woche von der Schule suspendierte. Und als sie zurückkam, war sie... Allein. Scheue Blicke, die ihrem auswichen, wann immer sie sich begegneten, Getuschel hinter vorgehaltener Hand, ein leerer Sitzplatz im Klassenzimmer neben ihrem. Niemand, der auch nur freiwillig ein Wort mit ihr wechselte, aber auch niemand, der es erneut wagte, sie wegen ihrem Äußeren zu hänseln. Einsamkeit. Die große Wendy wandte sich ab und schloss die Augen. Die Erinnerung verschwand im Nebel. Ihr war mulmig zumute und ihr Herz schlug bis zum Hals, doch sie wollte dem unangenehmen Gefühl nicht klein bei geben. Sie lächelte flüchtig und sah nach oben in Richtung Nirgendwo. „War das alles?“ Ihre Stimme hallte wie in einem leeren Konzertsaal. „Wolltest du mir damit Angst machen, Hayate?“ Sie breitete die Arme aus und rief laut in den Nebel hinein: „Ja, damals haben mich alle gemieden. Doch das ist vorbei! Ich habe Freunde! Freunde, die niemals solche Dinge tun würden! Also zeig' dich endlich und lass uns dieses Duell zu Ende bringen, du feige Sau!“ Ein Sturm kam auf und sog den Nebel hinter ihr zusammen wie ein schwarzes Loch. „Bist du dir da auch ganz sicher?“, erklang Hayates fragende Stimme aus dem Zentrum des Nebels. „Denkst du wirklich, dass deine Freunde dich niemals verraten würden?“ Wendys hellgrüne Augen weiteten sich für einen Moment, dann schloss sie sie erneut und atmete tief durch. „Ich bin sechzehn Jahre alt und verfüge mittlerweile über genug Selbstbewusstsein, um keine Angst mehr davor zu haben, dass man mich so behandelt. Wenn du mich also fertig machen willst, dann musst du dir etwas anderes überlegen!“ Hayate lachte. „Bist du dir da wirklich ganz sicher?“, fragte er erneut. Kaum, dass er seinen Satz beendet hatte, breitete sich der Nebel erneut aus und verwandelte sich in den alten Deich am Stadtrand. „Eins! Zwei! Drei! LIFT 'EM UP!“ „LIFT 'EM UP ¡RAYO PISOTEO!“ Verwirrt ging sie ein paar Schritte auf den Kampfring zu. Ihre Knie zitterten. „Ethan! Vald! Was macht ihr denn hier?“ Doch die beiden bemerkten sie nicht. Stattdessen stürmten sie mit vollem Körpereinsatz aufeinander zu und ließen ihre Drachen Bat und Jaws aufeinander krachen. „Ach, wen haben wir denn hier...“ Jemand legte die Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und wandte sich zu der abschätzigen Stimme um. Und was sie sah, ließ sie erbleichen. Sie waren da. Alle. Ausnahmslos alle, die sie jemals zu ihren Freunden gezählt hatte – mit Ausnahme von Julius, der sich selbst zu träge dafür war, um in einem von Hayates Shinigami erzeugten Trugbild vorzukommen. Auch Ethan und Vald standen mit einem Mal vor ihr und bildeten mit den anderen eine undurchdringbare Wand. Und plötzlich war auch der Deich verschwunden und hatte sich in den Pausenhof der Grundschule verwandelt, nur dass sie alle keine Kinder mehr waren und nicht die kleine, sondern die aktuelle Wendy mit versteinertem Blick ansahen. Der Anblick brachte sie so sehr aus dem Konzept, dass sie ganz vergaß, dass es nur eine Illusion war. Angst hatte sich ihres Herzens bemächtigt und schnürte ihr die Brust zu. „Leute? Warum seht ihr mich alle so an? Ich... Ich habe doch nichts falsch gemacht?“ Ihre Stimme zitterte. Als sie einen Schritt zurückgehen wollte, spürte sie die kalte Betonwand des Schulgebäudes in ihrem Rücken. Angelo war der erste, der hervortrat. Ausdruckslos blickte er über seine halbmondförmigen Brillengläser. „Wendy, es gibt da etwas, das ich dir schon immer sagen wollte.“ Er kam immer näher. „Deine gesamte Existenz ist in meinen Augen nur eine Misskalkulation der Natur! Es wäre also besser, wenn du nun der Evolution ihren Lauf lassen würdest und für immer vom Antlitz dieser Erde verschwindest!“ Was? Wie? Warum sagte er nur so etwas? Harriet kicherte leise, trat an die andere Seite heran und blickte ihr gehässig in die Augen. „Sag, Wendy, magst du Spielzeug? Also ich liebe Spielzeug! Nur geht es bei mir immer viel zu schnell kaputt – und dann muss ich es wegwerfen!“ Hör auf damit! Hör auf solche Dinge zu sagen! Kein Mensch ist es wert, wie Spielzeug behandelt zu werden! Angelos Trugbild war verblasst und hatte dem von Zeph Platz gemacht. „Weißt du, Wendy...“, begann er und schniefte angewidert. „Bevor du da warst, war unser Club viel besser dran! Du hast mir meinen Platz als Nummer Zwei gestohlen und das finde ich richtig zum Kotzen! Verschwinde doch einfach!“ Nein! Nein! Das wollte ich doch nicht! Wendy hielt sich die Ohren zu, doch die Stimme Ethans drang ungefiltert an ihre Ohren. „Du bist weniger wert als die Insekten unter meinen Schuhsohlen! Bat und ich wollen mit dir nichts mehr zu tun haben!“ Das Trugbild wandte sich ab und verblasste. Bitte, Ethan, nicht du auch noch! Wir waren doch immer Freunde, auch wenn du nie ein Mensch großer Worte warst. Du würdest doch nie, NIE so etwas denken – oder doch? Sie senkte den Kopf. Zwei Tränen tropften auf den Boden. Wieder legten sich Hände auf ihre Schultern und als sie aufsah, blickte sie direkt in Balotellis Gesicht. Doch er lachte nicht. Kein strahlendes Zahnpastalächeln, kein lässiges Zurückwerfen der Haare und auch kein „Bellissima!“, sondern nur ein angewidertes und abschätziges „Ich habe mich in dir getäuscht! Du bist unwürdig ein Mitglied des Drachenclubs zu sein! Du hast ja nicht einmal einen richtigen Kirit!“. Nein! Das stimmte nicht! „Natürlich habe ich einen Kirit!“ Sie versuchte sich zu verteidigen, doch er stieß sie rabiat auf den Asphalt. „Ach, und wo ist dein Drachengeist jetzt? Du bist unfähig! Richtig nutzlos! Sogar weniger wert als Müll!“ Er trat ihr in den Bauch. Wendy rang nach Luft und krümmte sich vor Schmerzen. War dies das Ende? Sie lag erneut auf dem Pausenhofboden, getreten, geschlagen und gehänselt. Nur diesmal tat es richtig weh. So weh, dass sie sich nicht einmal wehren wollte. Und sie war schwach. Nicht einmal wütend, denn sie wusste, dass sie Recht hatten. Jeder von ihnen hatte auf seine Art und Weise einen Grund ihr solche grausamen Dinge zu sagen. Die Sicht verschwamm vor ihren Augen. Tränen flossen heiß über ihre Wangen und vereinten sich zu einem Rinnsal, das auf den Boden tropfte. „Es tut mir leid... Alles, was ich euch angetan habe... Es tut mir leid...“ – „Dir tut es leid?“ Man packte sie am Kragen und zerrte sie nach oben, um sie fest gegen die Wand zu drücken. Sie hob den Kopf und sagte ohne Elan, „Vald, nicht du auch noch...“, doch der wütende dunkelhäutige Chilene mit dem spanischen Akzent dachte nicht im Traum daran, sie loszulassen. Er verstärkte den Griff um ihren Hals und schüttelte sie. In seinen grünen Augen stand der Hass. „Warum... Warum, Wendy?“ Seine Zähne mahlten. „Warum hast du eine richtige Familie – und ich nicht?“ Er presste sie so fest gegen die Wand, dass ihr Hinterkopf aufschlug. „Das hast du nicht verdient! Und dafür... HASSE ICH DICH!“ KA-RACK. KLIRR. Etwas in ihr zerbrach. Als das Trugbild verschwand, sackte sie kraftlos zu Boden. Sie hatte ihren Lebensmut verloren. Es stimmte also wirklich, was Hayate gesagt hatte... Dies war das Ende. Dies war der Tod von Wendy O'Callaghan. Sie hatte mit voller Energie gelebt und bis zuletzt tapfer gekämpft, doch als die Einsamkeit sie übermannte, gab sie doch dem sanften Wispern des Todes nach. Ihre Augenlider wurden ganz schwer. „Es tut mir so leid... Auf Wiedersehen...“, hauchte sie mit letzter Kraft, dann war es... „HALTE DURCH!“ Wer spricht da? Träge hob sie den Kopf. „Du bist nicht allein!“ Wer bist du? Bist du dieses Leuchten? „Ich bin bei dir! Ich war immer bei dir! Und ich werde dich niemals verlassen!“ Sie lächelte flüchtig. Sting... Der leuchtende rosafarbene Skorpion materialisierte sich und stupste sie mit einer seiner Scheren an. „Komm' schon, Wendy, steh' auf!“ Seine Beißwerkzeuge bewegten sich klackend, als würde er sprechen, doch seine kindliche Stimme klang laut und deutlich in ihrem Inneren, da er telepathisch mit ihr kommunizierte. Sie schüttelte den Kopf und drehte sich um. „Ich will nicht... Lieber sterbe ich hier, als dass du mich diesmal wirklich den Feuertod sterben lässt...“ Das Klacken wurde ungeduldig. „Jetzt steh' schon auf! Das hier muss nicht das Ende sein, wenn du es willst! Das hier kann ein ganz neuer Anfang sein!“ Wendy reagierte nicht. „Oh, jetzt werde ich aber ganz böse!“ Seine acht Beine trappelten ungeduldig auf und ab, dann schnellten seine Greifzangen hervor und kniffen Wendy so heftig in den Rücken, dass sie vor Schmerz aufschreckte und sich gereizt umdrehte. „Sag' mal, bei dir hackt's wohl!“, blaffte sie ihn an und ballte die Fäuste, um ihn zu schlagen. „Tihihi~!“ Er legte den Kopf schief und lachte freudestrahlend. „Du bist ja doch aufgestanden!“ Wendy blickte ihn verdattert an. Es stimmte! Und es war sogar leichter, als sie gedacht hatte. Sie nickte und wischte sich über die vom Weinen geröteten Augen. „Du, Sting...“, fragte sie schließlich, als sie wieder voll und ganz die Alte war, „weißt du, wie wir aus diesem Nebel hinauskommen können? Ich denke, Hayate hat schon genug in meinem Kopf herum gebohrt!“ Der rosafarbene Skorpion nickte und drehte sich um. „Und ob! Folge mir einfach, dann schaffen wir es gemeinsam diese Illusion zu besiegen!“ Nervös ging Tornado am Rand des Kampffeldes auf und ab. Es waren schon fünfzehn Minuten vergangen, seitdem Hayate seine Albtraum-attacke gegen Wendy eingesetzt hatte. Fünfzehn Minuten, in denen beide nur regungslos im Kampfring verharrten und Hayate mit blutdurstigem Blick auf die apathische Wendy stierte. Er wusste, was die rothaarige Irin gerade durchmachte. Er selbst war vor langer Zeit auch einmal ein Opfer von Hayates heimtückischer Attacke geworden, welche es ihm möglich machte die Seele seines Gegenüber bis in den hintersten Winkel zu durchleuchten und ihm sämtliche seiner Schwächen und Ängste bewusst zu machen. Auch die anderen waren nervös. Zeph, dessen Drachengeist auf Stufe Zwei war, was bedeutete, dass er gerade einmal die Stufe der Manifestation erreicht hatte und nur schwache physische Attacken steuern konnte, hatte eine aufrechte und angespannte Haltung angenommen. Angelo tippte wie wild auf seinem Laptop und murmelte immer wieder „Zu hoch! Ihre Körpertemperatur ist zu hoch!“, während Costas, der wie er selbst einen physischen Kirit der Stufe Drei kontrollierte, seine Unruhe durch das Abspielen von griechischer Volksmusik auf Kassette zu übertünchen versuchte. Tornado presste die Lippen zusammen. Sollte er, oder sollte er nicht? Mit Icarus dazwischen gehen und das Duell beenden? Immerhin sah Wendy gar nicht gut aus! Er wollte nicht riskieren, dass sie wieder einen Ausbruch erlitt und sich womöglich noch schlimmer verbrannte als beim letzten Mal. Doch andererseits vertraute er Hayate blind. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser so weit gehen würde Wendy neben psychischen Qualen der Kirit-Stufe 4 noch weitere Schmerzen zuzufügen, denn immerhin war er keiner dieser verrückten Illusionisten bei der Weltmeisterschaft, die ihre Gegner so weit manipulieren konnten, dass diese sich von alleine aus dem Kampfring – und vielleicht sogar in den Tod – stürzten. „Ich will nicht...“, murmelte Wendy leise. „Bellissima!“ Tornado riss die Augen auf. „Hörst du mich! Du musst aufwachen, sonst verbrennst du noch!“ Doch Wendy reagierte nicht. Hayates Blick verfestigte sich. Plötzlich krümmte sie sich zusammen und begann schwer zu atmen. Es war ein Wunder, dass sie bei der Folter, die Hayate ihr innerlich zufügte, noch die Drachenleinen zum Himmel halten konnte. Hayate schmunzelte. „Es ist gleich vorbei! Gleich habe ich ihren Willen vollständig gebrochen...“ Wenn er nicht auch einen Drachen gesteuert hätte, hätte wohl niemand geglaubt, dass es sich hier um ein Drachenduell handelte, da das eigentliche Duell im unsichtbaren Bereich stattfand. Tornados Hände zitterten. Er vertraute doch Hayate, aber... „Mio Amore, hör' endlich auf damit! Du wirst sie noch umbringen!“ Er stürzte auf das Duellfeld zu, das nun durch die einsetzende Ebbe wie ein schwarzer Hügel aus dem Meer emporragte. Er konnte nicht anders, er musste einfach dazwischen gehen, sonst... Grüne Flammen loderten auf und schleuderten ihn zurück, so dass er unsanft auf dem Rücken landete und Icarus ins Wasser fiel. „Oh nein!“ Costas reagierte sofort und sprintete los, um die Leinen zu fassen, bevor der Wind den Drachen hinaus aufs Meer trug. Zum Glück war dieser wasserabweisend beschichtet, doch die Kamera, die noch immer das Duell aufzeichnete, war hinüber. Angelo blickte von seinem Bildschirm auf. Nur noch weißes Rauschen. „Ist alles okay bei dir?“ Tornado nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Ahi! Warum bin ich eigentlich immer derjenige, der zu Boden geht?“ Er rieb sich über den Hintern. „Wenn ich mich nächste Woche endlich mit Ethan duelliere, wird das nicht passieren, da bin ich mir ganz sicher!“ Mist! Warum musste Hayate auch einen Schutzschild errichtet haben? Was war an diesem Duell so wichtig, dass er sich und Wendy ein- und alle anderen aussperren musste? Nein, er würde sich jetzt nicht unterkriegen lassen! Er wollte nicht noch einmal mit ansehen müssen, wie Wendy in Flammen aufging, wie sie regungslos im Krankenhaus lag und wie sie geweint hatte, auch wenn er letzteres nur durch einen Türspalt gesehen hatte. Er wusste, dass er sie verlieren würde, wenn es ein weiteres Mal wie in der Nacht der Entführung ablief. Und dafür war sie ihm – und allen anderen auch – viel zu wichtig. Mit wackeligen Knien erhob er sich. „Wendy, Bellissima! Gib nicht auf!“ Auch Zeph stand auf. „Ja, hau rein! Du schaffst es, nie!“ Sogar Angelo kam angerannt und rief mit stockendem Atem: „Die Wahrscheinlichkeit, dass du dieser Illusion entrinnst und dieses Duell gewinnen wirst, liegt bei 98 Prozent!“ Costas stellte sich zu den drei Jungen und verschränkte die Arme. „Was soll ich jetzt sagen?“, grübelte er. „Ah ja! Wenn du dieses Duell gewinnst, dann gibt es heute Abend Bifteki mit Pommes Frites und Tsatsiki und reichlich Bohnen mit Speck!“ „...Speck...“ Ein Energiestoß ging durch Wendys Körper. Hayate schreckte zusammen. Mit aller Macht stemmte er sich nach vorne, doch der Bann war gebrochen. Shinigami, der nach der Sensenattacke in Wendys Körper verschwunden war, brach hinaus und verschwand mit einem gellenden Schrei. „Nandesuka? Wie hast du das nur geschafft?“ Sein Gesicht entgleiste. Das, was er sah, kam ihm eher vor wie eine Illusion, als dass es die pure Realität sein konnte. Wendy hatte sich aufgerichtet und starrte ihn mit festem Blick an. Und obwohl sie stinksauer war, dass Hayate so tief in ihrem Gedächtnis gewütet hatte, musste sie doch lächeln. „Ich bin zurück, mein Lieber...“, begann sie angriffslustig, „und das wird jetzt RICHTIG weh tun, das verspreche ich dir!“ All ihre Kraft konzentrierte sich mit einem Mal auf ihre Hände. Wabernde Flammen bildeten sich in ihren Fäusten, doch sie waren nicht rotglühend und brennend, sondern pink und körperwarm. „Na toll...“ Sie hob kritisch eine Augenbraue und betrachtete ihre Faust. „Kitschiger ging es wohl echt nicht?“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Na gut, dann wird dich jetzt dein persönlicher rosa Albtraum stechen! STING, ERSCHEINE!“ Die Flammen loderten immer stärker und stärker und krochen die Drachenleinen empor wie eine Lunte. Zeph hielt sich die Hände vor das Gesicht. „Niet, nicht Aquila kaputt machen!“ – „Diesmal nicht!“ Sie riss die Arme empor, um eine letzte Feuersalve nach oben zu schicken, dann konzentrierte sich die Energie und ihr Drachengeist erschien. Costas blieb der Mund offen stehen. „Ein... Skorpion? Kein rosa Schmetterling, eine glitzernde Fee oder wenigstens ein niedliches Kaninchen?“ Wendy zwinkerte ihm zu. „Tut mir leid, aber ich bin und bleibe das coolste Mädchen in dieser Geschichte! Und jetzt... Sting, zeig' ihm, was Schmerzen sind!“ Danke Wendy... Darauf habe ich so lange gewartet! Die Lichtgestalt stürzte sich herab und erhob ihren Stachel. Hayate erbleichte und schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht möglich! Aus meiner Illusion kann niemand entkommen!“ Er wollte zurückweichen, doch die Flammenwand hielt ihn fest. Ruckartig hob er die Arme vor das Gesicht, doch der leuchtende Skorpion ließ sich nicht aufhalten. Der brennende Stachel schnellte hervor und stach mehrere Male in seine Arme, bis sie ganz taub wurden und er Shinigamis Haltegriffe loslassen musste. Und als dieser schließlich ins Meer stürzte, verblassten auch die Feuerwände, ohne auch nur einen Hauch von Ruß und verbrannter Erde zu hinterlassen. „Das Duell ist entschieden! Sieger ist Wendy mit Aquila!“ Kaum, dass er seinen Satz beendet hatte, stürzte Tornado auch schon euphorisch auf Wendy zu und umarmte sie stürmisch. „Bellissima, fantastico!“ Auch die anderen taten es ihm gleich und bildeten ein Knäuel aus Armen und lobenden Worten. „Voll gut, nie!“ – „Statistisch gesehen unvergleichlich!“ – „Bravo!“ Hayate senkte den Kopf und lächelte kühl. „Das hast du hervorragend gemacht, Wendy-san.“ Er reichte ihr die Hand. Wendy wandte sich mühevoll aus der Gruppenumarmung hinaus. „Jungs, lasst mal los! Ich kann mich ja gar nicht mehr bewegen!“ Sie gähnte – der Einsatz des Drachengeistes hatte sie wie beim letzten Mal stark ermüdet – und blickte gen Himmel. Ein letztes Mal winkte Sting ihr mit seiner Schere zu, dann verschwand er. „Das Duell war wirklich erste Sahne!“ Sie schüttelte Hayates Hand. „Nur beim nächsten Mal wühlst du bitte nicht so tief in meinem Kopf herum, sonst haue ich dich zu Brei wie die anderen Kinder damals!“ Scherzhaft drohend hob sie die Faust. „Dieses Risiko werde ich mit Sicherheit kein zweites Mal eingehen.“ Er nickte und wandte sich Zeph zu. „Entschuldige, dass ich so unausstehlich war. Manchmal habe ich mich einfach nicht unter Kontrolle.“ Er reichte auch ihm die Hand. „Nie, ist alles okay. Kannst mir dafür ab jetzt auch immer gebratenen Speck mit Eiern zum Frühstück machen!“ Hayate blickte ihn verdattert an, fing dann aber an auf eine Art zu lachen, die viel ansteckender war als sein unheimliches Kampflachen und auf das gesamte Team überging. Nur Costas stand etwas abseits und beobachtete schmunzelnd die Szene. „Na sieh' mal einer an!“ Er nickte zuversichtlich. „Würde mich ja nicht wundern, wenn dieses Team bei der nächsten Weltmeisterschaft ganz groß raus kommt!“ Kapitel 19: Matsch und Mordio -----------------------------  „Sting! Einkreisen und Inferno!“ Das neue Jahr hatte für Wendy in der Schule gut angefangen. Nicht nur, dass sie endlich einen neuen Drachen hatte, der dem alten Cleaver bis auf die Skorpion-Zeichnung und die lange, rosa-schwarz gestreifte Windfahne mit einem stilisierten Skorpionstachel gar nicht mal so unähnlich war, was die Aerodynamik anging, sondern auch ihre schlechte Laune war wie weggeblasen. „Nie! Niet!“ Zeph riss die Leinen von Aquila herum und stolperte ein paar Schritte zur Seite. Der matschige Boden schmatzte unter seinen Schuhsohlen und hatte ihn selbst schon lange bis zu den Knien mit braunen Dreckkrusten dekoriert. „Gerade noch mal Glück gehabt, nie!“ Erleichtert betrachtete er seinen Drachen, der außer einer Rußspur unversehrt geblieben war, konzentrierte sich dann aber sofort wieder auf das Drachenduell und stürzte mit einem lauten „Chaa!“ auf Wendy und Sting, um sie mit einer Rammattacke aus dem Ring zu werfen. Die Rothaarige kniff die Augen zusammen und fixierte Zeph, um jede einzelne seiner Bewegungen in sich aufzunehmen und nach Fehlern zu suchen. Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Na also!“ Kaum, dass er drei Schritte vor ihr war und seine Arme mit allerhöchster Kraft und Anspannung nach vorne warf, als wollte er „Hau den Lukas“ spielen, machte sie einen Ausfallschritt zur Seite, so dass Sting aus der Schussbahn geriet. Zeph geriet ins Stolpern, fing sich aber ab. Sein Kirit ließ einen gellenden Vogelschrei verlauten und stabilisierte den Drachen kurz über der Erde. Das war der Moment, auf den Wendy gewartet hatte. Sie lief einen engen Halbkreis, bis sie Zephs Rücken vor sich hatte, rief „Das ist die letzte Attacke! Feuerschweif!“ und leitete einen Schub pinken Feuers über die Drachenleinen hinauf, so dass sich ihr eigener Drachengeist voll und ganz manifestieren konnte. Die Konturen des Drachen verschwammen. Dort, wo die gestreifte Windfahne hinter der Tragfläche flatterte, erschien plötzlich ein langer Skorpionschwanz aus rosafarbener Energie, der sich weit über die eigentliche Länge des Drachen ausdehnte und mit unbarmherziger Gewalt auf Zephs Unterschenkel zielte. Der Brünette konnte gar nicht so schnell reagieren, da lag er auch schon mit der ganzen Vorderfront im Matsch außerhalb des Ringes und spuckte Erde aus. „Das Duell ist beendet! Sieger ist Wendy mit Sting!“ Angelo ließ die Fahne nach unten schnellen, um den Kampf abzuschließen und zog anschließend ein Stofftaschentuch hervor, um sich die ebenfalls durch Schlamm verdreckte Brille zu putzen. „Ju-huu! Schon wieder gewonnen!“ Glücklich summend holte Wendy die Drachenleinen ein und wandte sich dann Zeph zu, dem Hayate – wie es auch nicht anders zu erwarten war – prompt ein Handtuch gereicht hatte. „Das war ein spannendes Duell! Ich hätte ja nie gedacht, dass drei Wochen Intensivtraining dazu führen, dass du so etwas wie eine Kondition entwickelst!“, witzelte sie und klopfte ihm respektvoll auf die Schultern. Zeph lächelte gequält. „Ist besser, als ständig einen neuen Drachen bauen zu müssen, weil du sie immer verbrennen musst, nie?“ Das stimmte. In den zwei Wochen, in denen sie nun schon zurück aus Italien waren, hatte Wendy bereits geschafft Icarus einmal schwer zu beschädigen, Shinigami einmal zu pulverisieren und Aquila ganze dreimal ins Nirvana zu befördern. Sie errötete und kratzte sich nervös an der Wange. „Es tut mir leid. Nur... Es macht mir einfach so viel Spaß, meinen Kirit laufen zu lassen, dass ich mich einfach nicht beherrschen kann!“ Sie nickte Angelo entschuldigend zu. „Vielleicht sollte unser ganzes Team in Zukunft feuerfeste Materialien verwenden? Ich möchte ungern darauf verzichten mit voller Kraft zu kämpfen!“ Sie gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. „Wenn mich das nur nicht immer so müde machen würde, würde ich gerne noch mehr Feuer raus lassen. Ach, wenn ich dann nur nicht wieder fünf Tage am Stück schlafen müsste... oh, danke!“ Hayate reichte ihr eine Dose Energydrink. Volle Leistung dank Taurin und Koffein – mit höchster Konzentration an Vitaminen und Spurenelementen, selbstverständlich gesponsort von Balotelli Pizza. Ja, so ließ sich ein Schultag selbst nach einer anstrengenden Trainingseinheit noch durchstehen. „Dein Optimismus in Ehren, aber die finanzielle Lage des Clubs lässt es momentan nicht zu das Equipment aufzustocken. Wer soll das nur bezahlen?“ Angelo setzte die frisch geputzte Brille auf. Er war nicht nur der Techniker des Teams, sondern außerdem noch der Schatzmeister. Und wenn er sagte, dass es nicht ging, dann hieß es wohl in Zukunft vorsichtiger zu sein und... „Ich mache das!“ Tornados strahlendes Siegerlächeln passte heute mal wieder perfekt zum wolkenlosen blauen Himmel, doch als er sich genauer in der Umgebung umsah, wurde sein Gesichtsausdruck ernüchternd. „Was habt ihr denn mit dem Kampfring angestellt? Der ist ja total verwüstet!“ Er hob abwechselnd einen Fuß und betrachtete mit hochgezogener Augenbraue den Schlamm unter seinen Sohlen. Ertappt zuckte Wendy zusammen. „Es tut mir furchtbar leid!“ Sie zog die Schultern hoch und senkte bereuend den Kopf. Aber andererseits... Was konnte sie schon dafür, dass ihr Drachengeist mit Hitze funktionierte, die nun mal den Schnee in der Umgebung schmolz und den Boden darunter auftaute? Sting hätte ja auch wie Aquila sein und nur ein bisschen Wind machen können, aber wer wusste schon, was sie damit wohl angestellt hätte? Kühe und Gartenmöbel durch die Luft wirbeln? „Das ist also euer Trainingsgelände? Ziemlich ramponiert! Mit deiner Zerstörungswut kannst du ja fast schon mit Vald mithalten!“ Wendy blickte irritiert auf, weil sich der blauhaarige Japaner einmal mehr lautlos wie ein Ninja herangepirscht hatte. Stimmt ja! Heute war ja der Tag, an dem sich die beiden Streithähne Balotelli und Ethan einen Übungskampf liefern wollte. „Ein Skorpion, ja?“ Ethan nickte anerkennend. „Das passt wirklich außergewöhnlich gut zu dir!“ Wendy legte den Kopf schief und verschränkte die Arme. „Ich weiß ja nicht, ob ich das jetzt als Kompliment oder als Beleidigung auffassen soll...“ Sie seufzte und nippte am Energydrink. „Ist ja auch egal. Was wollt ihr jetzt eigentlich machen? Dank Zephs und meiner Einlage könnt ihr das Duellfeld vergessen, wenn ihr nicht gerade Schlammcatchen betreiben wollt...“ Ethan rümpfte die Nase. „Das will ich auch hoffen! Beim nächsten Mal sollten wir uns gleich am alten Deich treffen!“ – „Damit ich wieder im Fluss lande? No, materialmente impossibile!“ Tornado fröstelte es noch immer, wenn er nur an die kalte und neblige Halloweennacht zurückdachte, die so ein abruptes Ende für ihn genommen hatte. Grübelnd legte er die Hand ans Kinn, starrte auf den Boden und machte schließlich eine ausschweifende Geste. „Ah! Ich habe eine Idee! Gleich neben der Schule ist eine eingefallene Steinkapelle! Wenn wir den Grundriss als Begrenzung nehmen und dir Steinhaufen im Kampffeld nichts ausmachen, dann können wir dort das Duell austragen. Meine Nase sagt mir, dass die Bedingungen dort heute optimal sind!“ Ethan zuckte mit den Schultern. „Der Ort, an dem deine Niederlage stattfinden wird, ist absolut belanglos.“ Er schob seinen Ärmel leicht zurück und blickte auf die Uhr. „Nur sollte es nicht zu lange dauern, denn mein Chauffeur und Harriet warten im Auto auf mich.“ Tornado nickte entschlossen. „So leicht werde ich es dir heute nicht machen, Batman! In den letzten sechs Wochen habe ich hart trainiert, damit ich nicht wieder so alt aussehe, wie ich es gegen den Drachenmeister getan habe!“ Er zwinkerte ihm zu und ließ seine weißen Zähne blitzen. „Dieses Duell wird auf jedem Fall spannend werden! Und danach kannst du gerne für ein bisschen „Sugo di Balotelli“ in der Pizzeria vorbeikommen!“ – „Sugo di... Balotelli..?“ Ethans Gesicht wurde aschfahl. Er räusperte sich. „Vielen Dank für das Angebot, aber ich esse lieber allein.“ Wendy wurde knallrot. So wie sie Ethan kannte, war ihm nicht einmal bewusst, dass er gerade sehr unanständig auf etwas Unanständiges geantwortet hatte. „Ihr geht euch duellieren und ich werde duschen und dann auch was essen, nie!“ Zeph rieb sich zitternd die Oberarme. „Bin doch etwas feucht geworden! Gut, dass wir jetzt Trainingsanzüge haben und dass es nicht die Schuluniform war, die vollgespritzt wurde, nie!“ Angelo dachte nach. „Ich werde wie gewohnt der Schiedsrichter sein. Wenn Zeph nicht die Drachenkamera steuert, wer macht es dann?“ Er blickte zwischen der noch immer schwer atmenden und tiefroten Wendy und Hayate, der auf Tornados Flirtversuche mit Ethan nur mit einem müden Lächeln reagiert hatte, hin und und her. Hayate schob sein violettes Haar hinter das Ohr und verneinte. „Ich werde gleich das Frühstück zubereiten gehen, also muss ich passen!“ Er legte den Kopf schief und zwinkerte Ethan und Tornado zu. „Ich wünsche euch viel Vergnügen. Treibt es nicht zu hart miteinander!“ Ha, ha, ha! ZU VIEL! Warum musste sie auch gesunde sechzehn Jahre alt und eine blühende Fantasie haben, die ihr suggerierte, dass diese mit Sicherheit ganz unschuldig und normal gemeinten Sätze einen obszönen Kontext hatten? „Wendy?“ Angelo zog an ihrem Arm. „Hörst du nicht zu? Wendy?“ – „Was? Wie?“ Ertappt! Jetzt hatte sie sich auch noch ablenken lassen! „Deine Konzentration lässt gerade zu wünschen übrig! Ich wollte dich bitten mir Sting kurz auszuleihen, damit ich die Drachenkamera befestigen kann.“ Oh nein! Jetzt hatte sie gar nicht gemerkt, wie die beiden Drachenduellanten schon zu der alten Kapelle gegangen waren. Ach, sie sollte sich wirklich einmal einen Freund suchen! Nur gab es in ihrem Bekanntenkreis niemanden, der zu ihr passte! Ethan konnte manchmal eine echte Schlaftablette sein, auch wenn das wohl eher daran lag, dass sie nicht verstand, was in seinem Kopf vorging. Julius interessierte sich nur für den Anbau und den Konsum exotischer Kräuter und mit Balotelli und Hayate hätte sie höchstens in eine Schwulenbar gehen und dort ein paar Frauen in Holzfällerhemden aufreißen können. Angelo war einfach zu jung und nicht ihr Typ – obwohl... wenn er endlich mal einen Wachstumsschub hätte, würde er sicher ein interessanter Mann werden! – Zeph interessierte sich Nachts nur für das Knacken von Autos und Ladenschlössern und Vald... Erstens wollte sie nicht mehr mit ihm reden und zweitens hätte das sicher wieder in einem sinnlosen Besäufnis mit anschließendem Vandalismus geendet. Warum hatte sie nicht einfach eine liebe und nette Freundin, die mit ihr um die Häuser zog? Ach, da war ja was! Harriet war schon immer eine doofe selbstverliebte Ziege gewesen und die anderen Mädchen hatten Angst vor ihr, seitdem sie in der Grundschule wild um sich geschlagen hatte. „So, fertig!“ Angelo gab ihr Sting zurück. Ja, es stimmte. Eigentlich war er ein wirklich hübscher Junge, nur nicht unbedingt jemand, mit dem man viel zu lachen hatte. Sie nickte. „Wie steht der Wind heute? Also wo soll ich mich am besten hinstellen?“ Er holte die Clubfahne heraus und hielt sie prüfend nach vorne. „Kontinuierlicher Westwind.“ Er deutete auf die Ruine. „Wenn du dich auf die Arkade über den Eingang stellst, sollten wir eine gute Aufzeichnung bekommen!“ Wendy erschauderte. „Und du bist dir sicher, dass das stabil ist?“ – „Die Wahrscheinlichkeit einer ungewollten Erosion liegt selbst bei exzessivem Usus der Kirits bei unter fünf Prozent!“ Sie winkte ab. „Schon gut, ich setze mich einfach hin, sobald Sting in der Luft ist. Dann kann ich theoretisch auch nicht runter fallen!“ Sie rollte die Drachenleinen wieder aus und stellte Sting mittels Anlauf in der Luft auf. Jetzt bloß noch auf die Mauerreste hochkommen... „Ey, was ist das denn für ein Mist?“ Natürlich gab es von außerhalb kaum eine niedrige Stelle, von der sie nicht mehrere Meter über einen Abgrund hätte springen müssen. Und an Reingehen und von innen nach einem Aufgang suchen war nicht zu denken, da Sting bereits flog und so nicht mehr durch den Torbogen passte, ohne dass sie ihn hätte wieder einholen müssen. Sie seufzte genervt und wandte sich Angelo zu, der inzwischen den Halbkreis im Osten der Ruine betreten hatte, an dem früher einmal die Apsis gewesen war. „Na gut, dann muss ich eben klettern. Funktioniert die Kamera auch richtig?“ Angelo hob den Daumen. Auch Ethan und Tornado hatten sich inzwischen in der Kirchenruine positioniert und waren bereit ihre Drachen steigen zu lassen. Na toll. Alles wartete also nur auf sie! Mit wackeligen Beinen arbeitete sich Wendy auf den Mauerresten voran, das sich als gar nicht so leicht erwies, da sie ihre Hände nicht ausgleichend zur Hilfe nehmen konnte. Sie erinnerte sich vage, dass auch bei der Weltmeisterschaft zuweilen unebenes Terrain als Kampffeld zum Einsatz kam. Jetzt also schon ins Straucheln zu kommen war keine Option! Und hopp! Noch ein paar Meter. Sie fühlte schon jetzt förmlich die Anspannung, die von den beiden Kontrahenten ausging. Sand knirschte unter ihren Schuhen und rieselte auf den Boden, doch das Gemäuer hielt stand. Schließlich hatte sie ihren Endpunkt erreicht und nahm platz. „Stimmt die Position der Kamera so?“ Ihre Stimme hallte laut zwischen den Sandsteinbrocken. „Noch etwas weiter nach links drehen!“, rief Angelo. „Ja, so ist es gut! So bekomme ich ein optimales Bild und korrekte Messdaten!“ Er tippte ein paar Befehle auf seinem Smartphone und steckte es darauf in eine um seinen Hals baumelnde Tasche. Dann nickte er entschlossen und blickte ernst erst zu Tornado und dann zu Ethan. „Sind die Duellanten bereit?“ Der blonde Italiener schob sein Stirnband zurück. „Si! Heute wird ein denkwürdiger Tag! Heute werde ich mir und unserem Drachenclub ein Denkmal setzen!“ Ethan schnaubte gehässig. „Dem muss ich widersprechen! Diese Kamera wird heute nichts anderes als deine Niederlage gegen Bat und mich aufzeichnen! Mach dich auf die bisher größten Schmerzen deines Lebens gefasst, Balotelli!“ Sein Blick verfinsterte sich zusehends, während Tornados Grinsen immer breiter wurde. Angelo hob die Fahne und stellte eine Stoppuhr. „Da das Terrain sehr uneben ist, erhöht sich die Lift-Phase auf vierzig Sekunden, beginnend in drei, zwei, eins...“ ... „LIFT 'EM UP!!“ Kapitel 20: Weißer König, schwarzer König ----------------------------------------- Gespenstische Stille lag über der Ruine der mittelalterlichen Kirche. Die Sonne stand gerade so hoch, dass sie lange Schatten auf das Kampffeld warf. Da der Wind aus westlicher Richtung kam, stand Angelo, der soeben die Stoppuhr gestartet und die auf vierzig Sekunden erweiterte Startsequenz eingeläutet hatte, im Osten, die Sonne im Nacken und den Blick streng auf das Geschehen gerichtet. Auf der anderen Seite hatte Wendy auf einer noch nicht eingestürzten Arkade Platz genommen, die Arme mit den Drachenleinen Stings erhoben, damit die am Drachen befestigte Kamera jedes Detail des Duells zwischen Ethan und Tornado aufzeichnen konnte. Sie fröstelte. Weiße Wolken bildeten sich bei jedem Ausatmen vor ihrem Gesicht und legten einen feuchten Film auf ihre Haut. Dann plötzlich schwoll der Wind an und ließ die ohnehin schon kalte Winterluft noch schärfer und eisiger wirken. Das war der Startschuss für die beiden Kontrahenten. „Eins! Zwei! Drei! LIFT 'EM UP!“ Souverän wie eh und je und ohne auch nur das Gesicht zu verziehen, nahm Ethan Anlauf, schlug mehrere Haken zwischen den Steinblöcken und erzeugte einen Gegenwind, der Bat ohne größere Schwierigkeiten auf einen höheren Luftstrom legte. Schnell baute sich ein Druck auf, der die Drachenleinen spannte. Der Kampf konnte also beginnen. Tornado hingegen hatte es nicht so leicht. Sein Teil des Feldes war mit deutlich mehr Steinen übersät, so dass er kaum genug Gegenwind erzeugen konnte, da er ständig die Richtung ändern musste. „Ich erwähne es ja nur ungern, aber die vierzig Sekunden Lift-Phase sind bald abgelaufen. Noch Fünfzehn! Vierzehn! Dreizehn!“, zählte Angelo unbarmherzig die letzten Sekunden rückwärts. Tornado biss sich auf die Lippen. Konnte es möglich sein, dass er nicht einmal zum Zug kam und Ethan den Sieg somit schenken musste? Nein, so weit würde er es nie und nimmer kommen lassen! Irgendwas musste er doch tun können, um Icarus sicher in den Himmel schicken zu können, nur was? Er musterte angestrengt die Umgebung. Licht und Schatten wechselten sich ab, so dass es schwierig war jeden Bereich einsehen zu können. Zudem war das Terrain so uneben, dass manche Blöcke mehrere Meter emporragten, während andere kaum noch als Formation menschlichen Ursprungs zu erkennen waren. „Zwölf! Elf!“ Er brauchte Gegenwind. Und zwar schnell! Nur wie baute man einen Gegenwind auf, wenn einem der gerade Weg versperrt blieb? Seine Augenbrauen zuckten. Ja, genau das war es! Wenn man nicht auf der Horizontale Druck erzeugen konnte, dann musste man sich eben die Vertikale zunutze machen! Und das ging am Besten... „Zehn! Neun! Acht!“ ...indem man die Steine wie eine Treppe benutzte, um dann von einem hohen Punkt aus in die Tiefe zu springen und den Drachen wie einen Fallschirm zu benutzen! Ethan warf sein schwarzblaues Haar zurück. „War das schon alles? Wenn nicht bald mal etwas passiert, dann überlege ich mir in Zukunft, ob ich für solche Aktionen überhaupt den Weg auf mich nehme!“ Tornado schüttelte den Kopf und lächelte zuversichtlich mit strahlend weißen Zähnen. „Noch ist es nicht vorbei!“ „Sieben!“ Alle seine Muskeln spannten sich wie ein Bogen an. Dann schnellte er los wie ein Pfeil, erklomm mit großen Schritten eine Treppen ähnliche Formation, die an der höchsten Stelle über einen drei Meter breiten Abgrund führte und in eine erneute Treppe mündete. Wendy konnte nicht hinsehen. Dieser verrückte Stirnbandheini! Warum konnte er nicht einfach auf Ethans Seite des Kampffeldes sprinten und von dort aus Icarus in die Luft befördern? So stolz wie Ethan war, würde dieser bestimmt nicht dazwischen gehen und das Duell auf legale, aber unfaire Weise beenden, bevor es überhaupt in Fahrt kam. Mehrere kleine Steine kollerten hinab, als Tornado den Absprung wagte. Ja, das würde funktionieren. Bereits auf halbem Weg spürte er den Zug des Windes an seinem Drachen und als er souverän bei „Fünf!“ auf der anderen Seite landete, war Icarus schon auf halber Höhe. Trotzdem. Es reichte nicht. Ethan hob kritisch die Augenbraue und fragte mit sarkastischem Tonfall: „Was wird DAS denn?“, doch der blonde Italiener und selbst ernannter Meister des lachsfarbenen Ästhetizismus ignorierte ihn gekonnt. Nur noch ein kleines Stück, noch etwas höher... „Vier!“ Das wird funktionieren! „Drei!“ Die letzte Stufe. Nur nicht darüber nachdenken, dass er gerade schon fünf Meter über dem Boden war, sondern einfach nur... „und Absprung!“ Wendy kniff die Augen zu. War Balotelli jetzt völlig übergeschnappt? Er würde sich noch die Knochen brechen, wenn er Pech hatte und blöd aufkam! „Zwei! Eins!“ RUMMS! Als der Schnee seinen Sturz abbremste, hatte Icarus sich wie ein Fallschirm aufgebläht. Tornado biss die Zähne zusammen und presste ein leises „Ahi!“ heraus. Seine Knie zitterten, doch er war unversehrt. Icarus stand wie eine Eins auf dem Aufwind und war bereit für seinen Einsatz. Angelo seufzte erleichtert und stellte die Stoppuhr ab. Gerade noch einmal Glück gehabt! Und was das Beste daran war: Der unerwartete Sprung hatte Ethan für einen Augenblick so verwirrt, dass Tornados erste Rammattacke voll ins Schwarze traf. Er lachte. „Na, was sagst du nun? Du solltest mich nicht abschreiben, bevor ich dir nicht gezeigt habe, was ich alles kann!“ Ethan geriet leicht ins Trudeln, fing den Stoß aber gekonnt ab. „Das kam wirklich überraschend. Ich gestehe dir meinen Respekt für diese ungewöhnliche Technik ein, Balotelli!“ Er verzog den Mundwinkel zu einem Hauch von einem Lächeln. „Das wird dir aber nicht viel bringen, denn Bat und ich geben gleich Vollgas!“ Er umfasste die Drachenspulen so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Schwarze Energie pulsierte in seinen Händen und waberte ähnlich wie finsterer Rauch die Drachenleinen hinauf, um sich rund um den dunkelgrauen Fledermausdrachen zu sammeln. Sofort blitzten dessen Augen rot auf und der Kirit, der ebenfalls auf den Namen Bat hörte, materialisierte sich. „Ist ja niedlich! Eine kleine Fledermaus! Da kriege ich es ja direkt mit der Angst zu tun, angoscioso!“, spottete Tornado und riss die Arme für eine erneute Rammattacke nach vorne, doch Ethans Drachengeist wirkte wie eine unsichtbare Mauer, die den Angriff völlig verpuffen ließ. „Du wagst es Bat zu beleidigen?“, rief Ethan empört. „Das wird dir noch leidtun! Bat, zeig ihm deine Schallwelle, jetzt!“ Hastig flatterte die Fledermaus nach oben und vollzog eine Kreisbewegung um Ethans Gegner, um dabei immer und immer wieder für den Menschen unhörbare Schallwellen auszustoßen. Tornado spürte das Kribbeln in der Luft und reagierte augenblicklich. Schnell wich er der lautlosen Gefahr aus und versteckte sich hinter einen größeren Steinblock. Der Japaner legte den Kopf in die Seite. „Du denkst wohl, du könntest Bat entkommen, was? Aber das zieht nicht! Dein Drachen verrät mir ganz genau, wo du dich verbirgst!“ Er wandte den Blick zum Himmel. „Bat! Setze jetzt Blutsauger ein! Lass ihn nicht entkommen!“ Im Sturzflug schnellte die Fledermaus hinab, schoss wie ein zielgerichteter Pfeil direkt auf Tornado, der nicht halb so schnell in Deckung gehen konnte, wie der blutdurstige Kirit näherkam. Wieder startete er einen Rammangriff, doch wieder wurde Icarus von einer unsichtbaren Wand zurückgeschleudert. Während sein Pilot noch versuchte ihn zu stabilisieren, fand Ethans Drachengeist sein Ziel und verbiss sich tief in den Hals des Clubleiters der „Wright Kite Knights“. Tornado wurde für einen Moment schwarz vor Augen. Nicht vor Schmerzen oder Blutverlust – denn die Energiegestalt war nicht in der Lage, ihm wirklich Blut auszusaugen – doch der plötzliche Energieverlust machte ihn benommen. Er lächelte müde. „Dass mir mal jemand so am Hals hängt und saugt... Also ehrlich gesagt wäre mir ein Blowjob jetzt lieber...“ Er machte eine ruckartige Kopfbewegung, doch Bat ließ sich nicht abschütteln. All die Energie, die er ihm absaugte, floss in einem Strom aus schwarzer Energie direkt in Ethans Hände, der innerlich schon triumphierte. „Du enttäuschst mich wirklich! Ich dachte, dass du in den sechs Wochen wenigstens etwas trainiert hast, aber das heute reicht ja nicht einmal an deine müde Leistung im Duell gegen den Drachenmeister heran!“ Balotelli durfte sich weder provozieren lassen, noch einen Anflug von Größenwahnsinn bekommen. Er musste gelassen bleiben, so wie er es kurz vor Weihnachten gelernt und außerdem im Training verinnerlicht hatte. Er musste standhaft bleiben, auch wenn er sich schlapp und müde fühlte. Ja, müde. Er war so müde, dass seine Augenlider langsam zufielen. Ja, dann soll es eben so sein und ich verliere, ist ja nicht das Ende der Welt. „Stell dich nicht so an, Balotelli!“, knurrte Wendy gereizt. Sie war aufgestanden und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, das Gesicht ganz gerötet vor Aufregung. „Wenn du der Anführer von „Team Tornado“ sein willst, dann zeig uns gefälligst, dass du es verdient hast! Du kannst doch jetzt nicht schlapp machen!“ Träge hob der Blonde seinen Kopf und schmunzelte. „Team Tornado? Fantastico! Hört sich irgendwie cool an, das sollten wir so einführen, ma si!“ Er holte tief Luft und nahm all seine Kraft zusammen, um erneut auf eine Steinformation zu klettern, die in gleißendes Licht getaucht war. Kaum dort angekommen, fühlte er, wie seine Energie zurückkehrte. „Tornado Balotelli ist ein Kind des Lichts, scintillante!“ Sein Zahnpastalächeln blitzte auf. „Solange ich in der Sonne bin, wirst du mich nicht klein kriegen! Avanti!“ Er nahm beide Haltegriffe in die linke Hand und packte mit der Rechten nach dem kleinen Blutsauger, der noch immer an seinem Hals hing. Bat quiekte erschrocken, als ihn plötzlich eine Hand im Nacken packte und ihn brutal zu Boden warf. Und im gleichen Maße, wie Bat nieder geschleudert wurde, krachte auch Ethan mit einem Mal auf den Boden. Während dieser vor Schmerzen das Gesicht verzog, hatte Tornado die Spulen wieder fest im Griff und konzentrierte seine Energie. Und wie immer schwangen zuerst die Leinen wie die Saiten einer Gitarre, bevor sie hell leuchteten und sich die Lichtpunkte an der Spitze des Drachen konzentrierten. Ethan stand schmollend auf und rief Bat zu sich zurück. Wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon entstieg, erhob sich auch der Engelskrieger Icarus aus seinem Ei aus Licht, breitete die Flügel aus und zückte seinen Bogen. Tornado zwinkerte selbstbewusst. „Allora, denkst du nicht auch, dass DAS HIER ein richtiger Drachengeist ist? Guck doch mal, Ethan, ein geflügelter Held mit Pfeil und Bogen, DAS ist cool! Nicht so eine pop(e)lige kleine Fledermaus, die quiekt wie ein Ferkel, ha ha ha!“ Er lachte schallend. Ethans Blick verfinsterte sich zusehends. „Dein Kirit ist mindestens so ein Blender wie du selbst, Balotelli! So etwas habe ICH nicht nötig!“, sagte er und doch war sich Wendy, die wieder über dem Torbogen Platz genommen hatte, mehr als nur sicher, dass Ethan in Wirklichkeit ganz schön beeindruckt war und mit Sicherheit in Zukunft hart daran arbeiten würde, dass aus Bat irgendwann wirklich Batman wurde. Na ja... Oder zumindest ein Vampir mit Fledermausflügeln... „Oh, oh! Ihre Säuerlichkeit grummelt in der Gruft vor sich hin? Ridicolmente!“ Es war soweit. Eben noch ganz unten und kurz davor zu verlieren, war Tornado nun wieder oben auf und machte sich über seinen Gegner lustig. „Che peccato! Dann müssen Icarus und ich jetzt eben etwas Licht in die Dunkelheit bringen! Lichtpfeilregen, los!“ Der Drachengeist zog mehrere Pfeile auf einmal aus seinem Köcher und spannte den Bogen. Was danach folgte, ging so schnell, dass man es mit bloßem Auge kaum erfassen konnte. Icarus schoss gen Himmel, wo sich die Pfeile noch weiter aufspalteten und einem Regen aus Licht gleich hinabsausten. Doch Ethan war mit allen Wassern gewaschen. Einem Tanz gleich wich er galant jedem Pfeil aus, blieb aber stets auf dem Boden, anstatt sich wie Tornado die Höhenunterschiede des Kampffeldes zunutze zu machen. Der blonde Italiener beäugte ihn kritisch. „Jetzt sag' nicht, du hast Höhenangst?“, murmelte er leise vor sich hin. „Tremendamente interessante! Aber irgendwann kriege ich dich schon noch! Und dann nagele ich dich fest!“ Er sprang auf den nächsten Vorsprung und setzte die Attacke fort. Wieder sammelte Icarus seine Energie und schoss zum Himmel und wieder regneten die Pfeile hinab wie ein Schauer aus weißem Licht, der allen in den Augen stach, als hätten sie für einen Augenblick zu lange in die Sonne gesehen. Farbige Flecken bildeten sich vor Tornados Augen, so dass er sich auf seine anderen Sinne verlassen musste. Ein Fehler, denn die kalte Luft und der gefrorene Boden machten es nicht leicht, sich auf seinen Geruchssinn zu verlassen. Es kam, wie es kommen musste: beim nächsten Sprung rutschte er aus und stürzte zu Boden. Darauf hatte Ethan gewartet. Erneut konzentrierte er seine Energie auf die Handflächen und beschwor seinen Drachengeist, der diesmal aber nicht Tornado direkt, sondern Icarus angriff. Als beide Monster sich ineinander verkeilten, wurde das gesamte Duellfeld in schummeriges Zwielicht getaucht. Licht und Finsternis vermischten sich und lösten einander auf. Die Energie strömte in alle Richtungen auseinander und entzog sogar Angelo und Wendy einen Teil ihrer Kraft. Icarus schoss empor und schüttelte Bat ab, der darauf auf Tornado abzielte und sich wieder in dessen Hals verbiss. Doch Tornado war diesmal vorbereitet und nutzte diese Ablenkung, um besonders starke Pfeile auf Ethan herab schießen zu lassen, die ihm die Füße lähmten, so wie es auch bei Hayate an Halloween auf dem alten Deich geschehen war. „Oh Mann! Das gibt es doch nicht!“ Wendy raufte sich die Haare, so gut es mit den Drachenspulen in den Händen ging. Ethan und Balotelli hatten es doch tatsächlich geschafft eine Pattsituation zu erzeugen! Beide standen sie da, unfähig auch nur einen Schritt zu tun, und entzogen sich gegenseitig die Energie. Licht floss in Finsternis, Finsternis floss ins Licht. Ein Strudel bildete sich, groß, immer größer und mächtiger, in dem selbst der Kampf der beiden Elemente tobte. Erst waberte und pulsierte er nur langsam, dann schließlich flackerte er immer schneller, wurde zu einem Blitzen wie das eines Fotoapparates, um letztendlich – KA-BUMM! – in die Luft zu fliegen. Ethan und Tornado wurden auseinander geschleudert. Der Japaner prallte mit der Schulter gegen einen spitzen Brocken, der Italiener landete unsanft auf dem Rücken und bekam einen Stein an die Schläfe geschleudert, der sie sofort aufplatzen ließ, so dass sie heftig zu bluten begann. Hätten die beiden Drachengeister nicht wie ein Anker auf die Lenkdrachen gewirkt, dann wäre dies das Ende gewesen, doch so geschah etwas, was es selbst in der Geschichte der Drachenritter selten gegeben hatte. Ein heller Blitz fuhr in die Seelen der beiden Kontrahenten, der eine zuvor undurchdringbare Tür für einen Augenblick einen Spalt weit öffnete, so weit, dass jeder in dem anderen lesen konnte wie in einem Buch – wenn auch nur für wenige Zeilen. Tornado fand sich plötzlich in einem geräumigen Arbeitszimmer wieder und blickte einem mittelalten Mann in die Augen, der aber offensichtlich kein Interesse daran hatte mit ihm zu kommunizieren. Und er spürte, was auch Ethan gespürt hatte, als er in dieser Situation steckte: Frustration und unbändige Sehnsucht nach Lob und Anerkennung, die ihm sein Vater nie geben wollte. Ethan hingegen war zurückgekehrt in jene Nacht, als man Okarina entführt hatte und spürte Tornados Hilflosigkeit und Angst, die innere Ohnmacht, die ihn lähmte. Und so war es, dass beide in jenem kurzen Moment verstanden, dass der andere niemals klein bei geben würde, selbst wenn die Schläfe oder die Schulter noch so sehr schmerzten und beide Drachen schon den einen oder anderen Riss hatten. Aufgeregt blickte Wendy von einem zum anderen hin und her. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals und ließ ihr Blut in den Ohren rauschen. Ja, auch sie hatte Angst. Angst, dass das Duell der beiden am Ende noch mehr Schaden anrichten würde als nur ein paar Schrammen und Prellungen. Und als sie Angelo erblickte, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, weil ihm der Strom aus Licht und Finsternis ebenso die Kraft raubte, musste sie schwer schlucken. Ihre Hände zitterten so nervös, dass die Drachenleinen zu schwingen begannen. Warum? Warum konnten die beiden das Duell nicht auf eine schöne und freundliche Art und Weise beenden? Warum waren beide nur so bockig, dass sie sich ihre Ebenbürtigkeit nicht einräumten und sich auf ein Unentschieden einigen konnten? Sie kniff die Augen zusammen, um nicht länger in die gequälten und blassen Gesichter von Ethan und Balotelli sehen zu müssen. Eigentlich wollte sie, dass beide sofort aufhörten. Doch was konnte sie schon tun? Wenn sie jetzt einfach dazwischen ging und somit dafür sorgte, dass Angelo das Duell wegen Intervention für ungültig erklärte, würden ihr die beiden das doch niemals verzeihen! Doch irgendwas musste sie doch tun, irgendwas! „Wenn du willst, dann kann ich dir helfen!“, klackten Stings Beißzangen in ihren Gedanken. „Und was willst du? Wenn ich dich jetzt loslasse, dann verbrennst du wieder alles und damit ist keinem der beiden geholfen...“ Der rosafarbene Skorpion kicherte. „Erinnerst du dich noch daran, was mit dem Brezelkönig passiert ist?“ Oh ja! Und wie sie sich daran erinnerte! Plötzlich fing er an zu jammern und zu bedauern, während sie selbst versuchte das Feuer abzuschütteln, das sich mit schmelzenden Haltegriffen in ihre Hände fraß. „Wenn du mich lässt, dann steche ich beide. Und wenn ich das tue, dann werden sie vielleicht verstehen, warum du ihr Duell beenden musst.“ Wendy nickte und stand auf. „Du warst die letzten Wochen so gut zu mir, Sting...“ Sie lächelte erleichtert. „Ich denke... Nein, ich weiß, ich kann dir vertrauen. Und es tut mir leid, dass ich dich ganz am Anfang für ein Monster gehalten habe!“ Pinke Flammen schossen aus ihren Händen hinauf zu dem rosa-schwarzen Drachen mit dem Skorpionmotiv. Ein kleiner Feuerball bildete sich, der sich anschließend aufrollte und die Gestalt eines Skorpions annahm. Ihr Blick wurde fest. „Also dann... Sting, setze deinen Stich der Wahrheit ein!“ – „Auf geht’s!“ Gefolgt von einem brennenden Schweif schnellte der Skorpion auf Ethan und Tornado zu, die erneut begonnen hatten sich mit Rammangriffen zurückzudrängen und beide so fixiert auf ihren Gegner waren, dass keiner von beiden die drohende Gefahr bemerkte. Erst im letzten Moment schreckten sie hoch – und dann war es auch schon zu spät um sich zu wehren. Sting stach jedem der beiden blitzschnell in den Hals, so dass sie wie in einem plötzlich einsetzenden Schlummer in sich zusammensackten. Icarus und Bat verblassten und auch die Drachen segelten zu Boden, wo sie mit lautem Krachen zum Liegen kamen. „Das Duell ist beendet! Es endet mit einem Unentschieden durch äußere Intervention!“ Angelo ließ die Fahne herab sausen und sackte dann selbst zusammen. Zum Glück hatte er Thermounterwäsche an, denn seine Mutter hätte es ihm nie verziehen, wenn er sich beim Liegen auf diesem kalten Boden eine Erkältung zugezogen hätte. Wendy sprang von der Arkade herab und eilte zu den beiden Jungen. Ethan hatte sich gegen einen Stein gelehnt und starrte apathisch ins Leere, die Hand verwirrt an die linke Brust gelegt, ganz perplex vor der Menge an Gefühlen, die ihm Wendys Kirit mittels Giftstich eingetrichtert hatte. „Es... tut mir leid! Scusi!“, schluchzte hingegen Tornado. Heiße Tränen tropften auf den Boden und vermischten sich mit dem Blut, das noch immer aus seiner Schläfe austrat. „Ich verstehe nicht, was in mich gefahren ist! Das war so leichtsinnig von mir!“ Er hob den Kopf. „Wendy, Bellissima! Ich hatte ja keine Ahnung, dass du dir solche Sorgen gemacht hast.“ Plötzlich sprang er auf und umarmte sie stürmisch. „Für dich muss das ganze Duell ja noch schlimmer gewesen sein als für uns! Scusi, Bellissima, scusi!“ Wendy verdrehte für einen Moment(,) ob der plötzlichen Annäherung(,) die Augen, klopfte dann aber trotzdem auf Tornados Schulter und drückte ihn an sich. Oh nein! Jetzt kamen ihr auch noch die Tränen! „Mir tut es leid! Ich hätte das nicht tun dürfen, aber...“, sie wischte sich über die Augen, „ich konnte doch nicht mit ansehen, wie ihr euch zu Tode prügelt! Ich meine... irgendwo muss doch auch mal Schluss sein! Irgendwo hört der Spaß auf.“ – „Ich finde, Wendy-san hat vollkommen Recht!“ Wieder einmal hatte sich Hayate unbemerkt an die Gruppe herangeschlichen. Auch Zeph war inzwischen frisch geduscht und umgezogen und hielt ihnen Verbandszeug entgegen. „Muss ich jetzt auch noch mit weinen, nie?“ Wendy verneinte und nahm ihm den Erste-Hilfe-Kasten ab, um Tornados Platzwunde zu versorgen. Während sie ihm das Blut abwischte und Desinfektionsmittel auf die Stelle sprühte, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. „Erinnert ihr euch eigentlich noch daran, wann ihr das erste Mal einen Drachen habt steigen lassen?“ Ethan blickte sie mit leeren Augen an. Ja, er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie sie einen Familienausflug gemacht hatten. Harriet, er selbst, Mutter, Vater – und sogar der Großvater! Er erinnerte sich, wie sie gemeinsam unter blauem Himmel gespielt und gelacht haben und nicht genug von dem Gefühl eines an den Leinen zerrenden Drachen bekamen. Jenes Gefühl... „...frei wie der Wind. Einfach nur den Moment genießen und glücklich sein. Und was macht ihr jetzt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Schlagt euch gegenseitig die Köpfe ein und werft leichtsinnig euer Leben weg.“ Sie schlug mit der Faust auf den Boden. Die Tränen wurden immer mehr. „Ihr hättet euch gegenseitig umgebracht, wenn ihr nur ein bisschen mehr Energie eingesetzt hättet!“ Ruckartig zog sie ihre fingerlosen Handschuhe aus und streckte beiden ihre Hände entgegen, damit sie die dicken Narben sehen konnten, die sich wie ein Ring um beide Handflächen zogen. „Niemandem, versteht ihr, niemandem soll je wieder so etwas passieren wie mir! Es gibt viel mehr im Leben als nur zu gewinnen oder zu verlieren! Wir alle werden allein geboren und gehen allein von dieser Welt, doch...“, sie faltete die Hände, „wenigstens für die paar Jahre, die dazwischen liegen, sollten wir nicht vergessen, dass wir alle zusammen unter diesem großen blauen Himmel leben und uns nicht gegenseitig das Leben zur Hölle machen!“ – „Das sind ja direkt einmal ein paar schlaue Worte von dir!“ Harriet, die nicht länger im Auto warten wollte, war zu der Gruppe getreten und sich prompt nicht zu verlegen dazu einen schnippischen Kommentar von sich zu geben. „Mopsi...“ Wendy verzog das Gesicht, doch Ethan erhob sich und hielt sich die schmerzende Schulter. „Ich stimme dir zu, dass wir es heute etwas zu heftig getrieben haben...“, er wandte sich Tornado zu, „aber dieses Duell muss noch entschieden werden. Wenn nicht heute, dann ein anderes Mal!“. Tornado nickte und zwinkerte. Er hatte zwar ebenfalls Schmerzen, doch lächelte er wieder so strahlend wie immer. „Ich freue mich schon darauf, Ethan! Und beim nächsten Mal werde ich es dir sogar noch schwerer machen!“ Als er Wendys kritischen Blick wahrnahm, fügte er noch hinzu: „Auf eine Art und Weise, die uns sportlich herausfordert, aber nicht ganz so körperlich verzehrend ist, wie das Duell heute! Dafür werde ich noch härter trainieren!“ Er hielt ihm ein letztes Mal die Hand für einen kameradschaftlichen Handschlag hin. Ethan zögerte einen Moment, dann schlug er ein. „Ich ebenso. Spätestens bei der Kite-Weltmeisterschaft werden wir uns alle wiedersehen!“ – „Das werden wir... Spätestens dann!“ Kapitel 21: BONUS 1: Von lachsfarbenen Stirnbändern und weiß-rosa Kirschblüten ------------------------------------------------------------------------------ Seit dem Duell gegen Ethan war gerade einmal eine Woche vergangen und noch immer lag Schnee, doch hatte dieser sich inzwischen in eine matschige und graue Masse verwandelt, die mit jedem Tag, an dem es regnete anstatt zu schneien, immer weniger wurde. Und so wie der Winter dabei war zu gehen, stand auch ein weiterer Abschied für den Club an: Hayate hatte sich entschlossen für mindestens ein halbes Jahr zurück nach Japan zu gehen, um – wie er sagte – Bushido, den Weg des Kriegers, zu erforschen und an seinen Fähigkeiten im Drachensteigen in Hinblick auf die Weltmeisterschaft zu feilen. Seine Familie, so erzählte er einst, hatte für Generationen die Kunst des Iaidô, einer meditativen Kampfsportart mit Katana, gepflegt und weitergegeben, so dass es nun an ihm war als nächster Meister in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten. Ein letztes Mal traf man sich gemeinsam am Flughafen. Menschenmassen bahnten sich wie ein unkontrollierter Haufen Ameisen den Weg durch die Hallen und es war so laut, dass man nur ein vielstimmiges Murmeln neben den Durchsagen wahrnehmen konnte. „Du kannst doch nicht gehen, nie?“, sagte Zeph weinerlich, „Wer macht jetzt Frühstück?“. Hayate musste sich das Lachen verkneifen. „Ich bin mir ganz sicher, dass ihr das auch ganz allein schafft!“ Er legte die Hand auf seine Schulter. „Und es ist ja nicht für immer! Sobald ich meine Drachenkunst verbessert habe, werde ich wieder zurückkehren.“ Er zwinkerte allen zu und winkte zum Abschied. „Sayonara, minnasan!“ Dann drehte er sich um und ging durch die Absperrung. Tornado hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Was hatte es auch für einen Sinn, jetzt eine Szene zu machen, wenn sie sich schon letzte Nacht lang und ausgiebig voneinander verabschiedet und anschließend im Einvernehmen getrennt hatten? Und immerhin wusste bis auf seine Familie und Wendy niemand von der kleinen Romanze, die er die letzten Monate über gehegt und gepflegt hatte wie ein kleines Pflänzchen, dem man jetzt, wo es eine stattliche Größe erreicht hatte, den Dünger entzogen hatte, damit es aus eigener Kraft weiter wachsen und gedeihen konnte. Seit wann eigentlich? Wann hatte es mit ihnen angefangen? Als sie mit dem Bus zurück in die Stadt fuhren und der blonde Italiener nachdenklich aus dem Fenster starrte, erinnerte er sich zurück an den Frühling vor einem Jahr, als überall die Kirschbäume blühten. An jenen Frühling, in dem er und Hayate sich zum ersten Mal begegnet waren. Man sagt, dass man die erste Liebe nie vergisst. Jenes auf und ab der Gefühle, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. In Tornados Fall war es ein Gefühl... wie ein Blitz! Schon immer hatte er gewusst, dass er anders war als die anderen Jungen. Nicht nur, wenn es um die Interessen und seinen Modegeschmack ging, denn er schaute lieber Model-Castingshows anstatt Sport im Fernsehen und hatte auch schon immer lieber die Zeitschriften seiner Mutter gelesen – und wenn überhaupt einmal ein Sportmagazin, dann nur, weil er die Fußballer und Rugbyspieler darin ziemlich attraktiv fand – als Automagazine und den Playboy. Doch bis zu jenem Tag, an dem Hayate der Klasse plötzlich als Austauschschüler aus Japan vorgestellt wurde, hatte er es nie für möglich gehalten, dass er wirklich – na ja – auf andere Jungen... stand. Wenn er an ihn dachte, dann dachte er an die langen Wimpern, die feinen Gesichtszüge und schmalen Augen, sowie sein wundervoll riechendes violettes Haar, das ihm immer das halbe Gesicht verdeckte und ihm einen unnahbaren Ausdruck verlieh. Er sah rosafarbenen Glitzer, wann immer der Japaner durch die Gänge der Schule schwebte und hing an seinen Lippen, wann immer er mit leiser Stimme in stets freundlicher Manier sprach. Aber Hayate... Hayate sah ihn nicht. Oder zumindest nicht so, wie er gesehen werden wollte – und das war wirklich frustrierend! „Aquila, weich den Lichtpfeilen aus und Bohrschnabel!“, kommandierte Zeph seinen Lenkdrachen, der wie ein Adler geformt war. Wie jeden zweiten Nachmittag lieferten sich Tornado und er ein Duell auf dem Feld hinter der Schule, da es leicht erhöht gelegen war und dort immer eine steife Brise wehte. Die anderen Mitglieder – mit Ausnahme von Angelo, der ebenfalls in derselben Klasse wie Tornado war, da Zeph noch weit davon entfernt war, am Ende des Schuljahres sitzenzubleiben und das zweite Jahr zu wiederholen – waren alle im dritten Jahrgang der Oberstufe und bereiteten sich auf die Abschlussprüfung vor, so dass es eigentlich immer auf dasselbe hinauslief: „Du hast keine Chance, Sfaticato! Eigentlich solltest du Nachts mal schlafen und ordentlich essen! Deine Kondition ist echt mies, ha!“ Er riss die Drachenleinen nach rechts und flog mit Icarus eine Kurve, um dem spitzen Schnabel von Zephs Drachengeist Aquila auszuweichen. Der Kirit verfehlte sein Ziel und musste unter einem gellenden Adlerschrei und mächtigen Flügelschlägen umkehren, so(-)dass Tornado genug Zeit blieb einen Konter vorzubereiten. „Das war's! Lichtpfeilregen!“ Icarus spannte den Bogen und schoss eine Salve von Pfeilen in die Luft, die sich weit über den beiden Kontrahenten aufsplitteten und wie Tropfen aus weißen Licht herabfielen. „Nie... NIEEET!“ Zeph versuchte noch zur Seite zu springen, doch er war zu langsam. Die Pfeile durchbohrten zwar nicht seine Kleidung, doch befestigten sie ihn ähnlich wie Reißnägel auf dem Boden, so dass er unbeweglich liegen blieb und der braune Adler ohne Halt vom Himmel stürzte. Tornado warf sein blondes Haar zurück und lächelte müde. „Mensch, Zeph, das macht doch keinen Spaß, wenn du jedes Mal verlierst! Kannst du dir nicht mal etwas mehr Mühe geben?“ Er wickelte die Drachenspulen auf. Die Lichtpfeile verblassten und erlaubten dem gefesselten Brünetten sich wieder zu bewegen. Erschöpft richtete dieser sich auf und machte sich den langen gelockten Zopf neu, da seine Haare vom Kämpfen ganz durcheinandergeraten waren. „Habe mir Mühe gegeben!“, stellte er trotzig klar. „Bist einfach zu stark für mich, kann man nichts machen, nie?“ Tornado seufzte entnervt. „Wenn du mal Nachts schlafen und nicht ständig auf Diebestour gehen würdest, dann würdest du auch nicht so eine Schnecke sein, Sfaticato!“ Zeph hob abwehrend die Hände. „Nie, nie, ich klaue nichts! Gehe nur gerne spazieren und finde dabei immer Dinge, die vergessen wurden. Ist ganz legal, weißt du?“ Tornado ließ sich zu ihm ins Gras fallen. „Langweilig! Che palle! Gibt es denn keinen mehr, der mir ebenbürtig ist?“ Er raufte sich die Haare und legte sich auf den Rücken. „Warum müssen die anderen auch ihre Abschlussprüfung schreiben? Scazzarsi!“ Schweigend betrachtete er die weißen Wolken, die über den blauen Himmel zogen, hörte das Rascheln des Grases und das Rauschen der jungen Blätter an den Bäumen. Er schloss die Augen und ließ es zu, dass die Welt sich in eine andere verwandelte. All seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf seinen Geruchssinn, der seiner Umgebung eine Färbung verlieh, die nur er wahrnehmen konnte. Der Geruch von Pflanzen und Erde, Steine, Insekten und andere Tiere, dann der etwas deutlichere und leicht herbe Schweißgeruch Zephs, der ihm zwar nicht unangenehm war, aber dennoch keine Gefühlsregung in ihm auslöste und schließlich... „Ich hätte nicht gedacht, dass ihr Europäer auch Lenkdrachenkämpfe austragt.“ Ein leises Lachen. Jemand war direkt über ihn getreten und verdeckte die Sonne. „Eigentlich habe ich geglaubt, dass so ein außergewöhnlicher Sport nur von uns Asiaten betrieben wird.“ Er musste nicht die Augen öffnen, um zu wissen, wer plötzlich zu ihnen getreten war. Allein der zarte, exotische Körpergeruch hatte Hayate verraten, noch bevor er überhaupt in der Nähe war. Und jetzt, wo er direkt über ihm stand, nahm ihm sein Duft den Atem. Alles in ihm verkrampfte sich und als er die Augen öffnete und sich aufrichtete, schoss ihm unweigerlich das Blut ins Gesicht. Er war es! Er war da und sah ihn! Und noch mehr: er lächelte ihn an! Jetzt bloß nichts falsches sagen, immerhin hatte er gehört, dass Japaner sehr sensibel waren, wenn es um zwischenmenschliche Interaktion ging! „Bienvenudo!“ Lässig hob er die Hand zum Gruß. Hayate nickte. „Konnichi-wa!“ Zeph zog die Nase hoch und erwiderte: „Soll ich jetzt auch noch Polnisch reden, nie?“ Die drei Jungen blickten sich abwechseln an. Stille. Dann begann Hayate plötzlich hinter vorgehaltener Hand zu lachen. „Du bist wirklich ein interessanter Mensch. Du heißt Zeph, oder?“ Zeph nickte träge und gähnte. „Gewöhnlich, ja!“ Tornado schürzte die Lippen. Super! Danke auch, dass du mir gerade die Tour vermiest, du Faulpelz! Oder soll ich besser sagen: du hast mir seine Aufmerksamkeit geklaut! Genervt und frustriert stand er auf. „Also ich gehe jetzt! Ich muss heute noch arbeiten, arrivederci!“ Er klappte Icarus zusammen und steckte ihn in einen länglichen hellblauen Köcher, dann wandte er sich ab und stapfte davon. Vielleicht solltest du die Aufmerksamkeit, die du aufs Rumgammeln verschwendest, mal eher in die Schule stecken. Dann würdest du dich auch nicht permanent einpissen, weil du kurz vorm Sitzenbleiben bist! „Warte kurz, bitte!“ Sein Herz rutschte ihm in die Hose. Hatte Hayate gerade wirklich nach ihm gerufen? Er nahm all seinen Mut zusammen, drehte sich um und setzte sein breitestes Zahnpastalächeln auf. „Si?“ Der Japaner blickte ihn schüchtern an. „Du bist doch der Leiter des Lenkdrachenclubs, oder?“ Tornado nickte. „Würde es dir etwas ausmachen, dich mit mir zu duellieren? Es wird auch nicht lange dauern!“ Wie? Was? Wo? Hayate wollte... NEIN! Das konnte doch nicht sein, materialmente impossible! Lässig steckte Tornado die Hände in die Hosentaschen und kräuselte die Stirn. „Herausforderungen nehme ich immer an. Aber ob du überhaupt eine Chance gegen mich hast? Und hast du einen eigenen Drachen?“ Hayate bejahte. „Ich werde ihn gleich morgen mit in die Schule bringen, wenn das... dir recht ist?“ Oh. Mein. Gott! Wie konnte man nur so süß sein? Er musste sich echt beherrschen, um keinen Anfall von Verniedlichung zu bekommen. „Si! Morgen Nachmittag nach der Schule am gleichen Ort wie heute!“ Er hielt ihm die Hand hin, um die Abmachung zu beschließen. Zögerlich schlug Hayate ein und verbeugte sich zeitgleich. Balotelli tat es ihm gleich. „Ich freue mich schon darauf, deinen Drachen in Aktion zu sehen! Wie heißt er überhaupt?“ Oh wow! Was für weiche Hände er hat! Und so lange Finger! „Der Name meines Drachen... ist Shinigami!“ „Heute haben wir leichten Fallwind aus Nordwesten! Die dreißig Sekunden der Aufstiegsphase beginnen in drei, zwei, eins, JETZT!“ Angelo ließ die Clubfahne nach unten sausen. Sofort sprintete Tornado los und baute so einen Gegenwind auf, um Icarus in die Luft zu befördern. Hayate hingegen ging es langsam an und erzeugte mittels einer anmutigen Tanzchoreografie eine leichte Thermik, die den sichelförmigen Shinigami in kleinen Kreisbewegungen nach oben trug. Die Stoppuhr wurde abgestellt. Das Duell konnte beginnen. Tornado zögerte. Wie würde der Japaner reagieren? War es angemessen, mit starken Rammattacken auf ihn zuzugehen oder würde ihn das in seinen Augen zu einem ungehobelten Grobian machen? Sollte er nicht eher seinem Gast den Vortritt lassen und auf einen ersten Schritt warten? Ah, war das kompliziert! So kompliziert, dass er vor lauter Grübeln gar nicht mitbekam, wie sich der Kampfring in trübes Zwielicht verwandelte und er plötzlich ganz allein im Nirgendwo stand. „Cosa?“ Erschrocken blickte sich der blonde Italiener um. „Angelo? Zeph? Hayate? Wo seid ihr denn auf einmal?“ Er blickte zum Himmel und dann in seine Hände. Auch Icarus war verschwunden. Wabernder Nebel zog auf und es wurde bitterkalt. Verrückte Sache! War er etwa vor lauter Aufregung ohnmächtig geworden? Das war echt peinlich, überhaupt nicht sein Stil! „Hei! Hört mich denn keiner?“ Seine Stimme verlor sich im Nichts. Ohne Orientierung tappte er durch die weißen Wolken, die Hände immer tastend und suchend erhoben. Bald war der Nebel so dicht, dass er nicht mal mehr eine Armlänge weit sehen konnte. Ängstlich stürzte er voran, bis er schließlich über etwas stolperte und zu Boden fiel. Der Nebel lichtete sich. „Schwuchtel! Schwuchtel! Balotelli ist 'ne Schwuchtel!“ Hört auf! Seid still! Ihr habt doch keine Ahnung! „Hat dir deine Mami dieses rosafarbene Stinband geschenkt? Schwuuuuuuuuu~l!“ Verängstigt riss sich der kleine Tornado das lachsfarbene Stirnband herunter. Er musste sich beherrschen, um nicht zu weinen. „Ihr seid alle doof! Ohibò!“ Er spuckte aus. „Was hat denn ein Stirnband damit zu tun, dass man ein Hetero oder ein Homo ist?“ Die anderen Kinder lachten. „Es ist rosa! Nur Mädchen und Homos tragen rosa!“ Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ja, vielleicht hatten sie recht, mit dem was sie sagten. Und es machte ihm Angst. Er wollte nicht gehänselt werden. Auf gar keinem Fall! Wütend knüllte er das Stirnband zusammen und warf es auf den Boden. „Ich bin kein Homo!“ Das Trugbild verblasste. Wieder lag alles in trüben Nebel. Doch diesmal konnte Tornado spüren, dass er nicht allein war. Hastig wischte er sich über die feuchten Augen. Hayates Stimme drang dumpf durch den Nebel. „Davor hast du also Angst?“ Er lachte. „Als spielt es eine Rolle, was andere Menschen von dir halten!“ Der Blonde zog die Schultern hoch. „Ma si! In dieser Welt geht es doch nur darum, dass man vor anderen einen guten Eindruck hinlegt! Wer nicht mithalten kann, der gerät ganz schnell unter die Räder – und darauf habe ich keine Lust! Assolutamente!“ Der Nebel lichtete sich, bis die Umgebung sich wieder vollständig in die Wiese hinter der Schule zurückverwandelt hatte. Hayate schmunzelte zufrieden. „Ich habe heute sehr viel über dich erfahren, Tornado-san. Es freut mich, dich kennenlernen zu dürfen!“ Er verbeugte sich förmlich. „Aber jetzt lass uns das Duell beenden! Shinigami, Sensenhieb!“ Eine schwarze Gestalt erhob sich von dem Drachen und sauste auf Tornado zu. Dieser konnte gar nicht so schnell reagieren, wie die Sichel sich erhoben hatte und wieder sank. Von der plötzlichen Druckwelle erfasst, wurde er augenblicklich aus dem Kampffeld geschleudert. „Das Duell ist beendet! Sieger ist Hayate mit Shinigami!“ Angelo ließ die Fahne sinken. Tornado verzog das Gesicht. Er war weich gelandet, doch Zeph unter ihm stöhnte vor Schmerzen. „Musstest du über mich herfallen?“ Erschrocken sprang der Italiener auf und blickte sich nervös um. Er hatte... verloren? So schnell? Und was war mit dem Trugbild? Hatten die anderen es auch gesehen? Mamma Mia, hoffentlich nicht! Hayate trat hinzu und reichte ihm die Hand. „Ich hoffe doch, dass wir dieses Duell wiederholen werden? Ich gebe zu, dass es sehr unfair von mir war, gleich am Anfang mit offenen Karten zu spielen und dir meinen Kirit zu präsentieren.“ Tornado ließ sich von ihm aufhelfen. „Diese Fähigkeit ist wirklich interessant! Traumatizzante!“ Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Du hast es also... gesehen?“ Hayate nickte und fügte flüsternd hinzu. „Ich bin aber der Einzige, der durch den Nebel blicken kann. Ich würde sagen, dass du mich morgen einmal auf eine Pizza einlädst? Ich habe von den anderen gehört, dass die aus eurer Pizzeria die besten der Stadt sein sollen...“ Tornado errötete und kratzte sich nervös die Wange. „Wenn nicht sogar die beste der Welt!“ Als sie sich am nächsten Tag nach der Schule trafen, hatte Hayate ein Geschenk für ihn. „Ich hoffe, dass es nicht zu unfreundlich ist, wenn ich dir das hier überreiche. Ich dachte mir, dass dein Altes jetzt wohl zu klein ist, aber es passt einfach so gut zu dir, dass ich dir ein Neues kaufen musste.“ Er verbeugte sich mehrmals hastig. War er etwa nervös? Ein was? Zögerlich öffnete Tornado das weiche Päckchen. „Ein lachsfarbenes Stirnband?“, platzte es erstaunt aus ihm heraus. Hayate nickte lächelnd. „Bitte mach die Augen zu, Tornado-san!“ Der Blonde war verwirrt. Was wollte der andere von ihm? Er sollte die Augen schließen? Mamma Mia, das war ganz schön aufregend! Sein Herz klopfte so laut, dass er es bis in die Ohren pochen hören konnte. Mit Sicherheit war er jetzt schon bis zum Haaransatz knallrot angelaufen, wie peinlich war das denn?! Langsam setzte ihm Hayate das Stirnband auf und fuhr ihm durch das Haar, um ein paar Strähnen darüber zu drapieren. Als er anfing zu sprechen, hörte es sich wie ein sanfter Frühlingswind an, der leise in den Blättern raschelte. „Du musst dich nicht fürchten, wirklich nicht!“ Tornado traute sich nicht, die Augen aufzumachen. „Sei stolz auf das, was du bist! Zeige der ganzen Welt dein Stirnband und lass dich nicht verunsichern durch das, was andere Menschen über dich denken!“ Seine weichen Hände legten sich zögerlich in den Nacken des Blonden und zogen ihn zu sich heran, bis sich ihre Lippen schüchtern berührten. Erst zuckte Tornado noch überrascht zusammen, doch dann ließ er es zu, dass der andere ihn küsste. Es war unschuldig, weich und süß. Als sie sich voneinander lösten und er die Augen öffnete, sah er, dass auch Hayates Wangen gerötet waren. „Tornado-san?“, fragte er zurückhaltend. „Si?“ – „Du bist nicht der einzige, der so ein Geheimnis mit sich trägt.“ Seine fliederfarbenen Augen blickten nervös auf den Boden. „Denkst du, dass es nicht leichter wäre, wenn wir es zusammen tragen würden?“ Tornado blickte ihn für eine Sekunde verdutzt an, dann verzog er das Gesicht zu einem breiten und selbstbewussten Grinsen. „Si!“ Der Bus stoppte und riss den blonden Italiener aus seinen Gedanken. Gemeinsam mit den anderen stieg er aus, doch bevor sie sich verabschiedeten, zerrte er noch einmal seufzend an Wendys Jacke. „Ach, Bellissima, warum sind zwischenmenschliche Beziehungen nur so kompliziert?“ Die Rothaarige lächelte freundlich und klopfte ihm auf die Schultern. Sie wusste als einzige aus dem Drachenclub, was Tornado gerade durchmachte. „Ganz einfach... Weil wir Menschen sind!“ Sie zwinkerte ihm zu. „Ich habe ein paar Flaschen Guinness im Kühlschrank, wollen wir heute Abend nicht eine Runde in meinem Baumhaus abhängen und zusammen einen trinken?!“ Tornados Miene klarte auf. „Ma si!“ – „Und was ist mit mir?“ Zeph schob sich dazwischen. Bei Alkohol konnte selbst er nicht nein sagen. „Du darfst natürlich auch kommen! Und Angelo auch! Und dann machen wir zusammen neue Handabdrücke auf die Wände!“ Sie machte ein Peace-Zeichen. „Ich dachte, das dürfen nur enge Freunde?“ Tornado hob verwundert eine Augenbraue. Wendy lachte. „Aber das seid ihr doch schon längst!“ Das war zu viel für den blonden Italiener. Stürmisch umarmte er die Rothaarige, die nur angewidert „Igitt! Lass los!“ rief und sich aus dem Klammergriff zu befreien versuchte. Doch Tornado rief nur „Gruppenkuscheln!“ und brachte auch Zeph und Angelo dazu, sich an der menschlichen Brezel zu beteiligen. „Lasst mich los, ist ja widerlich!“, keifte Wendy mit tiefroten Wangen. „Oh, Bellissima wird ja ganz rot, wie niedlich!“ Alle lachten. Sie seufzte resignierend. Ist ja schon gut! JA, ich mag euch alle sehr gerne! Und nein. Es ist mir nicht – na gut, ein ganz kleines bisschen – peinlich, dass ich das jetzt gedacht habe!   Kapitel 22: BONUS 2: ¿Qué pasa contigo, amigo? ---------------------------------------------- Stress! Stress! STRESS! Warum, warum nur hatte sie sich nur dazu breitschlagen lassen, den Job in der Pizzeria anzunehmen und mehrmals in der Woche als Küchenhilfe zu agieren? Ach ja. Da war ja was. Ein kleines, dummes Detail, das sich „Sting“ nannte und Wendy dazu brachte, gerne mal über die Stränge zu schlagen und die Drachen der anderen in Brand zu stecken. Und da auf ein „Ich reiße dir den Arsch auf, bis es brennt!“ immer ein „Es tut mir so leid! Ich habe es schon wieder übertrieben!“ folgte, stand sie nun in der Küche, knetete Pizzateig, bereitete Pastasoßen zu und dekorierte Desserts, damit sie von dem Geld die Clubkasse aufstocken konnte und die anderen sich dadurch feuerfeste Materialien für ihre Lenkdrachen kaufen konnten. Sie verteilte eine Kelle voll Tomatensoße auf einem frisch ausgebreiteten Teigboden und musste schmunzeln. Vor einem Jahr hätte sie noch jeden angepflaumt, der ihr weismachen wollte, dass ihr dieses Hobby mal so wichtig sein würde. Dass es mehr als ein gelegentliches „Komm doch auch mit!“ war, sondern ihren gesamten Alltag so beeinflusste, dass sie neben der Schule auf nichts anderes mehr Lust – und auch gar keine Zeit mehr für anderes – hatte. Sie griff in die Schüssel mit der geschnittenen Salami und verzog das Gesicht. Weil heute Valentinstag war, hatten sich die Balotellis etwas ganz besonderes einfallen lassen: es waren nicht nur alle Pizzabeläge in Herzform zugeschnitten, nein, ab einer Bestellung von zwei Gerichten gab es auch noch eine Flasche Wein umsonst dazu. Und wenn man für besonders kreative Kunden wie den aktuellen eine Pizza belegen musste, dann ergab sich ein furchtbar kitschiges Gesamtbild voller bunter Herzen gebettet auf Tomatensoße und geriebenen Käse. Angewidert schob sie die Pizza in den Ofen, nachdem sie zwei weitere hinaus geholt und in Kartons verpackt hatte. Als gäbe es an diesem Tag nichts anderes als Liebesbekundungen und erzwungene Geschenke, die reinste Massenhysterie! Also sie, Wendy O'Callaghan leibhaftig, machte bei so einem Scheiß ganz bestimmt nicht mit, denn... „Wendy! Bellissima!“ Freudestrahlend riss Tornado die Küchentür auf und umarmte sie stürmisch. „Vielen Dank für die Schokolade! Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du mir etwas schenkst!“ ERWISCHT! „Aber sag doch mal, wo bekommt man nur solche Gießformen her? Engelsflügel und ein Adler leuchten mir ja noch irgendwie ein, aber ein Skorpion und auch noch der Sensenmann? Das ist so...“ Sein Grinsen wurde immer breiter. Neckend kniff er Wendy in die Backen. „Ich kann es einfach nicht glauben, wie süß du eigentlich bist! Du musst ja ewig danach gesucht haben!“ Er machte eine theatralische Pose. „DAS muss LIEBE sein! Amore!“ Wendy knurrte gereizt und schüttelte ihn ab. Ihre Wangen glühten. „Halt einfach die Fresse, Balotelli und nimm die Bestellung mit! Du bist nicht der einzige, der heute Schokolade bekommt!“ Das stimmte. Auch die anderen drei Jungen aus dem Drachenclub, sowie ihre alten Freunde aus der Mittelschule wurden heute mit selbst gegossener und verfeinerter Schokolade beglückt, die sie gestern Abend noch gemacht hatte. Genervt überreichte sie ihm die Isolierbox mit den soeben verpackten Pizzas. Ihrer Augenbraue zuckte. „Würdest du dir bitte endlich dieses Grinsen aus dem Gesicht wischen? Und jetzt raus hier, es gibt viel zu tun!“ Sie gab ihm einen Stoß in Richtung der Tür. „Si, si! Arrivederci!“ Als er endlich verschwunden war, atmete sie erleichtert durch. Gott sei Dank war er schwul und außerdem so halb mit Hayate zusammen, so dass wenigstens jemand anders seine penetrante Art ertragen durfte. Das war auch gut so, denn für dieses verdammte Flirten mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen war, hätte sie ihm schon längst mindestens einmal die Nase gebrochen. Wie hielt Hayate das nur aus? Das war wieder einmal so eine Sache an seinem Charakter, die ihr rätselhaft war. Erneut wurde die Tür schwungvoll geöffnet. Wendy holte schon Luft, um eine Schimpftirade loszulassen, doch es war nicht Tornado, der sich meldete. „Wendy, Liebes! Kannst du uns einen Gefallen tun und die nächsten Lieferungen austragen?“ Sie nickte der blonden Frau zu, die wie eine erwachsene Version ihrer Tochter Okarina aussah. „Kein Problem, Frau Balotelli. Sobald die nächsten Bestellungen aus dem Ofen sind, kann ich losfa... ah!“ Wie ihr Sohn zuvor hatte auch die schwedische Frau in ihre Backen gekniffen und grinste sie ebenso strahlend an. „Ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass du mich Mamma Ikea nennen sollst! Sei doch nicht so förmlich! Die Freunde meines Sohnes sind auch meine Freunde! Und solange du unter meinem Dach mit meiner schwedischen Küche kochst, gehörst auch du zur Familie!“ – „Eff, fanke.“ Wendy schlängelte sich an den dünnen Armen von Tornados Mutter vorbei, die wie ihre eigenen von eher blassem Hautton, doch völlig frei von Sommersprossen waren, und belegte die nächste Pizza mit Salami und Schinken, sowie Pilzen, Peperoni und Mais. „Ja, ja...“, murmelte sie, „und jetzt noch extra scharf, ich weiß schon. Es gibt in dieser Stadt nur einen Menschen, der so einen beschissenen Pizzageschmack hat!“ Dabei wusste doch jedes Kind, dass der einzig wahre Pizzabelag aus krossem Speck, Bohnen und Zwiebeln zu bestehen hatte! „Hast du etwas gesagt?“ Die blonde Schwedin blickte sie einen Augenblick verwundert an, verfiel dann aber wieder in ihr übliches Strahlen. „Ach, Wendy, das ist so schade, dass mein Junge sich nur für andere Jungen interessiert! So eine süße Schwiegertochter wie dich hätte ich gerne gehabt!“ Wendy legte den Kopf schief und schob die nächste Bestellung in den Ofen. „Sie... Ich meine... Du weißt das?“ Tornados Mutter faltete die Hände und nickte eifrig. „Oh ja, ich habe das schon gewusst, als er im Kindergarten war und lieber mit rosa Ponys, als mit Autos spielen wollte! Und du hättest ihn mal sehen sollen, wie er sich immer Großmutters Schmuck umgelegt hatte, zu niedlich!“ Wendy lachte nervös. Allein diese Vorstellung... „Ich bin ja so froh, dass er sich nicht mehr versteckt, seitdem er Hayate kennengelernt hat. Das tut ihm richtig gut, dass er endlich er selbst sein kann. Und sein lachsfarbenes Stirnband steht ihm doch hervorragend, nicht wahr?“ Tornados Mutter klimperte mit den Wimpern. „Äh... Ja...“ NICHT! Wendy räusperte sich. „Ich sollte Bestellungen ausliefern?“ – „Oh, oh, das hätte ich jetzt fast vergessen!“ Die Blonde rannte aus der Küche und kam wenig später mit einem handgeschriebenen Zettel zurück. „Diese drei Wohnungen in der näheren Umgebung haben gerade etwas bestellt. Zweimal Pizza, einmal Pizza und Pasta. Und vergiss nicht für die letzte Bestellung die Geschenktüte mit dem Wein mitzunehmen!“ Zähneknirschend betrachtete Wendy den Zettel. Natürlich. Wer sonst außer Vald sollte heute auch ein Pasta fressendes Fickschnittchen zu Besuch haben! Na warte... Ein unheimliches Grinsen schlich sich in ihr Gesicht, als sie die Nudeln portionierte und kurz mit etwas Soße in der Pfanne schwenkte. „Als Dankeschön dafür, dass du meinen Geburtstag vergessen und mich angelogen hast, versaue ich dir diese Tour heute...“ Sie zog ein Fläschchen Abführmittel aus ihrer Handtasche, das sie heute in weiser Voraussicht fieser Valentinstagsscherze gegenüber glücklicher Liebespaare aus dem Badezimmerschrank hatte mitgehen lassen. Ein paar Tropfen auf die Nudeln und das ganze schön umrühren. Na gut. Etwas mehr konnte doch nicht schaden... He, he, he! Dieser Abend würde mit Sicherheit ein durchschlagender Erfolg werden! Als die fehlenden Pizzas fertig gebacken und verpackt waren, hatte sich das unheimliche Grinsen noch immer nicht verflüchtigt, doch zum Glück für die kleinen Kinder, die ihr auf der Fahrt über den Weg liefen, verbarg sich jener verstörende Gesichtsausdruck hinter einem hochgezogenem dunkelgrünen Halstuch. Oh, diese Vorstellung allein war schon Genugtuung genug! Sie klingelte. „Ja?“ Eine Frauenstimme meldete sich. „Pizzaservice!“ Die Haustür wurde geöffnet. Wendy war so aufgeregt, dass sie zwei Stufen auf einmal nahm. Wer war es? Wer würde heute die Nacht mit Krämpfen vom Feinsten auf der Toilette verbringen? Wer? WER? „Ach, du?“ Ihr Rotschopf war noch nicht einmal um die letzte Treppenbiegung herum, da meldete sich schon Harriets schnippische Stimme vor dem Wasserrauschen der Dusche in der Wohnung. „Ach, Mopsi?“, antwortete Wendy ebenso säuerlich. „Hast du es mal wieder nötig dich durchbürsten zu lassen?“ Harriet rümpfte die Nase. „Und was machst du? Den kläffenden Wachhund spielen?“ Wendy verneinte. „Ich bin heute ausnahmsweise mal der Lieferjunge!“ Sie öffnete die Isolierbox. Heißer Dampf stieg auf. „Einmal Pizza Salami, Schinken, Peperoni, Mais extra scharf... und einmal Pasta!“ Sie drückte der vollbusigen Japanerin das Essen in die Hände. „Ist alles schon bezahlt. Und weil heute Valentinstag ist, gibt es eine Flasche Wein aufs Haus!“ Die kleine Geschenktüte, die mit rot glitzernden Herzen bedruckt war, wechselte ebenfalls den Besitzer. „Äh... Danke? Und jetzt zieh' Leine!“ Harriet wollte sich gerade umdrehen und die Tür wieder schließen, als sich Wendys schwarzer Stiefel plötzlich rabiat dazwischen schob. Angesäuert hob sie eine Augenbraue. „Ist noch etwas?“ Wendy nickte bestimmend, presste für einen Moment die Lippen zusammen und nahm dann all ihren Mut zusammen, um mit leiser, aber fester Stimme zu antworten: „Hör zu! Ich bin jetzt zwar auf einer anderen Schule, aber sollte ich mitbekommen, dass du Vald wehtun solltest, dann breche ich dir eigenhändig jeden einzelnen Knochen, verstanden?“ Harriet blickte für eine Sekunde erstaunt drein, begann dann aber vor Lachen zu prusten. „Bu-huu! Ich zittere vor Angst!“ Ihre Worte trieften vor Ironie. Wendy knurrte gereizt. „Mach dich nicht darüber lustig, du weißt, dass meine Rechte nicht gerade zimperlich mit anderen umgeht!“ Sie blickte verlegen zur Seite. „Du weißt doch ganz genau, was er durchgemacht hat...“ Das Kichern hörte nicht auf. „Ach, die alte Leier schon wieder? Seine Mutter ist gestorben, sein Vater hat ihn schlecht behandelt und ihn zu guter Letzt auch noch allein gelassen? Bla, bla, bla! Mir kommen die Tränen!“ RUMMS! Wendys Faust landete an der Wand rechts neben der Tür. „Du verstehst gar nichts!“, presste sie zähneknirschend hervor. „Du sitzt wie ein verwöhntes Prinzesschen auf deiner Insel des Glücks und behandelst alle anderen Menschen wie Dreck! Das ist grausam!“ Harriet warf ihre dunkelblauen Locken mit den blonden Spitzen zurück. „Tse!“, schnaubte sie sichtlich angewidert. „Ich bin grausam? Dabei bist du doch diejenige, die viel grausamer zu ihm ist!“ Wendy erbleichte vor Schreck. „Wie... Was redest du da?“ Die Japanerin fuhr fort. „Du weißt ganz genau, wovon ich rede. Ich spiele nur ein bisschen und wenn mir langweilig wird, dann suche ich mir eben ein neues Spielzeug, so einfach ist das...“ Wendy biss sich auf die Lippe. Wegen so einer abschätzigen Art konnte sie beim besten Willen nie mit Harriet befreundet sein. „Aber du...“, ihre kalten Augen funkelten Wendy gereizt an, „du kannst dich einfach nicht entscheiden, was du eigentlich willst! Entweder vertragt ihr euch wieder, oder du hörst endlich mit deinen selbst gemachten Geschenken auf!“ Ihre Augen deuteten auf die Geschenktüte. „Hältst du mich für so blöd, dass ich nicht weiß, was wirklich da drin ist?“ Wendy kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste. „Das... Das geht dich ja wohl gar nichts an!“ Fast hätte sie sich vergessen und ihr eine Ohrfeige gegeben. Wieder schnaubte Harriet verächtlich. „Und ob! Ich bin doch diejenige, die sich seit Jahren immer dieses 'Wendy hier, Wendy da, guck mal, was Wendy mir gemacht hat, bla, bla, bla!'-Gejaule anhören darf!“ Sie schmunzelte heimtückisch. „Mal ehrlich... Ich hätte nichts dagegen... Also wenn du wirklich so verzweifelt mal unter ihm liegen willst, dann sag ihm doch einfach, dass du ihn magst!“ KLATSCH! Jetzt war es passiert. Jetzt war ihr doch noch die Hand ausgerutscht. Wendy rang nach Luft. Sie war so wütend, dass ihre Pupillen ganz klein wurden und das Weiß des Auges deutlicher wurde. „Wer hat dir denn ins Hirn geschissen, Harriet?“ Am liebsten hätte sie das andere Mädchen gepackt und geschüttelt, doch da das Plätschern der Dusche verklungen war, hielt sie sich zurück. „Du weißt ganz genau, dass ich ein Einzelkind bin und Vald für mich immer der Bruder war, den ich nie haben durfte!“ Ihre Stimme wurde wieder zu einem Flüstern. „Sorgst du dich nicht auch darum, dass es deinem Bruder gut geht? Wenn nicht, dann bist du erbärmlich...“ Sie drehte sich um und hob die Hand zum obligatorischen Gruß. „Das wird mir echt zu blöd hier! Ich gehe jetzt! Wünsche guten Appetit!“ Wütend stapfte sie die Treppe hinab. Das war ja echt die Höhe! Als würde sie jemals bei Vald Hand anlegen! Das war ein absolutes Tabu unter besten Freunden, selbst wenn man sich ärgerte und stritt und auseinanderlebte und sich dann vielleicht wieder versöhnte. Harriet knallte die Tür zu, stellte die Kartons auf den Tisch und rieb sich die schmerzende Wange. Dieser gesprenkelte Karottenkopf! Da kam einem ja fast die Galle hoch! Da war endlich mal ein halbes Jahr Ruhe mit der überaus nervigen und anstrengenden „Vald and Wendy Show“ und dann stand sie plötzlich in der Tür und heulte ihr die Ohren voll. IHR? Eingeschnappt verschränkte sie die Arme, ließ sich auf die Schlafcouch fallen und begann kurz darauf ihre Nudeln zu essen. Dabei war es ihre Familie, die Vald sprichwörtlich aus dem Dreck gezogen hatte! Ihnen hätte er dankbar sein sollen und nicht dieser Hexe, die nichts weiter getan hatte, als seine verlorene Kindheit mit dem Holzhammer hervorzulocken und aus einem verrohten Zwölfjährigen einen lachenden Rotzbengel zu machen! MAMPF! SCHLÜRF! Das war doch krank. Einfach nur krank! Diese ganze Sache mit dem so genannten „Bro-Code“ wollte sie am liebsten kaputt machen, so wie man alte Gebäude mit der Abrissbirne einriss. „¿Qué pasa?“ Vald hatte sich bequeme Klamotten angezogen und rieb sich die langen pinken Haare mit einem Handtuch trocken. Harriet antwortete nicht. SCHLÜRF! Sie würde ihm doch jetzt nicht unter die Nase reiben, dass sein selbsternannter Saufkumpel gerade die Pizza geliefert hatte. Wäre ja noch schöner! Dann würde er sie wieder raus werfen, so wie an Weihnachten, als diese Schlampe ihm selbst gebackene Plätzchen an die Tür gehängt hatte und er plötzlich ganz nostalgisch wurde. Nein, sie würde jetzt ganz sicher nichts sagen. Und am besten gleich diese Tüte verschwinden lassen, bevor er noch... „Das ist doch?“ Mist! Zu spät! Natürlich war die Geschenktüte umgekippt und die in einem Klarsichtbeutel verpackte Schokolade lag wie auf dem Präsentierteller. Harriet konnte sehen, wie es hinter Valds Stirn arbeitete. Gleich würde es wieder passieren: Hirn aus, Wendy-Modus an. Verwirrt blickte er zuerst zu ihr und dann wieder zurück auf die Schokolade. Seine Mundwinkel zuckten nervös. „Du sagst mir jetzt nicht, dass Wendy eben da war?“ Resignierend nickte Harriet, verdrehte genervt hinter geschlossenen Lidern die Augen und deutete auf die Tür. „Sie ist eben erst gegangen.“ RUMMS! Noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, hatte Vald auch schon das Handtuch weggeworfen und war barfüßig aus der Wohnung gestürmt. Nein! Diesmal nicht! Diesmal würde er Wendy nicht verpassen. Diesmal musste er sie einfach zur Rede stellen, von ihr wissen, warum sie sich seit dem letzten Sommer so komisch verhielt und ihm aus dem Weg ging. Diesmal würde er nicht unterwegs sein. Jetzt war Schluss mit dem Versteckspiel! Denn das war auf die Dauer ganz schön frustrierend und nervig und scheiße! „¡Wendy, Espera!“ Huah, war das kalt an den Füßen! Die Rothaarige wollte gerade auf ihr Fahrrad steigen, das sie vorne an der Einfahrt geparkt hatte, als Valds laute Stimme sie zusammenzucken ließ. Für einen Moment hielt sie inne, dann setzte sie sich trotzdem ohne sich umzudrehen in den Sattel, bereit zurück zur Pizzeria zu fahren. Doch etwas hielt sie auf. Egal wie sehr sie sich auch anstrengte, sie kam nicht von der Stelle. Und als sie sich schlussendlich doch entnervt zurück wandte, erkannte sie, dass Vald den Hinterreifen gepackt und angehoben hatte. „Was ist nur los mit dir?“ Er starrte sie finster an, während seine Finger sich so tief in den Metallrahmen des Rades gruben, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Ich erkenne dich kaum wieder! ¿Qué pasa contigo?“ Ihre Zähne mahlten. „DAS fragst du mich ernsthaft?“, platzte es gereizt aus ihr heraus. „Frag dich doch selbst einmal, was du getan hast, bevor du dich wunderst, dass ICH mich verändert habe!“ Ihr wutverzerrtes Gesicht ließ Vald ins Grübeln kommen. Er legte den Kopf schief, hob eine Augenbraue und sagte detektivisch: „Ist es, weil ich Ethans Schwester knalle? Okay, ist vielleicht etwas assi von mir und ich bin auch nicht stolz darauf, weswegen ich es auch keinem erzählt habe...“ Er druckste herum, während er sich nervös durch die Haare fuhr. „Oder meinst du, ich muss dich da über Details informieren?“ Wendy explodierte. „Nein, verdammt, deine Sexgeschichten sind mir scheißegal! Warum versteht mich denn keiner und denkt immer gleich so eindimensional über mich?!“ Autsch. Das war so laut, dass es im Hals kratzte! Vald zog die Schultern hoch und legte die Stirn verärgert in Falten. Wendys Wut war verdammt ansteckend. „Na dann, wir sind nur Kumpels! Ist was ich getan habe also noch schlimmer für dich? Du weichst mir seit den Sommerferien aus und das ist echt ziemlich beschissen von dir!“ Wendy schüttelte den Kopf und lachte resignierend. „Wenn du das nicht mal verstehst, dann hat es keinen Zweck zu reden. Bevor du nicht selbst auf die Antwort kommst, will ich dich nicht mehr sehen!“ Sie drehte sich weg und kniff die Augen zusammen. Noch nicht. Noch nicht heulen. Sie trat in die Pedale und fuhr los. „Und komm bloß nicht auf die Idee den St. Patrick's Day mit mir feiern zu wollen, geschweige denn mich auf deinen Geburtstag einzuladen!“ Bloß schnell weg hier. Sonst tat es noch richtig weh. So ein Lügner! Lügner! LÜGNER! So blöd konnte man doch nicht sein! Geschockt sah Vald ihr nach. Er verstand wirklich nicht, welche Laus ihr über die Leber gelaufen war. Er schnaubte und zuckte mit den Schultern. „Die hat wohl ihre Tage! Chronisch!“, grummelte er beleidigt und ging zurück in die Wohnung. Sein Handy vibrierte. Neue Nachricht erhalten: Absender: harryhatesugly Empfänger: Rocky_Hernandez Betreff: Heute Abend »Ich bin nach Hause gefahren, weil es mir irgendwie nicht gut geht. Bye, Harriet « Na toll. Jetzt war er auch noch allein! Wie hatte die es überhaupt geschafft, sich vorbei zu schleichen? Er wollte das Handy gerade zurück in die Hosentasche stecken und sich auf die Schlafcouch fallen lassen, da vibrierte es ein zweites Mal. Neue Nachricht erhalten: Absender: ThePirateBride Empfänger: Rocky_Hernandez Betreff: Fahr zur Hölle!!!!!!!!!! »Und sollte Ethan demnächst mal ein Duell unserer Drachenclubs planen und wir uns auf dem Kampffeld wiedersehen, werde ich dir höchst persönlich in den Arsch treten, bis es brennt!!!! Ich kann jetzt nämlich mit Sting Feuer machen!!!!!!! « Vald schmiss das Handy auf den Tisch. Was für ein beschissener Abend! Da konnte man doch echt nur noch rumgammeln und Pizza essen. Doch bevor er den Pizzakarton zu sich herangezogen hatte, betrachtete er noch einmal die selbst gemachte Schokolade, die wie letztes Jahr aus Schildkröten, Fledermäusen und Haien bestand, und... „Ein Skorpion?“ Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Backsteingrinsen. „Also irgendwie ist das trotzdem ziemlich cool! Da kann ich es ja kaum noch erwarten, von dir in einem Duell den Hintern versohlt zu bekommen, sofern du gegen Jaws und mich ankommst!“ … Neue Nachricht erhalten: Absender: ThePirateBride Empfänger: Rocky_Hernandez Betreff: ... »...und wenn du das nächste Mal ohne Hirn aus dem Haus rennst, dann zieh dir wenigstens ein paar Schuhe an!!! Selbst schuld, wenn du krank wirst!!!!!!!!!!« Woher wusste er nur, dass sie sich einfach nicht entscheiden konnte, was sie wollte? ... „Weiber!“ Kapitel 23: Der Neue mit der Hasenpfote --------------------------------------- „Geheimes Logbuch eines Helden. Eintrag 248. Befinde mich erneut auf der wichtigen Mission die Welt zu verändern. Die Ankunft des Zielobjekts ist in genau 49 Sekunden zu erwarten, Sichtkontakt noch nicht hergestellt. Fehlschlag: ausgeschlossen. Alles verläuft nach Plan. ...und mal ganz unter uns, wer kann zu einem derart genialem Plan wie meinem schon Nein sagen? Immerhin kann mir in Charme, Intelligenz und Aussehen niemand das Wasser reichen. Bene,1 vielleicht dieser Ethan, aber an seinem Enthusiasmus und seiner Überzeugungskraft muss er eindeutig noch arbeiten – auch wenn seine tollen Haare ein richtiger Hingucker sind – sonst gehören bald schon alle guten Kite-Piloten dieser Stadt mir, dem unwiderstehlichen Tornado Balotelli!“ Ausharren und Däumchen drehen gehörte eigentlich nicht zu seiner Stärke, doch die Vorfreude auf das Kommende ließen die scheinbar endlose Zeit, die der blonde Anführer der Wright Kite Knights mit dem rosa – Entschuldigung! – lachsfarbenen Stirnband zwischen alten Putzlappen, Kreideboxen und eingerollten antiquierten Landkarten im Schrank der F-Klasse des ersten Jahrgangs verbrachte, auf ein erträgliches Minimum zusammenschrumpfen. Während seine blauen Augen durch den Türspalt blickten und er dumpf die Stimme der leicht überforderten Referendarin wahrnahm (sie musste nach dem plötzlichen Herzinfarkt des inzwischen in Rente gegangenen Klassenlehrers letzten Herbst dessen Stelle übernehmen und tat sich selbst jetzt, ein halbes Jahr später, noch schwer im Angesicht von 20 gelangweilt dreinschauenden Schülern für ein respektvolles Klassenklima zu sorgen), malte er sich noch einmal im Geiste seinen Plan aus. Ja, das was er vorhatte war genial. Nicht zu übersehen genial. Ein wasserdichter Plan ein neues Mitglied für den Drachenclub zu gewinnen, mindestens so genial wie die kleine Flunkerei, mit der er im September noch Wendy dazu gebracht hatte seinem Team beizutreten. „I...ich möchte euch heute ei...ein neues Klassenmitglied vorstellen. Es ist erst kürzlich aus dem Süden in unsere Stadt gezogen und ich bitte euch deswegen“, der hilflose Blick der in Sachen Brustumfang gut bestückten Lehrerin glitt von Schüler zu Schüler, „ihm den Anfang bei uns so angenehm und einfach wie möglich zu gestalten.“ Sie fixierte flüchtig Wendy, die nur gelangweilt einen Bleistift in den Händen drehte, die Wand anstarrte und sich dabei wahrscheinlich fragte, wann die Klasse endlich mal aus dem Kellerloch in ein richtiges Zimmer mit Fenstern ziehen würde. „Bitte seid nett zueinander, n...nicht pöbeln, nicht streiten, keine Erpressung und Gewalt“, ein kahl rasierter Schüler mit vernarbtem Gesicht in der letzten Reihe seufzte traurig, „werdet einfach nur gute Freunde und helft euch gegenseitig, ja?“ Die Klasse bejahte monoton, war doch mindestens die Hälfte von ihnen gedanklich schon wieder in der Pause. Die Lehrerin öffnete die Zimmertür. „D...du kannst jetzt hereinkommen, Meredith.“ Meredith, oh Meredith. Welch süßer Name für ein Mädchen, dessen Körper den Duft nach Landluft verströmte! Selbst durch den Türspalt konnte Balotelli erahnen, dass Angelos gesammelte Daten zu der neuen Schülerin absolut ins Schwarze trafen. Si,2 einfach fabelhaft! Ein Naturtalent ohnegleichen! Auch wenn dem Aspekt „Natur“ durch den leichten Geruch nach Kuhdung hier mehr Gewichtung zukam. Er konnte es sich ganz genau vor seinem inneren Auge ausmalen. Meredith, dieses Mädchen würde das fehlende Puzzleteil sein, das sein Team komplettieren könnte. Jemand, der über Jahre hinweg beste Noten in kreativen Fächern erhalten hatte und durch die harte Arbeit auf dem Bauernhof der Großeltern mit Sicherheit über ein gutes Maß an Kondition verfügte. Und was das beste an ihr sein würde: mit ihrem süßen, schüchternen Charme würde sie Wendy garantiert dabei helfen, ihre mädchenhafte Seite mehr zum Vorschein zu bringen. Beide würden bestimmt ein gutes Team abgeben, gemeinsam einkaufen, stundenlang telefonieren, Pyjamapartys veranstalten, mit seiner kleinen Schwester Ocarina zusammen an Kür-Wettbewerben teilnehmen und dem Club jeden Tag selbst gemachtes süßes Gebäck mitbringen. Die Vorstellung war so perfekt, dass ihm beinahe die Tränen kamen. Ah, was war er doch für ein gewieftes Genie, jetzt in diesem Moment hier zu sein und dafür zu sorgen, dass die erste Begegnung zwischen ihm und Meredith vom Schicksal bestimmt war, so sehr, dass sie, egal was kommen würde, seine Bitte doch dem Drachenclub beizutreten nicht ausschlagen konnte! Schritte. Es wurde still in der Klasse. Alles fixierte den Neuankömmling, der mit zitternden Knien kreidebleich an der Tafel stand und sich fast in die Hose machte, der versuchte die Nervosität herunterzuschlucken, während er die Hand zum Gruß hob und mit kaum hörbarer Stimme sagte: „H...hallo.“ RUMMS! Krachend flogen die Türen auseinander, als Balotelli mit einem strahlenden Lächeln schön wie immer den Materialschrank der Klasse verließ und mit großen Schritten nach vorne schwebte. Ja, besser hatte er es nicht planen können! Er sah tadellos aus und wusste es auch. Jeder wusste es, besonders Wendy, die angesichts seiner glorreichen Erscheinung rot bis zum Haaransatz geworden war. „Ciao, Meredith!“ Er war so mit sich selbst und seinem Auftreten beschäftigt, dass er das offensichtlichste übersah. „Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, denn ich habe nur auf dich gewartet, Bellissi...“, er wollte nach den zitternden Händen greifen und der neuen Schülerin verträumt in die Augen sehen, doch erkannte er die sich anbahnende Katastrophe gerade noch rechtzeitig, „...mo?“3 Wendy wollte vor Scham im Boden versinken. Daran, dass Balotelli ab und an – das war gelogen: IMMER – solche verqueren Anwandlungen hatte, war sie mittlerweile gewohnt, doch diese Aktion schlug dem Fass den Boden aus. Peinlich. Zum Schreien peinlich, wie er da aus dem Schrank gehopst kam, um dem armen neuen Schüler, der ohnehin aussah, als hätte er sich gerade in die Hose geschissen, noch eins draufzugeben. Hätte man nicht einfach bis nach dem Unterricht warten können, dann hätte das Missverständnis, was sich in Verbindung mit dem asexuellen Vornamen anbahnte, bestimmt nicht in einer Situation geendet, in der beide sich stotternd gegenüberstanden, zu Tode erblasst und mit dem Wunsch, den Tag noch einmal komplett neu zu beginnen. Doch wie man es nicht anders erwartet hatte, fing der Blonde sich sofort wieder und strich lässig durch seine Haare. „Scusi!4 Wie du gemerkt hast, neige ich dazu Scherze zu machen!“ Er räusperte sich und sah dem Neuen, der ebenfalls blaue, wenn auch nicht ganz so strahlende Augen und außerdem einen lang gezüchteten dunkelblonden Rattenschwanz im Nacken hatte, mit festem Blick an. „Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass du auserwählt bist! In dir schlummert ein Talent, welches ich von der ersten Sekunde an, die du dieses Schulgebäude betreten hast, gerochen habe.“ Er ergriff nun doch die zitternden Hände des Jungen, auf dessen nackter Stirn sich Angstschweiß gebildet hatte. „Du bist es! Du bist das fehlende Mitglied in unserem Drachenclub! Und ich, der unwiderstehliche Teamchef Tornado Balotelli, werde nicht eher ruhen, bis auch du unserer Vereinigung beitrittst.“ Er trat nun so nah an den anderen heran, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Also, Bellissimo, was sagst du?“ Keine Reaktion. Die blauen Augen wichen den ebenso blauen aus und gingen nervös hin und her. Schließlich ging ein Ruck durch den Körper des Jüngeren. Alles in ihm spannte sich an, er riss die Hände frei und ein Schrei kam über seine Lippen. „EIN DÄMON!“ Im nächsten Moment knallte auch schon die Zimmertür zu. Meredith O'Neil hatte die Flucht ergriffen. Verdattert sah Balotelli ihm nach. Eine Abfuhr. Dass ihm das passieren konnte? Unmöglich! Dabei war es doch... perfekt! Zumindest, wenn man von dem kleinen, aber unbedeutenden Fehler mit dem Geschlecht absah! Er konnte doch nicht... Er seufzte und straffte die Schultern. Konnte ja mal passieren, wenn man sonst immer von der Glücksgöttin Fortuna geküsst wurde! Dann fuhr er sich noch einmal durchs Haar, setzte sein strahlendstes Lächeln auf, wandte sich zum gehen und sagte: „Selbstverständlich wird er unserem Club beitreten, also versucht erst gar nicht ihn anderweitig anzuwerben. Mille grazie,5 meine Freunde! Arrivederci!“6 Heute war echt kein guter Tag. Auf einer Skala von 1 bis 10, bei der 10 einem Super-GAU mit darauf folgender Zombieapokalypse entsprach, war dieser Tag eindeutig eine 8. Blamiert hatte er sie. Vor der ganzen Klasse, deren Respekt und Abstand sie sich in den letzten Monaten durch mühevolles Pöbeln und dominantes Auftreten erarbeitet hatte. Jetzt würde ihr zwar immer noch keiner auf die Pelle rücken, aber mit Sicherheit blöd tuscheln. Einfach alles kaputt gemacht hatte dieser Penner, weil er jedem, wirklich jedem zeigen musste, was für ein Idiot er war. Und dann musste er auch noch den Drachenclub erwähnen, als wäre Drachensteigen nicht ohnehin schon die hirnrissigste Sportart der Welt. Eigentlich hatte Wendy also gar keine Lust mehr, heute noch zum Clubtreffen in das Turmzimmer zu kommen. Eigentlich hatte sie sich gefreut alle wiederzusehen, immerhin war sie in den Ferien für ein paar Tage verreist gewesen, doch nun hatte es ihr den Magen verdorben wie mit ranzigem Fett gebratener Speck. Sie seufzte und drückte die Türklinke hinunter. Die schwere Holztür knarzte beim Öffnen. Sie wollte gerade eintreten, da entgleiste auch schon ihr Gesicht, denn sie sah Dinge, die sie nicht sehen wollte. Dinge, mit denen sie nie im Traum gerechnet hatte. Und das machte sie so fertig, dass sie rückwärts wieder aus dem Zimmer gehen wollte. „Kalimera!7 Lange nicht mehr gesehen!“ Er grinste sie an. Der fette Grieche, den sie an Neujahr kennengelernt hatten, saß offensichtlich am Tisch der Kite Knights, als wäre seine Anwesenheit das Natürlichste der Welt. Sein Grinsen war so breit, dass sich seine schwarzbraunen Augen zu Schlitzen verengten und sich Lachfalten darunter bildeten, etwas, das die Rothaarige im Moment so gar nicht gebrauchen konnte. Wendys Augenbrauen zuckten. „Was macht DER denn hier?“ Zeph hob für einen Moment träge den Kopf, um ihn danach erneut gleichgültig auf den Tisch zu betten und weiter zu dösen. Angelo blickte nicht einmal von seinem Laptop auf und tippte emsig weiter mathematische Gleichungen ein. Der Grieche mit den dunkelgrünen Haaren und dem alten, schlabberigen Anglerhut räusperte sich. „DER heißt immer noch Costas Nixas, 25 Jahre und der neue Aufseher eures Clubs.“ Lächelnd huschte Balotelli hinter sie, massierte ihr leicht die angespannten Schultern und schob sie wieder in das Turmzimmer hinein. „Calma e gesso,8 Bellissima!“ Wendy fauchte ihn an. „Das brauchst DU gerade sagen! Für das, was du vorhin abgezogen hast, sollte ich eigentlich mindestens ein halbes Jahr nicht mehr mit dir reden!“ Entnervt ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und verschränkte die Arme. Das war doch alles absurd... Costas erhob sich. „Da nun alle anwesend sind, können wir ja Klartext reden.“ Er schnippte mit den Fingern und deutete dann auf sein pausbäckiges Gesicht, das von Natur aus braungebrannt war. „Wie ihr wahrscheinlich noch nicht wisst, bin ich Referendar und gerade mit meinem Studium fertig, so dass ich endlich daran arbeiten kann meine angespannte griechische Finanzlage zu entschärfen.“ Er trat neben Balotelli und klopfte ihm mehrmals fest auf die Schulter, so dass ein Zucken durch den Blonden ging. „Dieser Junge hier ist wirklich außergewöhnlich! Nachdem er mich euch vorgestellt hat, konnte ich gar nicht anders als darüber nachzudenken, wie ich als Weltmeisterschaftsveteran euch helfen könnte.“ Die beiden Anführer traten an eine Flipchart heran und enthüllten die erste Seite. „Und deswegen bin ich heute hier. Ihr habt echt Talent, das muss man schon sagen.“ Zeph nickte zufrieden. „Haben eben was drauf, nie?“9 Costas nahm einen Textmarker zur Hand. „Aber...“ Das Lächeln erstarb. „Ich finde, ihr könnt noch viel mehr aus euch herausholen. Ihr müsst von jetzt an nur mehr an euch arbeiten.“ Er schraubte die Stiftkappe ab und fing an eine Tabelle zu skizzieren. „Eure Kondition verbessern, eure Körperkraft, eure Koordination...“ Er kritzelte verschiedene Begriffe auf die Flipchart: Dauerlauf, Gewichtheben, Leichtathletik, dreidimensionale Wahrnehmung ... musste dabei aber mehrmals innehalten und korrigieren, da er aus alter Gewohnheit heraus griechische Buchstaben schrieb. Wendy erinnerte sich dunkel an die Ausführungen des Teamchefs an Silvester. War ja kaum auszuhalten, dass es jetzt noch einen von der Sorte gab. Und wann sollte sie mal für die Schule lernen? „Bin ich dagegen.“ Zephs Urteil fiel prompt. Er hatte sich aufgerichtet und fixierte den korpulenten Griechen mit trägem, aber ernstem Ausdruck. „Viel zu anstrengend, nicht möglich. Sind auch so gut genug.“ Prompt trat Balotelli an ihn heran und blickte ihn mit glänzenden Augen an, so dass ein imaginärer Regenbogen zwischen ihnen entstand. „Denk doch nur mal an die Möglichkeiten, die sich uns eröffnen, wenn wir noch stärker werden!“ Zeph verwandelte den Regenbogen in dunkle Sturmwolken. „Muskelkater, Abnutzung der Gelenke und wenig Schlaf, nie? Dagegen. Wenn noch mehr kommt, dann trete ich aus.“ Der Blonde seufzte theatralisch, legte die Hand an die Stirn und machte einen Ausfallschritt nach hinten. „Ah, Sfaticato,10 no no! Dass du darüber nachdenkst ist eine Schande! Wir brauchen dich doch.“ Er trat an eines der hohen Turmfenster heran und blickte für einen Augenblick nachdenklich nach draußen. Tragische Geigenmusik spielte in seinem Inneren, um die Szene besser zu untermalen. „Du bist nämlich der Einzige, der uns jetzt noch retten kann...“ Zeph verzog angewidert das Gesicht und knurrte leise. „Ich will nicht...“ Doch Balotelli klatschte in die Hände und veränderte seinen Ausdruck erneut zum strahlenden Helden. „Ma si!11 Du musst nämlich etwas für uns finden!“ Noch immer zitterte Neil vor Angst. Er hatte sich in einer Ecke zusammengekauert wie eine winzige Maus, die darauf wartete von einer gigantischen Katze gefressen zu werden. Er hatte eine braune Hasenpfote hervorgeholt und wiegte sie sanft in seinen Händen. Es war ein Glücksbringer, den er schon mit sich trug seit er denken konnte. Immer wenn es ihm schlecht ging, immer wenn er Angst hatte, nahm er die Hasenpfote zur Hand und hielt sie solange fest, bis er sich besser fühlte. „Ich will hier weg, ich will hier weg“, sprach er ähnlich eines Mantras und versuchte tief durchzuatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Es roch nach Schmieröl und Gummi, sowie etwas muffig und kalt. Ja, hier unten in der Fahrradgarage der Schule würde ihn sicher so schnell keiner finden. Keiner. Und vor allem nicht dieser glitzernde Dämon, der aus dem Schrank geschossen kam, um ihn heimzusuchen. Nein, er würde sich dem Bösen nicht beugen und mit aller Macht dagegen ankämpfen. Immerhin hatte er seinen Glücksbringer dabei und der würde ihn schon beschützen. Irgendwie. Hoffte er zumindest. Ein lautes Rattern ließ ihn erneut zusammenschrecken. Für einen Moment stockte ihm wieder der Atem, dann stellte er erleichtert fest, dass nur jemand sein Fahrrad geholt und ihn nicht bemerkt hatte. Was sollte er überhaupt hier? Eigentlich wollte er jetzt viel lieber bei seinen Großeltern sein. Bei den Kühen und Ziegen, den gackernden Hühnern und den neugeborenen Tieren, inmitten saftig grünem Gras unter einem wolkenlosen blauen Himmel. Doch seine Eltern mussten ja aus beruflichen Gründen in die Stadt ziehen und ihn mitnehmen, damit er ihrer Meinung nach auf eine bessere Schule gehen und sich aussichtsreiche Zukunftsperspektiven erarbeiten konnte. Dabei wollte er doch eigentlich immer nur Bauer wie seine Großeltern werden... Neil schüttelte die trüben Gedanken ab, steckte die Hasenpfote wieder ein und stand auf. Er spitzte die Ohren und strich sich aus Gewohnheit über den Rattenschwanz im Nacken. Die Stimmen der anderen Schüler drangen dumpf an sein Ohr. War wohl gerade Pause. Vielleicht war jetzt Zeit genug, sich unbemerkt wieder unter die Menge zu mischen ohne dabei Angst haben zu müssen, dass man ihn wieder anstarrte wie einen Außerirdischen. Als er gerade die Schiebetür öffnen wollte, um wieder auf den Pausenhof zu gehen, ertönte hinter ihm eine monotone Stimme: „Hab dich gefunden.“ Neil entglitt ein Schrei, als der hagere Hüne Zeph so plötzlich auftauchte, doch bevor er panisch die Flucht ergreifen konnte, hatte dieser ihn auch schon gepackt und in einen sandfarbenen Jutesack gesteckt. „Was man findet, darf man auch behalten“, fuhr der Braunhaarige mit dem trägen Blick fort, während er mit sichtlichem Vergnügen den Sack verschnürte und ihn sich über die Schulter warf, „und deswegen kommst du jetzt mit, nie?“ Neil wusste nicht, was er tun sollte. Sein ganzer Körper verfiel in eine Schockstarre und der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war: „Nur nicht in die Hose machen! Die ist frisch gewaschen!“ Das konnte doch alles nicht wahr sein. Erst diese unheimliche Begegnung der dritten Art im Klassenzimmer und jetzt wurde er auch noch entführt? Wenn doch wenigstens Brittany das Kälbchen da wäre, um ihn mit seinen großen, braunen Augen zu beruhigen! Doch anstatt treuer, brauner Kuhaugen war das erste, was er sah, als man ihn zu Boden schmiss und aus dem engen Jutesack befreite, die blauen Augen Balotellis. Grinsend beugte sich der Teamchef nach unten und blickte das wie Espenlaub zitternde Bündel an. „Piccolo,12 endlich sehen wir dich wieder!“ Neil wimmerte leise. Er war verflucht. Ganz bestimmt. Costas griff unter seine Arme und half ihm sich aufzurichten. Nervös blickte er sich um. Da war ein zu kurz geratener Typ mit halbmondförmiger Lesebrille, der von seinem Laptop aufsah und ihn kritisch musterte. Dann der gruselige Große mit dem Dreitagebart, der ihn entführt hatte. Sogar das rothaarige Mädchen aus seiner Klasse saß da und fixierte ihn skeptisch, während der Blonde mit dem rosafarbenen Stirnband erneut in sein glitzerndes Dauerlächeln verfallen war. „Schön, dass du da bist!“ Balotelli legte seine Hände auf die Schultern des Jüngeren. „Wie ich dir bereits gesagt habe, finde ich, dass in dir ein außergewöhnliches Talent schlummert. Und deswegen wirst du ab heute ein Mitglied der Wright Kite Knights, unseres Drachenclubs, sein!“ Neil schluckte, doch der Kloß im Hals wollte nicht verschwinden. Der Blick des Blonden war so aufmunternd und motivierend, dass er fast schon wie eine unnachgiebige Drohung wirkte. „Drachen...club?“ Costas nickte bestätigend und schloss dabei kurz die Augen. „Ja, ein Club, in dem man Lenkdrachen baut und mit ihnen Wettkämpfe austrägt. Ist doch echt cool, oder?“ Er hob den Daumen zur Motivation und versprühte damit auf seine ganz persönliche Art die glitzernde Aura eines Siegers. Neil lächelte nervös und hob abwehrend die Hände. Seine Schultern verspannten sich. „Dass es so einen Sport gibt... Das ist euer Ernst, oder?“ In den Mienen der anderen konnte er nicht lesen, dass der dicke Erwachsene hinter ihm gerade einen Scherz gemacht hatte und das machte ihn noch unsicherer als ohnehin schon – wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, dass man noch unsicherer werden konnte. „Und ich soll dafür also ein Talent haben?“ Er schüttelte vehement den Kopf. Der kleine Zopf im Nacken wedelte dabei aufgeregt hin und her und gab ihm ein leicht welpenhaftes Aussehen. „Das muss ein Irrtum sein, denn...“, er holte tief Luft und machte sich bereit dafür mit einem Satz die Hoffnungen aller Anwesenden zu zerschlagen, „ich kann doch gar nicht Drachensteigen!“ Kapitel 24: Der Antrag ---------------------- Schweigen. Fassungslosigkeit stand in den Gesichtern der Clubmitglieder geschrieben. Wendys Schultern verkrampften sich abwehrend, als sie in das zuversichtliche Gesicht des Anführers blickte, der sich gewohnt lässig eine blonde Haarsträhne aus der Stirn strich. Das konnte doch nicht wahr sein! Was hatte sich dieser hirnrissige Idiot dabei nur gedacht, einen Außenseiter mit in den Club zu bringen? Der hatte doch echt den Arsch offen! „Oh“, entglitt es Zeph träge, der inzwischen den Jutesack zusammengefaltet und wieder in seinem mit Flecktarn gemusterten Rucksack verstaut hatte. Selbst Angelo hatte für einen Moment die Tipparbeit unterbrochen und blickte den Neuen kritisch über seine halbmondförmigen Brillengläser hinweg an. „Bist du gut in Physik und Mathematik?“, analysierte er monoton die Lage. Neil wurde immer blasser und war nahe daran in Ohnmacht zu fallen. Ein dicker Kloß steckte in seinem Hals und machte ihm das Sprechen schier unmöglich. „N...nein. Eigentlich kann ich gar nichts...“ Seufzend senkte er den Blick. Er fühlte sich so unwohl, dass ihm schwindlig und schlecht wurde. Genau wie vorhin vor der Klasse. Also im Grunde wie immer, wenn er Menschen um sich herum hatte, in deren Mittelpunkt er ungewollt stand. Und dass alle schwiegen und ebenso wenig wie er wussten, was er eigentlich hier sollte, machte es auch nicht gerade besser. „Calma e gesso, Piccolo!“ Balotellis rechte Hand klopfte ihm fest auf die Schulter, während er sich mit dem linken Zeigefinger auf die Nasenspitze tippte und wieder eine Aura der Zuversicht verströmte. „In diesem Jungen hier steckt großes Potenzial, das kann ich riechen!“ Wendy schnaubte verachtend, doch sagte kein Wort. Sie schien ihre Drohung ein halbes Jahr nicht mehr mit ihm reden zu wollen ernst zu meinen. Vorerst. Er würde sie ja sowieso mit seiner charmanten Art dazu bekommen, sich wieder zu beruhigen. Denn er, der großartige, gutaussehende und wohlerzogene Tornado Balotelli, war ja nicht so stümperhaft wie dieser Vald, der einfach keine Ahnung hatte, wie man mit einer Dame umzugehen hatte. Obwohl das Wort „Dame“ eigentlich nicht so ganz auf Wendy zutraf. Jedenfalls... Wo war er stehengeblieben. Ja, da war doch was! Balotelli atmete tief durch und kniete sich vor dem Neuen nieder, der angesichts seiner schmachtenden blauen Augen erneut wie eine verängstigte Maus zu zittern begann und nervös mit der Hasenpfote in seiner Jackentasche spielte. Der Blonde räusperte sich und schob mit einer Hand sein lachsfarbenes Stirnband zurück, um seinen kommenden Worten noch mehr Ernsthaftigkeit zu verleihen. „Allora...“14 Neil wollte sich zur Tür wenden, doch der Blick des anderen hatte ihn gelähmt, als konnte er ihn der Medusa gleich zu Stein verwandeln. Das ist wirklich ein Dämon... Balotelli legte die etwas spröde Hand des Neuen in seine eigene und es war deutlich zu sehen, wer von beiden sich mit Nagelpflege beschäftigte und wer nicht. „Ich frage dich nun, Me...“ KLATSCH! Die eben noch gehaltene Hand schnellte empor und hielt Balotelli den Mund zu, der von der plötzlichen Reaktion so erschrocken war, dass er fast die Balance verlor. „Ich heiße Neil, okay?“ In den ängstlichen blauen Augen flackerte für einen Moment eine Drohung auf. „NEIL. Und nicht anders.“ Flüchtig fixierte er jede im Raum anwesende Person. Dann war sein Mut auch schon wieder verflogen und er kratzte sich nervös an der Wange. „U...und das gilt für jeden...“ Der Teamchef schüttelte das ungewohnte Gefühl, dass man ihm ins Wort gefallen war, ab und fuhr fort. „Allora, Neil!“ Sein Blick wurde ernst. „Ich frage dich nun: willst du Teil unseres Drachenclubs werden, ihn lieben und ehren, bis zum Schulabschluss und noch viel länger? Dann antworte nun mit 'Si', äh... 'Ja'!“ Neil verspürte ein nervöses Grummeln in der Magengegend und wünschte sich auf der Stelle eine Toilette herbei. Ein Antrag. Der Dämon hatte ihm gerade einen Antrag gemacht. Na gut, wohl eher einen Vertrag, der ihn direkt in die Hölle bringen sollte. Und so wie der Rest der dämonischen Bande aussah, waren es bestimmt wirklich die Boten der kommenden Apokalypse. Es gab also eigentlich keinen Grund, jetzt „Ja“ zu sagen. Und wieder sahen sie ihn an. Kamen sogar näher, bis sie alle in einem Halbkreis mit Schulterschluss aufgereiht waren, so dass sie ihm einer Mauer gleich jede Option auszuweichen nahmen. Und noch schlimmer: Sie nickten ihm zu. Der Kleine kritisch, der Große träge, das Mädchen schmollend und der Erwachsene lächelnd. Und dazu noch dieser glitzernde Dämon mit dem komischen Stirnband. Welche Wahl hatte er also schon? Wenn er an seine bisherige Schulzeit zurückdachte, dann war er immer der Außenseiter gewesen. Der Junge, den man immer als letztes beim Sport gewählt hatte und über den man lachen konnte, weil er immer ein bisschen nach Kuhstall miefte und ständig irgendwo irische Kobolde und andere Fabelwesen gesehen haben wollte. Der Junge, der nun ganz allein mit seinen Eltern in einer neuen Stadt war. Und der eigentlich nichts hatte, was er verlieren konnte. Außer vielleicht seine Seele. Obwohl ihm jetzt, wo er so darüber nachdachte, der blonde Dämon eigentlich gar nicht mehr so gruselig vorkam, sondern eigentlich ziemlich nett. Und vielleicht konnte er ihm ja wirklich helfen endlich einmal richtige Freunde zu finden. Mit einem Nicken forderte er Balotelli dazu auf sich wieder aufzurichten und hielt ihm schließlich die Hand hin. Es fiel ihm nicht leicht, ihm in die Augen zu sehen, so dass er zum Ausgleich unruhig mit dem dunkelblonden Rattenschwanz in seinem Nacken spielen musste. „Ich hab zwar keine Ahnung, was auf mich zukommen wird, aber“, seine Haltung wurde selbstbewusster, „ja, ich will!“ Schweigen. Erneut hatte es der Neue, bei dem sich alle immer noch fragten, warum der Spitzname von Meredith O'Neil „Neil“ und nicht „Merry“ war, geschafft, dass alle ihn fassungslos beobachteten. Ein Tag war seit dem verrückten Aufeinandertreffen mit Balotelli gegangen und abgesehen von dem einen oder anderen Beinahe-Herzinfarkt, den ihm der ganze Trubel beschert hatte, schien sich Neil wieder gefangen zu haben. Mehr sogar: er war die Ruhe selbst. Wendys linke Augenbraue zuckte, während ihre rechte Fußspitze sich immer wieder leicht hob und auf den Boden tippte. Nur nichts sagen und sich einen zynischen Kommentar verkneifen. Ja, dieser dunkelblonde Typ, der es anscheinend für voll cool hielt mit seit bestimmt 20 Jahren aus der Mode gekommenen Rattenschwanz herumzulaufen, hielt es anscheinend für noch cooler, hier mit Wünschelrute durch den Materialschuppen zu gehen und leise vor sich hinzusummen. Oh. Mein. Gott. Dieser Typ Mensch war doch genau das, worüber sie sich immer lustig gemacht hatte. Sie schmollte. Bestimmt war das wieder einer von diesen perfiden Plänen des Stirnbandheinis, in ihr irgendeine Art von Persönlichkeitsveränderung hervorzurufen. Erkennen, dass auch Loser wertvoll sein können und dass man nett zu ihnen sein sollte. Aber das konnte er vergessen. Wenn dieser Neil Kacke war, dann würde sie ihn auch so behandeln. Schluss, Aus und Ende. Wer blödes Zeug machte, der konnte doch nicht von ihr verlangen, dass sie das auch noch gut fand. Genau wie diese dumme Sache mit dem Schrank gestern, über die sich heute schon die ganze Schule das Maul zerrissen hatte. „Der Drachenclub ist voll peinlich“ – „Das wussten wir doch schon vorher!“ – „Nur Freaks da drin!“ – „Eigentlich schade, ich fand den Blonden immer ganz süß...“ Eigentlich wollte sie Balotelli ja bestrafen. Einfach nicht mehr mit ihm reden, bis er sich dafür entschuldigt hatte, dass er sie so vor der ganzen Klasse blamiert hatte. Doch je länger sie sich das ganze Theater mit ansehen musste, desto stärker wurde der Drang ihm einfach nur eine zu verpassen und ihn anzuschreien. Doch sie konnte sich beherrschen, biss die Zähne zusammen und schob sich so nah es nur ging hinter ihn, damit der Neue nicht hören konnte, was sie mit dem Teamchef zu bereden hatte. „Warum darf er mitmachen, ohne vorher unser Buch geöffnet zu haben? Was, wenn er es doch nicht kann und du dich zur Abwechslung mal geirrt hast, du Schlaumeier?!“ Der Blonde musste schmunzeln. Also doch! Soviel zu einem halbjährigen Schweigegelübde. „Bellissima, man soll ein verschrecktes Tierbaby doch nicht überfordern!“ Er winkte ab. „Alles zu seiner Zeit. Du hattest immerhin schon Erfahrung, si! Da wusste ich von Anfang an, dass du nicht Nein sagen würdest.“ Eine Ader auf Wendys Schläfe begann bedrohlich zu pochen. „Du … wusstest es?!“ Balotelli sprang plötzlich vor Schmerz auf. „Ahi!2 Lass los, Bellissima, prego!3“ Wendy hatte in seine Backe gekniffen und zog solange schmerzhaft daran, bis sich ein großer roter Fleck gebildet hatte. Beleidigt hielt sie von ihm ab und verschränkte die Arme. „Tse! Ich hasse es, wenn du immer so tust, als wärst du ein großer Idiot, obwohl du eigentlich einen Plan verfolgst.“ Sie erwartete eine überraschte Antwort, doch stattdessen hob der andere nur kurz seine Augenbrauen und lächelte kühl. „Du hast keine Ahnung davon, was ich eigentlich alles geplant habe, Wendy...“ Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken herunter. Das war ja fast schon Black Hayate hier. Auch der zurückhaltende Japaner, der vor einigen Wochen wieder in seine Heimat geflogen war, hatte eine dunkle Seite, die er so gut wie niemals preisgab. Ergänzten sich ja wirklich fabelhaft, die beiden. Hatten bestimmt eine Geheimbasis mit einem Masterplan voller Pfeile und Bilder und lachten sich jedes Mal ins Fäustchen, wenn der nächste Schritt getan war. Sie seufzte resignierend. „Mach doch was du willst. Ich bin zu dumm für solche Spielereien und kapiere sowieso nicht, was in deinem Hirn vorgeht. Aber bitte bring nie wieder so eine beknackte Aktion wie die gestern, okay?“ Er nickte übereinstimmend. Wenn du wüsstest... Es war still geworden. Neils Summen, das bis eben noch immer wieder lauter und leiser geworden war, verstummte. Die Wünschelrute schwang unruhig in seinen Händen, als er vor einem Drachen stehengeblieben war, der eigentlich nur als ein Memento an frühere Clubmitglieder aufbewahrt wurde. „Oh, das da? Nicht schlecht, nie?“, murmelte Zeph, der lässig an der Tür lehnte, verwundert, während Angelo, der alles aus sicherer Entfernung beobachtete, die Hand grübelnd ans Kinn legte. „Interessant.“ Neil legte die Wünschelrute beiseite und nahm vorsichtig den grünen Libellendrachen. „I...ist das jetzt gut ... oder schlecht?“ Sein blasses Gesicht suchte in den Blicken der anderen nach Bestätigung. Bestätigung, die aber ausblieb. Wendy schlug fassungslos die Hand vor die Augen. „Meinst du nicht, du solltest dir eher einen einfacheren...“ – „Si! Das ist vollkommen in Ordnung so, Piccolo!“ Balotelli flitzte hinter den Dunkelblonden und schob ihn lächelnd durch die Tür des neu gebauten Geräteschuppens nach draußen. „Dieser Drachen hat dich gerufen, si? Dann ist er der richtige für dich!“ Für den Bruchteil einer Sekunde sah er mit ernstem Blick zu der Rothaarigen hinüber, als wollte er ihr sagen den Neuen doch bitte wie ein rohes Ei zu behandeln. Wendy verstand und schüttelte resignierend den Kopf. Das ist alles ein Plan... Neil war sich sicher, dass der Blonde ihm irgendetwas verheimlichte, doch konnte er sich nicht wehren und umentscheiden, da dieser ihn immer weiter auf die Wiese hinter der Schule bugsierte und inzwischen gar nicht mehr locker und aufgeweckt daherkam, sondern eher seriös und bestimmend. „Zeph“, kommandierte Balotelli wie ein Anführer und wandte dabei den Kopf zurück, „pack Aquila aus, du bist heute mal dran!“ Kurz darauf hatte sich die gesamte Truppe auch schon auf der Wiese postiert. Oder besser: auf dem, was davon übriggeblieben war. Ein großes Areal des vorher so gepflegten englischen Rasens war ausgehoben und mit Sand planiert worden. Und genau auf diesem Ring, der den Eindruck eines durch Außerirdische erschaffenen Kornkreises vermittelte, standen sich nun Zeph, der eigentlich viel lieber nur zuschauen wollte und ganz genau wusste, dass er nur ausgewählt wurde, weil er der am wenigsten gefährlichste, da schwächster Gegner war, und Neil, der keine Ahnung hatte, was man eigentlich von ihm wollte, gegenüber. Balotelli breitete die Arme aus. „Kite Knights, Attenzione!4 Das, was ihr hier seht, wird schon bald unser neuer Trainingsring werden, der nach den offiziellen Maßen der Weltmeisterschaft gebaut wird!“ Wieder einmal genoss er es, einfach nur im Mittelpunkt zu stehen und eine große Rede schwingen zu können. „Der Platz erscheint euch vielleicht etwas groß, doch werdet ihr in ein paar Wochen sehen, dass er euch doch mehr einschränken wird als bisher.“ Er trat zwischen die Kontrahenten, die beide gleich lustlos dreinblickten. „Heute wird hier aber noch nach den üblichen Regeln gekämpft, das heißt: kein Körperkontakt, kein Verlassen der Sandfläche und vor allem...“, ein Blick von Neil zu Zeph und zurück erfolgte, „tut euch bitte nicht zu sehr weh...“ Neil schluckte. „Drachensteigen tut... weh?“ Mit einem mal erschien ihm der bisher so harmlose, da dürre und unsportliche Zeph wie ein Hüne, ein grober Schlächter voller geheimer Kräfte und Fähigkeiten, mit denen er ihn, den unerfahrenen kleinen Neil, filetieren wollte. Warum konnte er nicht gegen das Mädchen antreten? Die war wenigstens nicht so groß und gefährlich und bestimmt auch nicht so stark, auch wenn sie eine große Klappe hatte. „Hab nicht so Lust auf Schmerzen. Machen wir ein faires Duell, nie?“ Der große Typ mit dem Dreitagebart hielt ihm seine Hand mit den langen Fingern hin und lächelte freundlich, fast schon harmlos, wie ein treuer Welpe, dem man nichts übel nehmen konnte. Doch sicher lag darin die ultimative Gefährlichkeit. Neil versuchte seine Angst zu verdrängen und gab ihm schüchtern die Hand. Er erwartete, dass man ihm die Finger zerquetschte, doch der Griff des braunhaarigen Polen war ebenso lasch wie der Ausdruck in seinen Augen. „Alles bereit?“ Balotelli übernahm heute selbst den Schiedsrichter und trat an den Rand des Rings zurück, wo er die Clubfahne ausstreckte, um die Windrichtung zu prüfen. „Der Wind kommt heute von Nordosten, also stellt euch so gegenüber. Neil, du kommst hierher!“ Er winkte den Jüngeren zu sich. „Aber das ist voll unfair, nie...“, lamentierte Zeph. Costas, der sich bisher stillschweigend aus dem Geschehen zurückgehalten hatte, hob den Zeigefinger an die Lippen. Natürlich war es unfair, wenn der Neue Rückenwind hatte und seinen Drachen so leichter starten und in der Mitte des Rings halten konnte, doch war es besser ihm erst einmal ein Erfolgserlebnis zu verschaffen, anstatt ihm gleich wieder den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wendy musste sich das Grinsen verkneifen. Super, Zeph, du hast die Aufgabe heute überzeugend ein Duell zu verlieren, ich wünsche dir viel Vergnügen dabei! „Alles steht richtig? Alle bereit?“ Neil nickte verhalten, Zeph war beleidigt. „Dann beginnt das Duell in 3, 2, 1... Und los!“ Die hoch erhobene Fahne schnellte nach unten. Sofort lief Zeph in die Mitte des Rings, um genug Anlaufweg zu bekommen, drehte sich um, spannte die Leinen des braunen Steinadlerdrachens und rannte zum Rand zurück. „LIFT 'EM UP!“ Mit dem sich nun aufbauenden Gegenwind gepaart mit der moderaten Geschwindigkeit war es ein leichtes für ihn Aquila auf einen Luftstrom zu befördern. Schließlich stand er wieder auf seiner Ausgangsposition. Neil beobachtete ihn skeptisch. Noch nie hatte er einen Drachen steigen lassen. Und noch nie hatte er jemanden dabei gesehen, wie er dies tat. Die Plastikspulen lagen ungewohnt in seinen Händen und er wusste nicht so recht, was er eigentlich tun sollte, doch bevor er sich blamierte und sich wieder jeder über ihn lustig machte, wollte er lieber genau das tun, was der andere ihm gerade vorgemacht hatte. Er hob die Arme und spannte die Leinen, so dass der Libellendrachen hinter ihm lag, nahm dann einen tiefen Atemzug und rannte in Richtung Mitte. Er wusste nicht, ob er es richtig war, ob es peinlich aussah und ob es durch den Spruch noch dümmer wirken wurde, aber als er los sprintete, konnte er den Luftwiderstand auf den Libellenflügeln spüren. Der Wind zog stärker und stärker an den Lenkschnüren, bis es ihm fast die Arme ausriss. Mit voller Inbrunst und geröteten Wangen schrie Neil „LIFT 'EM UP!“ und schwang die Arme nach vorne. Und der Drachen stand auf dem Luftstrom, als hätte sein Pilot nie etwas anderes gemacht. Balotelli klatschte begeistert in die Hände. „Fantastico!5 Ich wusste, ich würde Recht haben!“ Costas nickte zustimmend und ließ sich ins Gras fallen. „Ein Glück, dass ich nicht dagegen gewettet habe, sonst wäre ich jetzt noch ärmer!“ Von Begeisterung war bei Wendy allerdings nichts zu sehen. „Wenn der es jetzt auch noch schafft, einfach so einen Kirit zu beschwören, dann...“ Neil stand da und wusste nicht, was er tun sollte. Doch eines war klar: irgendwie fühlte es sich echt cool an, so einen Drachen in der Luft zu halten. Kraftvoll und doch leicht. Vertraut und doch fremd. Gar nicht mehr so abwegig, wie er vorhin noch gedacht ... RUMMS! Zeph hatte seinen Angriff begonnen. Konzentriert ließ er Aquila auf den Libellendrachen zufliegen und verpasste ihm einen Schlag mit dem Flügel. Neil taumelte für einen Moment überrascht. Jetzt ging es also los, dieses ominöse Drachenduell. Beide würden jetzt wohl solange aufeinander eindreschen, bis einer der beiden Drachen vom Himmel fiel. Gut, wenn das so war... Aquilas spitzer Schnabel sauste von oben auf die Libelle herab. Neil kniff die Augen zusammen und machte mit den Armen eine Bewegung nach rechts, um eine kleine Kurve zu fliegen. Ging ja gar nicht so schwer. Doch Zeph reagierte sofort, lief zwei Schritte auf ihn zu und schickte Aquila auf Verfolgungskurs. Neil konnte spüren, wie der Schnabel seinen Drachen durchbohren wollte, doch das Material blieb so standhaft wie er selbst. Ein weiteres Ausweichmanöver. Und immer aufpassen, dass sich die Leinen beider Drachen nicht verhedderten, da das Duell sonst schneller vorbei sein könnte, als geplant, ohne dass irgendwer von beiden gewinnen würde. Der nächste Schlag erfolgte. Und noch einer. Wieder ausweichen, nur um wieder zur Zielscheibe zu werden. Langsam wurden Neils Arme taub und er begann zu schwitzen, während Zeph immer noch die Ruhe weg hatte. Wie gedacht, in dem großen Typen steckte auch eine Menge Kraft, auch wenn der sich in der Regel gehen ließ, wie er bereits feststellen durfte. Doch hieß der Kraftunterschied gleich, dass er verlieren musste? Dass er automatisch keine Chance hatte, bloß weil das sein erstes Duell war? Er dachte zurück an die vielen Male, die er im Sportunterricht gehofft und gebangt hatte und dann doch immer der Letzte gewesen war, der in ein Team gewählt wurde. Dabei war er doch gar nicht so schlecht! Nur unauffällig... Und...und vielleicht war seine Angst vor dem Paranormalen doch etwas übertrieben, aber das passierte nun mal, wenn man mitten im Nirgendwo lebte und die Eltern einen schon im Kindergartenalter hatten Akte X sehen lassen. Kindheitstrauma. Die Wahrheit ist irgendwo da draußen, zwischen all den Verschwörungen, die man ihm über neun Staffeln dieser Serie eingeflößt hatte. Und weil das so war, wollte er jetzt bitte auch irgendein Supersoldat sein, der über besondere Fähigkeiten verfügte. Immerhin hatte Balotelli ja auch gesagt, dass er in ihm ein großes Potenzial sah. „Bist ganz schön robust, nie?“ Zeph verkürzte den Abstand zwischen ihnen. „Wird dir aber nichts bringen, hab nämlich gleich keine Lust mehr, also ist jetzt ernst.“ Er kräuselte die Stirn und spannte die Muskeln an. „Chef hat gesagt, ich soll dir nicht weh tun. Wenn doch: Tak mi przykro!6“ Ein Sturm braute sich zusammen. Sand wurde aufgewirbelt und trieb Neil Tränen in die Augen. Er hielt sich die Hände vor das Gesicht und konnte spüren, wie der Libellendrachen dabei unruhig in der Luft auf- und ab schaukelte. Unruhig versuchte er den Abstand zwischen sich und Zeph zu vergrößern, musste aber innehalten, als er die Graskante unter seinen Sohlen fühlte. Noch einen Schritt weiter und es war vorbei, ohne dass es einen verdienten Gewinner geben würde. Er konnte nicht sehen, was da vor ihm passierte, doch ließ ihn der plötzliche Energieausbruch erschaudern. Dort in der Staubwolke braute sich etwas zusammen, das eindeutig eine Folge seiner Lieblingsserie hätte füllen können. Es war groß, schlug mit den Flügeln und stieß einen Adlerschrei aus, der ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Und noch schlimmer: es flog direkt auf ihn zu. Wendy zuckte mit den Schultern und setzte sich zu Angelo, der in eine Art Geigerzähler vertieft war. „Das war's dann wohl mit dem großen Potenzial. Da hat sich wohl jemand verrochen...“ Plötzlich platzte es aus Balotelli heraus: „Gib nicht auf, du schaffst das!“ Woher kannte sie diesen Satz nur? War es... Sie fasste sich an den Kopf. Genau dasselbe hatten sie zu ihr auch gesagt, als sie Sting zum ersten Mal beschworen hatte und es so furchtbar schief gelaufen war. Sie ballte die Fäuste. Die Narben spannten noch immer und würden auch nie aufhören zu spannen. Es war ein ewiges Mahnmal ihres eigenen Versagens. Warum? Warum sollte dieser Junge also etwas auf Anhieb schaffen, für das sie so lange gebraucht hatte? Ganz einfach: weil er es konnte. Im Angesicht der drohenden Niederlage nahm Neil plötzlich all seinen Mut zusammen und schluckte die Angst hinunter. „I...ich hab keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber eines ist klar“, brüllte er gegen die Sturmwand an, „ich will nicht mehr der Junge sein, der übrig bleibt! Ich will jemand sein, der gemocht und gebraucht wird! Ich gebe nicht auf!“ Seine Arme schnellten nach vorne und ließen die Drachenspulen in den Händen aufeinander krachen. Ein lauter Knall war zu hören, gefolgt von einem Impuls, der den Sandschleier beiseite fegte und Zeph beinahe von den Füßen riss. Während Aquila langsam verblasste, entstieg der Oberseite des grünen Libellendrachen eine echte Libelle, die so schnell mit ihren Flügeln schlug, dass diese beinahe unsichtbar waren. Neil wurde schummrig vor Augen, doch er lächelte. Instinktiv wusste er irgendwie, was er tun musste, denn es kam ihm so vor, als konnte er die Stimme des Libellenweibchens hören. Wendy raufte sich die Haare. Warum? Warum? WARUM war sie eigentlich die einzige, die sich so quälen musste, sich verbrannt hatte und fast gestorben wäre, bis Sting sich endlich gezeigt hatte? Sie war so wütend, dass sie am liebsten heulen wollte. „Ein Kirit ist die Manifestation unserer Seele. Er steht sinnbildlich für unsere tiefsten Wünsche und Hoffnungen.“ Costas nickte ihr wissend zu. „Diese Antwort wolltest du doch hören, oder?“ Sie schmollte. „Na toll! Ich will also ein giftiger Skorpion sein, der alle mit seinem Feuer verbrennt?“ Der korpulente Grieche mit den dunkelgrünen Haaren lachte leise und rückte sich den durch die starke Brise verrutschten Anglerhut zurecht. „Ich glaube du brauchst echt noch ein bisschen Nachhilfe in dem Gebiet.“ – „WAS?“ Und wieder kam sie sich ziemlich dumm vor. Er kniete sich zu ihr herunter und tippte ihr erst auf die Stirn und dann auf die Brust. „Du musst im Kopf wissen wer du bist und im Herzen was du sein willst.“ Wendy verzog das Gesicht. „Pack mich nicht an und hör auf hier so rumzuschmalzen, Mann!“ Sie brachte einen Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und Costas. „Dieser Junge hier...“, Costas deutete auf Neil, dessen Kirit gerade mit einer Konterattacke begonnen hatte und mit den Flügeln Druckwellen auf Zeph schleuderte, „hat sich dafür entschieden, nicht mehr der unbeliebte Junge vom Land zu sein. Er will, dass wir ihn wahrnehmen und er verschafft sich Gehör, indem“, er grinste und seine Augen verengten sich dabei zu Schlitzen, „komm sag schon, Wendy, du hast es verstanden!“ Die Rothaarige kratzte sich die Stirn. „Indem...“ Jede Druckwelle erzeugte einen anderen Ton und jede neue war lauter als die zuvor. Jetzt endlich verstand Wendy es. „Indem er mit Schallwellen um sich schießt!“ Costas hob den Daumen. „Bingo! Kirit-Lektion Nummer 1: dein Kirit ist, was du bist. Und du bist demnach ... ziemlich heiß!“ ... BATSCH! ... Dreimal hintereinander. Eine links, eine rechts und noch einen Stoß in die Magengegend hinterher, der dem Griechen die Tränen in die Augen trieb. „Was... Was fällt dir ein, ich bin immerhin dein Lehrer! Etwas mehr Respekt...“ RUMMS! Die Wucht der letzten Attacke hatte es in sich. Zeph wurde aus dem Ring geschleudert, fiel über Costas und riss ihn mit sich. Beide überschlugen sich mehrmals und blieben als ein staubiges, verwirrtes Bündel liegen. „...bitte?“ Wendy war im richtigen Moment ausgewichen und sah ihn mit einem „Geschieht dir ganz recht, Herr Lehrer“-Blick an. Und als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, sagte Zeph auch noch: „Gut, dass du dick bist. Bin weich gefallen, hat nicht weh getan.“ Nie wieder so einen Spruch. Das war eindeutig schlechtes Karma. „Sieger ist Neil!“, ignorierte Balotelli gekonnt die Situation am Spielfeldrand und ging auf den Gewinner zu, „mit seinem Kirit“, er geriet ins Stocken, „wie heißt der gute Junge eigentlich?“ In Neils Kopf drehte sich alles und er musste sich zusammenreißen, um nicht wie ein Betrunkener zu sprechen. „Der Junge ist eigentlich ein Mädchen. Und sie heißt ... Darter!“ Dann fiel sämtliche Anspannung von ihm ab. Sein Gesicht wurde kreidebleich, er krümmte sich nach vorne und erbrach sich heftig. Vorsichtig massierte der Teamchef die Schultern seines neuen Schützlings, der einfach nicht aufhören konnte zu würgen. „Das muss wohl der Schock sein. Aber das hast du gut gemacht, Piccolo! Wie ich es nicht anders erwartet habe!“ Er reichte ihm ein Taschentuch, damit er sich den Mund abwischen konnte. Doch als er ihm helfen wollte sich hinzusetzen und zur Ruhe zu kommen, erklang am anderen Ende der Wiese eine empörte Stimme. „WAS macht ihr denn hier?“ Vier Grazien aus dem dritten Schuljahr tauchten auf und schwangen aggressiv ihre Tennisschläger. Sofort verfiel Balotelli wieder in den Glitzermodus. „Buongiorno7, meine Damen, womit haben wir die Ehre?“ Die Mittlere rümpfte die Nase und würdigte den Blonden keines Blickes. „Na wir jedenfalls nicht! Ich hoffe doch ihr macht DAS DA schnell weg“, sie deutete auf das Erbrochene – was Neil ziemlich peinlich war – und machte dann mit ihrem Schläger eine weite Bewegung, „immerhin ist DAS HIER Baugebiet für unseren neuen Tennisplatz.“ Kapitel 25: Tennis vs. Kiten = Beachvolleyball?! ------------------------------------------------ „Wie, euer Platz?“, fragte Zeph, der noch immer auf Costas lag, irritiert und richtete sich langsam auf. „Ist doch hier planiert für Kite-Ring, alles geplant und gut, was ist dann das Problem, nie?“ Xanthippa, die Anführerin des Tennisclubs, rümpfte die Nase, als der schlaksige Pole sich den Staub von den Klamotten klopfte und sich die durch das Duell ganz zerzausten langen Haare erneut zusammenband. So ein ungepflegter Rüpel! „Ganz einfach: euer mickriger Amateurclub ist eine Schande für unsere Schule und hat es schlicht und ergreifend nicht verdient so einen Vorzeigeplatz hinter der Schule zu bekommen.“ Sie schüttelte ihre goldblonden Locken, die so verführerisch und hübsch waren, dass Costas sich zusammenreißen musste das Mädchen nicht mit lüsternem Blick zu durchbohren. „Scusi?“ Der ebenfalls blonde, aber seiner Meinung nach eindeutig viel hübschere und attraktivere Teamchef kräuselte die Stirn. „Wir haben ganz regulär einen Antrag eingereicht, der selbstverständlich auch genehmigt wurde und zudem wird der gesamte Umbau von meiner goldenen Kreditkarte bezahlt.“ Er schüttelte ebenfalls leicht den Kopf, um seine hellblonde Haarpracht fliegen zu lassen. „Es ist also unmöglich, dass ihr einen Besitzanspruch auf dieses Bauland erheben könnt, ma si!“ Es zeigte Wirkung. „Du, Chefin“, druckste eines der Tennismädchen, das seine lange braunen Haare zu zwei Zöpfen zusammengebunden hatte, „eigentlich hat er Recht...“ – „Papperlapapp!“, fuhr ihr die Anführerin über den Mund. „Wir haben das doch gestern mit der Schulleitung beredet und die meinten auch, dass dieser Käseverein uns nicht das Wasser reichen kann!“ Entnervt stemmte sie die Hände in die Hüfte und lief fast schon mit Stechschritt auf und ab. „Sieh dir doch nur mal diese Nullen an! Der eine fällt fast vom Fleisch und der andere ist nach ein bisschen Sport schon so kaputt, dass er sich übergeben muss. Würde mich wundern, wenn die alle nicht mal einen 1000-Meter-Lauf schaffen würden!“ Sie reckte den Kopf. „Ich hingegen bin letztes Jahr sogar bei Olympia für unser schönes Land angetreten und das sollte doch Grund genug sein, uns diesen bevorzugten Platz zu überlassen!“ Kaum hatte sie ihr Revier markiert, fing sie auch schon zu lachen. Erst nur ganz leicht, sowie man es von einem adretten Tennismädchen erwarten würde, dann aber immer lauter und schallender, bis sich die versammelte Mannschaft die Ohren zuhalten musste. Costas war der Erste, der sich wieder zu Wort meldete. „Offiziell ist diese Erlaubnis aber nicht, oder?“ Er hob detektivisch eine Augenbraue und verschränkte die Arme. „Als Lehrer dieser Schule und Aufseher dieses – wie du sagtest „Käsevereins“ – kann ich nicht erlauben, dass ihr mit faulen Tricks spielt. Aber...“, seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er zu grinsen begann, „ich denke wir könnten daraus doch einen kleinen Wettkampf machen, wenn es euch so wichtig ist uns zu schlagen!“ Xanthippa blickte ihn angewidert an, hatte dieser seine Aufmerksamkeit doch direkt auf ihrem kurzen Rock und dem sich darunter abzeichnenden Hintern gerichtet. „Wir werden uns ganz sicher nicht dazu herablassen mit euch Drachensteigen zu spielen, wenn Sie darauf hinauswollen, Herr Lehrer.“ In jedem ihrer Worte schwang soviel Ekel mit, dass sie den Satz fast schon hochwürgen musste. Was für ein unangenehmer Typ... Der dicke Grieche winkte ab. „Darauf ziele ich auch nicht ab, denn das wäre ja voll unfair euch gegenüber, unseren Heimvorteil auszunutzen. Aber seht euch doch mal um!“ Er breitete die Arme aus. „Wir haben hier eine große Sandfläche und fast immer schönes Wetter, also warum besorgen wir uns nicht ein Netz, Markierungsstreifen und ein paar Bälle von den anderen Clubs und spielen Beachvolleyball gegeneinander?“ Beachvolleyball. Beach... Volleyball. WARUM ZUM HENKER ÜBERHAUPT BEACHVOLLEYBALL?! Während eine Aura negativer Energie von Wendy ausging, strahlte Balotelli umso fröhlicher und klopfte Costas lachend auf die Schulter. „Bravo! Bravissimo! Das ist eine wirklich fabelhafte Idee!“ Costas nickte zufrieden. Er sagte zwar „Ich lasse doch nicht zu, dass sie den Drachenclub den Bach runtergehen lassen! Reicht schon, dass meine Heimat vor dem Ruin steht...“, dachte aber eigentlich nur an eine Sache: Beachvolleyball... Das hieß Mädchen mit knappen Sportoutfits, die sich schwitzend in den Sand warfen und sich gegenseitig ihre Bälle um die Ohren hauten. Was für ein Schlitzohr er doch war! So konnte er nicht nur Wendy, sondern auch noch die vier Mädchen vom Tennisclub ungeniert begaffen, ohne dass es irgendwie pervers und unangebracht herüberkam. Zeph seufzte. „Nicht gut. Noch mehr Sport. Und Sand überall, bin ich dagegen!“ Auch Neil, der inzwischen dazu übergegangen war seinen leeren Magen wenigstens mit Wasser zu füllen, stimmte ihm zu. „Können wir überhaupt Beachvolleyball spielen? Also ich hab bisher nur im Sportunterricht ein bisschen Volleyball üben müssen und das war nicht mal sonderlich gut...“ Eine blöde Situation war das. Jetzt hatte er gerade feststellen dürfen, dass der Kite-Club doch gar nicht so abwegig für ihn war, wie er noch zu Beginn gedacht hatte, und dann stand er auch schon vor einer Situation, in der dieser Club vielleicht aufgelöst worden würde? Bestimmt brachte er Unglück... „Kopf hoch! Avanti!“1 Auch Zeph und Neil bekamen einen Klaps auf den Rücken. „Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Denn im Unterschied zu den Mädchen aus dem Tennisclub sind wir ein richtiges Team! Sie können bestimmt genauso wenig wie wir Beachvolleyball spielen, aber weil wir besser zusammenarbeiten, werden wir auch gewinnen, si!“ – „Aber nicht mit einer Woche jeden Tag nur noch trainieren, nie?“, bohrte der schlaksige Pole skeptisch nach. „No, no! Keine Angst, Sfaticato!2 Diese Woche werden wir gar nichts tun, außer uns Sportvideos ansehen, daraus lernen und außerdem einkaufen zu gehen. Immerhin will ich, dass mein Team am besten aussieht, wenn wir uns in sieben Tagen behaupten müssen!“ Und das taten sie auch. Zumindest hatte Costas das erwartet. Missmutig starrte er drein, als die vier Mädchen vom Tennisclub am Spieltag auf dem Sandfeld erschienen. Ja, schon hübsch, immerhin waren ihre Höschen genau nach internationalem Beachvolleyballstandard sieben Zentimeter breit an den Seiten, aber was brachte denn schon der schönste Hintern – Wendy hatte den größten, auch wenn sie Costas jedes Mal mit bösem Blick bestrafte, wann immer er nur ansatzweise zu ihr herübersah – wenn obenrum alles Flachland war. Nichts! Nicht mal ein Mittelgebirge und erst recht keine üppige und saftig grüne irische Berglandschaft, wie man es anhand der grasgrünen Outfits der Tennismädchen erwartet hatte. Er seufzte langgezogen. Sein ganzer Plan sexy Weiber dabei zu beobachten, wie sie sich gegenseitig halbnackt und schwitzend dicke Dinger vor die Nase knallten und am Ende schmutzig im Sand lagen, ging gerade den Bach runter. Da war es fast zu verschmerzen, dass er seine Videokamera vergessen hatte. „Gu...guten Tag, Herr Kollege“, stotterte eine Frauenstimme neben ihm, „I...ich wusste gar nicht, dass Sie sich um den Drachenclub kümmern?“ Oh nein. So wie die sich schon anhörte, hatte die bestimmt lange keinen Männerbesuch mehr gehabt. Bestimmt eine von diesen eingetrockneten Sportlehrerinnen, die schon vor zwanzig Jahren mit ihrem Beruf innerlich abgeschlossen hatten. Er lächelte gequält und wandte seinen Blick von den Mädchen ab. „Ja, das tue ich. Und Sie sind dann wohl die Aufsichtsperson für den Tennisclub, Frau...“ – „Tita Biggins.“ Sie hielt ihm ihre blasse Hand hin, doch seine Augen fixierten zwei andere wichtige Dinge an ihrem Körper. „Ich bin außerdem die Klassenlehrerin von Mister O'Neil und Miss O'Callaghan.“ Sie lächelte freundlich und legte dabei den Kopf leicht schief. Tita... Biggins? Mount Everest. Eindeutig. Da gehörte der Name zum Programm. Seine Ohren wurden rot. Er schüttelte ihre Hand. „Costas Nixas, freut mich.“ Und jetzt schön in ihre Augen sehen und nicht nach unten. Ja, so ist es gut, oh ja... Und jetzt noch etwas Nettes sagen... „Mögen Sie eigentlich Katzen, Miss Biggins?“ – „Katzen?“ Die Kopfhaltung wurde noch schiefer. „Ja, ich habe Zuhause zwei Katzen. Und wenn Sie mal Lust haben, dann können Sie ihre Muschi ja auch mitbringen und wir spielen ein bisschen zusammen.“ Während der korpulente Dunkelhaarige sich einen Eisbeutel für sein blaues Auge holen ging und ganz froh war, dass sein Hut, unter dem er sein lichter werdendes Haar zu verbergen pflegte, nicht verrutscht war, pfiff die eigentlich schüchterne Klassenlehrerin Wendys und Neils in eine Trillerpfeife. Sofort richtete sich alle Aufmerksamkeit auf sie. „Alle mal zuhören, denn es geht gleich los!“ Die Schüchternheit war wie weggeblasen. „Ich will kurz noch einmal die Regeln erläutern. Herr Nixas hatte gerade einen kleinen ... Unfall, wird aber gleich wieder zurück sein, um als zweiter Schiedsrichter dafür zu sorgen, dass dieses Spiel hier möglichst unparteiisch von Statten geht.“ Wendy traute ihren Ohren nicht. War das wirklich dieselbe Lehrerin? So abgebrüht, wie die eben dem Dicken eine gepfeffert hatte, mussten sich ja ganz schön viele Aggressionen angesammelt haben... „Da ihr alle noch relativ unerfahren seid, wird im Dreier- und nicht im Zweierteam gespielt. Auswechseln ist jederzeit möglich, aber nur einmal. Gespielt werden zwei Sätze, die mit je 21 Punkten gewonnen werden müssen. Wer einen Punkt erzielt, macht den nächsten Aufschlag. Und wenn es nach zwei Sätzen unentschieden steht, dann findet noch ein dritter Satz, der Tie-Break statt, bei dem 15 Punkte zum Gewinnen reichen.“ Beachvolleyball auf den Punkt gebracht. „Erlaubt ist jede Schlagtechnik, sofern der Ball nicht gefangen wird und nach drei Ballkontakten auf die andere Seite des Spielfelds gelangt. Und bitte“, sie ließ den Blick über alle Teilnehmer schweifen und Wendy konnte schwören, dass die Lehrerin sie besonders lang und eindringlich fixierte, „passt auf, dass ihr euch nicht gegenseitig wehtut.“ „Drei gegen Drei, ja?“ Zeph lächelte träge und machte Anstalten vom Spielfeld zu gehen. „Ist gut, muss dann ja nicht spielen, nie? Könnt ihr auch allein.“ Er kratzte sich demonstrativ zwischen den Beinen. Die Sporthosen waren zwar lang und schlabberig, aber trotzdem aus einem unangenehmen Stoff gemacht. Hätte er mal lieber welche für das Team besorgt. Na ja, waren eigentlich ganz gut. Sahen farblich aus wie die Trainingsanzüge, nur knapper. „No, no, selbstverständlich wirst du von Anfang an mit auf dem Platz stehen, Sfaticato!“ Zeph ließ den Kopf hängen. Wieder dieses strahlende Lächeln des Teamchefs, das ihn motivieren sollte. „Du als der Größte von uns wirst nämlich die Bälle blocken. Du musst einfach nur vorne am Netz stehen, den Rest machen Wendy und ich schon, si?“ Die Rothaarige nickte. War auch nicht anders zu erwarten, dass sie als die Schnellste die meisten Pässe spielen musste. „Und... Was ist mit mir?“, schaltete sich Neil schüchtern dazwischen. Er wusste ja, dass er als der Neue nicht die erste Wahl war, weil das Team ohne ihn eingespielt war, aber gerade weil Zeph doch eigentlich keine Lust hatte, dachte er, dass er spielen dürfte. Und überhaupt war das nicht das einzige, das ihn wurmte. Balotelli war Nummer 1, Wendy Nummer 2, Zeph die 3 und Angelo die 4 (auch wenn er nicht mitspielte, hatte er doch seinen schwarzen Trainingsanzug mit den orangenen Bündchen an, auf dem die bezeichnende Nummer stand), warum war er dann nur Nummer 6? Die Nasenflügel des Blonden zuckten. „Du, Piccolo“, er machte eine theatralische Pause und legte seine Hände auf die Schultern des Jüngeren, „bist unsere Geheimwaffe. Wenn alles schiefgeht, dann bist du derjenige, der als der Retter unserer Clubehre in die Annalen der Geschichte eingehen wird!“ Neil schluckte. War er wirklich so wichtig, oder machte Balotelli gerade einen Scherz? „Und was ich noch fragen wollte... Ich meine...“, druckste er herum, „gegen Gelb als meine Farbe habe ich ja nichts, aber warum bin ich nur Nummer 6? Im Club ist doch niemand, der die 5 ist, oder..?“ Wendy und Zeph legten praktisch gleichzeitig den Finger an die Lippen und rissen warnend die Augen auf, doch es war zu spät. Neil hatte eine Frage gestellt, die er nicht hätte stellen dürfen. Eine verbotene Frage. Mit sofortiger Wirkung verwandelte sich die strahlende Aura des Teamchefs in tiefste Finsternis. Er ließ den Kopf hängen und seine Augen, die sich unter dem nach vorne fallenden Pony verbargen, wurden glasig. „Hab ich... was Falsches gesagt?“ Der plötzliche Stimmungswandel des sonst so fröhlichen Blonden irritierte Neil. Wendy winkte ab und bugsierte ihn zum Spielfeldrand. „Es ist wirklich keine große Sache, nur erwähne niemals den Namen „Hayate“, niemals!“ – „Hayate? Wer ist das?“ Sein Kopf begann zu schwirren. „HAYATE!“, jammerte Balotelli laut und sank zu Boden. Er hatte es gehört. „Was ist denn hier schon wieder los, hab ich was verpasst?“ Costas war zurückgekehrt und hielt sich einen Eisbeutel an das geschwollene rechte Auge. Als hätte dies einen Schalter umgelegt, richtete sich der blonde Italiener wieder auf und verwandelte sich zurück in den stets gut gelaunten Strahlemann. „Migliore! Alles in bester Ordnung, si! Wir können anfangen!“ Der Grieche nickte zustimmend und nahm seine Position direkt neben dem Netz ein. Miss Biggins tat es ihm gleich – nur auf der anderen Seite des Spielfeldrands. „Bevor es losgeht, möchte ich aber noch eines loswerden...“ Costas stellte sich aufrecht hin und straffte die Schultern. „Wenn die Kite Knights heute verlieren, dann lasse ich Sie fortan in Ruhe, Frau Lehrerin.“ In seinen schwarzbraunen Augen lag ein fast schon wehmütiger Ausdruck, doch dann zwinkerte er ihr mit dem noch heilen linken Auge zu, was ziemlich grotesk aussah. „Wenn mein Team heute aber gewinnt, dann gehen Sie mal mit mir aus, ja?“ – „Als ob!“ Die vollbusige Miss Biggins blies wütend so laut in die Trillerpfeife, dass sich alles die Ohren zuhalten musste. „Mädels? Seid ihr bereit?“ Der Tennisclub bejahte. „Dann fangt jetzt an!“ Doch während sich beide Teams in ihre Startpositionen begaben, dachte Costas nur an eine Sache: Ob die wohl auch mal meine Pfeife blasen würde? Kapitel 26: Spiel, Satz und ... Blut?! -------------------------------------- Kaum war der Anpfiff verklungen, meldete sich auch schon die blonde Anführerin des Tennisclubs zu Wort und rümpfte angesichts der schlabberigen, aber absolut korrekten Beachvolleyball-Bekleidung der Jungen die Nase. „Ich will heute mal nett sein.“ Sie drehte den Ball mehrmals in den Händen. „Ihr seid bestimmt ganz passabel trainiert, auch wenn ihr euch gegenseitig mit Lenkdrachen schlagt. Aber mit Bällen umgehen könnt ihr sicher nicht so gut...“ Costas grinste. Als ob! Was den Umgang mit Bällen angeht ist unser Balotelli ein Experte. Na ja, vielleicht nicht mit solchen Bällen... „Deshalb will ich mal nicht so sein und euch den ersten Aufschlag gewähren, okay?“, kokettierte sie. Wendy kam die Galle hoch. Und da wunderte sich noch jemand, dass sie keine Freundinnen hatte? Als ob sie freiwillig diesen Aufschlag... „Si! Mille Grazie!“ Charmant lächelnd nahm Balotelli den Volleyball an und warf ihn Wendy zu. „Dieses freundliche Angebot können wir doch nicht ablehnen, oder?“ Er schob sein lachsfarbenes Stirnband zurück. „Darf ich bitten?“ Die Rothaarige gab nur ein Brummen von sich und positionierte sich hinter der Linie. Na wartet... Der Ball wurde geworfen, rotierte ein paar Mal in der Luft, fiel leicht nach unten und wurde geschlagen. Mit voller Wucht. So schnell, dass er kaum zu sehen war. Auf der anderen Seite des Spielfeldes fegte es die blonde Xanthippa von den Füßen. Volltreffer. Mitten ins Gesicht. „Autsch! Das war total unfair!“ Entrüstet rappelte sie sich wieder auf. Wendy lächelte süffisant und ließ sich den Ball zurückwerfen. „Oh, entschuldige bitte, aber ich kann nicht mit Bällen umgehen.“ Frau Biggins blies in die Pfeife. „1:0 für die Kite Knights.“ Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Miss O'Callaghan, ich beobachte dich... Noch so eine Aktion und du kannst gerne zuschauen!“ – „Ja genau, hör auf deine Lehrerin!“, pflichtete Costas ihr bei. Was für ein Schleimer... Zweiter Aufschlag. Diesmal schlug der Ball direkt auf dem Boden auf. „2:0 für die Kite Knights.“ Xanthippa schürzte die Lippen. „Nochmal passiert das nicht! Diesmal stehen wir besser!“ Sie nickte ihren Teamkolleginnen zu. Und diesmal klappte es sogar. Sie fischte den Ball gerade noch heraus und passte ihn weiter. Zwei Ballkontakte und zurück. Doch diesmal war Zeph dran und blockte die Kugel souverän und unhaltbar zurück in das Spielfeld der Tennismädchen. Costas verlor sich gänzlich in der üppigen Hügellandschaft der Lehrerin und genoss es, dass diese durch den Spielverlauf so abgelenkt war, dass sie scheinbar nicht auf seine Blicke achtete. Warum war sein rechtes Auge nur so geschwollen? Da konnte man die Aussicht ja gar nicht in 3D genießen! Oh ja, solche hübschen Möpse wollte er gerne mal hupen... Der Schlusspfiff erklang und riss ihn aus seinen Gedanken. Verdattert sah er sich um. Es stand 21:5 und somit ging der erste Satz nach nicht einmal 15 Minuten an den Drachenclub. Oh Mann, er hatte es anscheinend echt nötig. Einfach mal so zehn Minuten verpennt. Und... Oh Mist, so wütend wie die Frau Lehrerin ihn ansah, hatte sie es bestimmt bemerkt. Er sollte wirklich einmal mehr an seiner Seriosität arbeiten, immerhin lachten ihn die anderen Kollegen schon allein deswegen aus, weil er sich freiwillig dazu gemeldet hatte den Drachenclub zu unterstützen. Dabei hatten die doch keine Ahnung, dass Drachensteigen ein wirklich anspruchsvoller und gefährlicher Sport war und er immerhin mal fast Weltmeister geworden wäre. Was für Stümper... Zeph gähnte langgezogen und ließ sich in den Sand fallen. Es war zwar angenehm warm für einen Frühlingsnachmittag, doch der Sand war dennoch kalt und leicht feucht. Dies störte ihn aber nicht sonderlich, denn er hatte bisher – seiner Meinung nach – hart gearbeitet und sich eindeutig eine Pause verdient. Wendy trat ihm leicht mit ihren nackten Füßen in die Seite. „Los, steh schon auf, wir haben noch einen Satz zu gewinnen.“ Ihre Unterarme waren ganz rot von den vielen Aufschlägen und Pässen, die sie gespielt hatte. Auch wenn sie ihre Hände wie immer unter den schwarzen Handschuhen verbarg, wusste doch jeder, dass sie wegen den Narben, die sie seit der ersten missglückten Beschwörung ihres Drachengeistes hatte, Schmerzen haben musste. Und dennoch biss sie die Zähne zusammen und gab ihr bestes für einen Club, den sie am Anfang noch gehasst hatte. Genervt rollte sich Zeph zur Seite, richtete sich auf und schüttelte sich den Sand aus den langen dunkelbraunen Haaren. „Ist wohl nix mit Pause, nie?“ Wendy verneinte. „Dann eben weiter. Schnell machen, hab nicht mehr viel Kraft.“ Zusammen mit den anderen legte er die Hände aufeinander. „Bellissima, Sfaticato, Piccolo, Angelo...“, warum auch immer Angelo der einzige war, der keinen italienischen Spitznamen hatte, „wir schaffen das! Und wenn wir diese Herausforderung hinter uns haben, dann können wir uns endlich auf einem richtigen Platz auf die Weltmeisterschaft vorbereiten, die wir selbstverständlich auch gewinnen werden, si!“ Alle nickten sich zu und hielten für einen kurzen Moment inne. Dann nahmen sie wieder ihre Positionen auf dem Spielfeld ein. Das Tennisteam war noch immer in seine Besprechung vertieft. Wendy hob eine Augenbraue. „Hey, Schiedsrichterin, darf ein Time-Out eigentlich so lang sein?“ Frau Biggins zuckte erschrocken zusammen. „Also, nein, also, ich...“, druckste sie herum, doch Costas fiel ihr unterstützend ins Wort. „Natürlich! Natürlich darf die Besprechung solange dauern, wie das Tennisteam es möchte. Hört auf eure Lehrerin, die hat Recht!“ Sein Balzverhalten war fast nicht mehr zu ertragen. „Keine Sorge, wir sind dann soweit!“, beendete Xanthippa die Gruppenrunde. „Wir wechseln dann einmal. Uta bleibt jetzt draußen und wird durch Kallista ersetzt.“ Uta, die schüchterne Braunhaarige mit den Zöpfen, nickte stumm und setzte sich auf die Wiese. Verstohlen blickte sie zu Balotelli, der schon wieder voll in das Spiel versunken war und dann wieder zurück zu ihren Tennisfreunden, die nun das Aufschlagrecht hatten. Anstatt ihr war nun Kallista am Ball, die für ihre unhaltbaren Schüsse bekannt war. Sie hatte nicht nur kurzes schwarzes Haar und einen stechenden Blick, sondern war auch noch die sehnigste des Clubs, da sie neben Tennis auch noch Leichtathletik betrieb. Der Anpfiff erfolgte. Sofort schnellte die Kugel eines Meteoriten gleich so knapp über das Netz, dass deren Bahn leicht abgelenkt wurde und sie somit unhaltbar auf der Spielfeldhälfte der Kite Knights landete. Auch der zweite, dritte und vierte Ball schlug ein wie eine Bombe. Zeph versuchte die Schüsse zwar noch abzublocken, doch anstatt zu kontern, lenkte er sie auch nur ab und zwang Wendy und Balotell ein ums andere Mal dazu mit einem Hechtsprung in den Sand zu fallen. Und wann immer einmal der zweite Ballkontakt geglückt war, fehlte es an Präzision beim dritten und finalen Schlag. Missmut machte sich in den Gesichtern des Drachenclubs breit und sie verlangten eine Auszeit, doch selbst Angelo konnte keine zufriedenstellende Strategie übermitteln. Schließlich stand es 19 zu 7. Balotelli war inzwischen so seriös, dass er eigentlich ein zweites Stirnband gebraucht hätte, um noch etwas zurückschieben zu können. „Wenn die jetzt noch zwei Punkte machen, dann müssen wir noch einen Satz spielen...“ Wendys ganzer Körper war angespannt. „Aber Zeph macht nicht mehr solange...“ Balotelli nickte. „Si. Jetzt oder nie. Ich will nicht, dass Piccolo am Ende die ganze Verantwortung tragen muss, wenn wir versagen.“ Beide hoben die Hände und schlugen ein. Jetzt zählte es. Jetzt hing alles von ihrem Teamwork ab. Kallista, die immer ein Gesicht zog, als hätte sie mindestens drei Zitronen gefrühstückt, zeigte den Anflug eines Lächelns. „Das war es dann gleich für euch, ihr Drachenspacken!“ Drachen ...spacken?! Der Ball wurde geworfen. Wendy knirschte mit den Zähnen. Was seid ihr dann wohl? Tennisnutten?! Scheinbar endlos rotierte die Kugel in der Luft. Das innere Feuer begann zu lodern. Langsam fiel der Ball wieder zu Boden. Das Inferno war dabei auszubrechen. Kallistas rechter Arm holte weit aus. Wendys Blick schärfte sich. Kallista schlug zu. Mit der Kraft einer Granate donnerte der Ball über das Netz und scharf angeschnitten zu Boden. Doch Wendy wusste, was sie tun musste. Sie wusste, wie sie laufen musste, dass sie nun nur noch springen und die Arme ausbreiten musste, um die Kugel zu erwischen. Diesmal würde sie es schaffen und anschließend einen Punkt erzielen. BONK! Ihr wurde für einen Moment schwarz vor Augen, als ein dumpfer Schmerz durch ihren Kopf fuhr, doch war es nichts, das weiter tragisch war. Balotelli hingegen schrie vor Schmerz. „Aua aua! Mamma Mia, diese Schmerzen, ah!“ Er wand sich zu einer Kugel zusammengerollt im Sand hin und her und hielt sich die blutende Schläfe. „Ich glaube, ich muss sterben! Es tut so unglaublich weh!“ ...meinte er das jetzt wirklich so, oder kamen da gerade seine italienischen Gene heraus? Costas entledigte sich seiner Schuhe und hetzte über die Sandfläche. Was war denn das gerade nur für ein Scheiß? Eben sah es noch so aus, als wäre der Knoten geplatzt und das Duell bald wieder gedreht, da rauschten der Blonde und das Mädchen auch noch mit den Köpfen zusammen, weil sie beide den Aufschlag halten wollten? „Zeig mal her...“ Er legte Balotellis Kopf auf seinen Schoß, nahm ihm das blutverschmierte Stirnband ab und begutachtete die Wunde. Noch jemand, der heute also von einer Frau eins übergebraten bekommen hatte. Die waren echt unberechenbar und gefährlich... Wendy setzte sich benommen hin. Konnte doch nicht wahr sein, dass sie nur eine kleine Beule und ein bisschen Katerstimmung bekommen würde, während der Chef womöglich genäht werden musste. Hatte der Glasknochen, oder was? Sogar die Lehrerin kam herüber und blickte besorgt, gefolgt von Uta, die einen Verbandskasten dabei hatte. „Das sieht nicht sehr gut aus. Du wirst wohl nicht mehr weiterspielen können.“ Aufgeregt suchte sie nach einer Kompresse und einer Mullbinde, während Uta die Wunde desinfizierte und sich dabei schon Gedanken machte, wie sich der Blonde wohl für ihren liebevollen Einsatz bedanken würde. Doch anstatt sich euphorisch an ihre Brust zu werfen, sah er sich nur verwirrt um und war so gar nicht in Flirtstimmung. „Wo ist Hayate? Hayate soll herkommen, sofort...“, brabbelte er weinerlich vor sich hin. Der Schlag war wohl doch etwas heftiger und hatte sein Gedächtnis temporär durcheinandergebracht. Denn Hayate war nicht da. Und würde es auch so schnell nicht wieder. Wenn überhaupt. Costas und Zeph halfen ihm auf die Beine und brachten ihn auf die Wiese. „Ich will nur Hayate haben... Warum ist er nicht da? Hayate...“ Die süße Zwei-Minuten-Romanze zwischen Uta und Balotelli zerbrach in tausend Stücke. Und Neil, der gerade wirklich nicht wusste, was er tun sollte, fragte sich nun noch mehr, wer denn eigentlich Hayate war. Ratlosigkeit. Das einzige, was er wusste, war, dass er nun wohl spielen musste. Dass nun alles davon abhing, dass er diese beängstigenden Schmetterbälle halten und verwerten konnte, denn die anderen beiden waren am Ende ihrer Kräfte. Er hatte Angst. Seine Hand glitt in die Hosentasche und berührte die Hasenpfote, die ihm bisher immer Glück gebracht hatte. Er musste es schaffen. Für alle. Wie auch beim letzten Mal, als er wieder aller Erwartungen seinem Kirit begegnet war. Als er das Spielfeld betrat, sah er aus den Augenwinkeln das lachsfarbene Stirnband. Ja, es sah nicht schön aus, so wie das frische Blut daran klebte. Und irgendwie auch ziemlich dumm, weibisch und rosa, das wusste er. Aber irgendwie... Irgendwie war es doch ein Glücksbringer, oder? Er nickte einmal kurz Wendy und Zeph zu, dann hob er das Stirnband hoch, setzte es sich auf und sagte voller Zuversicht: „Ich bin bereit. Wir werden es schaffen und dieses Spiel gewinnen, versprochen!“ Gleich beim nächsten Aufschlag sollte sich zeigen, dass er sein Versprechen wahrmachen würde. Oder vielleicht lag es ja doch an dem Stirnband, das ihm Glück brachte? Kallistas Glückssträhne war jedenfalls vorbei. Der Ball traf das Netz und fiel in der Spielfeldhälfte der Tennismädchen zu Boden. Der Aufschlag wechselte. Wendy konnte zwar nicht mehr sehr kraftvoll spielen, doch immerhin kam der Ball nach kurzem Zuspiel so zurück, dass Neil ihn problemlos retten konnte. Ein kurzer Pass zu Zeph, der baggerte ihn nach oben und schließlich pfefferte der Neue ihn so fest über das Netz, dass er eine tiefe Kuhle im Sand hinterließ. 19 zu 9. Dann 10. 11. 12. Immer weiter. Annehmen, weitergeben, wieder zurück. Neil ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und spielte die Partie herunter, bis es schließlich soweit war: es stand 20 zu 20. Langsam spürte auch er, wie sich alles in seinem Kopf drehte. Er war eben immer doch nur der unbeliebte Reservespieler im Sportunterricht gewesen und hatte nicht die Kondition, um langfristig auf höchster Stufe zu funktionieren. Doch eines wusste er: Lust noch einen dritten Satz zu spielen hatte keiner hier. Auch die in seinen Augen so hübschen Mädchen aus dem Tennisclub gingen schon auf dem Zahnfleisch, ganz zu schweigen von Zeph, der so kaputt war, dass sein Kopf fast schon im Netz hing. Und auch Costas, der von allen die am wenigsten anstrengende Arbeit hatte, sah inzwischen aus wie ein einäugiger Haudegen, so dick war sein Auge inzwischen angeschwollen. Wollte er es wirklich riskieren, dass sich noch jemand verletzte, wenn sie länger spielten? Eigentlich nicht. Er holte tief Luft und drehte den Ball in den Händen. „Ich denke, dass es im Interesse aller ist, wenn ich Eines laut sage: ich habe keine Lust mehr.“ Träge richteten sich alle Blicke auf ihn. „Ihr habt doch bestimmt gemerkt, dass wir alle nicht so unsportlich und schlecht sind, wie ihr gedacht habt, oder?“ Die Mädchen sahen einander an und zuckten mit den Schultern. „Meinetwegen könnt ihr diesen Satz gewinnen. Aber ich sage euch was: das wäre doch ein ziemlich zermürbender Sieg, wenn wir danach noch einen Satz spielen müssen und eine Mannschaft nur gewinnt, bloß weil sie länger stehen kann, nicht?“ Balotelli torkelte an den Rand des Spielfeldes entlang und hörte interessiert den Worten seines neuen Schützlings zu. Da hatte er sich wirklich einen interessanten Typen ins Team geholt, si! „Mir jedenfalls hat das heute hier sehr viel Spaß gemacht und ich möchte nicht, dass es am Ende ein trauriger Tag wird, weil wir entweder verlieren, oder aber zu müde sind, um zu feiern.“ Zephs Kopf berührte erneut das Netz. Augenblicklich schreckte er aus seinem Sekundenschlaf hoch. „Ich bin noch neu hier und kann das vielleicht nicht so einschätzen, aber ich denke, dass diese Mannschaft hier es schaffen kann, bei der Kite-Weltmeisterschaft der Schule keine Schande zu machen. Also bitte...“, langsam wurde er etwas sentimental und musste sich die Tränen verkneifen, „lasst uns unseren Platz wie geplant bauen, damit wir euch zeigen können, dass Drachensteigen ein wirklich cooler Sport ist!“ Keine Reaktion. Nur leises Schnarchen von der anderen Spielfeldseite. Neil lachte nervös. „Die sind... eingeschlafen?!“ Oh Mann. Da rackerte er sich hier ab, um eine friedliche Lösung zu finden, bei der er am Ende nicht derjenige sein würde, der alles kaputtmachte und dann hörte ihm keiner zu? Das nächste Mal redete er am besten wieder nur mit den Tieren auf Omas und Opas Bauernhof! „Nett gebrüllt, Neuer!“ Wendy klopfte ihm auf die Schulter und grinste ihn an. „Können wir es jetzt beenden?“ Bevor Neil noch irgendetwas sagen konnte, hatte sie ihm auch schon den Ball aus den Händen gerissen und war hinter die Linie geflitzt. Blitzschnell warf sie die Kugel nach oben, sprang in die Luft und gab all ihre noch verbleibende Kraft in den finalen Schlag. KA-BUMM! Einer Kanonenkugel gleich schlug der Ball zwischen den Tennismädchen ein. Sand stob in alle Richtungen davon und als die Lehrerin das Spiel mit dem finalen Stand von 21 zu 20 und zwei gewonnenen Sätzen für die Kite Knights abpfiff, hatte sich ein tiefer Krater gebildet, aus dem Rauch aufstieg. Neil wischte sich verwundert über die Augen. „...und ich dachte, du wärst die schwächste von allen, weil du ein Mädchen bist!“ Wendy lachte und nahm ihn von hinten in die Greifzange. „Meredith O'Neil... Du musst wirklich noch viel lernen!“ Der Dunkelblonde rang nach Luft und wedelte mit den Armen. „Aber weißt du was?“, sie ließ los und wandte sich ab, damit er nicht sehen konnte wie peinlich es ihr war, was sie nun sagen würde. „Ich denke, ich möchte dir gerne dabei helfen!“ Kapitel 27: Familienbande ------------------------- Es war Abend geworden und die Welt lag in fahlem Dämmerlicht. Es trommelten zwar dicke Regentropfen gegen die großen Fensterscheiben der Pizzeria Balotelli, doch nichts konnte die Stimmung im Inneren trüben. Vergessen waren die Strapazen des heutigen Duells. Vergessen die Schmerzen und Verletzungen, denn es zählte nur eines: der Drachenclub hatte gewonnen. Gewonnen gegen eine wirklich gut trainierte Tennismannschaft. Gewonnen, obwohl Zeph kaum noch stehen konnte, obwohl es Wendys Arme zu zerreißen drohte und obwohl Teamchef Balotelli mitten im zweiten Satz mit einer Platzwunde vom Spielfeld musste. Gewonnen dank eines einzigen Jungen, der bis zuletzt auf seine Weise beharrlich das Spiel kontrolliert hatte – und der gerade erst damit anfing richtig aus sich hinauszugehen. „Hier.“ Die Rothaarige servierte die Getränke und blickte gewohnt mürrisch in die Runde. Vorbei war das kampfeslustige Grinsen und der offene Blutdurst, den sie während des Kampfes gezeigt hatte, denn das wilde, ungezähmte Feuer brannte nur noch auf Sparflamme. Sie hatte zwar keinen Verband, doch die Beule, die sie durch die Kopfnuss mit Balotelli davongetragen hatte, zeichnete sich deutlich unter ihrem schräg geschnittenen Pony ab. Zeph bückte sich unter den Tisch und zog eine kleine Flasche mit glasklarer Flüssgkeit hervor. „Haben gut gekämpft heute, nie? Ist Zeit für ein bisschen feiern.“ Er drehte den Verschluss auf. Der Geruch der Flüssigkeit war so stechend, dass sich unsichtbare Totenköpfe über dem Flaschenhals drehten. Wendy rümpfte die Nase und hob kritisch eine Augenbraue. „Sag bloß, das ist dein so genanntes Weihwasser?“ Ihre Mundwinkel zuckten. Zeph nickte. „Ist sehr gut! Hab ich selbst aus gefundenem Fallobst gebrannt.“ – „Schnaps?“ Neil hob abwehrend die Hände. „Ist das nicht ein bisschen heftig? Immerhin haben wir gerade ausgiebig Sport gemacht!“ ...und außerdem bin ich noch viel zu jung dafür! Wenn meine Eltern das mitbekommen, dann kann ich gleich wieder aus dem Club austreten! Angelo stimmte ihm zu. „Nach Geruch und Farbe zu schließen müsste der Alkoholgehalt dieser Spirituose mindestens 40 Volumenprozent betragen.“ Der Braunhaarige lachte. „Richtig. Ist so gut, muss man nicht mehr Zähne putzen, tötet alles ab!“ Neil erbleichte, doch Wendy schmunzelte nur. „Ich hole gleich ein paar Gläser!“ Der Neue schüttelte vehement den Kopf und blickte hilfesuchend zu Angelo herüber, doch dieser hatte sich schon wieder in sein Computerprogramm vertieft. „Keine Sorge. Wenn es zu stark ist, dann stirbst du und wachst einen Moment später wieder von den Toten auf...“ Ihr Lächeln wurde immer unheimlicher. „Sieh es einfach als eine Art Feuertaufe an. Wenn du das überlebst, dann überlebst du auch Balotellis Clubleitung.“ Zeph verschränkte die Arme und nickte zustimmend, während Neil immer weiter unter den Tisch rutschte. War der blonde Italiener so schlimm, dass ein selbst gebranntes Obstwasser dagegen harmlos war? Sein Blick, der inzwischen auf Tischkantenhöhe war, schweifte über die Theke in die Küche hinein, wo der Teamchef gerade dabei war den Teig für die Pizzas zu kneten. Die Wunde musste zwar nicht genäht werden, doch trug Balotelli noch immer den dicken Verband als eine Art Ersatzstirnband um den Kopf gewickelt. Er hatte Glück gehabt und trotz des kurzzeitigen Gedächtnisverlustes keine Gehirnerschütterung erlitten. So hatte er nun zwar einen heftigen Brummschädel, den er durch Schmerzmittel zu beruhigen versuchte, war ansonsten aber so fit wie immer und nicht davon abzubringen gewesen, für alle heute die Pizzeria zu schließen und ihnen zur Feier des Tages ein Essen auszugeben. Wendy war zurück in die Küche gegangen und erkundigte sich nach dem Rechten. Balotelli nickte und deutete auf ein paar Schüsseln mit Zutaten. Neil atmete tief durch. Gerade nochmal Glück gehabt. Wenn seine Klassenkameradin jetzt mit Essen machen beschäftigt war, dann würde die so genannte „Feuertaufe“ zumindest noch warten, bis er etwas im Magen hatte. Gott sei Dank! Er hatte sich schon ausgemalt, wie er mitten in der Nacht durch eine ihm noch unbekannte Stadt irrte, bloß weil ihm der heilige Himbeergeist – oder so ähnlich – erschienen war und ihn verfolgte, bis er irgendwo im hintersten Eck der Stadt auf irgendwelche gruseligen Typen traf, die ihn finster angrinsten, bevor sie ihn ausweideten und seine Organe an zwielichtige Ärzte verkauften. Wie bestellt blitzte es plötzlich hell, gefolgt von einem lauten Donnerschlag. Oh weh! Das waren bestimmt schon die Vorboten der Hölle! Zeph klopfte ihm mit seiner dürren großen Hand auf die Schulter. „Bist etwas schreckhaft, nie?“ Seine trägen braunen Augen hatten etwas Beruhigendes an sich. Fast wie die Augen einer Kuh, die zufrieden auf der Weide stand und graste. Neil nickte verhalten. „Ich bin soviel Aufregung einfach nicht gewohnt. Da wo ich herkomme ist es schon Gesprächsthema, wenn bei einem Sturm mal ein Blumenkübel umgeweht wird.“ Er richtete sich langsam wieder auf und lehnte sich zurück. „Aber hier... Hier ist irgendwie alles ganz verrückt!“ Wieder sah er in Richtung Küche. Balotelli feixte und warf den Pizzateig in die Höhe, während Wendy nicht aufhören konnte zu lachen. „Ich hab bis vor einer Woche nicht mal gewusst, dass Drachensteigen überhaupt eine Sportart ist und jetzt sitze ich hier mit euch am Tisch und habe so viele Fragen!“ Er beugte sich nach vorne und umklammerte die Tischkante mit seinen Händen, während er Zeph mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. „Und zwar... Warum machst du überhaupt beim Drachenclub mit? Du sagst immer, dass du keine Lust hast und dir alles zu anstrengend ist, aber trotzdem lässt du Balotelli mit dir machen, was er will!“ Der plötzliche Redeschwall Neils ließ einen Hauch von Erstaunen in Zephs Augen aufflackern. Lässig verschränkte er die Arme und lächelte leicht. „Ist ganz einfach, eigentlich. Chef nervt und ist anstrengend, aber lässt uns immer machen, was wir wollen.“ Er deutete auf Angelo, der zu seiner Linken sitzend immer noch am Tippen war und nur ab und an einmal über die halbmondförmigen Gläser seiner Lesebrille zu ihnen hinüberblickte. „Ich mag den Club. Ist mit den Anderen wie eine Familie. Nicht so wie daheim...“ Seine Augen wanderten zum Fenster, an dem die Regentropfen sich zu kleinen Rinnsalen vereinten und hinabflossen. „Ist besser. Hier sind alle immer da und wenn ich komme, dann sehen sie mich und ich sehe sie. Daheim gibt es immer nur die Arbeit. Eltern kommen nach Hause, Eltern sind erschöpft. Trinken etwas Wodka und denken alles ist gut so.“ Neils Klammergriff an der Tischkante löste sich betroffen. Unglaublich, dass der große Dürre soviel erzählen konnte! „Sie fragen nie, wo neue Klamotten her sind, wie die Schule war und warum ich manchmal Verletzungen habe. Ist ihnen egal. Club ist besser. Auch wenn Chef nervt, Wendy schimpft und alle immer nur 'Training' sagen und ich danach blaue Flecken habe, ist das doch mehr wie Zuhause.“ – „In dieser Aussage stimme ich dir zu.“ Zum ersten Mal hatte Angelo aufgehört zu schreiben und sah beide offen an. „Es ist unsere Maxime, dass jeder das tut, was er möchte. Der Drachenclub ist unser persönliches Sanktuarium. Die Grundregel lautet Akzeptanz. Deswegen frage ich dich – mit Verlaub – was kannst du, Neil, dazu beitragen und was wünschst du dazu beizutragen?“ Er schob den Laptop zur Seite und nahm einen großen Schluck aus seiner Teetasse, immer den Neuen im Blick, der gerade ziemlich perplex war, weil er so plötzlich von dem ein Jahr jüngeren, aber eine Klassenstufe über ihm stehenden Angelo angesprochen wurde. Was er konnte und was er wollte... Seiner Ansicht nach konnte er gar nichts und wollte alles. Immer war er unscheinbar und durchschnittlich gewesen und hatte nicht wirklich herausragende Talente. Außer vielleicht... „I...ich denke, ich kann ganz gut malen... Ja... Und eigentlich... Eigentlich will ich alles wissen!“ Er sah zur Seite, um Angelos bohrendem Blick auszuweichen. „Gerade von dir, A...angelo. Die anderen sind alle so stark und trainiert und lassen Drachen steigen, aber was machst du? Da...das möchte ich gerne wissen... Mit Verlaub.“ Als der blonde Teamchef wenig später mit strahlendem Lächeln und Wendy gewohnt unbeeindruckt die ersten Pizzas servierten, erklärte Angelo anhand von digitalen Blaupausen und den aufgeklappten Drachen der drei Piloten der Kite Knights den Zusammenhang zwischen Grundgerüst und fertigem Modell. Neil kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus und fand das Essen fast schon unwichtig, soviel gab es zu entdecken und zu verstehen. Icarus, Aquila und Sting passten wie die Faust aufs Auge zu ihren Besitzern. Und jetzt verstand er auch, warum Balotelli, Zeph und Wendy immer diese länglichen Taschen dabei hatten, trugen sie ihre Drachen doch stets bei sich, um jederzeit bereit für ein Duell zu sein. Zeph, der inzwischen vom Weingeist benebelt auf der Sitzbank eingenickt war, schreckte grunzend aus dem Halbschlaf hoch und machte sich zugleich über seine Pizza her, als es an der Tür klopfte. Es war inzwischen pechschwarze Nacht geworden und regnete noch immer in Strömen. Balotelli legte den Kopf schief und ging zum Eingang. „Wer kommt denn um diese Uhrzeit noch vorbei, obwohl wir geschlossen haben?“ Durch die Dunkelheit und die von innen beschlagenen Scheiben war kaum etwas zu erkennen, doch als er den Schlüssel umdrehte und die Tür öffnete, blitzte und donnerte es gleichzeitig. „Vald?“ Vald Hernandez, 17 Jahre, Chilene und der wohl einzige Typ, an dem pinke Haare noch besser aussahen als lachsfarbene Stirnbänder bei ebenfalls 17-jährigen Italienern, stand völlig durchweicht an der Tür. Sichtlich unerfreut. In der Küche fiel eine Schüssel klirrend zu Boden. „Ah, Bellissimo!“ Balotelli holte sein strahlendstes Lächeln aus sich heraus. „Was machst du denn hier? Und überhaupt, wie siehst du denn aus, bist ja ganz nass!“ Vald presste die Zähne zusammen. „Warum ist hier zu? Es ist Dienstag, schon vergessen?“ Wirklich nicht erfreut. Die Art, wie er vor der Tür stand, hatte fast schon etwas von einem trotzigen Kind. „Ich hab angerufen, aber du gehst ja nicht mal an dein Scheiß Handy ran, Balotelli!“ Ein trotziges Kind, das man vergessen hatte. Er verschränkte die Arme. Der Blonde lachte nervös. „Ah, ah! Scusi! War etwas viel los heute und wir haben spontan Ruhetag gemacht.“ – „Ruhetag?“ Valds Fäuste zuckten. „Ich dachte wir hatten ne Vereinbarung. Dienstags und Samstags Pizza liefern. Ungefragt. Immer. Und bei Sonderwünschen tu ich kurz anrufen.“ Mamma Mia! Da hatte jemand anscheinend großen Hunger! „Scusi! Heute ist soviel passiert, dass ich das direkt vergessen habe!“ Der Todesblick folgte. Balotellis Herz rutschte vor Angst in die Hose. „Das macht aber überhaupt nichts, si!“, versuchte er die Situation noch zu retten. Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn. „Komm doch einfach rein und ich mache dir schnell was!“ Dem musste ja echt eine Laus über die Leber gelaufen sein, so wie er heute wieder drauf war. Dass er manchmal seinen aggressiven Tag hatte, war Balotelli ja bekannt, aber heute war es mal wieder besonders schlimm. Vald zog die durchweichte Jacke aus und warf sie über einen Stuhl am Tresen. „Cerveza, por favor!1 Und die Frage, wer wie aussieht, kann ich nur zurückgeben.“ Er hob kritisch eine Augenbraue, setzte sich auf den Stuhl daneben und deutete auf Balotellis Verband. „Bist du gegen 'ne Wand gelaufen, oder was?“ Der Italiener war hinter den Tresen getreten und zapfte ein frisches Bier für seinen ungebetenen Gast und doch liebsten Stammkunden. Ah, da war er wieder, der würzige Duft nach Sportshampoo, durch den Regen noch deutlicher wahrzunehmen als sonst. Lächelnd stellte er Vald das goldgelbe Getränk hin. „Nicht ganz, Bellissimo, deine Fr...“ Ein heftiger Tritt gegen sein Schienbein ließ ihn zurücktaumeln. „Ahi!“ - „¡¿Cómo?!“ Valds Augen verengten sich zu Schlitzen. Echt seltsam, wie sich Balotelli heute verhielt. Musste wohl doch eine ernstere Verletzung sein. Aber eigentlich verhielt er sich sowieso immer wie nach einem Schlag auf den Kopf. Mit leichten Tränen in den Augen rieb der Blonde sich das Schienbein. Er wusste ganz genau, was gerade passiert war. Nur nichts anmerken lassen. Beiläufig linste er unter den Tresen und bekam von Wendy folgende stumme Mitteilung: den Finger auf den Lippen, einen drohenden Blick und die Halsabschneider-Geste. „Verrate bloß nicht, dass ich hier bin, sonst bist du sowas von tot, du Experte!“ Eigentlich war es der perfekte Moment, Wendy dazu zu zwingen endlich einmal ein klärendes Gespräch zu führen, aber andererseits hatte er keine Lust sich das Lokal seiner Eltern in Schutt und Asche legen zu lassen und danach noch mehr Verletzungen als ohnehin heute schon davonzutragen. Argwöhnisch nippte Vald an seinem Bier. Irgendwas hatte der doch... „Alles in Ordnung, si si!“ Balotelli wedelte aufgeregt mit den Händen. „Soll ich dir das übliche machen, Bellissimo?“ Der Chilene brummte entnervt. „Zwei Jumbopizzas. Eine zum hier essen, eine zum Mitnehmen. Belag wie immer.“ Augenblicklich flitzte Balotelli in die Küche und suchte die Zutaten zusammen. „Mamma mia! Zwei Jumbopizzas! Hast du etwa Besuch?“ Wenn er schon nicht den großen Streitschlichter spielen durfte, dann wollte er Vald wenigstens ein bisschen ausquetschen. „Nee“, antworte dieser knapp, „alles für mich allein. Ich brauch einfach 'n bisschen mehr im Moment“. Er drehte sich um und stützte die Ellenbogen auf dem Tresen ab, um sich zurückzulehnen. Angelo hatte sich nicht einmal durch den spontanen Besucher aus der Ruhe bringen lassen und erklärte dem immer noch wissbegierigen Neil, der kaum gleichzeitig essen, nicken und zustimmen konnte, die Funktionsweise von Wendys pinkem Skorpiondrachen. „Eigentlich ist es ganz einfach. Das Grundgerüst ist, wie du sehen kannst, wenn du den Drachen mal umdrehst, an einen Delta-Drachen angelehnt. Das Material ist extra etwas robuster, damit es höhere Temperaturen aushält. Fühle doch mal.“ Neil stopfte den letzten Rest Pizza in den Mund und wischte sich die fettigen Hände an einer Serviette sauber, bevor er das pink-schwarz gestreifte Gewebe berührte. „Mh-hm!“, murmelte er prüfend. Fühlte sich ganz anders an als der Stoff, mit dem Icarus bezogen war. Ein pink-schwarzer Skorpion. Und die Haltegriffe mit den Nieten sahen auch ziemlich biestig aus. „...und der beste Teil kommt erst noch!“ Angelo rückte die Brille zurecht. Dass nun endlich einmal jemand ernsthaftes Interesse für sein Schaffen zeigte, machte ihn ungeahnt redselig. „Wenn du hier und hier das Gewinde lockerst und daran ziehst...“, mit geübter Hand griff er die beiden Krebsscheren und zog sie nach außen, „kannst du den Luftwiderstand vergrößern, was die Steuerbarkeit bei Starkwind erhöht.“ Vald wandte sich wieder um und sah Balotelli beim Belegen des Teigs zu. Es konnte sein, dass der Drachen... „Ist das hier so ne Art Drachenclubtreffen?“ Nee, besser er fragte gar nicht, weil eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen. Käse wurde auf die Pizza gestreut. „Ma si, so etwas kennst du, Bellissimo?“, antwortete der Blonde überrascht. Natürlich wusste er Bescheid, sich etwas dumm zu stellen würde aber mit Sicherheit die eine oder andere Information aus dem gebräunten Chilenen locken, die Wendy, die noch immer unter dem Tresen hockte und echt sauer war, dass er Vald nicht einfach rausschmeißen konnte, bestimmt auch gerne haben wollte. „Ich hab gerade ziemlich Stress mit meinem Club. Seit mein Kumpel so ein blödes Buch mit 'ner Anleitung zum Kontrollieren von Kirits gefunden hat, trainieren wir jeden Tag wie blöd.“ Wie schön! Ethan war also auf den Geschmack gekommen und versuchte nach seinem letzten Duell gegen ihn Bat noch stärker zu machen? Vald stützte den Kopf auf die Hände und ließ seinen Blick ins Leere gleiten. „Seit zwei Monaten dreht der total am Rad und weil alle anderen feige abgehauen sind, bin ich der einzige, der sich noch mit ihm duelliert. Ziemlich uncool, oder?“ – „Und du verlierst immer?“ Balotelli klopfte sich das Mehl von den Fingern und schob die beiden Pizzas in den Ofen. Vald verneinte. „Nee, wir machen uns mit unseren Kirits immer gegenseitig die Drachen kaputt. Nur meiner, Jaws, ist echt übel, mich haut es danach jedes Mal vor Hunger von den Socken.“ Der Blonde lachte amüsiert. „Was?“ Vald war schon wieder genervt. „Ma si, das passt wirklich zu dir! Viel essen zu müssen ist echt gut für mein Geschäft!“ – „Und dann machst du einfach den Laden dicht, Frechheit...“ Er knallte ihm das leere Bierglas vor die Nase. „Noch eins!“ Balotelli nickte und zapfte ihm ein weiteres Bier. „Und wie sieht er so aus, dein Jaws? Mein Icarus ist genau wie ich, ein strahlender Held, nur geflügelt und mit Pfeil und Bogen! Ein richtig toller Typ!“ – „'n Haifisch. Mit Blitzen.“ Wow. So kurz konnte man das natürlich auch sagen. Schweigen. Balotelli bereitete einen Nachtisch vor. Schließlich waren die Pizzas fertig und Vald konnte endlich etwas gegen seine schlechte Stimmung tun. Ein Stück nach dem anderen wurde fast schon inhaliert, bevor der Italiener überhaupt die zweite Pizza in einen großen Karton umschichten konnte. „Na du haust ja heute ganz schön rein, Bellissimo!“ – „Bin ja auch fast gestorben, weil einer hier einfach den Laden dichtgemacht hatte.“ Langsam wich die schlechte Laune einem Grinsen. Pizza war eben doch ein Allheilmittel. „Scusi, Vald! Wird nicht wieder vorkommen!“ – „Das glaubst du doch selber nicht!“ Er vertilgte das letzte Stück Pizza und leerte darauf sein Bier in einem großen Zug. „Ich verspreche dir: sollte das noch einmal passieren, darf sich Jaws gerne einmal mit Icarus messen!“ Er deutete auf den blauen Lenkdrachen mit den aufgezeichneten Glitzerflügeln. Vald verzog das Gesicht. „Soll das dann so 'ne Art Belohnung sein?“ Balotelli lehnte sich nach vorne, sah ihm tief in die Augen und seufzte theatralisch. „Zwei Jungs ganz alleine, das ist doch auf die Dauer gang schön langweilig, oder?“ Er zwinkerte und fuhr sich kokettierend durch das Haar. „Wenn du mal Abwechslung brauchst, dann kommst du einfach zu mir. Ich weiß schon, wie ich dir was Gutes tun kann...“ Vald wich angewidert zurück. „Alter, schwul mich nicht so an!“ Doch der Blonde kam noch näher. Valds Faust begann zu zucken, aber bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, hatte er auch schon den Pizzakarton in der Hand. „Ich weiß doch, du magst, was ich tue. Melde dich einfach wieder bei mir, wenn dein Körper es nötig hat...“ Das hörte sich falsch an. So richtig falsch. „Du... Du Glitzer-Homo! Sag doch gleich, dass ich abhauen soll, anstatt mir so auf die Pelle zu rücken!“ Er wandte sich zum Gehen, blickte ihn aber noch einmal skeptisch an. Erst quetschte er ihn so aus und dann wollte er ihn auf einmal loswerden. Vielleicht war ja doch... „Adios!“ War ihn doch eigentlich egal. Dann war er verschwunden. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, kroch der blonde Teamchef auch schon zu Wendy unter den Tresen. „Und? Wie war ich?“ Die Rothaarige starrte gereizt ins Leere. „Du bist echt ein Arsch, weißt du das?“ Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich heran, damit sie ihren Kopf auf seine Schulter betten konnte. „Bellissima, ich verstehe dich manchmal nicht. Vald ist doch ein netter Typ mit dem man auch dann noch reden kann, wenn er hungrig ist.“ Sie schnaubte abwertend. „Du hast doch echt keine Ahnung!“ Er lächelte ihr zu. „Und deswegen sitze ich jetzt ja auch hier, oder?“ Keine Antwort. „Als Anführer ist es meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass es allen gut geht. Also, willst du mir nicht endlich einmal sagen, was wirklich los ist?“ Sie wollte sich losreißen, doch er drückte sie noch fester an sich heran. „Du lässt echt nicht locker, oder?“ Balotelli verneinte. Wendy schloss die Augen. „Es ist eigentlich eine ziemlich dumme Geschichte. Vald und ich kennen uns schon viel zu lange. Sagen wir so... Er hatte 'ne schwere Kindheit. Und als er in unser Land kam, hatte er gar nichts.“ Sie zog die Beine an sich heran. „Wir wohnten nebeneinander und ich hab ihm ziemlich viel geholfen. Dabei sich zurechtzufinden und die ganze Sache mit seinem Vater...“ Sie schüttelte den Kopf. „Das geht dich eigentlich nichts an. Jedenfalls hingen wir eigentlich immer zusammen ab. Jeden Tag. Vor der Schule. Nach der Schule. In der Schule. Hatten dieselben Freunde, fingen beide an Drachen steigen zu lassen, bis...“ Balotelli konnte spüren, wie schwer es ihr tat darüber zu reden. „Das war letzten Sommer. Ich war wie immer bei meinen Großeltern und hatte mich schon so darauf gefreut zurückzukommen. Doch als ich zurück war...“ In ihr arbeitete es. Wut gemischt mit Trauer bahnte sich langsam den Weg an die Oberfläche. „Als ich zurück war, war dieser Mistkerl einfach umgezogen. Einfach so. Ohne mal vorher etwas zu sagen.“ Sie schlug mit der Faust auf den Boden. „War das alles?“ Balotelli konnte nicht glauben, dass sie sich so von einem eigentlich lösbaren Problem fertig machen ließ. Wendy schürzte die Lippen. „Das ist wirklich ein großes Problem für mich, okay?! Man zieht nicht einfach mal so um. Man plant das doch Monate im Voraus, aber es kam nichts! Er hat gar nichts gesagt! Dabei...“, ihre Stimme wurde mit einem Mal ganz leise, „dabei waren wir eigentlich fast schon wie eine Familie. Ich dachte immer, wenn man sich vertraut, dann würde man über alles reden können. Aber am Ende wusste ich gar nichts. Ich wurde so richtig gelinkt und verarscht!“ Was sollte man dazu nur sagen? Dass sie vielleicht einfach mal hätten reden sollen, bevor alles so verfahren war und sich keiner mehr traute, aufeinander zuzugehen? „Und dann sagt der auch noch, dass alle aus dem Club abgehauen sind! Unsinn! Auf Julius mag das vielleicht zutreffen, aber auf mich doch nicht! Ich wollte doch gar nicht weggehen, aber meine Eltern haben das einfach über meinen Kopf hinweg entschieden!“ – „Dann bereust du es also, dass du in meinem Drachenclub bist und nicht bei Ethan und Vald?“ Balotelli klang leicht enttäuscht, doch Wendy wurde wieder lauter. „Verdammt, nein! Du... Du nervst zwar manchmal ganz schön, aber du erkennst wenigstens, was ich drauf habe. Ich glaube...“, sie errötete, „ich bin bei dir viel besser dran!“ Das war zu viel für den Blonden. „Wendy, Bellissima!“ Er grinste strahlend und drückte sie so fest an sich, dass ihr fast die Luft wegblieb. „H...hey, hör auf! Es reicht! Ist ja peinlich!“ Doch eigentlich wehrte sie sich nur halbherzig und ließ es am Ende sogar zu, dass er sie richtig umarmte. „Ich hab einfach Angst, okay? Ich hab Angst, dass ich alles nur noch schlimmer mache, weil ich so wütend bin. Jetzt ist wenigstens Ethan noch nett zu mir, aber was ist, wenn der mich am Ende auch nicht mehr mag?“ Sie löste die Umarmung und kroch unter dem Tresen hervor. Balotelli tat es ihr gleich und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Ich als dein Teamchef werde schon dafür sorgen, dass alles wieder gut wird, si!“ Die Anspannung ließ nach. „Na toll... Und wie willst du das anstellen, Big Boss?“ Er musste nicht lange überlegen. „Wir sind schon so einen langen Weg gegangen. Wir sind gefallen und wieder aufgestanden und es hat uns stärker und reifer gemacht. Ich würde sagen, du musst einfach noch viel abgeklärter werden, Bellissima.“ – „Abge...klärter?!“ Sie hob skeptisch eine Augenbraue. „Si! Wenn du deine Gefühle besser kanalisieren kannst, dann werden sie sicher auch gehört werden. Und der beste Weg dazu ist, dass du noch viel mehr trainierst.“ Er nahm das fertige Dessert in die Hand, bereit es zu den anderen nach vorne zu tragen. „Weißt du was? Sobald wir alle wieder richtig erholt sind, werde ich Costas sagen, dass er sich mal mit dir duellieren soll!“ Wendy nahm ein Tablett mit Tellern und Besteck. „Du meinst, um mal richtig Dampf abzulassen?“ Er nickte. „Das wird dir bestimmt gut tun. Aber über eines solltest du dir im Klaren sein...“ – „Hm?“ – „Denk nicht, dass du eine Chance gegen ihn hättest.“ Kapitel 28: Diogenes gegen Sting -------------------------------- Ein Sturm tobte. Blitze zuckten grell über den pechschwarzen Nachthimmel und fast zeitgleich grollte der Donner. Der Wind heulte und türmte die Wellen meterhoch auf. Salziges Meerwasser vermischte sich mit dem Regen, der aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Unbändig wurde das kleine Boot hin und her geschleudert und es war ein Wunder, dass es noch immer nicht untergegangen war. Das Feuer einer kleinen Laterne flackerte unruhig, gleich eines letzten Aufbäumens, bevor der Sturm es vollkommen zum Erlöschen brachte. Es war der einzige Fixpunkt bei diesem Höllenritt, der schier endlos andauerte. Zitternd klammerte sich seine bis auf die Haut durchnässte Besitzerin daran fest, um wenigstens ein bisschen Wärme in dieser Finsternis zu finden. Die orangeroten Strähnen klebten nass in ihrem Gesicht, das vom Fieber gerötet war. Sie wusste nicht wer sie war und wohin sie eigentlich wollte, nur dass die Reise schon viel zu lange andauerte. Mit einem Schlag war das Unwetter vorbei und die Welt lag in stiller, fahler Dämmerung. Dichter Nebel zog sich zusammen und es wurde so kalt, dass sich weißer Dampf bildete, wann immer sie stoßweise ausatmete. Wann würde es endlich ein Ende haben? Sie stellte die Laterne, die eigentlich ein rundes Glasbehältnis war, um das sich ein metallener Skorpion schlängelte, vor sich hin. Egal wie lange es dauerte und wie sehr sie dabei litt, das Feuer erlöschte nie. Ihre müden Augen spähten über den Bootsrand, doch der Nebel glich einer undurchdringbaren Wand. Während das Boot leise knarrend auf und ab schaukelte, schien sich dort in der Ferne etwas zu bewegen. Erst war es nur ein vager Umriss, doch je näher dieser kam, desto mehr konnte sie erkennen. Dunkel, schnell und bedrohlich glitt etwas Lebendiges knapp unter der Wasseroberfläche an das kleine Boot heran und umkreiste es mehrmals. Nur die aufgerichtete Rückenflosse, die aus dem Wasser hinausragte, zeigte, dass es sich um einen Hai handelte, der zielsicher sein Opfer anvisierte. Sie griff nach der Laterne und hielt sie abwehrend vor sich. „Verschwinde! Hau endlich ab!“, rief sie, doch ihre panische Stimme verhallte im Nirgendwo. Mit zitternden Beinen stand sie auf und wedelte mit dem Licht hin und her, doch es war zu spät. Der Hai sprang aus dem Wasser empor, ließ seine spitzen Zähne blitzen und zerstörte mit einem einzigen Bissen die Laterne. Das Feuer breitete sich aus und hüllte sie ein. Schmerzen, brennende Schmerzen, besonders an den Händen. Auch in ihren Lungen breitete sich die Hitze aus und machten ihr das Atmen unmöglich. Panisch schlug sie um sich, doch es war zu spät... Wendy bäumte sich auf und rang nach Luft. Schweiß tropfte von ihrem Kinn, als sie sich mit schreckgeweiteten Augen umsah. Es war noch früh am Morgen und das Licht fiel schummrig durch die geschlossenen Fensterläden ihres Zimmers, so dass alles nur schemenhaft zu erkennen war. Sie fasste sich an den Kopf und strich die feuchten orangeroten Haarsträhnen aus der Stirn, dann senkte sie die Arme und blickte auf die vernarbten Hände, die erneut zu schmerzen begonnen hatten. „Nur ein Traum...“ Sie ließ sich wieder ins Kissen fallen und starrte die Decke an. Sie wusste ganz genau, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Wusste, dass sie genauso überrannt werden würde, wenn sie Stings Feuer nicht besser zu kontrollieren lernte. Langsam schweifte ihr Blick zu den Fotos an der Wand. Sie seufzte langgezogen, als sie ein altes Gruppenbild aus der Zeit der Mittelschule betrachtete. „Eigentlich hab ich so gar keinen Bock darauf, mich mit dir zu streiten...“ Der jüngere Vald an der Wand grinste sie an. „Aber habe ich eine andere Wahl? Solange du es nicht begreifst, hat es sowieso keinen Zweck.“ Seit der Party war eine Woche vergangen. Inzwischen war es Mai geworden und die Luft war so getränkt von Gräser- und Baumpollen, dass Angelo vor Schnupfen kaum noch atmen konnte. Trotzdem hatte er sich wie immer dazu bereiterklärt am heutigen Tag den Schiedsrichter im Drachenduell zwischen Costas und Wendy zu übernehmen. Heute war nämlich ein besonderer Tag: der neue Kite-Ring hinter der Schule war endlich fertig geworden und konnte eingeweiht werden. Vorbei war die Zeit, als sich der Club noch auf der gemähten Wiese duellieren musste. Vorbei die Wochen, in denen die Wiese zu einer Sandgrube wurde, in der sie Beachvolleyball gegen den Tennisclub gespielt hatten. Vorbei, damit nun etwas Neues seinen Anfang nehmen konnte, das sie alle einen großen Schritt näher in Richtung professioneller Drachenkämpfe bringen sollte. Doch zunächst einmal herrschte Verwunderung. Skeptisch standen die Kite Knights auf dem runden Kreis und fühlten prüfend den Kunststoffbelag, der im Grunde dem einer Leichtathletikanlage entsprach. „Noch jemand, der das irgendwie unangenehm findet?“ Wendy verschränkte die Arme und kräuselte die Stirn. Auf so einem harten Untergrund hatte man sicher keinen so guten Stand wie auf einer federnden Wiese oder einem rauen Schotterplatz. Sie ging in die Knie und fühlte mit den Fingerspitzen den grünen Belag. Ganz sicher würde ein Duell bei Regen zu einer Rutschpartie werden, geschweige denn von dem erhöhten Verletzungsrisiko durch die Härte des Bodens. „Ist ganz schön groß, so ein Kampfring, nie?“ Zeph hörte sich ganz und gar nicht begeistert an. Er, der ohnehin schon nicht der beste Läufer war, sollte sich also auf dem Feld zurechtfinden? Am Ende stand er doch sowieso wieder nur in einer Ecke und wartete darauf, dass seinem Gegner von ganz allein die Puste ausging. Costas, der gerade dabei war seinen senfgelben Krokodildrachen namens Diogenes zusammenzustecken, hob schmunzelnd den Kopf und zwinkerte. „Das kommt dir jetzt zwar noch groß vor, aber am Ende wirst du dich ziemlich eingeschränkt fühlen. Darauf würde ich sogar einen Zehner verwetten, wenn ich einen hätte!“ Angelo schnäuzte sich laut. „Die Markierungen entsprechen der offiziellen Norm der Weltmeisterschaft und teilen den Kreis, dessen Durchmesser 25 Meter beträgt, in drei Bereiche.“ Balotelli, der den Verband wieder gegen sein lachsfarbenes Stirnband eingetauscht hatte, stimmte ihm nickend zu. „Der äußere Ring mit einer Breite von 2,5 Metern ist ausschließlich für die Lift-Phase vorgesehen, damit keiner der Kontrahenten sich zu Beginn eine vorteilhafte Duellposition sichern kann.“ Er nahm seine Brille ab und wischte sich die Tränen aus den vom Heuschnupfen geröteten Augen. „Das eigentliche Duellfeld beträgt im Grunde also nur 20 Meter im Durchmesser.“ Erstaunen ging durch die Teammitglieder. Alle traten in den Kreis hinein und prüften noch einmal ihr räumliches Empfinden. „Doch das ist noch nicht alles“, fuhr Angelo fort und musste sich schon wieder die Nase putzen, „ein Duell ist auf 15 Minuten beschränkt, wobei die letzten fünf Minuten nur der innerste Kreis benutzt werden darf.“ Er deutete auf die Mittelfläche, die noch einmal 10 Meter weniger Durchmesser hatte. Wendy lachte nervös. „Du verarschst uns doch, oder?“ Zeph stellte sich neben sie und stimmte ihr langsam nickend zu. „Geht nicht, ist viel zu klein, kann man nicht gut ausweichen, nie?“ Costas verband die Führungsleinen mit dem Drachengerüst und wickelte einen Teil der Schnüre ab. „Das ist ja auch der Sinn der Sache.“ Während er grinste, verengten sich seine schwarzbraunen Augen zu Schlitzen, was ihm einen schelmischen Gesichtsausdruck gab. „Je weniger Platz man hat, desto mehr trifft man aufeinander. Und das sollte doch eigentlich auch der Sinn eines Duells sein, nicht wahr?“ Er nahm eine Drachenspule in jede Hand und klemmte sich den Drachen unter den rechten Arm. Von ihm aus konnte das Duell gegen Wendy also losgehen, doch hatte diese gerade erst angefangen ihren pinken Drachen aus der Tragetasche zu holen und auszuklappen. „Ist nach 15 Minuten immer noch keine Entscheidung erzielt, erfolgt eine zweite Runde, die gleich im Hauptkreis gestartet werden darf, um durch die unberechenbaren Kampfpositionen ein schnelleres Erreichen eines Sieges zu erzwingen.“ Diesmal musste Angelo die laufende Nase hochziehen, weil er gerade dabei war, auf den Schiedsrichterturm zu steigen. „Dieser Turm hier...“, fuhr er oben angekommen fort und holte die Clubfahne hinaus, „ist im Übrigens stets auf der Nordseite des Spielfeldes, damit der Schiedsrichter nicht im Gegenlicht steht und von beiden Piloten klar wahrgenommen werden kann“. Zeph hörte schon fast nicht mehr zu und bohrte in der Nase, soviel Neuerungen wurden ihm heute publik gemacht. Doch Neil, der seit der Party ohnehin an Angelos Lippen hing, nickte immer wieder begeistert. „Zuletzt noch folgendes.“ Er deutete nach oben. „Die Windfahne über dem Schiedsrichterturm zeigt die aktuelle Windrichtung. Diese legt die Startpunkte der Kontrahenten fest: immer rechtwinklig zum Wind auf gegenüberliegenden Seiten des Rings, damit niemand einen Vorteil in der Lift-Phase hat. Und die acht Markierungen am äußeren Ring entsprechen selbstredend den Himmelsrichtungen.“ Balotelli klatschte in die Hände. „Perfekt auf den Punkt gebracht! Gibt es noch Fragen, meine werten Freunde?“ Niemand rührte sich. Wendy hatte Sting fertig aufgebaut und überprüfte noch einmal den Sitz ihrer Handschuhe, dann begab sie sich auf die Startmarkierung, die ihr die Windfahne vorgab. Auch wenn sie schlecht geschlafen hatte, war sie doch seltsam ruhig. Was sollte auch schon passieren? Es gab weder eine Bombendrohung noch einen aggressiven Japaner – Mann, was würde sie dafür geben mal wieder Rührei und Speck zu essen, die Hayate gebraten hatte – der in ihrer Seele bohrte, noch hatte sie Angst davor, sich wieder zu verbrennen. Natürlich fragte sie sich, wie wohl der Kampf ausgehen würde, hatten sich alle am Jahresende doch das Video von der Weltmeisterschaft angesehen, in welchem man Costas in Aktion sehen konnte. Sie wusste, dass es nicht leicht werden würde, denn auch Balotelli hatte ihr gesagt, dass sie wahrscheinlich keine Chance hatte. Und doch... wollte sie es irgendwie versuchen, ob sie nicht doch gewinnen konnte. Immerhin war Costas ein – nett ausgedrückt – kräftig gebauter Mann, der nicht gerade den Eindruck erweckte besonders stark oder schnell zu sein. Wendy war sich sogar ziemlich sicher, dass sie deutlich schneller war. Und das musste sie ausspielen, bevor sein Kirit sie zermalmte. „Alles bereit?“ Angelos Stimme hallte laut über den Platz, als hätte man im Schiedsrichterturm ein Megafon eingebaut. Er streckte den Arm aus und hob die Fahne. In der anderen Hand hielt er eine Stoppuhr. „Normale Windgeschwindigkeit, 20 Sekunden Lift-Phase. Das Duell beginnt in 3, 2, 1... LOS!“ Die Fahne sauste nach unten und er startete den Countdown. Sofort sprintete Wendy los, den Drachen links hinter sich herziehend, auf der runden Bahn. Sie war es nicht gewohnt einen Halbkreis zu laufen, doch kompensierte dies die Erfahrung, die sie sich im letzten Jahr angeeignet hatte. Ohne große Probleme stoppte sie im rechten Moment, schwang die Arme herum und rief „LIFT 'EM UP!“, als sich der Luftstrom unter den Skorpiondrachen legte. Auch Costas verfolgte eine ähnliche Strategie, doch variierte er den Anlauf, indem er den Drachen komplett blind hinter seinem Rücken führte und dann die Arme nach oben schleuderte, als der Gegendruck stark genug war. Angelo nickte bestätigend und stellte nun 15 Minuten Duellzeit auf der Stoppuhr ein. Er schien zwar immer noch nicht sonderlich beeindruckt, doch war er innerlich angespannt, ob beide die volle Zeit ausreizen würden oder sich das Duell noch im großen Ring entscheiden würde. Costas rückte mit beiden Daumen seinen Anglerhut zurecht und nickte Wendy einladend zu. „Ladies first, würde ich mal sagen!“ Diogenes schaukelte ruhig im Wind und wedelte mit dem Schwanz, der ebenso eine Windfahne war wie der Stings. „Tse!“ Wendys Blick wurde ernster. „Ich hoffe nur, dass es dir am Ende nicht leid tun wird, mir den Vortritt gelassen zu haben.“ Ihre Hände umgriffen die Drachenspulen fester. „Ich mache nämlich gleich ernst! Los geht’s!“ Sofort schossen lodernde, pinke Flammen aus ihren Fäusten und flitzten einer Zündschnur ähnlich die Drachenleinen nach oben. Während Wendy bereits Anlauf nahm und direkt auf Costas zustürzte, manifestierte sich der kleine Skorpion Sting oberhalb des Drachen und ließ seine Augen rot aufglühen. Costas lächelte nur verschmitzt und machte einen großen Ausfallschritt nach vorne. „Komm nur, ich bin bereit!“ Sein ganzer Körper spannte sich an, bereit den ersten Schlag des gegnerischen Drachen abzufangen. So schien es zumindest. Sting, der sich inzwischen in eine lodernde Kugel verwandelt hatte, sauste durch Wendy gezieltes Abbremsen und Ausweichen herab und beschrieb eine Bahn, die Costas Drachen Diogenes voll erwischen, wenn nicht sogar in Brand stecken würde. Es war eine Attacke wie aus einem Bilderbuch. Näher, immer näher kam das Inferno, doch Costas machte noch immer keine Anstalten sich zu bewegen. Gleich, noch eine Millisekunde, dann würde Sting einschlagen. Doch... Nichts geschah. Der Schlag wurde durch eine unsichtbare Wand abgebremst. Wendy geriet ins Straucheln, taumelte ein paar Schritte vorwärts und drehte sich dann wieder um. Was war da gerade passiert? Costas Grinsen wurde breiter. „Hast du gedacht, dass ich gar nichts mache?“ Die Rothaarige brummte enttäuscht und trat ein paar Schritte zurück, bis sie am Rande der Markierung stand. Oh Mann, das schränkte ja doch etwas ein! Aber wie hatte er das gemacht? Diogenes war doch im Video ein riesiges Krokodil gewesen und kein unsichtbares Hindernis! „Willst du es nochmal versuchen?“ Der dicke Grieche machte eine einladende Geste, so gut es mit einer durch eine runde Drachenspule gesteckten Hand ging. Wendy fühlte sich provoziert. „Na warte...“ Erneut schickte sie eine Feuersalve in den Drachen und stürmte auf Costas zu, entschied sich diesmal aber dafür nicht einen Angriff auszuführen, sondern Sting ähnlich eines Meteoritenschauers auf Diogenes einschlagen zu lassen. Funken stoben in alle Richtungen davon, doch keine einzige Attacke traf, so dass Wendy wieder unverrichteter Dinge abbrechen musste und sich zurückzog. Langsam wurde ihr schummerig vor den Augen und sie spürte die Müdigkeit in sich aufsteigen. Sie wusste, dass sie eigentlich sparsam mit ihrer Kirit-Energie umgehen sollte, aber wenn sie selbst damit nicht durchkam, wie sollte sie es dann erst mit normalen Attacken schaffen? „Was denkst du gerade, Wendy?“, fragte er sie mit entspannter Miene und trat ein paar Schritte in den Ring hinein. Die Angesprochene kräuselte die Lippen. „Ich verstehe nicht, wieso ich nicht an dich herankomme, obwohl dein Kirit nicht mal draußen ist. Kannst du Telekinese oder was?“ Das brachte Costas dann noch zum Lachen. Er schüttelte sich dabei so sehr, dass sich jede Bewegung auf den Krokodildrachen übertrug. „Ich glaube, du guckst bloß nicht richtig hin, Wendy! NATÜRLICH habe ich die ganze Zeit schon meine Kirit-Energie fließen lassen?“ – „Hä?“ Erstaunt hob die Rothaarige eine Augenbraue. Die Pupillen, die eben noch vor Müdigkeit größer geworden waren, wurden wieder klein, so dass ihre hellgrüne Iris stechend wie immer aussah. Moment mal. Der verarschte sie doch gerade, oder? Sie kniff die Augen zusammen und sah den senfgelben Drachen an, der dort oben am strahlend blauen Himmel schwebte. Erst erkannte sie nichts, doch dann, als eine stärkere Windböe aufkam, konnte sie den leichten Sandschleier erkennen, der sich wie ein schützender Kokon um das Krokodil gelegt hatte. „Ha! Da hat sich der Magier jetzt aber selbst entzaubert!“, grinste Wendy. „Wenn das so ist, dann greife ich eben dich direkt an! Los Sting, Flammenpeitsche!“ Der Skorpion-Kirit verschmolz mit dem Drachen und startete einen Sturzflug. Schneller, immer schneller sauste er auf Costas zu, um schließlich abzudrehen und mit loderndem Schwanz auf sein Opfer einzuschlagen. Ein lautes Brüllen erklang. Bevor Sting auch nur einen Treffer landen konnte, verdichtete sich der Sand vor Costas Körper und gebar einen Kirit, wie ihn der gesamte Drachenclub noch nie gesehen hatte. Mächtig und monströs baute sich Diogenes vor seinem Piloten auf und schnappte mit seinem riesigen Gebiss zu. Wendy schrie vor Schmerz, als sich die Kraft des Bisses durch Sting auf sie übertrug. Zum Glück war das Feuer immateriell, sonst hätte das Krokodil einen Stück des Drachen abgebissen. So strauchelte Sting nur ein bisschen und nahm dann eine Position in sicherer Entfernung auf. Costas nickte zufrieden und setzte seinen Kirit in Bewegung. Diogenes war so schwer mit Sand aufgeladen, dass jeder seiner Schritte einem Erdbeben gleich kam. Und als wäre dies nicht schon genug gewesen, braute sich ein Sandsturm zusammen. Wendy musste die Augen zukneifen. Sand wehte durch die Luft und ließ ihre Augen tränen. Jeder Schritt des Krokodils brachte sie ins Wanken und der neue Hartgummiboden des Kampfrings war ihrer Balance nicht wirklich zuträglich. Bald war der Sandschleier so dicht, dass sie nur noch die gelb glühenden Augen des gegnerischen Kirits sehen konnte. Konnte das wirklich sein, dass sie so schwach war? Dass zwischen ihr und einem Profi so eine riesige Lücke klaffte? Sie blickte nach unten und musste erschreckt feststellen, dass Costas sie schon bis an den Rand des Rings getrieben hatte. Und die bedrohlichen Augen kamen näher und näher... „Wendy, gib nicht auf!“ Wer rief denn dort durch den Wind hindurch? „Bellissima, si, streng dich an!“ Wie denn bitte, wenn sie kaum noch sehen konnte, wo ihr eigener Drachen gerade schwebte? „Er sieht dich genauso wenig wie du ihn!“ Neil? Der wusste doch am allerwenigsten, mit was sie sich gerade herumschlug. Oder vielleicht doch? Im gleichen Maße, wie sich ihr Blick verfinsterte, nahm auch das Grinsen in ihrem Gesicht zu. Nein, noch war es nicht vorbei, denn so stark wie Diogenes auch war, so träge bewegte er sich auch. Costas war sicher genau jetzt ziemlich damit ausgelastet, das große Krokodil zu kontrollieren. Und das würde ihr eine Chance geben, ganz sicher! Wendy nahm all ihre Energie zusammen und schickte sie portionsweise zum Himmel. Erst eine Feuerkugel, dann eine zweite, eine dritte und eine vierte, die erst über ihr schwebten, dann aber wie ein Komet herabstürzten. Gleichzeitig nahm sie Anlauf, rannte und rannte, immer die Markierung im Blick, bis sie schließlich hinter Costas angelangt war. Jetzt nur noch einmal die Flammenpeitsche, und dann... Eine Druckwelle fegte sie von den Füßen. Diogenes war einmal kurz hochgesprungen und ließ die Erde bei der Landung so heftig erzittern, dass Wendy davon geschleudert wurde. Alles drehte sich. Sie wusste nicht mehr wo oben und unten war. Sand überall, der heulende Wind und Sting, der erst noch unruhig auf und ab tanzte, dann aber aus ihren Händen glitt. Schließlich blieb sie mit dem Gesicht nach unten auf der Wiese liegen. Sie spuckte Gras. Mann, war das enttäuschend! Sie hatte ihn doch fast erwischt! Der Sandsturm verzog sich. Costas holte seinen Drachen ein und ging dann zu Wendy, um ihr aufzuhelfen. Sie schmollte und ließ die Schultern hängen, doch ergriff sie die ihr hingestreckte Hand und stand auf. Costas packte sie bei der Schulter und klopfte mehrmals anerkennend darauf, um sie etwas aufzuheitern. „Das war echt nicht schlecht, Wendy!“ Er hob den Daumen. Der Rest des Clubs bildete einen Halbkreis um sie und nickte. „Und warum habe ich dann nicht gewonnen? Dann bin ich zwar nicht schlecht, aber auch nicht gut!“ Balotelli reichte ihr ein Handtuch und einen Energydrink. „Bellissima, wie lange gehen Sting und du nun gemeinsame Wege?“ Die Dose gab beim Öffnen ein zischendes Geräusch von sich. Sofort nahm Wendy einen großen Schluck von der süßen Koffeinbrause. „Ein halbes Jahr...“ Er konterte ihren mürrischen Gesichtsausdruck mit einem freundlichen Lächeln. „Siehst du, Costas hier hat einfach viel mehr Erfahrung, so etwas passiert einfach, ma si!“ – „Stimmt nicht.“, unterbrach ihn der Grieche und schüttelte den Kopf. „Es liegt nicht an der Stärke deines Kirits, Wendy. Es liegt viel mehr daran, dass du zu langsam bist.“ Wendy blinzelte verdattert. „Wie bitte?“ Auch die anderen waren von Costas' Urteil mehr als nur überrascht. „Aber ich bin doch schon die Schnellste des Clubs! Du meinst bestimmt, dass ich zu schwach bin!“ Doch der dicke Typ, der nie seinen Anglerhut abnahm, verneinte. „Du wirst durch weiteres Training so oder so an Körperkraft gewinnen. Doch was Schnelligkeit angeht... musst du einfach übermenschlich werden.“   Kapitel 29: Zukunftswünsche --------------------------- Gedämpfte Stimmung herrschte im Turmzimmer. Während draußen schönstes Sommerwetter war, zogen Neil und Wendy Gesichter wie drei Tage Regenwetter und starrten ratlos auf den Wahlzettel, den jeder Schüler am Ende des ersten High-School-Jahres einreichen musste. Es war bisher ein gutes Jahr gewesen. Durch den lockeren Stundenplan, der zur allgemeinen Orientierung diente, hatten sie viel Zeit im Drachenclub verbringen können und auch sonst reichlich Freizeit gehabt, ein Privileg das dem zweiten und dritten Jahrgang nicht mehr zur Verfügung stand. Neil drehte lustlos einen Bleistift in der rechten Hand und hatte den Kopf so auf die linke Hand gelegt, das sein Mund seltsam deformiert aussah. Er holte tief Luft und seufzte laut. Eins, Zwei oder Drei. Das konnte doch gar keine so schwierige Wahl sein, wenn man nur so wenig zur Auswahl hatte. Letzte Chance sonst ist's vorbei. Wendy schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und zog die Augenbrauen zusammen. „Ich hab mich entschieden.“ Sie klickte ein paar Mal mit dem Kugelschreiber und machte ein Kreuz auf dem Papier. Anschließend unterschrieb sie den Zettel, sah noch einmal auf Vorder- und Rückseite nach, dass sie auch ja nichts vergessen hatte und stand dann auf. Neil fühlte sich gleich noch elender. Er sackte auf dem Stuhl zusammen, bis sein Kinn die Tischplatte berührte und seufzte erneut langgezogen, dann sagte er: „Ich weiß einfach nicht, was ich nehmen soll...“ Balotelli, der gerade über einem Sportmagazin brütete, welches er selbstverständlich nur wegen der attraktiven Sportler und nicht wegen des Inhalts las, legte seine Lektüre beiseite und zwinkerte ihn freundlich an. „Was ist, Piccolo, brauchst du Hilfe?“ Neil kratzte sich im Nacken und strich über seinen Rattenschwanz. „Das kann man so sagen...“ Er legte den Stift beiseite und tippte auf das Blatt Papier. „Dieser Zettel hier entscheidet darüber, was ich später mal werden will, oder?“ Wendy trat hinter ihn und stützte sich auf der Stuhllehne ab. „Und das ist so schwer? Ist doch ganz einfach: intelligent, durchschnittlich und dumm. Willst du studieren oder schnell Geld verdienen?“ Der Dunkelblonde murrte. „Ich weiß es einfach nicht. Was, wenn ich jetzt den schwersten Zweig nehme und in zwei Jahren gar nicht mehr studieren will? Oder aber den Basiszweig und dann bei all den Praktika merke, dass ich doch lieber studieren will?“ Am liebsten wollte er gar nichts ankreuzen und einfach so weiter mit der Schule machen wie bisher, doch leider würde das Orientierungsjahr nicht ewig dauern. Bald würden die Klassen neu gemischt werden und er wusste jetzt schon, dass er mindestens die Hälfte seiner Klassenkameraden, mit denen er gerade erst richtig warm geworden war, nicht mehr sooft sehen würde. Und dann musste er sich wieder neue Freunde suchen und die fanden ihn vielleicht eigenartig und dann war er wieder allein und wurde beim Sport als letzter ausgewählt und ach, das war alles viel zu kompliziert und doof... Ratlos sah er von einem Gesicht ins andere. „Wisst ihr denn schon, was ihr einmal werden wollt?“ Angelo meldete sich als erster zu Wort. „Ich werde selbstverständlich Mathematik und Physik studieren, damit ich später einmal in der Forschung arbeiten kann.“ Das war bei seiner Intelligenz und seinem Auftreten auch überhaupt nicht überraschend. „Gebrauchtwagenhändler“, erklärte Zeph kurz und knapp und lehnte sich zurück. „Bin nicht so schlau und möchte schnell arbeiten. Autos sind toll.“ Neil sah nach hinten, um Wendys Antwort zu hören. „Lach nicht, okay?“ Sie druckste herum. „Ich möchte in ein paar Jahren gerne meinen eigenen Irish Pub aufmachen. Die Leute nachts betrunken machen, dann den Laden aufräumen und tagsüber schlafen und den ganzen Hausfrauenkram erledigen.“ Ihre Lippen kräuselten sich beleidigt, als sie sah, wie sich Neil tatsächlich ein Grinsen verkneifen musste. „Ich habe gesagt: lach nicht!“ Sie errötete und blickte peinlich berührt aus dem Fenster. „Ich will einfach nicht studieren, sondern viele Praktika machen und Berufserfahrung sammeln. Also hab ich mich auch für den Basiszweig entschieden.“ Neil wollte auch von Balotelli hören, für was er sich vor einem Jahr entschieden hatte, doch dieser nahm stattdessen seine Schultasche und wandte sich zum Gehen. „Scusi, aber Costas hat gesagt, dass ich noch ein paar Dokumente für den Club abholen soll. Arrivederci!“ Der Dunkelblonde legte den Kopf schief und kaute auf dem Ende des Bleistifts herum. Das Verhalten des Clubchefs kam ihm zwar suspekt vor, doch füllte das Wissen darüber, dass es ihm wohl irgendwie unangenehm war über die Zukunft zu sprechen, auch nicht sein Blatt aus. Wendy schnappte sich ihren Wahlzettel und drehte sich ebenfalls zur Tür. „Ich denke, ich muss dann auch mal gehen und das hier abgeben!“ Als sie und Balotelli das Zimmer verlassen hatten und die Tür zuknallte, zuckte Neil nur mit den Schultern. „Ich denke...“, er holte seine Hasenpfote aus der Tasche und ließ sie vor sich hin und herbaumeln, „ich sollte vielleicht einfach auf gut Glück wählen“. Er presste die Lippen zusammen, machte eine Faust um den Bleistift und nickte entschlossen. „Ja, die goldene Mitte wird immer die beste Wahl sein!“ Tap-tap-tap. „Bleib stehen!“ Keine Reaktion. Tap-tap, tap-tap. „Ey, jetzt warte doch mal!“ Wendy hechtete ein paar Schritte nach vorne und packte Balotelli an der Schulter, um ihn aufzuhalten. Er blieb zwar stehen, doch schlug er prompt ihre Hand weg und ließ den Kopf hängen. Es war bereits später Nachmittag, so dass die meisten Schüler bereits nach Hause gegangen waren. Der Pausenhof war menschenleer und die Schritte der beiden hallten laut auf dem Kopfsteinpflaster. Wendy umkreiste den Blonden und baute sich mit ernstem Blick und verschränkten Armen einer Mauer gleich vor ihm auf. „Du hast doch was!“ Keine Antwort. Balotellis Blick ging leer auf den Boden. Wendy wurde schier wahnsinnig bei dem Anblick. Ihr Kiefer mahlte. Mit einer Hand zog sie an seinem lachsfarbenen Stirnband und ließ es zurück auf seine Stirn schnippen, um ihm eine indirekte Schelte zu geben. „Lass das, Bellissima...“ Die sonst so selbstbewusste Stimme klang brüchig und leise. Wendy schnaubte laut und schubste ihn leicht. „Hey hör mal, ich muss mir dein Gelaber immer anhören, wenn ich einen schlechten Tag habe! Jetzt darf ich dir wohl auch mal was Gutes tun, wenn es dir nicht so pralle geht, oder?“ Sie senkte den Kopf und sah ihm so tief in die Augen, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Stechende hellgrüne Iris traf auf trübe blaue, die ihr auswich. Sie knurrte gereizt. „Komm mal mit!“ Wieder trat sie hinter ihn und bugsierte ihn erbarmungslos zu einem der Bäume am Schultor. Der Wind rauschte in den grünen Blättern, als sie sich zu den Wurzeln niederließen und ihre Rücken an die Baumrinde betteten. Es war derselbe Baum, an dem sie sich an Wendys erstem Schultag getroffen hatten, um die Unterhosenfarben der Mädchen zu erraten. „Schon komisch, wie die Zeit vergeht...“ Balotelli nickte stumm. „Ich glaube, vor ein paar Monaten hätte ich noch gesagt 'Soll er doch an seiner miesen Laune verrecken! Geschieht ihm ganz Recht, dass er am Heulen ist!' – oder so ähnlich.“ Der Gedanke daran, wie sie damals drauf war, war fast schon komisch! „Aber hör mal, du hast neulich in der Pizzeria einen ganz schönen Seelenstriptease mit mir abgezogen, also will ich auch wissen, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist!“ Während sie ernst, fast schon schmollend, dreinblickte, legte sie ihren Arm um seine Schulter und zog ihn so zu sich heran, wie er es auch mit ihr unter dem Tresen gemacht hatte. Es war ihr peinlich und sie wurde rot dabei, doch redete sie trotzdem mit fester Stimme weiter. „Ich sag dir was: ich hab ein echt großes Problem. Ich kann das einfach nicht mit ansehen, wenn Menschen, die mir was bedeuten, leiden müssen.“ Sie strich ihm durch das blonde Haar. „Das hat etwas damit zu tun, was mit meinem Daddy passiert ist.“ Es wurde eine längere Geschichte, die schon in Wendys Kindheit ihren Anfang nahm. Damals war ihr Vater einmal sehr berühmt unter dem Namen „The Pirate“ gewesen, da er sich lange Zeit als Profi-Wrestler behaupten konnte. Sie und ihre Mutter waren bei jedem Wettkampf dabei und feuerten ihn an, auch wenn das vielleicht für ein kleines Mädchen nicht so gut war, wenn sie muskelbepackten Männern dabei zusah, wie sie sich in Schaukämpfen gegenseitig wehtaten. „Doch eines Tages, da war ich glaube ich zehn Jahre alt, ging alles schief...“ Balotelli hob fragend den Kopf. Wieder hatte sich eine bisher verschlossene Tür in Wendys Seele geöffnet, die eine Erinnerung preisgab, die noch schmerzhafter als der Verlust von Valds Vertrauen sein musste. „Eigentlich war es ein Routinewettkampf. Alle Aktionen werden vorher abgesprochen, so dass jeder Wrestler weiß, was auf ihn zukommt, doch dieses eine Mal...“, sie schluckte, „ging alles schief.“ Sie blickte zum Schultor, damit Balotelli ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. „Mein Vater sollte ganz normal einen Stuhl über den Kopf geschlagen bekommen. Nichts besonderes, nur gab genau in diesem Moment das Material nach und kurz darauf hatte er einen riesigen Plastiksplitter im Kopf stecken...“ Balotelli dachte irgendetwas Aufmunterndes sagen zu müssen, doch Wendy blickte ihn an und lächelte. Lächelte auf eine gequälte Art und Weise. „Da lag Daddy dann da und war eigentlich tot, aber irgendwie haben sie es doch geschafft ihn wiederzubeleben.“ Sie zeigte auf ihr rechtes Auge. „Nur das da konnten sie bei ihm nicht wieder heil machen.“ Sie zog die Beine an sich heran und stützte den Kopf auf den Knien an. „Einfach nur zusehen zu können, wie er dort lag und sie immer und immer wieder Herzmassagen und Mund-zu-Mund-Beatmung machen mussten, hat mich eines schwören lassen: Nie wieder.“ Sie ballte die Faust, um das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. „Ich will nie wieder mit ansehen, dass Menschen, die ich liebe, leiden müssen. Lieber würde ich mich für sie aufopfern, bis es mich innerlich zerreißt.“ Jetzt musste sie sich doch über die Augen wischen, obwohl sie eigentlich nicht weinen wollte. „Also sag mir bitte endlich, was mit dir los ist, damit ich dir helfen kann!“ Schweigen. Nur der Wind rauschte in den Baumwipfeln, während beide sich einfach nur ansahen. Traurig und betroffen trug jeder sein eigenes Kreuz mit sich. Und wie Wendy zuvor eine Tür ihrer Seele aufgeschlossen hatte, war nun auch Balotelli dazu in der Lage, über seine Gefühle zu sprechen. In seinem Gesicht arbeitete es. Erst versuchte er es noch zurückzuhalten, doch dann brach alles aus ihm hinaus und er drückte Wendy fest an sich. „Ich halte das einfach nicht mehr aus! Ich vermisse Hayate so sehr!“ Der Tränenschwall weinte Wendys Schulter nass, während die Rothaarige selbst gerade nicht wusste, was sie sagen sollte. Irgendwie war es zum Lachen. Sie offenbarte hier das dramatische Geheimnis ihrer Vergangenheit und er jammerte nur herum, weil er Liebeskummer hatte? „Ist schon gut.“ Beruhigend strich sie ihm über den Hinterkopf. Das war ja fast schon wie bei einem Baby! Balotelli schluchzte. „Ich hab ja versucht ihn zu vergessen. Ich war sogar mit anderen Typen unterwegs, aber... Es geht einfach nicht!“ Er drückte sich fester an sie, als hatte er in seinem Inneren die Angst auch noch sie zu verlieren. „Warum musste Piccolo auch nach unseren Zukunftsvorstellungen fragen? Ich habe echt versucht das mit Hayate zu verdrängen, aber dann musste ich doch wieder darüber nachdenken...“ Ganz schön. Erzähl nur weiter. „Über was?“ Er machte eine kurze Pause, als wäre es ihm peinlich, worüber er nun sprechen wollte. „Na ja... Dass ich später mal unsere Pizzeria übernehmen werde, spricht ja wohl für sich, aber...“, er druckste herum. „Ich möchte auch gerne mal heiraten. Und vielleicht sogar Kinder adoptieren.“ Oh mein Gott. War das gerade rosa. Nein, lachsfarben. Wendy schüttelte den Kopf und lachte nervös. „Und ich dachte die ganze Zeit, du steckst das einfach so weg.“ Balotelli richtete sich auf und wischte mit dem Ärmel seiner schwarzen Schuluniform die Tränen weg. „No, eigentlich bin ich viel unsicherer, als man es vermuten würde.“ Er versuchte zu Lächeln wie immer, doch es sah seltsam gequält aus. „Ich war eigentlich immer nur so stark, weil ich wusste, dass Hayate hinter mir steht und mich immer wieder angeschoben hat.“ Langsam stand er auf und klopfte sich die Erde von der Hose. „Und jetzt höre ich kaum noch was von ihm und denke, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen werden.“ Auch Wendy erhob sich und berührte aufmunternd seine Schulter. „Du liebst diesen Kerl wirklich.“ Seine Wangen nahmen ein zartes Rot an, dann klopfte auch er ihr auf die Schulter. Der tragische Ausdruck in seinem Gesicht war verflogen. „Glaub mir, irgendwann wirst du auch einmal deine bessere Hälfte finden, Bellissima.“ Er wandte sich ab und grinste. Wer weiß, ob du sie nicht vielleicht schon gefunden hast... Wendy stemmte die Hände in die Hüfte und stampfte mit dem Fuß auf. „H...hör auf so blöd zu grinsen! Ich erzähl dir nie wieder was! Und höre dir nie wieder zu, also... HÖR AUF!“ Unter schallendem Gelächter Balotellis gingen beide zurück zum Schulgebäude. Die Abendsonne ließ ihre Schatten immer länger werden, bis sie schließlich mit einem dritten Schatten verschmolzen. „Ah, gut dass ich euch beide noch sehe!“ Costas breites Lächeln erschien auf der Bildfläche. „Ich habe mir nämlich ein neues Trainingsprogramm für euch ausgedacht.“ Beide hielten inne und musterten den dicken Griechen. Wendy war noch immer puterrot und auch Balotellis Gesicht hatte wieder eine gesunde Farbe. Costas fuhr fort: „Ich dachte mir, jetzt, da ihr wieder zu Viert seid, solltet ihr unbedingt mal einen Battle Royale austragen!“ Kapitel 30: Battle Royale ------------------------- Der Tag war noch jung und die Luft roch nach Morgentau. Sanft fielen die Sonnenstrahlen über den Trainingsplatz hinter der Schule. Ein frischer Wind wehte. Nachdem Wendy so offensichtlich gegen Costas verloren hatte, war das ganze Team angespannt und hatte bereitwillig zugestimmt, einen etwas ungewöhnlichen Drachenkampf auszutragen. Battle Royale lautete das Stichwort. Vier Spieler, ein Feld, Jeder gegen Jeden. Angelo, der wie immer den Schiedsrichter mimte, hatte sich von Costas erklären lassen, worauf er achten musste. Es würde schmutzig werden und chaotisch zugehen, doch er sollte alles durchgehen lassen, gab es doch heute nur eine Sache, die wichtig war: jeder sollte völlig aus sich hinausgehen und von Anfang an alles zeigen, was er zu bieten hatte. Dafür hatte Costas, der trotz der morgendlichen Kühle nur ein Muskelshirt trug und seine dicken, aber durchtrainierten Oberarme präsentierte, extra eine Kamera mitgebracht. Ruhig und entspannt lief er am Spielfeldrand entlang und filmte jeden der Teilnehmer dabei, wie er seinen Drachen aufbaute. Er hatte eine Ahnung, was heute passieren würde, hatte er doch vor nicht einmal ein paar Tagen Wendys Selbstbewusstsein im Drachensteigen durch seinen so einfach errungenen Sieg einen herben Dämpfer verpasst. Sie hatte geflucht und geschmollt und ihn solange ignoriert, bis er sie in seiner Pflicht als Lehrer daran erinnert hatte, das Formular für die Kurswahl im zweiten Jahr einzureichen und er sie somit auf andere Gedanken gebracht hatte. Jetzt war sie wieder die Ruhe selbst und Costas – der die Kamera selbstverständlich unauffällig auf ihren Hintern gerichtet hatte – glaubte, dass ihr genau das dabei helfen würde, heute als Siegerin aus dem Gruppenkampf hervorzugehen. Balotelli klopfte sich noch einmal auf die Wangen und rückte sein Stirnband zurecht. Zeph streckte seine trägen Muskeln und gähnte beherzt, während Neil versuchte das Zittern in seinen Knien zu unterdrücken. Angelo blies in die Pfeife und richtete damit alle Aufmerksamkeit auf sich. „Da sich nun vier Piloten gegenüberstehen, ist ein gerechtes Starten leider nicht möglich. Nehmt daher Position auf je einer Markierung der Himmelsrichtungen ein, bis ich das Startsignal gebe.“ Die Duellanten nickten. Sofort verteilten sich Balotelli auf Nord, Wendy auf Süd und Zeph auf Ost, gleich einem stummen Verständnis Neil als dem neusten Mitglied seinen Start am leichtesten zu machen, denn es wehte Westwind. Oder hing es doch eher damit zusammen, dass Zeph als Pole den Ostblock für sich einnahm, Balotelli aussah wie ein gebräunter Schwede und das Feuer Wendys im Süden am stärksten brannte? „Alle bereit? Auf Grund außergewöhnlicher Umstände verlängere ich die Lift-Phase auf 30 Sekunden. Anlaufrichtung im Uhrzeigersinn.“ Wie sooft hob er die mit dem silbernen Clubwappen bestickte Fahne hoch über seinen Kopf, legte aber dazu noch die Pfeife an die Lippen. Costas ging ein paar Schritte vom Rand des Kite-Rings weg und setzte sich, nachdem er die Kamera auf ein Stativ geschraubt hatte, auf einen eigens mitgebrachten Campingstuhl. Dann öffnete er seine Tasche und holte ein Pausenbrot und eine Thermoskanne hervor, um während des Kampfes in Ruhe zu frühstücken. Es roch nach Käse und Oliven, gepaart mit Gyros, Kraut und Tsatsiki. Eine tödliche Mischung am Morgen, eingepackt in ein Pitabrot, die seinen Schülern, die er in der ersten Unterrichtsstunde im Sport hatte, sicher nicht gefallen würde. Alles schärfte seine Sinne. Jeder Muskel wurde angespannt, jedes Ohr gespitzt und mit jeder Faser des Körpers die Seele des Windes gespürt. Jeder der Vier versuchte alle Gegner gleichzeitig zu erfassen. Den einen direkt, die anderen durch die Augenwinkel. Drachenspulen lagen fest in den Händen, die Drachen selbst mit locker im Wind baumelnden Leinen über den Schultern. Balotelli fixierte Wendy. Ein Zucken ging durch seine Augenbrauen. Dann eine flüchtige Augenbewegung nach rechts, welche die Rothaarige mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken beantwortete. Schließlich war es soweit. Angelo blies in die Trillerpfeife und ließ die Fahne knatternd nach unten schnellen. Das Duell begann und Chaos tobte. „LIFT 'EM UP!“ Keiner der Vier wollte sich erlauben langsam zu sein. Alle rannten was das Zeug hielt, bis sich die Leinen hinter ihnen gespannt hatten und sie ihre Drachen zum Himmel schicken konnte. Zeph war erleichtert, dass es im Uhrzeigersinn losgegangen war, denn so hatte Neil – und nicht er – gleich zu Beginn Wendy im Nacken. Er betrat den mittleren Ring und pumpte all seine Muskelkraft in die Arme, um sofort mit Aquilas voller Kraft zuzuschlagen, doch war er bereits jetzt zu langsam. „Lichtpfeilregen!“ Icarus schnitt ihm den Weg ab, noch bevor er überhaupt seinen Kirit beschwören konnte. Er geriet ins Straucheln und blieb an den im Boden steckenden Pfeilen hängen. Darauf hatte Wendy gewartet. „Flammenpeitsche!“ Stings brennender Skorpionschwanz traf ihn mitten in der Magengegend und gab ihm dem Rest. Wie ein nasser Sack kippte der braunhaarige Pole zur Seite, gefolgt von Aquila, der außerhalb des Rings auf die Wiese krachte. Costas, der gerade einmal drei Bissen gegessen hatte, nickte bestätigend. „Wie nicht anders zu erwarten...“ Angelo wollte schon in die Pfeife blasen und den Gewinner verkünden, hielt sich dann aber doch zurück, als er sah, wie Balotelli und Wendy nun erneut zusammenarbeiteten und sich den inzwischen kreidebleichen Neil vornahmen. Der hatte zwar seinen Drachen gut unter Kontrolle, bisher aber nichts anderes gemacht, als nur tatenlos am Rand des Rings zu stehen. Er versuchte, die Nervosität herunterzuschlucken. Sein Rattenschwanz wehte ihm über die Schulter nach vorne. Er hatte Rückenwind und eigentlich die besten Voraussetzungen sich zu verteidigen. Doch er hatte Angst. Zwei gegen einen, das war schon ein bisschen unfair, besonders wenn der Teamchef und Wendy sich zusammentaten und dabei fast schon wie ein Liebespaar aussahen, das sich wortlos verstand. Die beiden hatten sich wohl zur Aufgabe gemacht, erst die schwächeren Piloten aus dem Weg zu räumen, um sich dann einen unerbittlichen Zweikampf zu liefern. Doch Neils Blick wurde ernst. Nein, er würde es den beiden nicht so leicht machen. Bei Zeph, der ja bekanntlich eine ziemliche Trantüte war, würde die Strategie vielleicht noch aufgehen. Nicht aber bei ihm! „Darter, hörst du mich?“ Er horchte tief in sein Inneres. Nein, auch er war nicht allein. Auch er hatte eine Partnerin an seine Seite, die höflich und elegant für ihn kämpfen würde. Hier bin ich... Sein Herz hüpfte vor Freude. „Denkst du, du kannst nochmal dasselbe machen wie neulich?“ So mit richtig viel Krach? Neil nickte und klammerte sich fester an die Drachenspulen. Wendy und Balotelli hatten sich hintereinander aufgestellt. Wendy war das Schutzschild, das Balotelli das Zeitfenster beschaffte, eine stärkere Attacke als die Lichtpfeile zu beschwören. Sie war die blitzschnelle Kanonenkugel, die eine Schneise für den Angriff brennen sollte. Doch nicht mit ihm. Nicht mit dem manchmal etwas verschrobenen und abergläubischen Neil, der schon lange keine Lust mehr darauf hatte, immer nur auf der Reservebank zu sitzen. Costas sah auf die Uhr. Nicht mal zwei Minuten waren seit dem Anpfiff vergangen und bereits jetzt stand die Entscheidung kurz vor der Tür. Er griff in die Brotdose, um sich ein zweites Pitabrot herauszuholen, doch glitten seine Finger ins Leere. „Ey...“ Genervt sah er zu Zeph herüber, der es sich auf dem zweiten Campingstuhl bequem gemacht hatte und genüsslich in das Brot biss. Costas verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Da hab ich die Brotdose gerade fünf Minuten offen und schon klaust du mir mein Essen!“ Doch Zeph winkte ab. „Nie, nie, die Brotdose lag auf dem Boden. Einfach so. Hab ich gefunden!“ Der dunkelhaarige Grieche seufzte genervt und schlug die Hand vors Gesicht. „Du hättest auch einfach was sagen können, dann hätte ich dir auch so etwas abgegeben. Ist ja nicht so, als würde ich so schnell verhungern.“ Er grinste und klopfte sich auf den gut genährten Bauch. „Du solltest übrigens auch mehr essen. Wenn einer in diesem Team die undurchdringbare Mauer sein soll, dann bist wohl du das.“ Zeph verstand nicht und kratzte sich fragend die dünnen Bartstoppel am Kinn. „Du bist vorhin umgekippt wie eine billige Holzpalisade aus dem Baumarkt bei einem leichten Sturm, dabei steckt in dir mindestens die Standhaftigkeit von Stahlbeton.“ Diese Metapher verstand Zeph. Er blickte auf seine freie rechte Hand und bildete eine Faust, bevor er ihm antwortete. „Alle sagen immer: 'Zeph, du bist faul, du bist schwach, trainiere mehr.', aber du sagst ich bin stark.“ Er nahm einen großen Bissen und sprach mit vollem Mund weiter. „Gefällt mir gut. Du bist stark, dir glaube ich, nie!“ Eine Druckwelle breitete sich in Neils Mitte aus. Er konnte nicht nur spüren, sondern auch hören, wie sein Herz bis in den Hals schlug. Darter war überall. In jeder Faser seines Körpers, denn sie war ein Teil von ihm. Auch wenn es ihm komisch vorkam, dass ein Teil von ihm ein Mädchen sein sollte, liebte er das Gefühl, wenn sie aus ihm hinaufstieg. Wendy kam auf ihn zu gerannt, einen Kampfschrei auf den Lippen und ihrem Gesichtsausdruck zufolge mehr als nur entschlossen dazu, ihn filetieren zu wollen, doch er war ruhig. Die Knie hatten aufgehört zu zittern. Er wusste, was er tun wollte und auch, was er tun konnte. Er warf die Arme nach vorne und schickte seinen Drachen auf direktem Kollisionskurs mit Sting, der in ein pinkes Flammengewand gehüllt war. Darter löste sich von der Oberfläche und begann augenblicklich mit den Flügeln zu schlagen. Ein schriller Ton erklang. Die Flügel bewegten sich so schnell, dass man nur einen flirrenden Umriss erkennen konnte. Doch man konnte sie hören. Wendy glaubte, ihr Kopf würde platzen. Schützend hielt sie sich die Hände vor die Ohren und bracht die Attacke ab. Auch Balotelli fiel es schwer die bisher gebündelte Energie zu halten. Beide krümmten sich vor Schmerzen und auch Costas und Zeph unterbrachen ihr Gespräch, um sich die Finger in die Ohren zu stecken. Angelos Brillengläser zersprangen. Der einzige, der durch den Lärm nicht beeinträchtigt war, war Neil selbst. Er nutzte die allgemeine Verwirrung und raste auf Wendy zu, um ihr mit dem Drachen eins auszuwischen. Er warf die Arme herum und schnitt eine Kurve an, um nicht Sting, sondern sie selbst zu erwischen, doch Wendy schaltete sofort um und sprang im letzten Augenblick zur Seite. Das war der Moment, in dem Balotelli zuschlagen konnte. Icarus spannte die Sehne des Bogens bis zum Anschlag, bereit einen einzigen, riesenhaften Pfeil abzuschießen. „Zorn des Himmels!“ Der Kampfring wurde in gleißendes Licht gehüllt, gefolgt von einer Explosion, in deren Zuge Darters Schallwellen verklangen. Neils Augen brannten vor Helligkeit. Schützend legte er die Hände vor das Gesicht. Doch es war zu spät: der Pfeil durchschlug seine Brust und warf ihn zu Boden. Der Schock nahm ihm den Atem. Während er dort lag, hörte er noch Wendy „Sting Meteor“ rufen und spürte, wie die Erde ein weiteres Mal unter einer Explosion erzitterte, doch dann wurde ihm schwarz vor Augen. ... Wendy warf schmollend die leere Dose Energydrink beiseite und öffnete die nächste, während Neil sich über einen Eimer gebeugt hatte und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Das konnte doch echt nicht wahr sein! Sie hatte extra gewartet, bis Balotelli durch seine Attacke abgelenkt war, um ihm den Gnadenstoß zu verpassen und dann gab sie sich dabei auch noch selbst den Gnadenstoß! Sie leerte die zweite Dose in einem Zug. Der Schultag hatte noch nicht begonnen, also war an Einschlafen nicht zu denken. Tiefe Augenringe zierten ihr Gesicht und ließen sie noch unumgänglicher aussehen, als ohnehin schon. Angelo hingegen sah ohne seine kaputte Brille, die er bedauernd in ein Etui steckte, viel offener und netter aus. Balotelli lächelte den plötzlichen Anflug von Traurigkeit – die Folgeerscheinung seiner Kirit-Beschwörung – einfach weg. Diesmal war er zwar nicht so erschöpft, dass er in Tränen ausbrechen musste, aber er fühlte sich trotzdem elend. Costas trat in die Mitte der Gruppe und nickte zufrieden. „Ihr wart echt gut heute, meinen Respekt!“ Zur Bestätigung hob er den Daumen. „Zum Glück habe ich nicht gewettet, sonst wäre ich jetzt ärmer!“ Er lachte und setzte sich auf den Boden. „Ein Doppel-K.O.! Das war echt nicht zu erwarten!“ Wendy knurrte gereizt und wiegte die Dose in der Hand. Sie fühlte sich ausgelacht und hatte große Lust darauf, sie dem Griechen an den Kopf zu werfen, doch er patschte ihr nur fest mit seiner dicken Hand auf die Schulter und massierte sie leicht. „Ihr habt wirklich ein gutes Teamwork, das hat man eindeutig gesehen.“ Auch Balotellis Schulter wurde kurz von seiner Hand malträtiert, dann ließ er sich nach hinten fallen und blickte hinauf in den wolkenlosen Himmel. „Aber wisst ihr was?“ Er zeigte nach oben. „Der Himmel ist grenzenlos. Macht euch das immer bewusst, dass das da oben ein unendliches Reservoir für eure Kraft sein kann.“ Alle blickten in die von ihm gezeigte Richtung. Ein Flugzeug zog einen langen weißen Streifen hinter sich her und plötzlich wurde jedem von ihnen bewusst, wie klein sie doch eigentlich unter dieser blauen Kuppel, nein, in diesem ganzen Universum waren. Costas drehte sich auf den Bauch und stützte sein Kinn auf den Händen ab, so dass seine Backen noch dicker wirkten. Als er lächelte, bildeten sich kleine Fältchen unter den schmalen dunklen Augen. „Ihr seid gut, aber noch weit von eurem wahren Potenzial entfernt. Aber wisst ihr was? Ich habe schon eine Idee, was wir als nächstes dafür tun können!“ Kapitel 31: Zyklon und Antizyklon --------------------------------- Die kleinen Messingglocken schellten, als die Tür des kleinen Drachenladens geöffnet wurde. Draußen war es trist und grau, da es schon den ganzen Tag über genieselt hatte. Regennasse Luft kam mit dem Geruch von Benzin und Erde hinein, als eine kleine Gruppe das Geschäft betrat. Regenschirme wurden vor der Türschwelle ausgeschüttelt und in den Ständer getan, Kapuzen zurückgeschoben und die nassen Schuhsohlen am Abtreter provisorisch getrocknet. Dann schließlich wand man sich dem Tresen zu und blickte in ein noch unbekanntes, aber freundlich lächelndes Mädchengesicht. „Hallo und Guten Flug, was kann ich für euch tun?“ Große blaue Augen blitzten die Besucher neugierig an. Fünf Personen. Ein ganz Großer mit ungepflegtem langen Haar, Dreitagebart und trägem Blick, ein etwas dickerer gebräunter, der einen schlabberigen Anglerhut trug, ein blonder Adonis, der nur so vor Selbstbewusstsein strotzte, ein rothaariges Mädchen, das zwar Angst einflößende hellgrüne Augen, dafür aber eine süße Totenkopfhaarspange hatte und ein unscheinbarer dunkelblonder Junge mit knallroten Wangen und Ohren, der es nicht schaffte sie anzusehen und sich nervös über den Rattenschwanz in seinem Nacken fuhr. „Ciao, Bella!“, begrüßte sie der Blonde mit einem Zwinkern und trat an den Tresen heran, um ihr die Hand zu geben. Erst jetzt bemerkte sie das rosafarbene Stirnband, das ihm irgendwie die Ernsthaftigkeit nahm. „Wir wollten eigentlich zum Geschäftsleiter Mister Irwing, ist der gerade in der Nähe?“ Das Mädchen, dessen Haare die Farbe von hellem Milchkaffee hatten, sah irritiert zur Seite. Soviel Glitzer und Zahnweiß auf einmal war ihr doch etwas unangenehm. Und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Typ sie gerade auch noch dezent beschnüffelte. „Äh... Ja...“ Sie trat einen Schritt nach hinten. Den Rest der Gruppe schien das Verhalten des Blonden nicht im geringsten zu stören. „Der macht gerade Pause, aber wenn ihr kurz wartet...“, sie faltete die Hände und brachte sich noch weiter von der glanzvollen Erscheinung weg, „dann kann ich ihn holen“. Costas nahm die Hände aus den Taschen und sah sich um. „Das ist also euer Materiallager?“ Ein enttäuschter, fast schon abschätziger Ausdruck lag in seiner Stimme. „Ziemlich klein, nicht?“ Er begutachtete die verschiedenen Synthetikstoffe, die auf Rollen in mehreren Regalen verteilt lagen und zum Teil schon eingestaubt waren. Wendy verschränkte die Arme und warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Guten Morgen, Schlaumeier. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass wir in einer sehr kleinen Stadt leben?“ Sie wollte gerade eine Stoffrolle aus dem Regal nehmen und sie dem dunkelhaarigen Griechen über den Kopf ziehen, da erschien auch schon der Drachenmeister. „Lange nicht gesehen, meine Freunde. Wünsche euch einen Guten Flug!“ Wie das bei Männern Mitte 50 so war, hatte er sich im letzten halben Jahr kaum verändert. Die rotbraunen Haare, die langsam ergrauten, waren wie immer kurz geschnitten und auch der Vollbart sah struppig wie immer aus. Vielleicht hatte er mehr Falten bekommen, doch lag die Zunahme an feinen Linien unter den Augen im Moment wohl eher daran, dass er die Gruppe anlächelte. „Balotelli! Wie war dein Duell gegen Ethan?“, er reichte ihm die linke Hand, denn auch die Tatsache, dass er noch immer einarmig war, hatte sich – wie sollte es auch nicht anders sein – nicht geändert. „Bene!“1 Ihm war es unangenehm, ebenfalls die Linke zum Händeschütteln benutzen zu müssen, doch er lächelte charmant wie eh und je. „Ihr Tipp gelassener zu werden hat wirklich funktioniert. Und eigentlich hätte ich sogar gewonnen, wenn nicht...“, Wendy hüstelte im Hintergrund, „eine vorzeitige Intervention stattgefunden hätte.“ Der log doch. Wie gedruckt. Das Duell hatte Ethan und ihn fast umgebracht! Wenn jemand am Ende gewonnen hätte, dann wäre es sicher auch Ethan gewesen, weil dessen Schmerztoleranz und Beharrlichkeit um einiges stärker war. Glaubte Wendy zumindest. Mit Sicherheit sagen konnte sie es nicht. Dafür hätte es schon ein weiteres Duell geben müssen, aber so unsicher und niedergeschlagen, wie sie Balotelli neulich erlebt hatte, war dieser gerade bestimmt nicht in Stimmung, sich erneut mit Ethan zu messen. Der Drachenmeister löste den Händedruck, starrte darauf einen Moment lang auf seine Handfläche und leckte anschließend daran. Er nickte zufrieden. „Ich merke schon, du bist stärker geworden.“ Es erfolgte kollektive Gesichtsentgleisung angesichts des Geschmacksbedürfnisses des bärtigen Mannes. Der leckte noch einmal über die Fingerspitzen und fällte dann sein Urteil. „Aber deswegen seid ihr nicht hier. Wenn alles in Ordnung wäre, dann würdet ihr so einen alten Herrn wie mich nicht um Rat bitten, oder?“ Costas legte die Stoffrollen zurück ins Regal und trat voran. „Das stimmt. Ich habe viel über den legendären James Irwing gelesen und habe mir gedacht, dass der sich auch mal sein Bild von den vier Piloten hier machen sollte.“ Geschmeichelt winkte der Drachenmeister ab, freute sich aber insgeheim darüber, dass ihn jemand vor seiner Nichte gelobt hatte. „Ach Junge, das ist doch schon lange her! Ich bin schon lange nicht mehr die Legende, von der du sprichst.“ Costas lachte und klopfte sich mehrmals auf den Bauch. „Ja, genau, und ich bin nur der fette griechische Referendar, der nicht mal Kondition hat einen Drachen überhaupt allein steigen zu lassen, wer's glaubt!“ Von einem Moment auf den anderen verfinsterte sich der Blick des Drachenmeisters. „Ich bin schon lange im Ruhestand und nicht zu Scherzen aufgelegt, was also willst du von mir?“ Er versuchte sich vor dem anderen aufzubauen, was nicht wirklich funktionierte, da beide in etwa gleich groß waren. „Und glaub nicht ich wäre senil und hätte Alzheimer, WM-Dritter Costas Nixas.“ Er stand auf den Zehenspitzen und spuckte dem Jüngeren beim Reden kleine Tropfen ins Gesicht. Sofort brachte Costas einen Meter Abstand zwischen sie und rückte seinen Anglerhut zurecht. „Ich dachte mir, dass Sie sich mal die Kirits der Vier hier anschauen sollten. Einfach ein kurzes, zwangloses Duell, Sie gegen alle anderen.“ Das Mädchen gab einen Laut des Erstaunens von sich und baute sich neben dem Drachenmeister auf. „Aber Onkel James, das ist doch ziemlich unfair! Zumal du nur einen...“ – „Schweig, Libby!“ Sein linker Arm bildete eine Schranke zwischen ihr und dem Rest der Gruppe. Er spannte die Hand an und ließ die Finger knacken. „Du denkst, dass es unfair ist?“ Er gluckste zufrieden, ballte die Faust und hielt sie vor sein Gesicht. „Ja, das denke ich auch. Diese jungen Früchtchen putze ich doch alle auf einen Streich weg!“ Wieder einmal wurde der Drachenladen spontan geschlossen und man begab sich auf eine große Rasenfläche in der Mitte eines Wohnblocks, um ein spontanes Duell auszutragen. Während Balotelli und die anderen ihre Drachen selbst aufbauten, ließ sich der Drachenmeister von seiner Nichte helfen, seinen altbewährten Delta-Lenkdrachen mit dem Gesicht und den Streifen eines Tigers zusammenzustecken. „Nicht schlecht“, begutachtete er Libbys Werk und wurde dabei ein bisschen sentimental. 25 Jahre war es nun schon her, dass ihm sein Widersacher bei einer Weltmeisterschaft den Arm abgetrennt hatte und er beinahe auf dem Platz verblutet wäre, weil er das Duell unbedingt noch gewinnen musste. Am Ende hielt er zwar den Weltcup in den Händen, musste aber mit gerade einmal 27 Jahren seine Drachensportkarriere beenden. Aber das machte nichts. Einen Laden zu besitzen und immer wieder neuen Hobbypiloten und angehenden Profis bei der Auswahl der richtigen Materialien zu helfen, hatte auch etwas Erfüllendes. Besonders, seit seine süße Nichte Libby sich auch für das Hobby interessierte und ihm zweimal die Woche im Laden aushalf. Er nahm die Drachenspulen in die linke Hand – die eine war gelb, die andere schwarz, was eigentlich ziemlich unsinnig war, da es ihm nicht zur Orientierung von rechter und linker Hand half – gab sie dann aber gleich wieder seiner Nichte zurück. „Hört mal zu!“, grollte seine Stimme über den Platz. „Ich möchte mir erst einmal eure Drachengeister ansehen, bevor es ans Eingemachte geht.“ Während Balotelli grinsend, Wendy gewohnt unbeeindruckt und Neil fest entschlossen nickte, ließ Zeph nur ein träges Brummen verlauten. Er hatte letzte Nacht schlecht geschlafen, weil er wieder einen Einsatz hatte und sich schon den ganzen Schultag über quälen müssen. Eigentlich wollte er schon längst im Bett liegen und ein paar Stündchen vor sich hin dösen, doch wieder einmal hatte ihn das strahlende Gesicht des Teamchefs, das ihn dazu genötigt hatte nach der Schule doch noch mitzukommen, um den Schlaf gebracht. Die Kirits zeigen... Das war für ihn eher Fleischbeschau. Und Fleisch war bekanntlich weder an seinem Kirit, noch an ihm selbst viel dran. Aber er wollte stärker werden. Er wollte der standhafte Spieler werden, an dem sich die Gegner die Zähne ausbissen, während er nur schief lächelte und auf eine passende Kontermöglichkeit wartete. Also mitmachen, die richtige Windböe abpassen, Anlauf nehmen und... „LIFT 'EM UP!“ Kritisch dreinblickend rieb sich der Drachenmeister das bärtige Kinn und lief vor den vier Kite Knights auf und ab. „Interessant“, murmelte er, gefolgt von „Aha!“ und „Hmm...“. Jeder der vier strengte sich an, seinen Seelenpartner auf Sichthöhe schweben zu lassen, was dazu führte, dass Darter und Sting leicht in der Luft auf und ab tanzten, Icarus, zwei Köpfe größer, mit angelegten Flügeln vor Balotelli stand – die Ähnlichkeit der beiden war deutlich zu erkennen – und Aquila, oder eher der Haufen, der einen Vogel-Kirit darstellen sollte, vor Zeph auf dem Boden hockte. Neil musterte interessiert die Darbietung der anderen. Großes Selbstvertrauen zierte Balotellis Gesicht und Wendy kicherte leise, obwohl das Halten der Energie ihnen viel Konzentration abverlangte. Nur Zeph wurde immer mürrischer und unzufriedener und brabbelte leise auf Polnisch vor sich hin. Eine Frage brannte auf Neils Zunge, die zu stellen er sich eigentlich schämte. Was, wenn sie ihn alle für verrückt und abnormal halten würden, wenn er es ihnen sagte? Er senkte den Kopf und seufzte. Lieber nicht fragen und abwarten, bis der Drachenmeister sich wieder zu Wort meldete. „Piccolo, was überlegst du denn gerade? Hat dich die strahlende Schönheit meines heroischen Kirits verunsichert?“ Dasselbe Gesicht blickte ihn doppelt grinsend an und machte ihn so unsicher, dass er zu stottern begann. „Sa...sagt mal, s-p-p-p-prechen eure Ki-ki-kirits eigentlich aaauch mit euch?“ Jetzt war es raus. Jetzt würde er ausgelacht werden. Peinliches Erlebnis erwartet in 3, 2, 1... „Kurwa!“2, zischte Zeph und blickte dabei grimmig Aquila an. „Kann einfach nicht ruhig sein, nie! Immer schimpft sie mit mir, sagt 'Zeph, du bist faul! Du kannst nichts, rasiere dich mal, wasch dir die Haare!', sehr nervig.“ Der Drachenmeister ging vor dem großen Steinadler auf die Knie. „Das habe ich schon vermutet. Weil ihr beide kein Team seid, kann dein Kirit – du sagst es sei ein Mädchen, ja? – nicht komplett beschworen werden.“ Zeph zog die Nase hoch. „Ist normal, nie? Männer haben Frauen, Frauen haben Männer als Kirits?“ Er deutete auf Balotelli. „Nur der nicht, weil der ist homo.“ Neil und Libby gaben ein erstauntes „Oh?“ von sich, doch Balotelli lachte nervös. „Das hat doch damit nichts zu tun! Dann wäre meine Schwester ja...“, er konnte es nicht aussprechen. Seine kleine, süße Schwester Ocarina, deren Kirit sich erst kürzlich als eine hell leuchtende Hummelfee herausgestellt hatte, konnte unmöglich... Die Vorstellung allein... Oh, oh, oh... „Damit hat das wirklich nichts zu tun!“, gab ihm der Drachenmeister recht und sah sich Sting und Darter an. „Kirits haben nicht wirklich Geschlechter. Und wenn sie sich doch mehr als das eine oder das andere zeigen, dann ist das trotzdem rein zufällig.“ Er richtete seinen Blick auf Wendy. „Was geht in dir vor, wenn du deinen Kirit beschwörst?“ Sie sah zufrieden aus. „Sting macht immer Witze, um mich damit anzuheizen.“ „Und du?“ Er fixierte Neil. „Darter ist...“, er wurde knallrot, „sie macht mir Mut und sagt mir, dass ich ein toller Typ bin...“ Mann, war das peinlich! Und Libby hörte das auch noch mit, wie er die indirekte Selbstbeweihräucherung durch seinen Drachengeist der Öffentlichkeit preisgab. „Si, Icarus sagt mir auch immer, dass ich der Beste bin!“, schwärmte Balotelli und blickte dem geflügelten Helden zwinkernd ins Gesicht. „Wir sagen uns immer wieder gegenseitig, dass wir die Stärksten und Bestaussehendsten von allen sind, migliore!“ Wendy unterdrückte den Würgereiz. „Wie ich mir gedacht habe!“, sagte der Drachenmeister erneut und sah wieder Zeph an. „Jeder schafft es, mit seiner anderen Hälfte in Einklang zu sein, nur du nicht!“ Er tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Aber das ist okay. Du bist noch jung und bekommst das noch hin.“ Zeph fühlte sich nicht gerade motiviert von den Worten des mittelalten Mannes. Aquila prügelte noch immer verbal auf ihn ein und nahm ihm das letzte Fünkchen an Kampfgeist. Selbst Wendy hatte es nach langem Ringen mit sich selbst geschafft und war ein anderer Mensch geworden, der das Drachensteigen in vollen Zügen genießen konnte. Der Drachenmeister klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Zieh nicht so ein Gesicht, Bursche! Jetzt kloppen wir uns erst einmal eine Runde, und dann geht es dir besser!“ Er wandte sich seiner Nichte zu, die noch immer schüchtern im Hintergrund stand. „Libby, setz doch schon mal den Kaffee auf. Das hier wird nicht lange dauern!“ Als die liebevoll selbstgebackenen Kekse, die in den unterschiedlichsten Tierformen und Kakaoanteilen daherkamen, auf den Tisch gestellt wurden, war Costas der Erste, der mit seinen dicken Finger in die Schüssel griff und zielsicher nach dem Krokodil fischte. Während der Drachenmeister seinen kochend heißen schwarzen Kaffee schlürfte und Libby ihren Kaffee noch mit viel Milch und noch mehr Zucker streckte, waren die vier Kite Knights noch immer nicht ansprechbar. Kreidebleich um die Nase saßen alle – bis auf Balotelli, der seine Verunsicherung einmal mehr gekonnt weglächelte, aber sich durch das Zittern seiner Hände verriet – auf einer Sitzbank im Garten und sahen apathisch ins Leere. Neil würgte leise. Es hatte schon lange aufgehört zu nieseln und die Vögel waren erneut aus ihren Unterschlüpfen herausgekommen, um zu zwitschern. An den Kanten des Sonnenschirms, unter dem sie saßen, sammelte sich das Regenwasser und tropfte nach unten. Stille. Tropf. Tropf. Tropf. SCHLÜRF. Knurps-knurps. Zurückhaltend, als würde er sich an den Keksen verbrennen, griff Neil in die Schüssel. Jetzt bloß nicht wieder kotzen müssen! Ein schüchternen Blick in Libbys Richtung erfolgte, die ihm freundlich zunickte, als er dem Vogel – War es ein Albatros? – den Kopf abbiss. Tränen schossen ihm in die Augen. Der Geschmack war so wundervoll, dass er ganz sentimental wurde und an die Plätzchen seiner Großmutter denken musste. Was die wohl gerade machte? Bestimmt die Kühe melken, die Schafe scheren, oder aber den Stall ausmisten. Sein Gesicht, das erst ein leichtes Rosa angenommen hatte, wurde erst rot, dann weiß und schließlich ungesund blau. Er hielt sich die Hände vor den Mund und versuchte den Würgereiz noch zu unterdrücken, doch war sein Wille schwächer als sein Körper. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, rannte zu dem nur wenige Schritte entfernten Fliederbusch und übergab sich heftig. Libby sah ihm enttäuscht nach. Kleine Tränen der Enttäuschung bildeten sich in ihren großen, blauen Augen. „Sind meine Kekse denn wirklich so schlecht?“ Sie kannte ja viele Reaktionen, aber dass jemand schon nach einem Bissen seinen kompletten Mageninhalt nach außen beförderte, kam selbst für sie überraschend. Doch Balotelli winkte ab: „Ma no! Der Kaffee und die Plätzchen sind wirklich wunderbar! Piccolo reagiert nur äußerst sensibel auf Anstrengung.“ Neil setzte sich zurück an den Tisch und griff nach einer Serviette, um sich den Mund abzuwischen. Mann, das war ja total peinlich! So konnte er Libby doch nie wieder unter die Augen treten! Mit roten Ohren und gesenktem Blick hörte er daher nur halbherzig zu, als der Drachenmeister nun endlich erklärte, was vorhin passiert war. Alles hatte ganz harmlos angefangen. Mister Irwing hatte seinen Drachen steigen lassen – auch wenn Neil die Lift-Technik doch ziemlich albern vorkam, weil er sie mit einem Arm ausführte und ihr die Bezeichnung „Rolling Punch“ gegeben hatte – und sie gebeten ihn anzugreifen. Alle stürzten sich sofort auf ihn. Er beschwor seinen Kirit, der trotz feuerspeiender Tigergestalt auf den Namen Leon hörte, und dann... Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Ein Schritt auf Zeph zu und ein kurzes Aufeinandertreffen von Leon und Aquila. Aquila verschwand, Zeph wurde, wie so häufig, zu Boden geschleudert und verlor die Kontrolle über den braunen Steinadlerdrachen. Mit dem Schwung aus dieser Attacke ging er nun auf Wendy zu. Goldenes Feuer vermischte sich mit pinkem zu einem Wirbel, den er auf Balotelli schickte, der ohnehin anfällig für Nahkampfattacken war. Icarus ging in Flammen auf und stürzte auf Wendy hinab, die sich mit einem Hechtsprung zur Seite retten musste. Sting blieb im Gebüsch hängen und war ausgeschieden. Schließlich stürmte der Drachenmeister auf Neil zu, der Darters Ultraschallattacke ausführte, um den mächtigen Gegner auf Distanz zu halten. Doch die hell lodernde Feuersbrunst, die er zuvor bei Wendy angezapft hatte, prallte auf die Schallwellen und verursachte eine laute Explosion. Neil behielt zwar die Kontrolle über seinen Drachen, doch die Kraft seines Kirits schwand, sodass ein weiterer Angriff ihm den Gnadenstoß gab. „Im Grunde habt ihr alle gar keine Ahnung, was vorhin passiert ist, nicht?“ Er nahm noch einen großen Schluck aus der Kaffeetasse, stellte diese dann ab und wischte sich über den buschigen braunen Bart. Betretenes Nicken. Nur Costas lehnte sich wissend zurück und winkelte lässig ein Bein an. Der Drachenmeister erhob sich. „Wenn ich euch nun also sage, dass in eurem Team ein Zyklon und drei Antizyklone sind, dann hört sich das bestimmt neu für euch an, nicht?“ Er blickte in fragende Gesichter. „Und wenn es mich nicht täuscht, dann müsste dieser unscheinbare Japaner, Hayate hieß er glaube ich, auch ein Zyklon sein.“ Wendy verschränkte die Arme und hob genervt eine Augenbraue. „Reicht es nicht einfach uns zu sagen, dass wir zu schwach sind und mehr trainieren müssen?“ Sie schlug die Beine übereinander und tappte mit dem Standfuß mehrmals auf den Boden. „Wir waren zu Viert und haben gegen einen... einarmigen Banditen verloren, der seine besten Jahre schon hinter sich hat. Und das nur...“, sie äffte seinen Tonfall nach, „weil ihr keine Ahnung über Zyklone und Antizyklone habt“. Sie war müde und gereizt und nicht mal Kaffee und Zucker halfen ihr dabei wieder auf die Spur zu kommen. Natürlich hatte sie erwartet, dass es kein leichter Kampf werden würde, aber einfach so ausgebootet zu werden, ohne überhaupt eine richtige Attacke zeigen zu können, gab ihrem Selbstvertrauen doch einen herben Dämpfer, zumal sie auch nicht gerade glücklich darüber war, dass sie maßgeblich dazu beigetragen hatte Balotellis Drachen zu zerstören. „So ist es“, gab der Drachenmeister ihr Recht und blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Eine Windböe zerzauste sein kurzes Haar und den gestutzten Bart. So wie er dastand, erinnerte er Wendy ein wenig an ihren Vater, dessen Erscheinung aber um einiges wilder und kantiger war. Und so fühlte es sich auch an. Wie von Eltern belehrt zu werden, wenn man aus Unwissen einen Fehler begangen hatte. „Den Zusammenhang zwischen Drachensteigen und Wetter kennt ja jeder. Kein Wind, keine Drachen, so einfach ist das.“ Er fuhr sich über das Kinn und überlegte, wie er es so einfach wie möglich erklären könnte. „Dabei gibt es Aufwinde und Fallwinde.“ Er wandte den Blick vom Himmel ab und sah erneut den fünf Gästen ins Gesicht. Libby war eine weitere Kanne Kaffee holen gegangen. „Wenn ich euch nun also sage, dass jeder Pilot durch seinen Kirit selbst indirekt das Wetter verändert, glaubt ihr mir das dann?“ Jeder prüfte in seiner Erinnerung all die Drachenduelle, die er selbst ausgetragen oder erlebt hatte. „Balotelli!“ Der Angesprochene schreckte für einen kurzen Moment hoch, als die schneidende Stimme des Erwachsenen ihn direkt ansprach. „Wann immer du dich duelliert hattest, gab es danach schönes Wetter, nicht?“ Er nickte zustimmend. „Mädchen!“ Er konnte sich Wendys Namen nicht merken. „Bei dir ist das doch genau so!“ Wendy, die noch nie großartig darüber nachgedacht hatte, erforschte ihren Geist. Grübelnd kräuselte sie die Stirn und biss sich auf die Lippe. „Das ist ja auch normal, wenn man Feuer und damit Hitze erzeugt.“ Der Drachenmeister schlug mit der Faust auf den Tisch und zeigte dann auf sie. „Bingo! Und was ist Wärme? Ein Hochdruckgebiet!“ Neil klatschte mit der Hand auf seine nackte Stirn. „Das ist es!“ Er erinnerte sich dunkel an den Erdkundeunterricht der Mittelschule. „Ein Hoch ist ein Antizyklon und es dreht sich immer im Uhrzeigersinn.“ Der Groschen war gefallen. Mit einem Mal verstand jeder, warum der Drachenmeister so schnell gewinnen konnte. Er, der selbst das Feuer kontrollierte und ebenfalls ein Antizyklon war, hatte sich die rechtsdrehenden Luftströme, die Zeph, Wendy und Balotelli umgaben, zunutze gemacht. Er hatte erst Zeph ausgehebelt, Wendys Energie angezapft, Balotelli in der nächsten Luftumdrehung damit angegriffen und schließlich den letzten Schwung genutzt, um auch Wendy zu eliminieren. „...und als ich angegriffen wurde, da trafen rechts- und linksdrehende Luftströme aufeinander und es gab einen Knall.“ Wow. Da glänzte er einmal mit Wissen und dann war die hübsche Nichte des Drachenmeisters nicht da. „Richtig, Bürschchen. Normalerweise würden beide Ströme sich dann aufheben, aber weil ich deutlich mehr Erfahrung und Kraft habe, kam ich trotzdem durch und konnte dir eins überbraten.“ Er lächelte zufrieden und setzte sich wieder an den Tisch. „Nur, damit ich das richtig verstanden habe...“, meldete sich der blonde Italiener zu Wort, „Ethan ist bestimmt ein Zyklon, si?“ Mister Irwing nickte bestätigend. „Ihr habt euch solange geprügelt, bis keiner mehr durchkam, oder?“ Libby war zurückgekehrt und schenkte ihm eine weitere Tasse heiß dampfenden Kaffee ein. „Plus und Minus ergibt Null.“ Wieder trank er, ohne vorher zu pusten, einen großen Schluck. „Natürlich konntet ihr das bisher nicht so genau feststellen, weil ihr fast alle Antizyklone seid. Ihr habt euch nur immer gegenseitig stärker gemacht. Selbst Costas mit dem Erdelement ist ein Antizyklon. Nur euer Neuer hier, der kontrolliert den Wind und ist ein Zyklon.“ Alle Blicke richteten sich auf Neil, der schon wieder rot geworden war, als Libby zurückkam. Er fühlte sich dazu verpflichtet etwas zu sagen, doch einmal mehr verließ ihn die Fähigkeit zu sprechen. Zum Glück meldete sich Zeph zu Wort. „Dachte immer, ich wäre Wind. Aquila ist ein Vogel, warum bin ich dann ein Antizyklon?“ Der Drachenmeister klopfte sich einmal fest auf den Oberschenkel und leckte sich über die Lippen. „Du Lulatsch bist eben nicht das, was du zu glauben gedacht hattest! Aber weißt du was?“ Er leerte die Kaffeetasse in einem Zug und deutete an, dass ihm die Gruppe wieder in den Laden folgen sollte. „Ich habe eine gute Idee, wie du es herausfinden könntest, aus welchem Element du deine Stärke beziehst. Ich finde nämlich, ihr solltet nächstes Wochenende unbedingt einmal wandern gehen!“ Kapitel 32: Der Grabhügel im Nirgendwo -------------------------------------- Keiner gab auch nur einen Ton von sich, als der Drachenmeister eine vergilbte Schriftrolle, deren Kanten der Zahn der Zeit bereits abgenagt hatte, aus dem Hinterzimmer holte und sie auf dem Tresen des Drachenladens ausbreitete. An vielen Stellen war die Farbe abgeblättert und kleinere Bruchstücke stoben beiseite, doch konnte man, nachdem beide Enden provisorisch mit Büchern beschwert wurden, erkennen, dass es sich bei dem Dokument um eine Landkarte handeln musste. Der Drachenmeister befeuchtete sich die Lippen und sah ernst in die Runde der jungen Menschen, die sich vor dem Tresen versammelt hatten und so gar nicht wussten, was der in ihren Augen verrückte alte Mann ihnen mitteilen wollte. Wandern sollten sie gehen – so hatte es Mister Irwing ihnen an der Kaffeetafel geraten – doch wie dabei eine antiquierte Karte helfen sollte, war ihnen schleierhaft. Besonders Zeph war von der Angelegenheit nicht begeistert, gab es für ihn doch deutlich wichtigere Dinge an einem Wochenende zu „entdecken“, als einen anstrengenden Gewaltmarsch durch Mutter Natur zu unternehmen. Konzentriert fuhr der Drachenmeister mit dem Zeigefinger die Karte ab und murmelte dabei leise vor sich hin. Schließlich blieb er auf einem Hügel stehen, tippte mehrmals auf den dort eingezeichneten Kreis und sagte laut: „Na da haben wir es doch!“ Die Gruppe blickte fragend auf die Karte. Zeph stöhnte genervt. „Ist ganz schön weit weg vom nächsten Ort! Auf einem Berg auch noch!“ Er schüttelte den Kopf. „Dauert bestimmt lange, dorthin zu laufen, nie?“ Die Faust des Drachenmeisters schlug so fest auf die Tischplatte, dass die Bücher, welche die Schriftrolle fixierten, einen Satz nach oben machten. „Und deswegen scheiterst du immer, du fauler Sack!“ Er wollte abschätzig ausspucken, doch hielt er sich in der Anwesenheit seiner hübschen Nichte, die ganz erschrocken von dem plötzlichen Wutausbruch war, zurück. Mit grimmigem Blick beugte er sich über den Tresen und fixierte den schlaksigen Polen. „Ich bin gerade dabei, euch Zugang zu dem größten Geheimnis des Kite-Universums zu machen und du... DU denkst mal wieder nur an deine eigene Bequemlichkeit!“ Er atmete tief durch, straffte die Schultern, legte den Kopf in den Nacken und hob theatralisch den Arm. „Das, was euch dort erwartet, ist ein heiliger Hain! Seit Urzeiten wurden dort Rituale für den Windgott Äolus abgehalten! Es ist das bestgehütete Geheimnis, das nur die wenigsten Piloten jemals erfahren dürfen, da es ihre Vorstellung vom Drachensteigen komplett auf den Kopf stellen würde!“ – „Wow, toll, ein paar Steine, die in der Gegend rumstehen!“, bemerkte Wendy zynisch. Angelo, der erst kürzlich von seinem Intensivkurs zurückgekommen war und die Performance der anderen deshalb verpasst hatte, hatte seinen Tablet-PC herausgeholt und bereits die Koordinaten der angeblichen Kultstätte herausgesucht. Es gab sogar eine bebilderte Internetseite dazu, der man entnehmen konnte, dass es sich wirklich um den unspektakulärsten der unspektakulärsten Steinkreise handelte, von denen es im ganzen Land mindestens 200 gab, die im Grunde genauso aussahen. Und weil er so abgelegen war, kamen nicht einmal New Age Gurus auf die Idee, dort am Wochenende ihren Würstchengrill aufzubauen und barbusig die Sonne anzubeten. „Ihr... Kinder...“ Enttäuscht sackte Mister Irwing hinter dem Tresen zusammen. „Ist doch nicht so schlimm, Onkel James!“ Libby klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, unfähig etwas anderes sinnvolles zu tun. „Diese Jugend von heute... Und nicht mal du, Balotelli, brichst in Begeisterungsstürme aus... Dabei habe ich gerade von dir erwartet, dass dich meine Worte überzeugen würden...“, jammerte er leise, doch der blonde Teamchef der Kite Knights hörte ihm gar nicht zu. Angelo nämlich war so überzeugend in seiner Argumentation, dass wirklich niemand Interesse daran hatte, dem Vorschlag für einen Wanderausflug zuzustimmen. Alle, bis auf... „Also ich ... finde die Idee ganz gut!“ Neil umgriff fest die Tischkante, um seine Nervosität zu unterdrücken, und beugte sich soweit nach vorne, dass er das Häufchen Elend hinter dem Tresen sehen konnte. „Si?“ Balotelli hob fragend die Augenbraue. Er war zwar immer für ein Abenteuer zu haben, doch wusste er, dass er spätestens am Montag nach der Wandertour ein schlechtes Gewissen haben würde, weil er seine Eltern und deren Mitarbeiter gerade zur Stoßzeit in der Pizzeria alleingelassen haben würde. Und wenn auch noch Wendy Urlaub nehmen musste, dann – so wusste er – würde sein absolut nicht stressresistenter Vater spätestens am Dienstag mit theatralisch schmerzverzerrtem Gesicht in der Ecke liegen und in bester italienischer Manier sofort den Krankenwagen und gleich noch den Bestatter rufen, weil er – „Ah! Mamma Mia!“ – ja so geschwächt sein würde, dass er unmöglich noch einen weiteren Tag voller Arbeit überleben würde. Neil schluckte seine Angespanntheit hinunter und fuhr fort. „Wer weiß, was uns dort erwartet? Allein von Fotos und Beschreibungen von Touristen kann man doch nicht sagen, dass dort wirklich nur ein Haufen Steine ist. Vielleicht ist dort etwas, das man nur erkennt, wenn man Drachensteiger ist! Irgendetwas ganz Besonderes, vielleicht Magisches... So wie unsere Drachengeister zum Beispiel... Oder so ... ähnlich...“ Je länger er sprach, desto roter wurde er im Gesicht. Am Ende wurde seine Stimme ganz dünn und die Röte hatte sogar die Ohren erreicht. Im nächsten Moment, das wusste er, würde er keinen Ton mehr herausbekommen und bestimmt anfangen zu schwitzen. Oh Mann, wie peinlich... „Du sagst es, Bürschchen!“, brüllte der Drachenmeister und schlug Neil so kräftig auf die Schulter, dass dieser husten musste. „Es ist alles eine Frage der Perspektive! Und ich verspreche euch, dass euch nach zwei Tagen in der Wildnis, so ganz ohne Klo und nur mit Dosenravioli im Rucksack, so einiges klarer werden wird!“ Er rollte die Karte zusammen und klatschte sie Neil gegen die Brust, damit er sie an sich nehmen konnte. „Und jetzt raus aus meinem Laden! Raus!“ Er sprang über den Tisch und schubste sie zur Tür. „Und denkt nicht dran, dass ich euch wieder hier reinlasse, bevor ihr nicht ein paar Selfies von euch vor dem Steinkreis auf Facebook hochgeladen habt!“ Er hob Zeige- und Mittelfinger und deutete erst auf seine eigenen Augen, und dann in Richtung der Gruppe. „Ich beobachte euch... Auch online!“ … Als die Ladentür zuknallte und sie hinter sich die Messingglocken schellen hörten, war es Wendy, die nach einer gefühlten Ewigkeit als erste das Wort wiederfand: „Der Typ hat doch echt einen an der Klatsche...“ Die anderen nickten zustimmend. Nur Balotelli war seltsam still geworden und starrte mit vor Schock geweiteten Augen auf den Asphalt: „Dosen... Ravioli...“ Das Wochenende war gefühlt viel schneller gekommen, als diese Wanderung nun schon dauerte. Der Himmel war strahlend blau und es wehte ein laues Lüftchen, das die Blätter der Laubbäume, die den stetig ansteigenden Kiesweg umsäumten, leise zum Rascheln brachte und diese ein Spiel aus Licht und Schatten auf den Boden werfen ließ. Eigentlich war es der perfekte Tag für einen Kurzurlaub in Mutter Natur und das perfekte Wetter, um gute Laune zu haben. Nur irgendwie ... zog das ganze an Wendy – und zur Verwunderung aller auch an Balotelli – vorbei. Beide mühten sich ab, sich den Hügel hinauf zu wuchten, die eine, weil sie trotz langer Ärmel, Hut und reichlich Sonnencreme bereits krebsrot im Gesicht war, der andere, weil er aus Angst vor kulinarisch minderwertigem Dosenfraß seine halbe Küche in einem großen Campingrucksack, der bei einer Fernreise mit dem Flugzeug bestimmt einen Zettel mit der Aufschrift „extra heavy“ aufgeklebt bekommen hätte, mit sich schleppte. Neil, der in allem Mittelmaß war, bildete auch diesmal die Mitte und ließ sich von Costas, der selbstverständlich als Begleitperson auf diese „Studienreise“ mitgekommen war, ein Ohr im Bezug auf die Vorzüge von Frauen mit großen Brüsten und großem Gesäß abkauen, während Angelo, getrieben von seinem Forschergeist, und Zeph, getrieben von dem Willen, endlich stärker zu werden, fast außer Sichtweite voran preschten. Am Anfang hatten sie sich noch unterhalten, doch nun herrschte Schweigen, nur durchbrochen durch das regelmäßige Keuchen und Schnaufen im Takt mit dem knirschenden Kies unter ihren Schuhen. Ab und zu hatte Balotelli noch versucht, Wendy mit einem kurzen „Findest du nicht auch, dass du ein bisschen zu dick angezogen bist?“ davon zu überzeugen, doch zumindest die schwarze Clubjacke auszuziehen, doch nachdem sie ihn jedes Mal mit „Vergiss es! Im Gegensatz zu dir werde ich in der Sonne rot und nicht braun! Sieh dich doch mal an! Wir sind erst drei Stunden unterwegs und du siehst aus wie zwei Wochen Strandurlaub am Mittelmeer! Das ist total unfair!“ angeblafft hatte, beließ er es dabei vorerst sämtliche Konversationsversuche einzustellen und konzentrierte sich stattdessen auf seine eigenen Schritte. Es kam ihm vor, als hätte man ihm Bleigewichte umgeschnallt, so sehr drückte ihn das Gewicht auf seinen Schultern nach unten. Jeder Schritt war eine Qual und die Muskeln schmerzten – und er wusste ganz genau, dass er selbst daran Schuld war. Aber lieber sich zu Tode schleppen, als am Ende eine Dose mit Ravioli oder Spaghetti über dem Lagerfeuer erwärmen zu müssen. Das konnte seine Ehre als Italiener doch nicht zulassen! Niemals! Auch Hayate hätte die Last sicher ohne das Gesicht zu verziehen getragen... Er hätte konzentriert einen Fuß vor den anderen gesetzt und hätte sich vollkommen in seinen Geist zurückgezogen, so wie er es immer tat, wenn er vor einer besonders schwierigen Aufgabe stand. Wann immer es einen komplizierten Bericht für die Schule zu schreiben gab, wann immer er verbissen an einer neuen Technik für Shinigami feilte und wann immer er seine täglichen Iaidô-Übungen durchführte, war Hayate so konzentriert, dass er sich nicht einmal aus dem Konzept bringen ließ, wenn er, der superheiße Balotelli … „Leute, ich glaube, wir sind da!“ Neils Rufen durchbrach einen Gedankengang, der Balotelli ebenso rot im Gesicht hatte werden lassen, wie Wendy. Sie hatten das letzte Waldstück hinter sich gebracht und näherten sich nun der Hügelkuppe, die mit saftig grünem Gras und Wildblumen bewachsen war. Ein Windzug ließ die Löwenzahnsamen wie kleine Fallschirme durch die Luft sausen. Bienen und andere Insekten summten an jeder Blüte und es roch durch und durch nach Sommer. Der blonde Teamchef hielt sich die Hand vor das Gesicht und blickte nach oben. Die Sonne stand bereits tief am Nachmittagshimmel und stach in seinen Augen. Dort, in nicht einmal hundert Metern Entfernung, standen Zeph und Angelo vor einem beginnenden Steinkreis und winkten ihnen zu. Wendy stöhnte entnervt und beschleunigte ihren Schritt. „Können wir nicht wieder in den Wald gehen? Dort gibt es wenigstens Schatten!“ Kaum auf dem Hügel angekommen, suchte sie sich schon den größten Monolithen, um sich in dessen Schatten niederzulassen. Hektisch öffnete sie ihren Rucksack und holte einen Spiegel und eine kühlende Salbe heraus. „So ein Mist!“ Knallrot. Definitiv knallrot. Auch Hals und Nacken waren verbrannt und zeigten einen deutlichen rot-weißen Übergang zu den von der Jacke bedeckten Stellen. Kurz vergewisserte sie sich, dass Costas und die anderen damit beschäftigt waren die Sachen auszupacken und die Zelte aufzubauen, dann zog sie ihre Handschuhe aus. Sieben Monate war es jetzt schon her, dass Sting ihr die Hände verbrannt hatte. Die Wunden waren zwar gut verheilt und auch die Beweglichkeit der Hände war wieder vollkommen hergestellt, doch hatten die Narben einen hässlichen rosafarbenen Ring um ihre Handflächen hinterlassen, den sie nicht unbedingt jedem zeigen wollte. Nicht, weil sie sich entstellt fühlte. Die Verbrennungen waren für sie ein Zeichen von Schwäche und Versagen, etwas, auf das man unmöglich stolz sein konnte. Und außerdem hatte sie keine Lust jedem, der daherkam und auf ihre Hände starrte, auf die Frage „Was hast du denn mit deinen Händen gemacht? Sieht ja böse aus!“ zu antworten. Deshalb cremte sie sich schnell Gesicht und Hals ein und zog sich die Handschuhe wieder an, noch ehe die kühlende Wirkung der Salbe einsetzte. Nein, diese Narben sollten wirklich nur ihre Familie und ein paar Personen, die sie an einer Hand abzählen konnte, sehen dürfen. „Warum denn so nachdenklich, du Hummerkrabbe?“ Costas lehnte sich lässig gegen den Felsblock und grinste breit. Wendy verzog das Gesicht. Ausgerechnet der! Na ja, wenigstens vergrößerte er durch seinen dicken Körper den Schatten... „Bist du ganz erschöpft von der Wanderung? Aber keine Sorge, ich als fürsorgliche Lehrperson werde dir nachher gerne im Zelt den Rücken massieren!“ Er hob beide Daumen und zwinkerte. „Glaub mir, schon so manche Dame war ganz begeistert von meiner Handarbeit!“ Die Rothaarige spürte eine Ader an ihrer Schläfe pochen. Wenn sie nicht ohnehin schon rot gewesen wäre, hätte ihr Gesicht nun eindeutig Zornesröte angenommen. „Warum muss ich mir das überhaupt anhören?“, keifte sie ihn an und sprang auf. Ihre Stimme war so laut, dass sie zwischen den Felsen widerhallte und alle für einen Moment erschrocken zu ihnen hinübersahen. „Ich weiß ja nicht, was du dir dabei denkst, aber ich bin definitiv nicht das Quoten-Mädchen“, sie hüstelte und sah sich um, „ja gut, ein bisschen schon, aber... Aber das gibt dir noch lange keinen Grund, ständig deine perversen Witze mit mir zu machen!“ Sie schubste ihn so heftig, dass er zu Boden ging. Costas erbleichte und hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, Wendy, so war das doch gar nicht gemeint!“ Sie trat mit festem Schritt auf ihn zu und knackte mit den Fingern. Ein dunkler Schatten hatte sich vor ihre Augen gelegt. „Ich meine“, Costas brach der Schweiß aus, „ich wollte doch nur nett zu dir sein! Immerhin sind wir sechs Personen mit drei Zelten, bei irgendwem musst du doch schlafen! Und ich dachte, wenn der liebe Herr Lehrer verantwortungsbewusst und nett zu dir ist, dann musst du keine Angst haben, dass heute Nacht die perverse, überschäumende Jugend deiner Mitschüler über dich herfällt!“ Wendys Faust zuckte und sie sog scharf die Luft ein. Armselig, wie er dort vor ihr lag und sich fast in die Hosen machte, der „liebe Herr Lehrer“! Am liebsten wollte sie ihm gleich eine ihrer 25 Wrestling-Techniken, bei denen der Gegner garantiert ohnmächtig wurde, zeigen. Ungelenkig wie ein Insekt drehte sich der dunkelhaarige Grieche auf den Bauch und versuchte weg zu krabbeln, doch ein umgefallener Hinkelstein versperrte ihm den direkten Fluchtweg nach vorne. Wendy kam näher und näher und... „Bellissima!“ Mit strahlendem Lächeln sprang Balotelli zwischen die beiden Streithähne und ergriff die verkrampfte Hand der Rothaarigen. „Calma e gesso!“1 (#sdfootnote1sym) Er legte ihre Hand an seine Brust und näherte sich ihr bis auf wenige Zentimeter, so wie er es mit Neil an seinem ersten Schultag gemacht hatte. Glitzernde Funken sprühten in seinen blauen Augen und es war fast, als sprossen Rosen rund um sein Gesicht hervor. Wendy schluckte die aufkommende Galle herunter. Was war denn nun schon wieder? „Bitte reg dich nicht über solche trivialen Dinge auf! Dein Held naht! Sieh mich an, ich bin hier!“ Er umfasste ihre Hüfte und zog sie noch näher an sich heran. Es fehlte nur noch kitschige Geigenmusik, um das Bild zu komplettieren. „Du musst keine Angst haben! Ich weiß schon, was du willst!“ Er warf sein blonden Haar zurück, schloss die Augen und legte zwei Finger an die Stirn. Seine leuchtende Aura hatte eine lähmende Wirkung auf Wendy. „Hach... Heute Nacht. Nur wir beide. Allein in einem Zelt.“ Seine linke Hand legte sich an ihr Kinn, die rechte an ihre Schulter. Nein. Nein. Nein. „Was da wohl noch alles passieren wird?“ Jetzt der auch noch. Oh, bitte nicht! Seine Lippen kamen immer näher. Wendy wollte sich wehren, doch schien ihr ganzer Körper bewegungsunfähig zu sein. Sie spürte seinen heißen Atem, der über ihr Gesicht strich und sah, wie sich seine blauen Augen schlossen. Der wollte doch nicht etwa... Nur noch wenige Millimeter trennten sie voneinander. Würde es so enden? Würde dies der erste Kuss Wendy O'Callaghans sein? Vergeben an einen schmalzigen italienischen Schönling, der ihr damit eigentlich nur einen Streich spielen wollte? In Gedanken malte sie sich aus, wie sie eines Tages gemeinsam vor dem Traualtar standen und er einen strahlend weißen Anzug mit einer lachsfarbenen Rose im Knopfloch trug. Ihr Vater würde heulen wie ein Baby und ihre Mutter würde wie blöd mit der Kamera umherspringen. Und dann würden sie in die Flitterwochen fahren und kleine blonde Balotellis mit grünen Augen und Sommersprossen machen, mit denen sie dann Drachen steigen lassen würden, sobald sie alt genug waren. Doch irgendwie... fühlte es sich falsch an. So falsch. Ihr Herz raste wie wild und pochte laut in den Ohren. Nein, so durfte es nicht enden. NIEMALS! Als Balotelli in hohem Bogen zu Boden geschleudert wurde und sich anschließend das schmerzende Auge rieb, schrie Wendy noch immer aus voller Kehle. „Du Dieb!“ Sie sprang auf ihn zu und rammte ihm den Ellbogen in die Magengrube. „Das hättest du dir so gedacht! Ich hab ganz sicher nicht vor, die zukünftige Pizzabäckerin Nummer Eins in der Stadt zu werden!“ Sie packte ihn am Hemdkragen und schüttelte ihn heftig. „Was sollte das gerade? Ich dachte, du hast Hayate!“ Balotelli verteidigte sich nicht. Er sah sie nur an. Sah, wie sich kleine Wuttränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Und lachte. Lachte erst nur ganz leise, dann immer schallender, bis Wendy schließlich verdutzt innehielt. Er blickte zu den anderen hinüber, die peinlich berührt zur Seite sahen und nach Beschäftigungen suchten. „Ich denke, damit wäre alles geklärt. Will noch jemand freiwillig mit Wendy in einem Zelt schlafen?“ Alle schüttelten den Kopf. Zeph wandte sich Costas zu: „Wir beide, ein Zelt?“ Der Grieche nickte. Auch Neil und Angelo trafen eine stumme Übereinkunft. Wendy ließ Balotellis Kragen los und stand schmollend auf. Sie verschränkte die Arme und musterte ebenfalls peinlich berührt den Boden. „Danke“, nuschelte sie leise, „und tut mir leid!“ Als die Sonne tief am Horizont stand und den Himmel blutrot erleuchtete, hatte auch Balotellis Auge eine tiefrote Färbung angenommen. Da sie kein Eis dabei hatten, musste er sich, während er eifrig damit beschäftigt war, ein Pastagericht über dem offenen Feuer zuzubereiten, immer wieder mit einem feuchten Lappen das Auge kühlen. Schon bald saßen alle um das Lagerfeuer herum und aßen. Alle schwiegen, bis auf Angelo, der zuvor die Ruine inspiziert hatte, während der Rest der Gruppe Steine und trockenes Holz für die Feuerstelle gesammelt hatte. „Meinen Nachforschungen zufolge handelt es sich bei den Steinen um einen rituellen Kreis, der nach Osten hin angeordnet ist.“ Er hatte sich auf dem Tablet-PC eine Skizze von allen Monolithen gemacht, von denen es scheinbar mehr als nur die zehn Blöcke im Zentrum gab, die um ein keilförmiges Hügelgrab, das mit einem rechteckigen flachen Stein bedeckt war und sich nach Osten hin öffnete, angeordnet waren. „Ich habe mich etwas umgesehen. Die ganze Anlage ist etwa 500 Meter breit und wenn es mich nicht täuscht, dann wird die Sonne morgen früh genau zwischen diesen beiden Felsen hier aufgehen.“ Er hob die Hand und deutete auf zwei Steinblöcke, die die Grabstätte in etwa zehn Metern Entfernung flankierten. „Ist so ähnlich wie Stonehenge, nie?“ Zeph wischte sich die Tomatensoße vom Mund und legte fragend den Kopf schief. Angelo nickte. „In der Tat. Hügelgräber und Steinkreise gibt es viele. Meinen Nachforschungen zufolge wurden sie einst von einer prä-keltischen Urbevölkerung zu astronomischen Zwecken errichtet.“ Er nahm eine weitere Gabel voll Spaghetti und kaute nachdenklich. Das Feuer flackerte und knackte hin und wieder, wann immer ein nicht ganz trockener Ast in Flammen aufging. Der Feuerschein reichte gerade einmal so weit, dass sie die Umrisse der Zelte erkennen konnte. „Allerdings“, fuhr Angelo fort und rückte seine inzwischen wieder reparierte Brille zurecht, „verstehe ich nicht so recht, warum in der Mitte ausgerechnet ein Grabhügel ist. Das ergibt einfach keinen Sinn!“ Zeph klopfte ihm auf die Schulter und lächelte entspannt. „Macht nix. Morgen ist ein schöner Sonnenaufgang, nie? Dann müssen wir am besten zeitig schlafen gehen.“ Er beugte sich halb hinter sich und durchsuchte seinen olivgrünen Armeerucksack nach einem Flachmann. Neil erbleichte. „Oh, oh!“ Er erinnerte sich noch daran, wie der braunhaarige Pole vor ein paar Wochen versucht hatte, ihm seinen selbst gebrannten Schnaps anzudrehen. Damals hatte er sich damit herausreden können, dass er noch Hausaufgaben machen musste, doch jetzt, das wusste er, gab es kein Zurück mehr. „Ist ganz harmlos, siehst du?“, versuchte Zeph den zitternden Dunkelblonden zu beruhigen und nahm einen großen Schluck aus der Metallflasche. „Hab sowieso nicht viel dabei, also nur ein bisschen zum Schlafen, nie?“ Er reichte den Flachmann weiter an Wendy, die ebenfalls ohne Hemmungen einen Schluck nahm. Balotelli roch erst kritisch an der Flasche, dann trank auch er und hustete. Costas verzog nur kurz das Gesicht. Sogar Angelo ließ sich nicht lumpen und nippte zögerlich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Schnaps auch koscher war. Schließlich sah alles gespannt zu Neil. Costas gluckste zufrieden. „Na hoffentlich falle ich heute Nacht beim Pullern nicht über eine gespannte Zeltleine!“ Der Alkohol stieg ihm sehr schnell in den Kopf und er ließ sich plump nach hinten fallen. „Tut nicht weh“, redete Zeph beruhigend auf Neil ein und klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern, „nur am Anfang. Aber wenn alles betäubt ist, dann spürst du das Brennen nicht mehr!“ Nervös blickte Neil in die Runde. „Mu-mu-muss da-da-dass denn sein?“ Alles nickte zustimmend. „Si, Piccolo, du schaffst das schon!“ Balotellis weiße Zähne schienen im Feuerschein sogar noch heller zu strahlen. Neil atmete tief durch. „Also gut!“ Zeph reichte ihm den Flachmann. Der Alkoholgehalt war so hoch, dass es ihm Tränen in die Augen trieb. Da hätte er doch eigentlich lieber eine Zwiebel schneiden wollen. Oder zwei. Oder zehn. Alles war besser als dieses Höllengebräu! „Na dann... Cheers!“ Er setzte die Flasche an die Lippe und nahm einen kleinen Schluck. Sofort brannte es wie Feuer in seiner Kehle und er konnte jeden Zentimeter spüren, den das Gebräu auf dem Weg zum Magen passierte. Er keuchte und hustete. Irgendjemand reichte ihm eine Flasche Wasser und er trank gierig daraus. Als das Brennen nachließ, stieg auch ihm die Hitze in die Wangen. „Puh! Das was ganz schön stark!“ Er schüttelte sich. Die anderen klatschten in die Hände und lachten. „Piccolo, jetzt gehörst du endgültig in unser Team! Wer Zephs Schnaps überlebt, der überlebt auch jeden Kampf! Fantastico!“ Neil kratzte sich peinlich berührt die Wange. „Danke...“ Er gab Zeph den Flachmann zurück und beobachtete, wie dieser die letzten Schlucke wie Wasser herunterspülte und anschließend die leere Flasche ausschüttelte. „Zeph ist wirklich ein harter Kerl!“, stellte der Dunkelblonde anerkennend fest, wandte sich dann aber an Angelo. „Aber sag mal, habe ich das eben richtig verstanden: du bist Jude? Warum weiß ich davon nichts?“ Angelo nickte und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. „Ganz einfach: du hast mich bisher nicht danach gefragt.“ Am nächsten Morgen zeigte sich, dass der Techniker der Kite Knights mit seinen Berechnungen vollkommen Recht gehabt hatte. Es war noch vor Sonnenaufgang, als Balotelli mit bester Laune zu den anderen ins Zelt kroch und einen nach dem anderen mit seinem schönsten Zahnpastalächeln von den Toten erweckte. Sie alle hatten schrecklichen Muskelkater von der Wanderung am Vortag und der harte Boden, auf dem sie ihre Schlafsäcke ausgebreitet hatten, machte es nicht gerade besser. Im Zelt von Zeph und Costas herrschte eine Mischung aus Alkoholfahne und Männerschweiß, sodass Balotelli im ersten Moment die Luft anhalten musste. Zum Glück hatten die beiden gestern darauf verzichtet, auch noch das Glas mit in Öl eingelegten Knoblauchzehen aufzumachen, sonst wäre er mit Sicherheit an diesem exquisiten Duft gestorben. So hielt er ihnen jeweils einen Becher frisch aufgebrühten Kaffee – Was hatte er denn noch alles in seinem Rucksack mit sich herumgeschleppt?! – vor die Nase und beobachtete, wie die Lebensgeister in den beiden so unterschiedlichen Männern erwachten. Wenig später war es soweit. Der erste Sonnenstrahl, der am Horizont erschien, warf sein Licht genau zwischen die beiden Monolithen und warf lange Schatten, die Fingern gleich auf die Grabkammer zeigten. Und dann passierte... Nichts. Wendy gähnte und streckte sich ausgiebig. „Wow. Toll.“, stellte sie trocken fest, „Und dafür sind wir jetzt also den weiten Weg hierhergekommen. Für ein bisschen Sonne zwischen zwei Steinen.“ Sie drehte sich um und ging zum Lagerfeuer zurück, um nach den Spiegeleiern und dem Speck zu sehen, die auf einer Pfanne, die auf einem Gestell über der Glut angebracht war, vor sich hinbrutzelten. Kein Frühstück ohne Speck. Das galt auch hier draußen in der freien Natur. Auch Zeph und Costas streckten gähnend ihre müden Muskeln und wandten sich in Richtung ihres Zeltes um, um noch ein paar Stunden zu schlafen. Neil wusste nicht, wem er sich anschließen sollte. Den Skeptikern, die lieber frühstücken wollten, oder aber den Optimisten, die auf ein Wunder hofften. Fünf Minuten lang passierte nichts. Seine Füße taten ihm langsam weh, denn auch ihm war die gestrige Wanderung ein wenig zu viel gewesen, obwohl er es eigentlich vom Bauernhof seiner Großeltern gewohnt war, ab und zu einmal hart zu arbeiten und viel zu laufen. Gerade, als er ratlos mit den Schultern zuckte und sich umdrehen wollte, packte Balotelli seinen Unterarm. „Sieh mal, Piccolo!“ Angelo war zielgerichtet auf das Hügelgrab hingerannt, als hatte ihn der plötzliche Fieberwahnsinn gepackt. „Ich hab doch gesagt,“ keuchte er stockend und trat in den Eingang des Grabes, „dass das nicht der Norm entspricht, dass inmitten eines astronomischen Kreises ein Grab ist!“ Seine Stimme hallte seltsam in zwischen den aufgestellten Felsen. Alles wandte sich ihm zu, als er seinen Tablet-PC hervorholte und hektisch darauf eintippte. „Meine ganzen Berechnungen spielen verrückt!“ Zeph stopfte sich schnell die letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund, während Wendy den gebratenen Speck und zwei Spiegeleier verschlang. Noch bevor sie fertig gegessen und sich den Mund abgewischt hatten, stürmten sie auf den Eingang des Hügelgrabes hinzu – und blickten verdattert hinein. „War dort ... letzte Nacht auch schon eine Treppe?“, fragte Neil zögerlich, als sich alle in einem Halbkreis aufgestellt hatten und spielte einmal mehr mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Nervosität mit dem Rattenschwanz in seinem Nacken. Angelo schüttelte den Kopf und wischte ein paar Mal über den Bildschirm, um ihnen ein paar Fotos vom Vortag zu zeigen. „Nichts. Nur blanke Erde.“ Wendy schnaubte und kickte einen kleinen Stein weg. „Tse! Der alte Zausel hatte also doch Recht! Und was machen wir nun?“ Balotelli schob sein Stirnband zurück. Alles erwartete, dass er als Teamchef eine Entscheidung fällte. „Ich würde sagen, dass wir hinuntergehen!“ Sein Blick ging von einem Kite Knight zum nächsten und zwinkerte. „Si, wir gehen hinunter!“ Er setzte als erster seinen Fuß in die niedrige Grabkammer. Die Treppe vor ihnen schien weit ins Ungewisse zu führen. „Angelo?“ Fragend sah sich Balotelli nach seiner rechten Hand um. „Die Störung hat aufgehört und ich vernehme gerade keine ungewöhnlichen Messwerte, auch wenn mir das Erscheinen dieses Ganges durchaus suspekt ist. Ich nehme aber an, dass es sicher ist, weiterzugehen.“ Der blonde Teamchef schloss kurz die Augen, atmete tief durch, ging ein paar Stufen hinab und winkte schließlich lächelnd die Treppe hinauf. „Na dann, Avanti! Kite Knights, das Abenteuer beginnt!“ Kapitel 33: Im Bauch der Erde ----------------------------- Der Weg ins Innere der Erde schien Stunden zu dauern. Still liefen die fünf Kite Knights und ihr Betreuer die nicht enden wollende Steintreppe hinab. Nur ihre Schritte hallten dumpf von den niedrigen Wänden wider, die einem Stollen gleich ins Erdreich gehauen worden waren. Am Anfang hatte ihnen noch der Lichtkegel einer Taschenlampe den Weg in die Finsternis gewiesen, doch hatte dieser nach nicht einmal zehn Minuten zu flackern begangen, bis er gänzlich erloschen war. Zeph, der zum Glück seinen Rucksack und darin ein Campingfeuerzeug mitgenommen hatte, ging voran und ersparte es ihnen, in völliger Dunkelheit durch den Stollen zu stolpern. Dennoch erhellte das Feuerzeug den Weg nur spärlich, sodass sich alle an den Schultern festhalten mussten, um nicht den Anschluss an den Vordermann zu verlieren. So verging die Zeit schleppend. Je tiefer sie kamen, desto kälter wurde es, fast wie in einem alten Kellergewölbe, das man im Sommer betrat. Doch im Gegensatz zu einem Kellergewölbe war die Luft hier nicht muffig und feucht, sondern trocken und schwer, nur durchtränkt mit dem Geruch von zu Staub zerfallenem Gestein. Plötzlich hielt Balotelli inne und schnüffelte. Er war direkt hinter Zeph gelaufen, dessen Feuerzeug durch das abrupte Abbremsen bedrohlich zu flackern begann und schließlich ausging. Wendy, die hinter Balotelli folgte, rutschte auf der nächsten Treppenstufe aus und fiel schmerzhaft auf den Hintern. Neil, der nach ihr kam, packte noch ihr Handgelenk, legte sich aber ebenfalls mit einem erschrockenen Aufschrei daneben. Nur Costas, der als letzter folgte, hielt die Balance und bewahrte Angelo davor, auch noch hinzufallen. Wendy murrte. „Danke, vielen Dank auch! Wie wäre es, wenn du das nächste Mal so etwas sagst wie...“, sie äffte seinen Tonfall nach, „ich kann den Wind riechen! Da vorne ist etwas, meine werten Freunde!“ Das Feuerzeug klickte mehrmals kurz, dann war der Gang erneut in rötlichen Feuerschein getaucht. Vor Wut funkelnde Augen trafen auf strahlendes Zahnweiß. „Bellissima! Seit wann weißt du so gut über mich Bescheid? Liebst du mich etwa so sehr?“ Er hielt ihr grinsend die Hand hin und half ihr dabei, wieder aufzustehen. Genervt klopfte sich Wendy den Staub von der Kleidung. „Na toll!“ Die dunkle Strumpfhose, die sie unter ihrem Rock trug, hatte eine Laufmasche bekommen. Doch Balotelli hörte sie nicht. Theatralisch fuhr er sich einmal mehr durch sein blondes Haar. „Si, das nächste Mal sollte ich dich wirklich küssen, dann kannst du bestimmt meine Gedanken lesen!“ Er lachte. „Aber ja! Es ist nicht mehr weit! Von dort unten kommt eindeutig ein Windzug. Und Svaticato“, er deutete Zeph an, dass er das Feuerzeug ausmachen sollte, „so ist es gut, si! Da unten wird es wieder heller!“ Gebannt starrten alle in die Dunkelheit. Erst umgab sie völlige Schwärze, doch dann sahen sie, was der Teamchef gemeint hatte. In nicht einmal 200 Metern schien der Gang leicht nach rechts abzudrehen und dahinter war eindeutig ein Lichtschein zu sehen. Costas atmete erleichtert durch. „Na endlich! Dann können wir doch bestimmt endlich das Frühstück fortsetzen, nicht? Mein alter Körper macht solche körperlichen Belastungen nicht mehr ohne ordentliche Mahlzeit mit!“ Zur Bestätigung klopfte er ein paar mal auf seinen Bauchspeck, unter dem ein Magen bedrohlich zu knurren begann. Wendy hob eine Augenbraue und räusperte sich. „Jetzt übertreib mal nicht, du bist gerade einmal Mitte 20!“ Die große Hand des Griechen klopfte ihr leicht auf die Schultern. „Das sagst du!“ Auch er schaffte es, hin und wieder in einen theatralischen Modus zu kommen. „Werde du erst einmal so alt wie ich! Dann stehst du morgens mit steifen und schmerzenden Muskeln auf und wuchtest dich ins Bad, nur um dann dein allmählich Falten bekommendes Gesicht im Spiegel zu betrachten! Und oh! Man beachte nur die Verdauungsprobleme! Das betrifft nicht nur alte Leute, wie es einem immer die Werbung sagen will! Früher konnte ich einen halben Gyros-Spieß alleine essen, doch jetzt werde ich nach zwei Scheiben Weißbrot schon dick! Und die Verstopfungen erst, oh Mann!“ Sie setzten den Weg nach unten fort, diesmal etwas zügiger. Costas hörte noch immer nicht auf zu reden. „Das erinnert mich daran, dass ich heute noch gar nicht meinen Morgenschiß erledigt habe! Haben wir eigentlich Klopapier dabei? Zeph?“ – „Sei ruhig, alter Mann!“ Die Abfuhr des immer noch vorangehenden Polen ließ den Rest der Gruppe verstohlen kichern. Costas wurde rot. „Niemand weiß hier die Weisheit des Alters zu schätzen, ihr Banausen!“ Er verschränkte die Arme und trottete mit gekräuselten Lippen hinterher. Da es nun allmählich heller wurde, war es nicht mehr nötig, sich aneinander festzuhalten. Alle waren ganz aufgeregt. Nur noch wenige Meter, dann würden sie hoffentlich wieder aus dem Grabhügel hinauskommen. Sie erwarteten einen Ausgang, der dem Eingang nicht ganz unähnlich war, nur am Fuße des Hügels, doch als sie die letzte Biegung hinter sich gebracht hatten, herrschte... Ernüchterung. „Nimmt das denn nie ein Ende?“ Während Wendy sich die Haare raufte, ließ sich Neil erschöpft auf den Boden fallen. Das Licht, das sie gesehen hatten, kam von etwa einem Dutzend Pechfackeln, die an den Wänden hingen. Es gab weder ein Grab, noch Gerippe in dem runden Gewölbe, dessen Decke so hoch war, dass sie gänzlich in der Finsternis verschwand. Fünf Säulen stützten die Wände jeweils zur Rechten und zur Linken des Eingangs, auf dessen gegenüberliegender Seite erneut ein Gang in die Finsternis des Grabhügels führte. Balotelli versuchte seine Enttäuschung zu verbergen und zuckte lächelnd mit den Schultern. „Ich denke, wir werden wohl weitergehen müssen! Mister Irwing wird schon gewusst haben, warum er uns hierher kommen lässt.“ Zeph stöhnte entnervt und packte ein paar Brote aus, die er noch vom Vortag in seinem Rucksack gefunden hatte. Er reichte eines davon Costas und wollte sich gerade nach einem halbwegs gemütlichen Platz zum Sitzen umsehen, als der Boden zu beben begann. Staub rieselte von der Decke, während das Grollen der Erde immer stärker wurde. Die Kite Knights, die gerade erst in die Höhle getreten waren, sahen sich panisch um. Das hatte ihnen ja noch gefehlt! Kaum raus aus dem endlosen Gang, der sie gleich einer Speiseröhre heruntergeschluckt hatte, hinein in einen Magen aus Erde und Stein, der sie begraben und verdauen wollte. Alles rannte in Richtung des Ausgangs, in der Hoffnung ihn noch zu erreichen, bevor die Höhle in sich zusammenfallen würde, doch als sie gerade einmal die Hälfte der Halle durchquert hatten, gab es einen lauten Knall und die Fackeln erloschen. Der Staub in ihrem Lungen ließ die Sechs husten und niesen. Ihre Stimmen hallten von den Wänden wieder, laut wie in einer Konzerthalle. „Alle ... noch am Leben?“, presste Costas heraus und wischte sich über die Augen, die vor Staub zu tränen begonnen hatten. Stille. Auch das Erdbeben war abgeklungen. Wieder klickte Zephs Feuerzeug ein paar Mal, doch diesmal war es vergebens. Kein Leuchten erhellte die Dunkelheit. Sie waren gefangen. Gefangen im finsteren Bauch der Erde, ohne Orientierung und ohne genug Proviant, um hier ein paar Tage auf Rettung zu warten. Ein beklemmendes Gefühl machte sich breit. Das Rascheln von Angelos Tasche war das einzige, was sie neben den Atemzügen der jeweils anderen vernahmen. „Nichts.“, sagte der Teamtechniker trocken. „Selbst der Akku meines Tablet-PCs ist alle, dabei war er vorhin noch fast voll!“ „Verdammt!“ Wendy stapfte fluchend im Dunkeln umher. „Warum lässt uns der verrückte alte Sack nur so etwas Gefährliches machen? Der hat sie doch nicht mehr alle!“ Sie hatte die Hände ausgebreitet und tastete sich vorsichtig voran, um nicht plötzlich irgendwo dagegen zu stoßen. Erst fand sie nur staubige Luft vor sich, doch dann schließlich spürte sie eine der zehn Säulen unter ihren Fingern. „Ich sag's euch, wenn ich jemals wieder hier rauskommen sollte, dann hau ich den Kopf dieses Spasten ein paar Mal kräftig auf seine Theke, während ich ihm einen 'Guten Flug' wünsche, also echt!“ Sie ballte die Faust und schlug ein paar Mal heftig gegen die Säule vor sich. „Das ist doch echt nicht wahr!“ Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie schniefte leise. „Bellissima! Beruhige dich! Bestimmt geht das Feuerzeug gleich wieder und dann können wir weitergehen!“ Balotelli glaubte seinen eigenen Worten nicht. Seine Stimme zitterte. „Bisher hat doch alles irgendwie geklappt, nicht?“ Er versuchte ein Lächeln zu lächeln, das ohnehin niemand in der Dunkelheit sehen konnte. „Irgendwie geklappt, ja?“ Wendy schäumte über vor Wut. „Der ganze Club hier... Alles, wozu du mich bisher gebracht hattest... Das ist doch nichts weiter als eine Farce!“ Mit einem lauten Kampfschrei ließ sie ihren Fuß auf die Säule vor sich krachen. „Ich will nicht mehr! Ich will hier raus! Oder zumindest etwas sehen können, sofort!“ Noch einmal. Und noch einmal. RUMMS. RUMMS. RUMMS. Sie keuchte erschöpft. Die erste Wut war verflogen und nun einem dumpfen Schmerz in ihren Zehen gewichen. Sie stützte sich mit der Hand auf der Säule ab. Wenn ich mich doch wenigstens entschuldigt hätte... Plötzlich breiteten sich – ausgehend von Wendys Hand – feine, rotglühende Linien wie ein Adergeflecht auf der Säule aus. Es wurde heller und heller in der Höhle, je mehr sich die Linien ausbreiteten. Erschrocken wandte sich die Rothaarige um und sah die Jungen an. „Ich weiß nicht ... wie ich das gemacht habe!“ Die Linien wanderten weiter und weiter, bis sie begannen über den Boden zu wuchern. Costas legte grübelnd die Hand ans Kinn und sah von einem Gesicht ins nächste. „Nicht schlecht! Ich würde sagen, dass wir das unbedingt mit den anderen Säulen auch versuchen sollten!“ Balotelli nickte. „Si! Angelo, Piccolo, ihr geht auf diese Seite! Sfaticato, Costas, ihr nehmt diese beiden Säulen!“ Er selbst ging – ohne genau zu wissen warum – zielgerichtet auf die mittlere Säule auf der linken Seite zu, legte seine Hand darauf, so wie Wendy es – wenn auch versehentlich – getan hatte, und konzentrierte sich. Er wusste nicht, an was er denken sollte. Er hatte Angst, doch wusste er, dass er sich als Anführer niemals die Blöße geben durfte, seine Schwäche vor allen einzugestehen. Tief atmete er durch, leerte seinen Geist und konnte plötzlich nur noch an eine Sache denken: Wenn wir hier wieder rauskommen, werde ich Hayate besuchen, assolutamente! Prompt erschienen weiße Linien auf der Säule und breiteten sich ebenfalls bis zum Boden aus, wo sie ähnlich eines Nervensystems mit den roten Wendys, den hellblauen Neils, den erdfarbenen Costas und den silbernen Zephs zu einem Knoten verschmolzen. Auch ihnen war es gelungen, ihre Gedanken zu kanalisieren. Nur Angelos Säule blieb so glatt und unbeleuchtet wie zuvor. Die feinen Wurzeln begannen bis in den Himmel zu wachsen und zum ersten Mal sah man, wie hoch die Höhle wirklich war. Weit oben angekommen, bildeten sie Sternen gleich kleine Verdickungen und verwandelten die Decke in ein Lichtermeer, welches mit keiner irdischen Erscheinung zu vergleichen war. Wieder begann die Erde zu beben, doch diesmal wurde es nicht dunkel. Der Knotenpunkt in der Mitte begann zu strahlen und zu leuchten, bis sich alle schmerzhaft die Hände vor die Augen halten mussten. Niemand sah, was nun passierte, doch wussten sie selbst lange Zeit, nachdem sie zurückgekehrt waren, dass etwas Großes geschehen war. Etwas, das sie nicht in Worte fassen konnten, egal wie lange sie darüber nachdachten. Es begann damit, dass das Adergeflecht sich über ihre Füße legte und sie alle – bis auf Angelo, der vom Erdbeben zu Boden geschleudert war und seine Brille verloren hatte – bewegungsunfähig machte. Die Linien wuchsen und wuchsen, die Beine hinauf, über die Hüfte und schließlich über die linke Körperhälfte gerichtet, bis sie die linke Handfläche erreicht hatten. Was dann geschah, war so schmerzhaft, dass man es am ehesten wie tausend glühend heiße Nadeln, die sich ins Fleisch brannten, beschreiben konnte. Wendy kannte diesen Schmerz – oder zumindest glaubte sie, ihn zu kennen. Das Licht, das sich in ihre Handfläche fraß, war soviel heißer, soviel schmerzhafter, als alles, was sie bisher erlebt hatte, sodass sie glaubte, innerlich verbrennen zu müssen. Dagegen waren die Schmerzen, die sie nach ihrem Drachenunfall an ihrem Geburtstag hatten, nichts weiter als eine lästige kleine Spritze beim Arzt gewesen. Sie wusste nicht, wie lange sie so unbeweglich dastand und nichts anderes tun konnte, als zu schreien und die Energie durch sich fließen zu lassen. Auch den anderen erging es gleich. Vielleicht waren es nur wenige Sekunden, vielleicht auch Minuten oder Stunden, doch als das Licht endlich schwächer wurde, sackten sie alle erschöpft zusammen und blieben keuchend auf dem kalten Erdboden liegen. Eigentlich hätte es dunkel werden müssen, nachdem sich das Adergeflecht zurück in die Säulen gezogen hatte, doch der Raum war noch immer erleuchtet, strahlte nun in dem hellen Licht, das aus den jeweils linken Händen der Kite Knights kam, während sie selbst nur kraftlos daliegen konnten. Als Angelo seine Brille wiedergefunden hatte und sich die anderen langsam wieder aufsetzen konnten, verschwand auch das letzte Glimmen der seltsamen Energie, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Wieder wurde es dunkel, doch hörten sie diesmal Schritte aus dem Ausgang der Höhle auf sie zukommen, die einen warmen Kerzenschein mit sich brachten. Es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis schließlich ein weißhaariger alter Mann mit langem Bart, der von zwei unter langen Kutten mit Kapuzen verborgenen Frauen, die Kerzen trugen, begleitet wurde, vor ihnen erschien, in die Hände klatschte und sie freundlich anlächelte. „Willkommen, willkommen, Gesandte der Außenwelt!“, begann er mit seltsam jugendlicher Stimme zu sprechen. „Willkommen in den heiligen Hallen der Túatha Dé Danann, den Wächtern des Äolus!“ Kapitel 34: Dosenravioli und Drachen ------------------------------------ Verrückt. Einfach nur verrückt. Und es wurde immer besser. Wendy fühlte sich, als hätte man ihr eine ganze Flasche Schnaps verabreicht und sie danach mit Bleigewichten an den Boden gekettet. Ihr war schlecht und sie konnte kaum atmen. Langsam, träge wie eine Schildkröte, rollte sie sich auf die Seite und musterte den bärtigen Greis und seine zwei Begleiterinnen. Im Kerzenschein konnte sie nur wenige Details ausmachen, doch es reichte, um zu erkennen, dass alle drei helle Gewänder trugen, deren Säume so lang waren, dass sie über den Boden schleiften. Nur das Gesicht des Alten war sichtbar, da er als einzige den erdfarbenen Überwurf nicht über den Kopf gezogen hatte. Sein Haar war lang und weiß, während das seiner Begleiterinnen goldblond in jeweils zwei Zöpfe gebunden fast bis zur Hüfte hing. „Gandalf?“ Neil richtete sich mit zitternden Beinen auf und torkelte mit fragendem Blick auf den alten Mann zu. „Nein... Wie hieß er noch gleich?“ Er kratzte sich den Hinterkopf. „Merlin! Ja Merlin! Du bist Merlin, nicht?“ Der Greis lachte und hob die Hand zum Vulkanischen Gruß. „Dif-tor heh smusma, junger Padawan! Lebe lang und in Frieden und möge die Macht mit dir sein! Und nein, ich bin nicht dein Vater!“ Während die Gesichter der fünf Kite Knights entgleisten, sprang Costas auf die Füße und lachte schallend. Ohne Berührungsängste zu haben, trat er auf den Mann zu und reichte ihm die Hand. „Ich hoffe doch, du lässt uns vorbei, denn wir sind kein Balrog von Mordor!“ Da hatten sich ja zwei gefunden! Der alte hob die Hand und feixte. „Nein, und ich habe auch keinen Ring, um euch zu knechten! High Five, Sportsfreund!“ Balotelli kroch behäbig auf Wendy zu. Er war voller Staub, doch konnte zumindest er sich halbwegs bewegen. „Kannst du aufstehen?“ Die Rothaarige nickte und stemmte sich behäbig hoch, sodass er ihr unter die Arme greifen konnte. Gemeinsam waren sie zwar immer noch wackelig auf den Beinen, aber immer noch besser dran als Zeph, der so müde war, dass ihn Neil und eine der Begleiterinnen stützen mussten. Einzig und allein Angelo war fit und beobachtete skeptisch das Geschehen. „Es ist lange her, dass jemand die Ruinen aktiviert hat. Und – oh Mann – das Erdbeben war so heftig wie meine Blähungen, wenn ich mal wieder zu viel Chili gegessen habe!“ Der Greis fuhr sich durch den Bart. „Aber was erzähle ich denn hier! Ihr seid sicher hungrig, nachdem ihr so lange durch die Finsternis geirrt seid!“ Er deutete auf den Ausgang. „Es ist nicht mehr weit, bis zu meinem Haus. Kommt einfach mal mit und ich erkläre euch dann alles.“ Er wollte sich gerade umdrehen, doch hielt er noch einmal inne und musterte seine sechs Besucher ausgiebig. „Sofern ihr noch Laufen könnt, versteht sich!“ Alles nickte träge. Wieder lachte der bärtige Mann und klatschte in die Hände. „Ach, so aufregend war es hier schon lange nicht mehr! Was für eine Überraschung, dass James mir solche jungen Würstchen wie euch vorbeischickt!“ Dann verschwand er erneut in dem Gang, aus dem er gekommen war und seine Stimme hallte munter von den Wänden nieder. „Ach, ist das schön! Am besten mache ich gleich den Kuchen auf, den mir James das letzte Mal mitgebracht hat! Gäste haben wir hier ja nicht sooft! Hahaha!“ Sie hatten alles erwartet. Eine zerfallene Blockhütte mit Strohdach, ein zugiges altes Sandsteingemäuer, oder aber eine einfache Jurte, die mit Tierfellen und Teppichen ausgestattet war und in deren Mitte ein munteres Lagerfeuer knisterte. Doch als sie die wenigen Schritte, die der letzte Gang lang war, hinter sich gebracht hatten und der Greis und seine zwei Begleiterinnen ein großes, schweres Holztor öffneten, standen sie inmitten eines Orangengartens, der im Innenhof eines orientalischen Gebäudes war. Der Boden war bunt gekachelt und so sauber, als wäre er erst kürzlich gefegt worden. Kein einziges weißes Blütenblatt lag auf ihm. In der Mitte des Hofes plätscherte ein Springbrunnen, in dessen klarem Wasser gelbe Quietscheentchen und andere Plastikfiguren schwammen. Doch das war erst der Anfang der Kuriositäten. Als sie den Innenhof durchquert hatten – es war bereits Nachmittags und die Luft war angenehm warm – stieß der alte Mann erneut eine schwere Holztür auf und anstatt mittelalterlicher Flötenmusik lief... „...der Indiana Jones Soundtrack!“ Balotellis Miene hellte sich auf und er begann sich erstaunt umzusehen, nachdem er Wendy dabei geholfen hatte, sich auf einen der Sessel, die um eine große Holztafel verteilt waren, zu setzen. Er ging die nicht enden wollenden Bücher- und Filmregale an den Wänden durch und betrachtete alles ausgiebig. Neil trat neben ihn und gab hin und wieder ein überraschtes „Ah!“ und „Oh!“ von sich, denn der Greis hatte wirklich alles: Star Wars, Star Trek, Stargate, Akte X, Doctor Who, Torchwood und viele andere Serien und Filme, deren Aufzählung Stunden hätte dauern können. Während er seine Kutte auszog und darunter eine zerschlissene Jeans und ein schwarzes Metallica-T-Shirt trug, waren seine Dienerinnen hinausgegangen, um Essen für die Besucher zu holen. Schließlich hatten die Kite Knights den Rundgang beendet und sich um den großen Tisch versammelt. „Ich heiße übrigens Kermad!“, begann der alte Mann, der sich inzwischen nicht nur die langen Haare, sondern auch den Bart zu einem Zopf geflochten hatte, der von einer gelben Smiley-Haarspange zusammengehalten wurde. „Tut mir leid, wenn euch mein Erscheinungsbild und mein Haus jetzt einen Kulturschock verpasst haben, aber ich mag es nun Mal so bequem und modern zu leben, wie ihr von der Außenwelt.“ Er öffnete das mit Buntglas verzierte Fenster, das lang war und nach oben hin in einen Spitzbogen zulief, und deutete nach draußen. „Strom ist schon eine tolle Sache, das muss ich schon sagen! Seitdem James mir geholfen hat, einen Transformator an die Windmühle zu bauen, ist das Leben hier viel angenehmer geworden.“ Wieder gluckste er vergnügt. „Sagen wir so... Um die Besucher nicht zu verunsichern, tun wir bei der ersten Begegnung immer so, wie man es von diesen ganzen Zauberern und Fantasiewesen erwarten würde, obwohl diese Kutten und Überwürfe echt unbequem sind.“ Er kratzte sich ungeniert am Schritt und begann anschließend, mit dem Zeigefinger über das Bücherregal zu fahren. „Denn wer würde schon erwarten, dass die Chronik der Drachenritter von einem alten Mann geschrieben worden ist, der sich neunzig Prozent der Informationen aus anderen Büchern zusammengeklaut hat!“ Jetzt war es Wendy, die lachen musste. Doch es war kein amüsiertes Lachen, sondern eher das Lachen einer Person, die gerade die Ironie des Schicksals in einer verzweifelten Situation erkannt hatte. „Also ist alles erstunken und erlogen?“ Sie ließ sich in ihrem gepolsterten Sessel zurückfallen und atmete deutlich hörbar aus. Es war absurd. So absurd! „Aber nein, nein, nein!“ Kermad kam mit jugendlich-agilen Schritten auf sie zu und nahm ihre linke Hand. Erst musterte er sie angestrengt, dann zog er ihr ohne zu Fragen den fingerlosen Handschuh aus und pustete ihr auf die vernarbte Handfläche. Wendy wollte protestieren und die Hand wegziehen, doch als sie der warme, nach Zuckerwatte riechende Atem des Mannes berührte, erschien auf der Handfläche ein rotglühendes Zeichen, das wie ein eckiges B aussah. „Hey! Nimm deine Pfoten weg!“, protestierte sie und wollte aufspringen, doch stutzte sie, als das Zeichen unter dem Atem erschien und kurz darauf wieder verschwand. „Was? Aber wie?“ Sie ballte die Hand zur Faust und öffnete sie wieder. Nichts, nur die kreisförmige Narbe, die sich um Handfläche und Handrücken schlang, war noch zu sehen. Kermad lachte und ging zu Balotelli, um dasselbe bei ihm zu machen. „Einfach pusten, dann kommt es wieder!“ Wendy hob kritisch eine Augenbraue. Sollte es wirklich... Sie holte tief Luft und blies auf die linke Handinnenfläche. Und wie zuvor beim alten Greis, erschien auch diesmal das eckige B und verschwand wieder, als der Windhauch nachließ. Auch die anderen taten es ihr gleich. Auf Balotellis Hand erschien eine gespiegelte Eins, auf Zephs ein X, auf Neils ein eckiges R und auf Costas' ein Pfeil nach oben. Nur Angelos Hand blieb leer, hatte er doch keine Kraft übertragen bekommen, als er die Säule in der unterirdischen Halle berührt hatte. Die beiden Dienerinnen kamen mit zwei großen Tabletts herein. Eigentlich war das Geheimnis, welches die Kite Knights gerade entschlüsseln wollten, viel zu mächtig, als dass man sich ablenken lassen konnte, doch Costas und Zeph ging angesichts der üppigen Aussicht, welche die beiden Damen ihnen präsentierten, die Augen über. Beide trugen saftig grüne Dirndl mit weißen Blusen, deren Hügellandschaft noch saftiger war, als die Wiesen, auf denen schottisches Hochlandrind graste. Sogar Neil stieg das Blut in die Ohren. „Eriu! Banba! Da seid ihr ja endlich!“ Kermad ließ von Balotellis Hand ab und half den blonden Frauen, das Essen auf den Tisch zu stellen. Angesichts des vornehmen orientalischen Anwesens, in dem sie hausten, hatten die Kite Knights und ihr Begleiter eigentlich ein reichhaltiges Menü erwartet, doch das, was man ihnen vor die Nase stellte, waren... „DOSENRAVIOLI!“ Balotellis Sessel kippte nach hinten um, als er panisch aufsprang und die geöffneten Blechdosen betrachtete, in denen dampfende Ravioli mit Tomatensoße schwammen, in die man der Einfachheit halber schon eine Gabel gesteckt hatte. „Oh ja!“, lachte Kermad und stellte den Sessel wieder auf. „Die sind wirklich gut! Wir haben hier draußen nicht wirklich viel und sind froh, dass James uns alle drei Monate einmal Proviant gibt.“ Er trat hinter die beiden Frauen und legte seine Hände auf ihre Schultern. „Aber wie du siehst, schadet es nicht, sich hauptsächlich von Konserven zu ernähren! Die beiden sind jetzt über 200 Jahre alt – mein Alter könnt ihr euch ja dann vorstellen – und immer noch so putzmunter und frisch wie 20-jährige!“ Während die anderen nur mit den Schultern zuckten und gemäß der Devise 'der Hunger ist der beste Koch!' über die Ravioli herfielen, spürte Balotelli, wie ihm die Übelkeit hochkam. „Ma no, da geht doch nicht! Ich kann es mit meiner Ehre als halber Italiener nie, nie, niemals verantworten so etwas zu essen!“ Kermad sah ihn fragend an. „Soll ich dir lieber Spaghetti oder eine Suppe warm machen? Die Bohnen sind zwar nicht so knackig wie frische Bohnen, aber mit ein bisschen Ketchup drin schmeckt es eigentlich ganz gut!“ Dosenspaghetti! Bohnensuppe! Ketchup! Balotellis Finger verkrampften sich an der Tischkante. Nein, so ging das doch nicht. Er durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Er, der wohlerzogene und gutaussehende Balotelli würde sich nicht so einfach die Blöße geben und sich vor allen eingestehen, dass er eine Phobie vor Dosenfutter hatte! Calma é gesso! Ruhig Blut! „Zeph?“ Er musste sich hinsetzen und so tun, als wäre alles in Ordnung. „Hm?“, brummte der schlaksige Pole zwischen zwei Bissen. „Hast du nicht noch ein paar Brote von gestern in deiner Tasche?“ – „Mh.“, antwortete der Angesprochene kurz und wollte eigentlich weiter essen, doch der flehende Hundeblick seines Teamchefs zwang ihn dazu, die Trägheit zu überwinden und ihm den Brotbeutel aus dem Rucksack zu reichen. Erleichtert nahm Balotelli das Päckchen entgegen. Eine Dose wurde geöffnet, Papier raschelte, ein Brot wurde ausgepackt und... „Che schifo!1 Das ist ja verschimmelt!“ Angewidert warf der Blonde das Brot zur Seite. Wie konnte das sein? Sie waren erst vor ein paar Stunden aufgebrochen und das Brot sah so grün aus, als hätte es mindestens zwei Wochen lang vor sich. Als Eriu und Banba wieder den Raum verlassen hatten, nahm Kermad am Tisch platz und aßen schweigend ihre Dosenravioli. Balotelli nahm zitternd die Gabel in die Hand und stocherte skeptisch in seiner Dose herum. „Ist nicht so schlimm“, versuchte Zeph ihn aufzumuntern, „Zuhause gibt es fast nur Essen aus der Dose, weil nie jemand da ist.“ – „Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass deine Eltern kein Restaurant besitzen, ma si?“ Sein Lächeln wirkte erzwungen, doch all der Ekel half ja nichts. Er war hungrig, das Brot war verschimmelt und alle anderen aßen auch, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Als er vorsichtig an der ersten Teigtasche knabberte, begann Kermad zu erzählen. „Bei uns läuft die Zeit ihren eigenen Rhythmus. Aber zurück zum Thema! Ihr seid sicher alle neugierig, was vorhin mit euch passiert ist!“ Kollektives Nicken erfolgte. „Also!“, er klopfte einmal kurz auf den Tisch. „Es ist wie folgt: im Tempel des Äolus wird jeder, der einen Windgeist in sich trägt, einem der zehn Götter geweiht.“ Er deutete mit der Gabel auf Wendy. „Du, Mädchen!“ – „Ich heiße Wendy!“ Er nickte. „Hm, Windy, was für ein passender Name für jemanden, der die Kraft des Äolus in sich trägt.“ Sie gab es auf zu antworten. Missverständnisse, was ihren Namen anging, gab es sowieso viel zu oft. „Wenn ich den Windmarker auf deiner Handfläche richtig gedeutet habe, bist du dem Gott Belenus geweiht.“ Wendy blickte ihn skeptisch fragend an. „Belenus?“ Kermad lächelte. „Der Gott des Feuers! Sag, Mädchen – ach, ich hab deinen Namen schon wieder vergessen – kann es sein, dass du ein Abkömmling von James bist?“ – „James? Sie meinen den Drachenmeister?“ Jetzt war es Wendy, die schmunzeln musste. „Nein, ich bin nicht mit ihm verwandt. Ich bin eher... Ein Unfall.“ – „Oh!“ Der alte Mann hüstelte verlegen und wandte sich dann ruckartig Balotelli zu, der sich noch immer zwang die Ravioli hinunterzuwürgen. „Es wird dich bestimmt nicht überraschen, wenn ich dir sage, dass deine Kraft Lugh, dem Gott des Lichts geweiht ist.“ Der blonde Italiener verneinte. Kermad zeigte auf Neil und dann auf Costas. „Rigani und Tailtiu, Göttinnen von Himmel und Erde! Aber du...“ Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, um Zeph intensiv zu mustern. „Bei dir ist es gar nicht so leicht! Lass mich deine Hand sehen!“ Zephs Hand schnellte im Gegensatz zu seiner sonst eher trägen Art prompt hervor. Nachdem ihm der Drachenmeister einen Einlauf verpasst hatte und auch der Rest des Teams eigentlich nie ein gutes Wort über seine Fähigkeiten verloren hatte, wollte er unbedingt wissen, ob die unheimliche Begegnung in dem unterirdischen Tempel auf auf ihm ihre Spuren hinterlassen hatte. Irgendetwas musste wohl in ihn hineingekrochen sein, denn als Kermad über seine Handfläche blas, erschien auch wie bei den anderen ein Windmarker. Irgendein Gott musste sich also einfach erbarmt haben und ihm seine Kraft gegeben haben, das war so sicher wie Kaugummis im Supermarkt klauen! „Oh! Interessant!“ Der Greis sah ihm ins Gesicht, blies dann noch einmal auf die Handfläche, nickte und sah ihn wieder an. „Sehr interessant! Das habe ich mir doch schon gedacht, als du hier reingekommen bist!“ Zeph wurde hellhörig und hob den Kopf. „Was bedeutet das?“ Ein X auf der Handfläche hätte genauso gut auch „unfähig“ und „unbekannt“ bedeuten können, doch das Lächeln des Alten stimmte ihn seltsam zuversichtlich. Der Drachenmeister hatte gesagt, dass er ein Antizyklon wie der Chef, Wendy und Costas war, was bedeutete, dass er irgendetwas machen musste, was warme Luft produzierte, die nach oben stieg – so hatte er es zumindest nachgelesen, nachdem sie zurück waren. Doch was außer Licht, Feuer und Wüstensand war denn noch warm? Die unbekannte, total abgedrehte Kraft, die nur ein X verdient hatte? Passte nicht zu ihm. Irgendetwas starkes, beständiges, das war er, Zeph Sokolewsky, auch wenn es ihm ein Rätsel war, wie er dann einen Vogel als Kirit haben konnte. Aber wenn man es sich genau überlegte... Was hatte ein Skorpion mit Feuer zu tun? „Das, was ihr auf der Hand tragt, sind germanische Runen, Futhark, um genau zu sein! Manche sehen schon aus wie Buchstaben, andere sind aber ganz anders! Das, was du sicher als X lesen würdest, ist eigentlich ein G!“ Kermad lachte. „Verrückte alte Sprache, nicht? Aber für uns ist es gar nicht so abwegig, immerhin sind wir das alte Volk! Die Túatha Dé Danann, das vierte irische Volk!“ Während die anderen mit ihrer Mahlzeit fortfuhren, versuchte Zeph nicht mit den Gedanken abzuschweifen. Warum konnte der alte Mann nicht endlich sagen, was seine Kraft war? „Oh!“, sagte Kermad wieder, „Es tut mir leid! Wir haben hier so selten Besuch und wenn James einmal da ist, dann bleibt er meistens nicht mal eine Stunde und verschwindet sofort wieder, nachdem er uns neuen Proviant und Alltagsgegenstände vorbeigebracht hat. Wisst ihr, wir leben hier in einer ganz kleinen Sphäre! Nach dem Haus und der Windmühle ist fast schon Schluss. Da ist kein Platz für große Anbaufelder und Tierzucht. Obwohl wir ein paar Hühner haben, ja, das ist schön!“ Zeph zog seine Hand beiseite und blickte den alten Mann verärgert an. Zumindest versuchte er es. Mit seinen trägen Augen wirkte selbst der ernsthafteste Blick seltsam harmlos. „Was ist es?“, fragte er noch einmal mit Nachdruck. Das war ja schlimmer, als wenn der Chef wieder einmal über das Erzählen belangloser Alltäglichkeiten die Zeit vergaß und er sich immer zwingen musste, nicht einzuschlafen! „Hmm... Ja! Diese Rune steht also für Gobban, ein vorzüglicher Patron für jemanden wie dich, junger Padawan!“ – „Gobban?“ Zeph hob eine Augenbraue. Auch die anderen hatten ihr Mahl beendet und lauschten nun interessiert den Ausführungen Kermads. Doch weiter kam der Greis nicht. Mit einem lauten Knall krachte plötzlich etwas sehr Großes auf das Dach des Hauses. Erst knarrte und ächzte der Dachbalken noch unter dem plötzlichen Einschlag, doch dann splitterte das Holz und ein Teil des Daches polterte auf den Tisch herab. Erschrocken sprangen die Kite Knights auf und blickten in das Loch der Decke, welches nun einen hellen Sonnenstrahl in den Raum warf, der sich durch den aufgewirbelten Schutt deutlich abzeichnete. Ein ohrenbetäubendes Brüllen erklang, welches das gesamte Haus zum Erzittern brachte und allen schmerzhaft in den Ohren stach. Dann schob sich ein Schemen vor das Loch im Dach und ließ den Sonnenstrahl verschwinden. Dort, wo eben noch ein Fleckchen blauer Himmel zu sehen war, blickte nun ein gigantisches, rotglühendes Auge auf die Tafelrunde herab. Obwohl jedem von ihnen die Knie zitterten, waren alle Kite Knights wie gelähmt. Unfähig, auch nur einen Mucks von sich zu geben, standen die fünf Clubmitglieder und ihr Betreuer starr um die Holztafel herum und sahen dem Ungetüm direkt ins Auge. Sie wussten nicht, was es war. Niemand von ihnen hatte je zuvor etwas ähnliches gesehen. Das rote Auge hatte eine geschlitzte Pupille, die sich angespannt, fast schon wütend verengte und hektisch von einem zum anderen blickte. Hin und wieder zwinkerte das Monster und man sah, dass es mit dunkelgrünen, fast schon erdfarbenen Schuppen bedeckt war, von denen eine so groß war wie ein Handteller. Allein das Loch im Dach vermochte nichts über die wahre Größe des Ungetüms zu sagen, doch das Grollen und Schnauben verriet, dass es sich zumindest um ein Monster der Größe eines Tyrannosaurus Rex handeln musste, wie sie ihn alle aus dem Jurassic Park kannten. Mindestens. Ein Geruch von Harz und Schwefel lag in der Luft, gepaart mit verbranntem Holz. Das Dach ächzte so laut unter dem Gewicht des Monsters, dass jedem von ihnen bewusst war, dass es nicht mehr lange halten würde. Aber was sollten sie tun? „Scheint ja ein großes Krokodil zu sein, welches es sich dort oben gemütlich mach!“, versuchte Costas zu scherzen, doch es klang erbärmlich und nicht überzeugend. Wieder grollte das Monster und Staub regnete herab. Panisch sprang Kermad unter den Tisch und hob zitternd die Hände über den Kopf. „Oh, oh, oh! Der Torwächter ist sauer! Ich glaube, ich mache mir gleich in die Hose!“ Als erneut ein armdicker Holzbalken herabfiel, taten es die Kite Knights dem Alten gleich. Eine mit schwefelgelben, gebogenen Krallen besetzte Pranke riss ein weiteres Stück aus dem Dach heraus. Alle waren sich sicher, dass es wohl besser gewesen wäre, nach draußen zu gehen, anstatt von einem Dach erschlagen zu werden, doch niemand traute sich, auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen, da niemand wusste, wie groß und mächtig das Ungetüm auf dem Dach wirklich war. „Torwächter?“ Balotelli versuchte das Zittern in seiner Stimme zu verbergen, doch konnte sein bleich gewordenes Gesicht nicht die Angst verbergen. Jetzt, da er einmal mehr einer Situation auf Verderb und Gedeih ausgeliefert war, kam es ihm so vor, als wäre die Entführung seiner Schwester durch den seltsamen Brezelbäcker Olaf letzten Herbst nichts weiter als eine leichte Turnübung gewesen. Er schloss die Augen und dachte an das süße, lachende Gesicht seiner kleinen Schwester, die ihm zuwinkte und „Toto!“ rief, dachte an all die verrückten und aufregenden Dinge, die sie im Drachenclub zusammen erlebt hatte und rief sich schließlich Hayates Gesicht ins Gedächtnis. Wenigstens hatte ich schon mal Sex... Der Gedanke war in jener Situation so unpassend und doch so beruhigend, dass er schmunzeln musste. Kermads hektisches Nicken holte ihn wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. „Ja, ja! Der Torwächter! Ein direkter Nachkomme des Äolus, der jeden, der diesen Ort verlassen will, vor eine Prüfung stellt.“ Wendy stöhnte entnervt und drehte sich auf den Rücken. Wieder rummste es laut. Nicht mehr lange, und sie würden alle platt wie eine Flunder unter dem Tisch liegen und höchstens noch als Salamibelag für eine Pizza taugen. „Erst dieser plötzlich erscheinende Eingang in den Grabhügel, dann dieses mysteriöse Licht in der Höhle und jetzt auch noch“, sie lugte für einen winzigen Augenblick unter dem Tisch hervor, um sich zu vergewissern, dass ihre Vermutung stimmte, „ein echter Drache?“ Sie trat von unten gegen die Tischplatte. „Langsam glaube ich echt, dass wir irgendetwas geraucht haben, das ist doch alles nicht möglich!“ Drache! Ein Drache! Ein riesenhaftes, feuerspeiendes Monster mit großen, ledrigen Flügeln und einer schuppigen Haut wie ein Krokodil und einem Körper wie ein T-Rex – nur nicht mit so behinderten Ärmchen – welches mit einem alten Sack und zwei dickbrüstigen Blondinen zusammen in einer Dimensionsblase mitten im Nirgendwo hockte und mit Sicherheit Hundefutter aus der Dose fraß! Costas kroch neben sie und versuchte zu Grinsen. Langsam fügte sich das Bild zusammen. „Genauso unmöglich wie ein Buch, das wie zugeklebt ist, wenn man nicht zu den Auserwählten gehört und einen Windzug heraufbeschwört, wenn man es öffnet?“ Neil auf der anderen Seite fügte hinzu: „Genauso unmöglich wie Drachengeister, die mittels eines Lenkdrachens beschworen werden und die mit einem reden?“ Wären sie nicht offensichtlich gerade in einer ziemlich brenzligen Situation gewesen, hätte Wendy gelacht. „Warum frage ich mich so etwas überhaupt noch?“ – „Weil man sich als sterbliches, menschliches Wesen nur so davon überzeugen kann, dass man nicht den Verstand verliert“, setzte Angelo nach und putzte sich die verstaubte Brille. „Seitdem ich Tornado kenne, haben so viele Begebenheiten meinen Glauben auf die Probe gestellt. Ich war beunruhigt, weil ich es nicht verstehen konnte, egal wie sehr ich auch darüber nachdachte und es nachrechnete.“ Er setzte sich die Brille wieder auf. Der Angriff des Drachen war kurzzeitig zum Erliegen gekommen, da sich dieser entschlossen hatte, vom Dach abzulassen und sich stattdessen dazu entschlossen hatte – wie jeder normale Besucher – die schwere Holztür als Eingang zu benutzen. „Ich habe mich dazu entschlossen, manche Dinge einfach als gegeben zu akzeptieren und nach meinem besten Wissen und Gewissen dazu beizutragen, zumindest die rationale Seite in diesem Sport zu unterstützen.“ Das Grollen und Krachen kam nun nicht mehr von oben, von der Seite, denn der Drache begann, mit seinem Kopf immer und immer wieder gegen die Tür zu schlagen. Balotelli war fast schon gerührt, doch er musste schreien, um gegen das Krachen anzukommen. „Angelo! Was wären wir nur ohne dich! Du bist der einzig Normale in diesem Haufen von Verrückten!“ Die eisernen Scharniere in den Wänden gaben langsam nach. Nicht mal mehr eine Minute, und der Kopf des schuppigen Ungetüms würde im Zimmer erscheinen. Wendy wollte protestieren, dass sie sich nicht zu den Verrückten zählte, doch Kermad heulte auf einmal laut auf. „Du meine Güte! Junge, Junge, Junge! Ihr habt doch nicht etwa einen Normalsterblichen mit euch gebracht?“ Wäre es möglich gewesen, noch bleicher als kreidebleich zu werden, dann wäre dies Kermad gelungen. Ohne Rücksicht zu nehmen, kroch er über Wendy und Neil drüber und schnappte sich Angelos linke Hand. Langsam wurde es wirklich eng unter dem großen, runden Holztisch. „Nein, nein, nein!“, Kermad schüttelte den Kopf und blies dem Teamtechniker der Kite Knights auf die linke Hand, doch so sehr er es auch hoffte, keine Rune erschien auf dessen Handinnenfläche. „Ach du meine Güte!“, rief er erneut, „Kein Wunder, dass der Torwächter verärgert ist! Nur die Auserwählten, die von den Göttern geweiht wurden, haben das Recht diesen heiligen Ort hier zu betreten!“ Er schluckte und blickte mit betretenem Blick in die Runde. „Alle anderen … müssen sterben.“ Kapitel 35: Von Krokodilen und LKWs ----------------------------------- Neil schnappte nach Luft. Wahrlich, er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als darauf zu warten, von einem Drachen überrollt zu werden, während er den Schritt eines alten Mannes, der mit ihnen unter einen großen Holztisch gekrochen war, im Gesicht hatte. Eigentlich liebte er fantastische Abenteuer. Er liebte es, in die fernen Welten einzutauchen und Helden dabei zu begleiten, wie sie in großen Schlachten kämpften, immer auf der Jagd nach magischen Artefakten und auf der Suche nach höheren Idealen. Aber eigentlich liebte er sie nur, wenn er dabei mit einer heißen Tasse Tee mit Honig auf dem Fenstersims hocken konnte, während draußen der Regen gegen die Scheiben trommelte. Selbst einmal Teil einer Geschichte zu werden und von einem echten Drachen verfolgt zu werden, entsprach so gar nicht seiner Vorstellung von einem gelungenen Nachmittag. Und erst Recht nicht, wenn man noch einen alten Zausel dabei hatte, der einem mit seiner Hüfte die Luft abdrückte. „Mff-hff!“, versuchte Neil sich bemerkbar zu machen, doch das Brüllen des Drachen übertönte seine Stimme bei Weitem. Er hatte nicht so ganz gehört, was Kermad eben zu Angelo gesagt hatte, doch da keiner der anderen Kite Knights auch nur einen Ton von sich gab, war er sich sicher, dass es nichts Gutes gewesen sein konnte. „Runter von mir, runter!“ Kermad wimmerte leise, als man ihm keifend einen Stoß gegen die Rippen verpasste. Mit gekrümmtem Bauch rollte er sich zur Seite und wischte sich über die tränenden Augen. Ah, endlich wieder Platz und Luft! Danke, Wendy, danke! „Sterben?“, Balotelli hob ratlos eine Augenbraue. Kermad nickte. „Der Torwächter lässt niemanden aus unserer kleinen Anderswelt hier hinaus, wenn er sich nicht als jemand, der den Göttern geweiht wurde, ausweisen kann. Und euer kleiner Freund hier“, er klopfte Angelo mitleidig auf die Schulter, „hat scheinbar so gar keine Resonanz bei den Göttersäulen hervorgerufen, nicht?“ Angelo schüttelte den Kopf. „Ich habe es den anderen gleichgetan und eine der Säulen berührt, doch es erfolgte bedauerlicherweise keine Reaktion.“ Kermad strich sich grübelnd über den langen, weißen Bart. „Hmm... Das ist nicht gut, wirklich nicht gut!“ Inzwischen war vor der schweren Holztür Stille eingekehrt. „Wahrscheinlich war die Resonanz deiner fünf Mitstreiter so groß, dass das Chaos die Schranke zwischen den Welten auch für dich geöffnet hat. In der Regel kann kein Normalsterblicher diesen Ort hier betreten.“ Er kroch wieder unter dem Tisch hervor und lachte. Es war ein hilfloses Lachen, das im Unterton den Wahnsinn mit sich schwingen ließ. Die anderen lauschten erst nach dem Drachen, dann kamen auch sie skeptisch unter der Holztafel hervor und klopften sich den Staub von der Kleidung und aus den Haaren. Schweigend legte Kermad seinen Zeigefinger an die Lippen und deutete mit der anderen Hand zum Fenster. Er brauchte allerhöchste Vorsicht, um möglichst lautlos zwischen den Schuttresten und dem zerbrochenen Inventar zum Fenster zu gelangen und allen blieb fast das Herz stehen, als dessen Scharniere beim Öffnen leise knarrten. Einer nach dem anderen stiegen sie auf den Sims und sprangen die anderthalb Meter nach unten. Erst Wendy, dann Angelo, dann Neil, dann Balotelli. Als sich Zeph und Costas gerade ebenfalls auf den Weg nach draußen machen wollte, packte Kermad sie an den Oberarmen. „Halt!“, formten seine Lippen stumm. Der schlaksige Osteuropäer und der korpulente Südeuropäer nickten stumm. Kermad winkte zuerst Costas ganz nahe an sein Gesicht heran und tat dies anschließend auch mit Zeph. Er hatte ihnen Anweisungen ins Ohr geflüstert. Während Costas sofort die Fäuste ballte und grinsend nickte, schüttelte Zeph den Kopf und hob abwehrend die Hände. Die Falte zwischen den Augenbrauen des Greises verstärkte sich und er redete noch einmal im Flüsterton auf den braunhaarigen Polen ein, dann zuckte dieser resignierend mit den Schultern und fügte sich seinem Schicksal. Costas trat auf das Fensterbrett und sprang hinab. „Was dauerte das eben solange? Ich dachte, wir sollen abhauen!“, presste Wendy leise zischend hervor und verschränkte die Arme. „Kommt Zeph jetzt noch?“ Als Costas mit dem Kopf schüttelte, breitete sich ein mulmiges Gefühl in den vier Kite Knights aus, doch noch bevor sie ihn nach dem Warum fragen konnten, hob er zuversichtlich den Daumen. „Kermad hat gesagt, dass wir schon einmal vor in den Wald gehen sollen. Er meint, dass Zeph das schon schafft, uns den Drachen für einige Zeit vom Leib zu halten, zumindest solange, bis wir Angelo außer Sichtweite gebracht haben und und in Ruhe überlegen können, wie wir alle wieder unbeschadet nach Hause zurückkommen können.“ Er knetete nervös seine Finger und leckte sich über die Lippen. „Und damit uns der Drache nicht bemerkt, meint er, dass ich Folgendes machen soll...“ Er atmete einmal tief durch und hob die linke Hand. „Oh Göttin Tailtiu, du Mutter der Erde, die du mir deinen Segen hast zuteil werden lassen! Ich schenke dir nun einen Teil meiner Kraft im Angesicht des Äolus, auf dass mein Sandschleier ein schützender Mantel für uns alle werde! Diogenes, erscheine!“ Ein leiser Windzug raschelte in den Rosenhecken, die das Grundstück umgaben. Wenige Meter entfernt rollte ein kleiner Dornbusch von links nach rechts, doch nichts geschah. Kein Kirit erschien und kein Sandschleier machte sie unsichtbar. Und zum ersten Mal in seinem Leben war Costas Nixas etwas so peinlich, dass er errötete. Wendy klatschte unbeeindruckt in die Hände. „Wow, ganz toll. Einen schönen Spruch hast du da aufgesagt. Und weiter?“ Costas schluckte seine aufkommende Nervosität herunter. „Dann eben noch einmal von Vorne! Oh Göttin Tailtiu, du Mutter der Erde, die...“ Wendy grunzte vergnügt und auch der Rest des Teams fand Costas' Versuche, eine epische Beschwörung zu vollziehen, ziemlich lächerlich. „B-braucht man, u-um seinen Ki-kirit zu beschwören, ni-nicht eigentlich einen Lenkdrachen?“ Jetzt war es zu spät! Neil hatte es gesagt! Neil hatte es einmal wieder gewagt, einfach unverblümt und unschuldig eine Frage zu stellen, nur diesmal war sie nicht ihm selbst, sondern dem dunkelhaarigen Griechen mit dem Anglerhut ziemlich peinlich. „Kirit... Drachen... Kirit... OH MANN! Jetzt habe ich den Faden verloren.“ Costas schürzte die Lippen und blickte verlegen zur Seite. „Wisst ihr was? Kermad kann mich mal mit seiner doofen Beschwörung! Ich mach's einfach wie immer!“ Er stellte sich breitbeinig hin, ballte noch einmal die linke Faust, ließ seinen Arm zum Himmel schnellen und brüllte so laut wie er konnte: „LIFT 'EM UP!“ ... WUSCH! Die aufkommende Druckwelle war so stark, dass sie die vier Kite Knights fast von den Füßen riss. Mit einem Mal wurde soviel Kraft in Costas' Handfläche gepumpt, dass diese hell zu strahlen begann. Mit überraschtem Blick sah der Vertrauenslehrer der Kite Knights nach oben und fühlte, wie die Energie ausgehend von seiner linken Hand in den Himmel schoss, dort eine unsichtbare Tür zu öffnen schien und schließlich Diogenes direkt vor seinen Füßen erscheinen ließ. Das erdfarbenene Krokodil brüllte laut und schlug mit seinem Schwanz so heftig auf den Boden, dass die Erde in der Dimensionsblase einmal mehr zu beben begann. Wendy sprang vor Schreck hinter Balotelli und griff nach seinem Arm. Beim letzten Mal war Diogenes noch ihr Gegner gewesen und hatte ihrem Selbstbewusstsein einen herben Dämpfer verpasst. Und jetzt stand dieses riesenhafte Krokodil vor ihr, noch größer und realer als am Tag ihres Duells mit Costas und starrte ihr direkt in die Augen. Costas' Blick wanderte überrascht zwischen seiner Hand, dem Himmel und Diogenes hin und her. Der Windmarker leuchtete hell und schien nicht zu verschwinden, egal wie oft er die Faust schloss und wieder öffnete, gegen die Handfläche blies oder versuchte ihn abzuwischen. „Wow...“, raunte er sprachlos, „einfach wow!“ – „Und das alles ohne Lenkdrachen?“, fragte Neil skeptisch. Costas nickte. „Scheint so!“ Wieder sah er erstaunt auf seine Handfläche, dann musste er grinsen. „Wendy?“ – „W-was willst du, du S-spast?“ Es war ihr so peinlich zuzugeben, dass ihr die Anwesenheit von Costas' riesigem Kirit Angst machte, dass sie nicht anders konnte, als mit trotzigen Sprüchen zu kontern. Dagegen war Sting ja echt ein Baby! „Hast du etwa Angst?“ Costas und Diogenes gingen ein paar Schritte auf die Rothaarige zu, die ihre Hände so fest in Balotellis Oberarm gegraben hatte, dass diesem schmerzhaft das Blut abgedrückt wurde. Costas winkte ab und lachte schallend, als Diogenes mit seinem Krokodilsmaul leicht gegen die Nummer Eins und Zwei der Kite Knights stupste. „Mein guter Freund hier sagt, dass ich dir ausrichten soll, dass es ihm leid tut, dass er dich das letzte Mal so auseinandergenommen hat!“ Der Klammergriff und Balotellis Arm ließ nach. Der Blonde verformte den Mund zu einem nervösen Lächeln. Wendys Fingerkuppen hatten tiefrote Druckstellen hinterlassen.„Ma si? Für mich sieht das eher so aus, als würde er uns gleich fressen wollen!“ Diogenes schnurrte und bleckte die Zähne, dann hob er die rechte Vorderpfote und stampfte einmal kräftig auf den Boden, sodass sich eine Wand aus Sand schützend um sie herum erhob. Costas legte seinem Kirit die Hand auf die Stirn und ging voran. „Ehrlich gesagt“, er kratzte sich verlegen am Hinterkopf und sprach, ohne sich umzusehen, „war das von mir nicht sehr nett, dich so auseinanderzunehmen, Wendy! Lass dich davon bloß nicht unterkriegen und gib nicht auf, dann bist du irgendwann bestimmt sogar stärker als ich!“ Die Rothaarige schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf, dann eilte sie neben Costas und streichelte skeptisch Diogenes Schnauze. „Glaub mir, Herr Lehrer, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich genauso gehandelt!“ Schweigend entfernten sie sich langsamen Schrittes von dem Anwesen der Túatha Dé Danann, stets umgeben von einem Sandschleier, der sie unsichtbar machte. Als sie das kleine Waldstück in der Nähe der Windmühle erreicht hatten, löste Costas die Beschwörung auf und ließ Diogenes wieder in seinem Körper verschwinden. Erschöpft ließ er sich auf einen Baumstumpf fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Windmarker auf seiner linken Handfläche verschwand. „Teil Eins wäre damit erledigt.“ Balotelli lehnte sich gegen einen moosbewachsenen Baum und verschränkte lässig die Arme. Sein Blick ging in Richtung des Anwesens. Das Loch, welches der Drache im Dach hinterlassen hatte, war von ihrem Aufenthaltspunkt kaum noch zu erkennen. „Jetzt bleibt bloß noch zu hoffen, dass Zeph in der Lage ist, den Drachen zu beruhigen...“ Als der Sandschleier Costas und seine vier Teamkameraden unsichtbar gemacht hatte, wandte sich Zeph vom Fenster ab. Nun lag es also einzig und allein an ihm, den Drachen dazu zu bringen, wieder zurück zu dem Grabhügel jenseits des kleinen Waldstückes zu fliegen, um dort das Tor in die Außenwelt zu öffnen. „Hör zu, Junge!“, hatte Kermad ihm ins Ohr geflüstert. „Ich weiß, dass du Zweifel hast. Aber jetzt, da ich die Windmarker von euch allen überprüft habe, weiß ich, dass du der Einzige bist, der in der Lage ist, ein Bollwerk zu errichten, an dem selbst ein Drache sich die Zähne ausbeißen würde. Wenn du es schaffst, ihn nur lange genug von dir fernzuhalten, dann wird er ganz von alleine die Lust verlieren und sich zurückziehen, glaub mir!“ So oder so ähnlich hatte es der alte Mann gesagt, auch wenn bei Zeph im Grunde nur so etwas wie „sei eine Mauer und halte ihn hin“ im Gedächtnis haften geblieben war. Auch den Spruch, den er aufsagen sollte, war schon wieder aus seinem Gehirn verschwunden und er erinnerte sich nur noch an „Gobban, Gott der Schmiede“ und ein paar Wortfetzen. Kermad war zur Holztür geschlichen und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Das Scharnier quietschte so laut wie ein Ferkel auf der Schlachtbank. Draußen hob der Drache träge seinen Kopf und blies ein paar Rauchwolken aus seinen Nüstern. Hungrig lauernd wie ein Raubtier fixierten seine glutroten Augen die Tür, die sich einen Spalt geöffnet hatte. Ein schmaler Lichtstreif fiel nach Innen und offenbarte ein Bild der Zerstörung. Es wunderte ihn ein bisschen, dass dort drinnen alles kaputt war, hatte er doch nur ein bisschen im Dach herumgestochert, in der Hoffnung, der unwillkommene Besucher würde sich freiwillig ergeben und sich von ihm fressen lassen. Und noch mehr verwunderte es ihn, dass der Raum, in dem er eben doch noch sieben Personen gezählt hatte, plötzlich leer war. Leer! Einfach so! Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle, welches fast wie große und kleine Felsbrocken klang, die einen Abhang hinabrollten. Zeph dachte an das, was ihm Costas nach seinem viel zu zeitigem Ausscheiden aus dem Battle Royale gesagt hatte. „Wenn einer in diesem Team die undurchdringbare Mauer sein soll, dann bist wohl du das. In dir steckt mindestens die Standhaftigkeit von Stahlbeton!“ Stahlbeton. Stahl. Gobban, der Gott der Schmiede. War es das, was Costas gemeint hatte? Zeph fuhr sich durch den Zopf und zog sein Haargummi fester. Dann straffte er die Schultern, dehnte seinen sehnigen Hals einmal nach links und einmal nach rechts, legte die Hände an die beiden Türflügel und öffnete mit einem kräftigen Schubser das Portal. Nun stand er ihm gegenüber, Angesicht zu Angesicht. Und zum ersten Mal konnte er sehen, wie groß der Drache wirklich war. Sein Rumpf war mindestens so lang wie ein LKW mit Anhänger. Der Schwanz, der wütend auf den Boden peitschte, machte ihn so lang wie … ein LKW mit zwei Anhängern. Und seine Flügelspannweite war, sofern Zeph es einschätzen konnte, so weit wie … ein LKW mit Anhänger zur Linken und ein LKW mit Anhänger zur Rechten. Wahrlich, im Beschreiben von Dingen war Zeph wirklich nicht gut! Kurzum: der Drache war riesig und hockte einfach im Innenhof zwischen Orangenbäumen, die wie Streichholz umgeknickt waren, gebeugt über den Springbrunnen, der seltsamerweise noch intakt und noch immer von Quietscheentchen und Plastikspielzeug bevölkert war. „Ich hab dich gefunden!“ Der Drache sog tief die Luft ein und kostete den Duft einer frischen Markierung durch einen der zehn Götter. Dann knurrte er erneut. Nein, dieser Mensch war definitiv nicht der Unwürdige, der sich in den heiligen Hallen der Túatha Dé Danann aufhielt. Dieses Exemplar hier war absolut ungenießbar. Nicht nur sehnig und knochig, sondern auch viel zu haarig. Nichts, was man sich danach von den Zähnen kratzen wollte. Der Drache setzte sich auf und zeigte, dass er nicht nur lang wie mehrere LKWs, sondern auch hoch wie ein Haus war. Zeph erschien es rätselhaft, wie so ein großes Monster nur auf das Dach von Kermads Anwesen gepasst hatte, ohne dass sofort der gesamte Dachstuhl zusammengebrochen war, aber zum Nachdenken darüber war nun keine Zeit. Das Ungetüm breitete seine grünlich-erdigen Schwingen aus und machte Anstalten, sich in die Luft zu erheben, um sich auf die Suche nach dem entwischten Normalsterblichen zu machen, doch Kermads Stimme schwoll an zu einem Dröhnen, das den gesamten Innenhof ausfüllte: „DU! KANNST NICHT! VORBEI!“ Zeph spürte den Schuh des Alten in seinem Rücken, der ihn rabiat von sich stieß, direkt auf den Drachen zu. Kermad lachte. „Ach, ich wollte das schon immer einmal sagen! Aber jetzt, husch husch, mach es, wie ich es dir vorhin gesagt habe, junger Padawan!“ Zephs Blick ging ratlos zwischen dem Drachen und dem Greis hin und her. Sollte er wirklich? Am Ende tat er sich noch so weh, wie Wendy damals, als sie ihren Kirit das erste Mal gerufen hatte. Wollte er wirklich, dass man ihm einen Stahlhammer über die Rübe zog? Er plötzlich innerlich zu einem Metallmann wurde? „Jetzt mach hinne, Junge, und puller dich nicht ein! Denkst du, der Torwächter wartet ewig auf dich? Ist ja nicht so, als wäre er schrecklich in dich verliebt und stirbt hier vor Sehnsucht, wenn du ihn so schmoren lässt!“ Warum in aller Welt war der Alte plötzlich wieder so mutig? Gefiel ihm ja gar nicht. Nein, eigentlich wollte er gar nichts machen. Aber was würde der Chef dann sagen? 'Sfaticato, du hast es verbockt! Was für eine Schande!' Costas würde ihn auslachen, Wendy ihm eine reinhauen, Neil sich netterweise zurückhalten und Angelo – Angelo wäre mausetot. Und das nur, weil er, Zeph, aus Bequemlichkeit nichts getan hatte! Oder aus Angst, zu versagen? Wieder einmal der unschönen Wahrheit ins Gesicht zu blicken, dass er absoluter Durchschnitt, wenn nicht sogar unterer Durchschnitt war und es mit niemandem aus dem Team – nicht mal mit dem Neuen – aufnehmen konnte? Wenn hier drinnen also alles ein bisschen verrückt und anders als draußen war, dann wollte er jetzt bitte auch, im Gegensatz zu draußen, endlich einmal nicht zu den Versagern gehören. Das hier war kein Leistungstest in der Schule und wenn er es vermasselte, dann würden es bloß ein verrückter alter Mann und ein Drache, von dem er sich nicht einmal sicher war, dass dieser überhaupt existierte und kein Produkt eines eventuellen Rauschzustandes war, erfahren. Und wenn Angelo dann immer noch ins Gras beißen musste, dann konnte er, Zeph Sokolewsky, sich wenigstens guten Gewissens sagen, dass er es versucht hatte! „Boah, Mann, jetzt beeil dich endlich mal!“ Kermad stampfte genervt mit den Füßen auf und zeterte vor sich hin. „Dass du nicht ganz Helle bist, war mir ja schon klar, als ihr bei mir zur Tür reinkamt, aber dass du auch noch extrem langsam bist, hätte ich ja nicht gedacht. So ein großer starker Kerl wie du sollte sich echt schämen, so träge zu sein!“ Das war zuviel! Der Alte wetterte fast schon so schlimm herum wie Aquila! „Sei still, du nervst!“ Mit einer eindeutigen Handbewegung schnitt er jegliche Wiederworte Kermads ab. Doch anstatt, dass dieser beleidigt war, grinste er ihn nur zufrieden an. „Na dann wollen wir mal! Sprich mir nach, junger Padawan!“ Er rieb sich erwartungsvoll die Hände. „Oh Gott Gobban, du Patron der Schmiede!“ – „Oh Gott Gobban, du Patron der Schmiede!“ – „Der du mir hast deinen Segen zuteil werden lassen!“ – „Der du mir hast deinen Segen zuteil werden lassen!“ Während er die Worte des Greises wiederholte, spürte er ein warmes Kribbeln auf seiner linken Handfläche. Wie zuvor Costas, streckte auch er nun die Hand zum Himmel und sprach: „Ich schenke dir nun einen Teil meiner Kraft im Angesicht des Äolus! Aquila, erscheine!“ … KA-BUMM! ... Der Energieausbruch war so heftig, das der Drache brüllend zurückwich und mit seinem Schwanz auch noch die letzten heilen Orangenbäume nieder fegte. Zeph konnte spüren, wie eine nie zuvor gekannte Kraft durch seinen gesamten Körper floss. Seine Muskeln spannten sich an und er fühlte sich einerseits hart und undurchdringlich wie eine Wand, andererseits aber doch flexibel wie Schilfrohr im Wind. Erstaunt sah er nach oben und beobachtete, wie eine Säule aus flüssigem Metall das Firmament durchbrach und irgendwo im unsichtbaren Nirgendwo eine Verbindung mit einer göttlichen Macht einging. Und dann war es soweit: Aquila, der braune Steinadler, stieg zum allerersten Mal in seiner wahren Gestalt vom Himmel herab... Kapitel 36: Die Zeit läuft ab! ------------------------------ Als Zeph und sein Drachengeist Aquila sich in die Augen sahen, wussten beide instinktiv, dass von nun an alles anders sein würde. Die Verbindung, die vorher so schwach und dabei trotzdem immer so anstrengend war, wurde mit einem mal so intensiv, dass es Zeph so vorkam, als wäre Aquila völlig Eins geworden. Er streckte den Arm aus und ließ den Steinadler darauf landen. Einerseits fühlte es sich schwer an, den großen braunen Vogel mit den goldgelben Augen zu halten, andererseits aber auch nicht anders, als wäre ihm ein dritter Arm gewachsen, nur mit dem kleinen Unterschied, dass dieser dritte Arm fühlen konnte und in Gedanken zu ihm sprach. Endlich siehst du mich richtig! Und wie findest du mich? Zeph konnte den Stolz spüren, den die Adlerdame ausstrahlte. Das braune Gefieder, welches zu den Flügelspitzen hin ins Ockerfarbene verlief, wirkte viel gesünder und lebendiger, als es bisher der Fall war und zeigte keinerlei Anzeichen davon, dass sich Aquila bald wieder in Nebel auflösen würde. Doch war dies nicht der Grund, warum er überrascht die Augenbrauen hob. Was ihn wirklich zum Staunen brachte, war der stählerne Schienenpanzer, der eines römischen Legionärs gleich Brust und Rücken des Steinadlers bedeckte. Und auch der Kopf war nicht länger ungeschützt, sondern trug eine mit einem dunkelgrünen Helmbusch verzierte Stahlkappe. Die Krallen waren mit weiteren Stahlplatten gepanzert und so stark, dass sie mit einem einzigen Hieb einem Gegner die Brust aufreißen konnten. Unter der Schulterrüstung war ein ebenfalls dunkelgrüner Umhang befestigt, der leise im Wind flatterte.   Zephs schmale Lippen verformten sich zu einem glücklichen Schmunzeln. „Gut, nie?“, antwortete er seinem Kirit gewohnt knapp, der seinen Kopf daraufhin gurrend an seiner Schläfe rieb. Der Drache gähnte und kratzte sich träge mit der Hinterpfote am Bauch. Die allgemeine Regel für dramatische Kämpfe verbat es ihm, sich während der Einführung eines neuen Charakters auf seinen Gegner zu stürzen und so wartete er und wartete er und wartete er und wartete er, bis Zeph endlich sein Zwiegespräch mit seinem erstarkten Kirit beendet hatte und sich wieder mit voller Aufmerksamkeit dem Duell widmen konnte. Daraufhin knurrte das Ungetüm so laut, dass die bunten Kacheln aus dem Springbrunnen krachten und einzelne Dachziegel herabfielen. „Oh, oh“, jammerte Kermad mit besorgtem Blick, „das wird lange dauern, bis ich das wieder aufgebaut habe! Im Gegensatz zu euch Außenweltlern habe ich hier nämlich keine Hausratversicherung!“ Zeph war vielleicht nicht der Hellste, doch er verstand, worauf der Alte hinauswollte. Er hob katapultartig den Arm und ließ Aquila fliegen. Der Steinadler stieß einen gellenden Schrei aus und begann darauf in kreisenden Bewegungen um den Drachen herumzuflattern.   Zeph wusste nicht, wie sein Kirit es machte, doch Aquila glitt elegant wie eine Tänzerin im Uhrzeigersinn auf einem aufsteigenden Luftstrom, bis der Drache genervt den Hals reckte und nach ihr schnappte. „Bin also echt ein Anti-Zyklon, nie?“ Kermad verschränkte die Arme und nickte ihm freundlich zu. „Der Segen Gobbans macht aus dir einen stählernen Krieger, dessen Verteidigung undurchdringbar ist, mein Junge! Er ist...“ Wieder krachte es. Diesmal hatte das Ungetüm wirklich die Geduld verloren und sprang, ohne auf seine Umgebung zu achten, rücksichtslos Aquila hinterher. Aquila schraubte sich höher und höher, bis sie nur noch als Schatten vor der rotglühenden Nachmittagssonne zu erkennen war. Der Drache tat es ihr gleich und erhob seinen tonnenschweren Körpern mit ein paar kräftigen Flügelschlägen vom Boden, welche augenblicklich einen Sturm entfachten. Während Zeph felsenfest stehenblieb und sich nur die Hände schützend vor das Gesicht halten musste, um keine Staubkörner in die Augen zu bekommen, wurde Kermad durch die Druckwelle durch die Luft geschleudert, worauf er sich mehrmals um seine Achse drehte und schließlich mit voller Wucht gegen die Hauswand geschleudert wurde.   „Alles gut?“ Zeph eilte dem alten Mann entgegen und half ihm wieder auf die Beine. Aquila hatte sich inzwischen weit vom Anwesen wegbewegt und den Drachen dazu gebracht, mit ihr eine wilde Jagd über den Nachmittagshimmel zu veranstalten. Kermads Beine zitterten und er musste sich von Zeph stützen lassen. Beide waren einmal mehr staubbedeckt und überblickten für einen kurzen Moment schweigend das Chaos, welches der Drache hinterlassen hat. „Tut mir leid!“, entschuldigte sich Zeph kurz angebunden und half Kermad dabei, über den Schutt zu klettern. Jetzt, da der Drache sie nicht mehr beachtete, konnten sie endlich das Haus verlassen und sich auf den Weg zu den anderen machen. „Ach, das macht doch nichts!“ Der Greis winkte ab. „Hier draußen haben wir alle Zeit der Welt, weil wir nicht sterblich sind, wie ihr Menschen.“ Er zwang sich ein Lächeln ab, doch seine Beine schmerzten ihm sehr. „Eigentlich wollte ich sowieso mal wieder renovieren!“ Sie öffneten eine mit Runenschnitzerei verzierte Holztür und traten ins Freie. Vor ihnen breitete sich ein Garten mit verschlungenen Rosenbüschen aus, die alle in den wildesten Farben leuchteten und einen angenehmen Geruch verströmten. „Danke, mein Junge. Ich denke, ich kann jetzt wieder alleine laufen.“ Kermad löste sich von Zeph und deutete ihm an, ihm zu folgen. Zeph öffnete sein Haargummi und schüttelte sich den Staub aus den dunkelbraunen Locken, dann band er sich erneut die Haare zu einem Zopf zusammen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Aquila war inzwischen so weit weggeflogen, dass er kaum noch eine Verbindung zu seinem Kirit spüren konnte. Für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen und er schwankte bedrohlich hin und her, doch dann fing er sich wieder, schüttelte das unangenehme Gefühl ab und folgte Kermad in den Wald, wo der Rest der Gruppe auf ihn wartete. Doch seine Sorge, dass irgendetwas mit seinem Kirit geschehen würde, war unbegründet: In all den Minuten, die er schweigend hinter dem weißhaarigen Druiden lief, strahlte der Windmarker auf seiner Handfläche mit metallischem Glanz. Aquila musste also noch immer mit dem Drachen beschäftigt sein.   „Sfaticato, da bist du ja endlich!“ Balotelli klang besorgt und erleichtert zugleich, als der braunhaarige Pole endlich das Dickicht durchquert hatte und auf der kleinen Waldlichtung erschien. Er hatte sich verändert. In der kurzen Zeit, die sie voneinander getrennt waren, schien es, als hätte Zeph deutlich an Muskelmasse zugenommen. Er war zwar noch immer groß und schlaksig, doch wirkten seine nackten Arme gestählt wie nach monatelangem Krafttraining. Costas pfiff beeindruckt. „Und ich dachte mein Trainingsplan für euch wäre effektiv gewesen!“ Mit prüfendem Blick näherte er sich Zeph und kniff ihm in den Oberarm. „Ist ja krass! Dein Bizeps ist steinhart!“ Die Anderen bildeten neugierig einen Kreis um die Nummer Drei der Kite Knights. „Sfaticato, bist du das wirklich?“ Balotelli musterte ihn skeptisch von allen Seiten. Zeph nickte ruhig und wollte etwas sagen, doch Costas hatte nach seinem Oberteil gegriffen und schob es beherzt nach oben. „Der Wahnsinn! Seht euch mal diese Bauchmuskeln an!“ – „Hey! Gibt nix zu sehen!“, protestierte Zeph, doch ließ er es über sich ergehen, dass alle ihn zum ersten Mal wegen seines – bestimmt nicht schlecht aussehenden – Körpers anstarrten. „Mamma Mia!“, rief Balotelli. Neil nickte anerkennend. „Und das ganz ohne Steroide, wage ich zu vermuten!“, sagte Angelo und rückte mit gewohntem Reflex seine Brille zurecht. Nur Wendy sagte nichts. Sie hatte sich peinlich berührt abgewandt, nicht in der Lage, den Anblick eines wohlgeformten Sixpacks zu ertragen. „Könnt ihr“, sie hüstelte nervös, „könnt ihr euch eure Peep-Show bitte für die Männerumkleide aufheben. Es gibt … Dinge … die ich nicht unbedingt sehen will!“ Traumatische Erinnerungen an die Penisparade in den Weihnachtsferien fanden ihren Weg zurück in ihr Gedächtnis. Oh nein! Nur nicht wieder daran denken! Denk an etwas anderes, denk an … Oh nein! Es geht nicht! Balotelli ließ sein Zahnpastalächeln hervorblitzen und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Bellissima! Nur keine falsche Scham! Wenn du Sfaticato fragst, darfst du sein Sixpack bestimmt auch einmal anfassen, ma si!“ Sie verzog das Gesicht und versuchte die Aufkommende Erinnerung an blonde Schamhaare zu unterdrücken. „Das hast du jetzt gerade nicht wirklich gesagt, oder?“ Der blonde Italiener nickte und berührte zur Bestätigung selbst Zephs Bauchmuskeln, zwischen denen sich eine dunkelbraune Straße bis hin zu seinem besten Stück entlangzog. Zeph murrte und entzog sich dem Griff der beiden Südländer. „Sind wir nicht wegen was anderem hier?“ Aquila kam zurückgeflogen und nickte dem schlaksigen Braunhaarigen zu, dann verschwand sie wieder in seiner Handfläche. Der Windmarker verblasste. Zeph ... danke! Wendy nickte ihm zu und Zeph antwortete mit einem ebenso unauffälligem Nicken.   Kermad trat in die Mitte seiner sechs Besucher und fuhr sich nachdenklich durch den weißen Bart. „Zuerst einmal entschuldige ich mich dafür, dass ich euch vorhin so einen Schrecken eingejagt habe. Ich habe noch einmal nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es doch noch einen anderen Weg zurück in eure Welt geben muss!“ Er verstellte die Stimme und sagte mit halb zusammengekniffenen Augen. „Einen geheimen Pfad, mein Schatz, oh ja!“ Wendy rollte mit den Augen. Genug mit den Herr der Ringe Anspielungen! „Es gibt einen Weg, der ähnlich lang ist wie der, auf dem ihr hergekommen seid. Er ist nicht sehr angenehm zu laufen, aber auf jedem Fall so gut getarnt, dass euch der Torwächter nicht finden wird. Am Ende müsst ihr lediglich einen Felsblock beiseite schaffen, um wieder auf eurer Seite herauszukommen. Aber...“, Kermad grinste und klopfte ein paar Mal fest gegen Zephs Bauch, der mittlerweile ganz genervt davon war, dass er plötzlich so gut mit Muskeln bestückt war, „euer Man of Steel hier ist jetzt stark genug, um auch dieses Hindernis hier zu beseitigen!“ Zeph legte den Kopf schief. „Man of Steel? Klingt gut, nie?“ Ob er wohl in Zukunft auch Autos anheben können würde, ohne einen Wagenheber benutzen zu müssen? Balotelli trat hervor. „Es dauert also lange, ja?“ Kermad nickte. „Ich als Anführer würde kein Risiko eingehen, wenn es um die Unversehrtheit meines Teams geht, aber was sagt ihr?“ Er blickte fragend von einem Gesicht ins andere. „Kein Problem“, antwortete Zeph kurz angebunden und verschränkte die Arme, damit nicht noch andere auf die Idee kamen, ihn anzugrapschen. „Wenn's unbedingt sein muss...“, stimmte Wendy ihm zu, auch wenn sie lieber den kurzen Weg genommen hätte. „I-Ich denke, ich schließe mich d-den a-anderen an!“, stotterte Neil, weil es ihm unangenehm war, dass ihn plötzlich alle ansahen. Costas hob den Daumen und nickte bestätigend. Jetzt lag es an Angelo, die Entscheidung rechtskräftig zu machen. Vier Kite Knights, ein Betreuer und ein weißhaariger Druide blickten ihn an und warteten auf seine Antwort. Angelos olivgrüne Augen fixierten Balotelli, dann den Boden vor seinen Füßen und dann wieder Balotelli. Selbst Neil erkannte nun, dass der Teamtechniker mit der ebenholzfarbenen Kurzhaarfrisur ein Problem damit hatte, anderen Menschen ins Gesicht zu sehen. Schließlich atmete Angelo tief durch und verkündete sein Urteil: „Nein.“ Ein Erstaunen ging durch die Gruppe. „Aber Angelo, wieso? Wir machen das nur für dich!“ Es war das erste Mal, dass Angelo Balotelli widersprochen hatte. Der Schwarzhaarige zog die Schultern nach oben und wandte sich ab, um nicht länger den Blicken der anderen ausgesetzt zu sein. Dann begann er leise zu sprechen. „Weil wir keine Zeit haben...“ Costas legte die Hand ans Ohr. „Was hast du gerade gesagt?“ Angelo presste die Lippen aufeinander und wiederholte seinen Satz noch einmal lauter. „Weil wir … KEINE ZEIT HABEN!“ Seine Hände verkrampften sich, als er sich umwandte und sie alle ernst ansah. „Eigentlich sind wir schon viel zu lange hier und je länger ich hier stehe und spreche, desto schlimmer wird es. Wir sind nämlich in einem Zeitdilatationsfeld!“ … „HÄÄÄÄÄ~?!“ ... Niemand verstand, was der Teamtechniker der Kite Knights eben gesagt hatte, doch der eindringliche Blick in seinen Augen verriet, dass es etwas unfassbar Wichtiges gewesen war. „Zeitdili-dila-was?“ Neil erinnerte sich dunkel, in irgendeiner Science-Fiction-Serie schon einmal davon gehört zu haben, doch die Bedeutung davon blieb ihm schleierhaft. „Zeitdilatation“, korrigierte ihn Angelo. „Das Phänomen, welches auftritt, wenn sich Materie in der Nähe eines schwarzen Loches befindet.“ Er fasste sich ans Kinn und überlegte, wie er den komplizierten physikalischen Vorgang so erklären konnte, dass ihn sogar Zeph verstand. „Ein schwarzes Loch ist im Grunde ein sterbender Stern von großer Masse. Und diese Masse verzerrt den Raum um es herum. Aber nicht nur der Raum ist verzerrt, sondern auch die Zeit.“ Ratlose Gesichter. „Kurzum, je näher man dem Zentrum ist, desto langsamer vergeht die Zeit.“ Noch ratlosere Gesichter. Angelo räusperte sich einmal kurz, dann fuhr er fort. „Es muss nicht unbedingt ein schwarzes Loch sein, sagen wir … irgendein mysteriöses, magisches Ding … macht, dass hier bei Kermad die Zeit langsamer vergeht, als draußen in unserer Welt. Das nennt man dann Zeitdilatation.“ Balotelli schüttelte skeptisch den Kopf. „Ma no, warum kommst du denn auf so etwas, Angelo?“ Der Schwarzhaarige zeigte auf das Gesicht des Teamchefs. „Ich habe Beobachtungen angestellt. Zuerst einmal dein blaues Auge, Tornado“, er deutete nun auf Wendy, „und dein Sonnenbrand, Wendy!“ Beide fassten sich ins Gesicht und sahen sich gegenseitig an. „Dein Sonnenbrand!“ – „Dein blaues Auge!“ – „Sie sind weg!“ Wendy winkte ab. „Bestimmt ist das auch eine Nebenwirkung des komischen Lichtes, das uns in dieser Säulenhalle angegriffen hat!“ Doch Angelo verneinte. „Das dachte ich zuerst auch, aber dein Sonnenbrand war vorhin beim Essen noch vorhanden. Wie also kann es sein, dass der so plötzlich innerhalb einer Stunde verheilt?“ Die Rothaarige zuckte mit den Schultern. „Meine Salbe wirkt gut? Oder gute Gene?“ Angelo fuhr mit seinen Beobachtungen fort. „Zweitens! Das verschimmelte Brot!“ Balotelli musste es sich verkneifen, angewidert das Gesicht zu verziehen. „Vielleicht hat Zeph seine Tasche wochenlang nicht ausgeräumt?“ – „Hey, das ist nicht nett!“ Zeph schmollte. Immer wurden ihm die absurdesten Unterstellungen gemacht. Genau wie die Tatsache, dass er klaute, obwohl er doch eigentlich wirklich immer nur Glück hatte und ihm viele wertvolle Dinge einfach nur vor die Füße fielen! Wirklich! „Falsch!“ Angelo holte seinen Tablet-PC und die Taschenlampe hervor. „Von beiden ist der Akku binnen kürzester Zeit leer gewesen, seitdem wir den Grabhügel betreten haben, obwohl ich erst gestern, bevor wir zur Wanderung aufgebrochen sind, alles voll aufgeladen hatte. Das müsste normalerweise tagelang halten!“ Langsam redete sich das jüngste Clubmitglied in den Wahn und verblüffte damit alle, die in einem Kreis um ihn standen. „Kermad!“, wandte er sich schließlich auch noch dem weißhaarigen Druiden zu und holte eine leere Dose Ravioli hervor. „Du sagst doch, dass der Drachenmeister etwa dreimal im Jahr vorbeikommt und euch Proviant bringt, richtig?“ Der Alte nickte. „Oh ja! Und sein letzter Besuch ist gerade einmal zwei Monate her!“ Angelo tippte auf die Dose und zeigte sie den anderen. „Wie kann es dann sein, dass das Haltbarkeitsdatum seit über einem Jahr abgelaufen ist, wenn der Drachenmeister doch erst kürzlich frische Dosen vorbeigebracht hat?“ Langsam dämmerte es den anderen, was Angelo ihnen erklären wollte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Wenn das wirklich stimmte, dass die Zeit innerhalb der Dimensionsblase langsamer verging als außerhalb, dann waren sie, wenn sie acht Stunden lang unterwegs waren... „Mindestens eine Woche!“ Die Erkenntnis traf Balotelli wie einen Schlag und er musste sich auf den Boden setzen. „Mindestens.“ Angelo rückte seine Brille zurecht. Betretenes Schweigen trat ein. Niemand störte sich daran, dass sie scheinbar abgelaufene Lebensmittel gegessen hatten, so schwer wiegte die Erkenntnis über die gestohlene Zeit in ihrem Magen. „W-wenn wir so lange weg sind, d-dann sucht man bestimmt schon nach uns...“ Die Vorstellung, dass seinen Eltern und Großeltern vor Sorge um ihn das Herz gebrochen wurde, stimmte Neil unendlich traurig. „Und wenn wir den geheimen Pfad nehmen, dann sind wir mindestens noch einmal eine Woche lang verschwunden, ja?“, fügte Wendy hinzu und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Eine weitere Woche, in der sich ihr Vater die Seele aus dem Leib heulen würde, weil seine einzige Tochter verschwunden war. Vielleicht würden sie sogar im Fernsehen davon berichten, dass sie vermisst wurden, und dann würde sicher auch Vald endlich einmal begriffen haben, wie gemein und unfair er zu ihr gewesen war und sich entschuldigen. Nicht, dass sie wollte, dass sie sich wieder vertrugen... Nein... Also... Doch! Blödmann! Raus aus meinem Kopf! RAUS! Balotelli fuhr sich nervös durch die Haare. „Wenn dieser geheime Gang denn wirklich nach draußen führt und es nicht nur ein Gerücht ist, dass er existiert...“ Kermad hob die Augenbrauen und nickte leicht mit dem Kopf. „Das könnte natürlich wahr sein! Ich halte es aber trotzdem für sicherer, den Pfad zu benutzen und es auszuprobieren, als am Ende im Magen eines Drachen zu landen!“ – „Ich aber nicht!“ Angelo hatte seine Entscheidung getroffen und jeder wusste, dass er so schnell nicht wieder davon abzubringen sein würde. Kermad legte ihm seine Hände auf die Schultern und sah ihm tief in die Augen. „Was bist du nur für ein mutiger Junge, Angelo!“ Sein Griff wurde fester. „Vielleicht funktioniert es ja wirklich, dass du dich am Torwächter vorbei schleichen kannst, während deine Freunde ihn mit ihren Drachengeistern ablenken. Oh ja, einen Versuch wäre es wert!“   Balotelli nickte fest entschlossen. „Worauf warten wir dann noch?“ Er streckte seine Hand aus und deutete an, dass sie darauf einschlagen sollte. Wendys behandschuhte traf auf Zephs hagere, Neils zitternde und Angelos relativ kleine Hand, dann legten noch Costas seine fleischige und Kermad seine faltige Hand hinzu. Es schien, als wären sie alle einen unsichtbaren Pakt eingegangen, der ihre Kräfte miteinander verband. „Kite Knights!“, begann Balotelli mit ernster Stimme. Sein italienischer Akzent war gänzlich verschwunden. „Das ist das wohl größte Abenteuer, das wir je miteinander erlebt haben. Und gemeinsam werden wir es auch überstehen!“  Kapitel 37: Der letzte Kampf ---------------------------- Keiner sagte ein Wort, als sie sich auf den Weg hinaus aus dem Waldstück hin zu einem weiteren Steinkreis machten, der bereits aus der Entfernung her dem Grabhügel verblüffend ähnlich sah. Der Wind hatte zugenommen und es wurde allmählich empfindlich kühl unter der Nachmittagssonne. Vorbeischleichen, hatte Kermad gesagt, war vielleicht möglich, doch je näher sie den Monolithen kamen, desto unsicherer wurden sie. Der Drache beobachtete sie. Hob träge die schweren Lider und sah sie aus rotglühenden Augen an, noch bevor sie den ersten Felsen passiert hatten. Das tiefe Grollen aus seiner Kehle ließ den Boden erzittern. Sand rieselte von den Monolithen herab. Als sie vor ihm standen, richtete er sich auf und schlug mit seinem Schwanz ein paar Mal wie mit einer Peitsche auf den Boden, sodass alle ins Straucheln kamen und sich gegenseitig stützen mussten. Schwarzer Rauch drang aus den Nüstern, wann immer der Drache ausatmete und verbreitete einen Geruch nach Pech und Harz. Als er Angelo erblickte, fletschte er die spitzen Zähne und fuhr mit seiner langen, pelzigen Zunge darüber. Diesmal, so schien es sein Blick auszudrücken, würde er seine Beute nicht entkommen lassen. Kermad klopfte noch einmal jedem der Kite Knights auf die Schulter und seufzte leise, als er Angelo erreicht hatte. „Ihr wisst ja, was ihr nun zu tun habt. Denkt an die Götter, die euch ihre Kraft zuteil haben lassen und beschwört eure Windgeister, dann kann euch nichts passieren. Und du mein Junge...“, er legte seine faltige Hand auf Angelos Kopf und brachte sein Haar väterlich durcheinander, „Möge die Macht mit dir sein!“ Als der Alte sich abgewandt hatte, versuchte der Schwarzhaarige verärgert, aber ohne einen Ton von sich zu geben, seine Frisur zu richten. Kermad steckte die Hände in die Hosentaschen und stapfte breitbeinig auf den Drachen zu. „Na, mein Mädchen?“, flirtete er gelassen und hob dabei mehrmals die Augenbrauen. „Ich weiß, du magst keinen Besuch, aber das vorhin hätte doch nicht sein müssen. Mein schönes Haus!“ Er ging leicht nach rechts und der Kopf des Drachen folgte ihn. Balotelli nickte. „Bene, er ist abgelenkt!“ Eigentlich wollte er viel lieber im Turmzimmer auf seinem Thron sitzen und dort mit Hayate zusammen Tee trinken und Hausaufgaben machen, doch waren sie weder in der Schule, noch war Hayate bei ihm. Es schmeckte zwar fast so bitter wie der grüne Tee, den der Japaner aufzubrühen pflegte, doch er versuchte trotzdem zuversichtlich und siegessicher zu lächeln. „Denkt immer daran: wir sind ein Team und gemeinsam schaffen wir das! Also...“, er atmete tief ein und streckte die linke Hand nach oben, „auf drei!“ Sie bildeten einen Kreis. Kermad redete noch immer auf den Drachen ein, der sich nun mit dem gesamten Körper zur Seite gedreht hatte. „Eins!“ Ihre Blickte verfestigten sich. „Zwei!“ Der Boden unter ihren Füßen knirschte, als sie ihren Stand festigten. „Drei!“ Die Hände schnellten nach oben. „LIFT 'EM UP!!“ Der Drache gab ein ohrenbetäubendes Brüllen von sich und überzog Kermads Gesicht mit einem feinen Sprühregen aus Speichel. Der Greis fiel zu Boden, als sich das Ungetüm mit kräftigen Flügelschlägen erhob. Das plötzlich aufflammende Leuchtfeuer aus dem Kreis der Kite Knights war wie ein Ampelsignal, das den Start eines Rennens einläutete. Lichtweiße, feuerrote, metallsilberne, sandgelbe und insektengrüne Lichtsäulen schossen nach oben und öffneten unsichtbare Türen im Firmament, welche die Drachengeister verborgen hielten. Diogenes, das erdfarbene Krokodil mit den gelb leuchtenden Augen, krachte zwischen seinem Herrn und dem Drachen auf den Boden und verursachte eine Druckwelle aus Staub. Costas Drachengeist war eigentlich ein Riese, doch wirkte Diogenes neben dem Drachen so klein wie ein Grundschüler neben einem Zwei-Meter-Bodybuilder. Icarus und Aquila, die eigentlich am edelsten und eindrucksvollsten von allen Kirits waren, wirkten wie Spielzeugfiguren, während sie in einer weitläufigen Kreisbewegung um das Ungetüm flogen, während Sting, der sich ohne Trägerdrachen nur schwer in der Luft halten konnte und deshalb von einem Monolithen zum nächsten krabbelte, und Darter, die wie immer mit nahezu unsichtbaren Flügelschlägen mit unruhigen Bewegungen durch die Luft sirrte, sogar nur wie Fliegen wirkten, die der Drachen mit einem Happs hätte verschlingen können. Angelo hatte sich hinter einem mannshohen Felsen versteckt und versuchte jede Einzelheit des Kampfes genauestens zu studieren. Er hatte nicht viel Zeit gehabt, doch in den wenigen Augenblicken, die der weißhaarige Druide auf den Drachen eingeredet hatte, war er sich sicher erkannt zu haben, dass in der Mitte des Steinkreises ebenfalls ein Grabhügel aufgeschichtet war, der zu einem Korridor führen musste, der sie wieder zurück in ihre Welt brachte. Er hatte den Rücken an den kalten Stein gepresst und sah immer nur kurz über die Schulter, um nicht von dem Drachen entdeckt zu werden. Die Beschwörung der Kirits kam so plötzlich, dass dieser sich nicht mehr auf seine Beute konzentrieren konnte. Angelo war, so hatte es zumindest im Moment den Anschein, sicher. Jetzt hieß es nur noch, irgendwie zum Eingang der Grabkammer zu kommen, ohne gefressen zu werden. „Icarus, Lichtpfeilregen!“ Schneller als sonst spannte Balotellis Drachengeist seinen Bogen und schoss eine gewaltige Salve an weißglühenden Pfeilen vom Himmel herab, welche die Bewegungsfreiheit des Drachen eingrenzen sollten. Das Monster brüllte und machte in der Luft eine Rolle zur Seite, um der Attacke auszuweichen. Darter sirrte heran und erzeugte Schallwellen, während Aquila die einsetzende Verwirrung des Drachen nutzte, um ihm mit ihrer neuen Stärke eine Kopfnuss zu geben. Der Drache taumelte und sackte um ein paar Meter in der Luft ab, wo er in einen von Diogenes erzeugten Sandschleier eintauchte, der ihm die Sicht nahm. Und dies nutzte wiederum Sting aus, um mit schnellen Sprüngen von Felsen zu Felsen eine Windhose aus Flammen zu erzeugen, die zusammen mit dem Staub zu einer explosiven Mischung wurden. Der Drache jaulte vor Schmerz und schraubte sich innerhalb des Feuertornados nach oben, nur um dort auf Icarus' heroische Gestalt zu treffen, die ihm einen großen Pfeil mitten durch den linken Flügel jagte. Aquila gab einen gellenden Adlerschrei von sich und setzte mit ihrem Schnabel nach. Der Drache verlor sein Gleichgewicht und stürzte krachend zu Boden. „Diogenes, jetzt!“, rief Costas und befahl seinem Erdkrokodil, sich in einem Bein des Monsters zu verbeißen. Wieder sauste Darter heran und vollzog schnelle Drehungen um das Maul des Drachen, das orientierungslos nach ihm schnappte. Balotelli schob triumphierend sein Stirnband zurück und kratzte sich die Nasenspitze. „Es riecht nach Blut. Ich bin mir sicher, dass wir ihn bald besiegt haben, ma si!“ Die Kite Knights rückten näher zusammen und nickten einander zu. Aus den Augenwinkeln konnten sie beobachten, wie Angelo sich um einen weiteren Monolithen der Grabkammer genähert hatte. Auch Kermad tat sein Bestes und versuchte den Drachen von der anderen Seite aus abzulenken. Costas rann der Schweiß von den Schläfen herab und er musste kurz seinen Hut abnehmen, um sich über die Stirn zu verwischen. Auf seinem Hinterkopf blitzte eine lichte Stelle in dem dunkelgrünen Haar auf, doch es war ihm egal. Es gab nun wichtigeres zu tun, als sich vor ein paar Jugendlichen vor seiner beginnenden Glatze zu schämen. Er war zwar erst Mitte Zwanzig, doch so war das nun mal bei Südländern. Obenrum wurde es weniger, dafür am ganzen Körper mehr. Und irgendwann würde er dann ein grauhaariger Wookie sein. Auch Wendy atmete schwer. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hatte sie ihre Clubjacke ausgezogen, doch selbst nur mit einem ärmellosen schwarzen Oberteil schien sie innerlich zu verglühen. Es kostete sie viel Kraft, Sting soviel Feuer auf einmal machen zu lassen. Neil und Zeph hielten sich gut und traten in stummer Übereinkunft an die Spitze, um ihre angeschlagenes Team besser zu unterstützen. Der Drache begann gerade wieder sich aufzurichten. Er schüttelte sich, leckte sich kurz – so gut es ging – über den durchbohrten Flügel, streckte sich einmal kurz und brüllte dann lauter wie je zuvor. Mit der rechten Vorderpranke begann er auf Diogenes, der sich noch immer in seinem Bein verbissen hatte, einzuschlagen. Jeder Schlag, den das Erdkrokodil aushalten musste, verursachte in seinem Besitzer Schmerzen. Costas zuckte zusammen und krümmte sich. „Lass nicht los, Diogenes...“, keuchte er und hielt sich den Bauch. Auch Wendy und Balotelli traten einen Schritt nach vorne. Icarus war zu einem der größten Monolithen geflogen, hatte dort Position eingenommen und seinen Bogen erneut konzentriert gespannt. Sein Gesicht zeigte dieselbe Anstrengung wie das des blonden Teamchefs, waren sie doch ein einziges Wesen, das in zwei Körpern steckte, das eine gebunden an die Erde und das andere gebunden an den Wind, durch den es gerufen wurde. Der Kampf ging weiter. Wieder flogen Aquila und Darter in Kreisbewegungen um den Drachen, wieder sammelte Sting seine Feuersbrunst und Icarus seine Lichtkraft. Costas Beine begannen zu zittern, doch er biss die Zähne zusammen. Ich darf nicht schwach werden. Ich muss das Team doch beschützen, immerhin bin ich der Herr Lehrer! Seine Beine gaben nach und er sackte auf die Knie. Diogenes begann durchsichtig zu werden. Komm schon, reiß dich zusammen. Bei der letzten Weltmeisterschaft hattest du mit ähnlichen Gegnern zu kämpfen und hast trotzdem irgendwie gewonnen... Er zwang sich zu einem Grinsen. „Oh wow, so muss sich eine Frau fühlen, wenn sie ein Kind wirft... Ich glaube, ich muss gleich sterben...“ Er hob den Kopf und sah Wendy mit schmerzverzerrtem Gesicht an. „Sorry, dass ich immer so unverschämt war! Es tut mir alles so leid! Aua...“ Diogenes jaulte laut auf. Wieder und wieder und wieder krachte es. Costas' Atem stockte, doch er zwang sich weiterzusprechen. „Ab jetzt … werde ich … nie wieder … frauenverachtende Sprüche bringen, ich verspreche es, ah...“ Wendy hob eine Augenbraue und schürzte die Lippen. „Das glaubst du … doch selbst nicht, Herr Lehrer!“ Auch ihre Worte klangen abgehackt. Die innere Glut raubte ihr allmählich den Verstand, doch sie konnte und durfte nicht aufhören, ihre Kraft zu sammeln. Sie lachte gequält. „Eigentlich bist du sogar … ganz witzig...“ Ein erneuter Hitzeschub bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche und ließ sie für einen winzigen Augenblick taumeln, doch dann schüttelte sie sich und ballte die Fäuste. „OH MANN! Das ist doch scheißegal jetzt! Sting?!“ Die roten Augen des pinken Skorpions verengten sich zu Schlitzen und er hob bedrohlich seinen Stachel, an dessen Spitze sich eine gigantische Feuerkugel gebildet hatte. „Ich denke, dass wir auch stärker geworden sind. Also hau rein, jetzt! STING METEOR!“ KA-WUMM!! Mit einem Mal schien der Himmel zu brennen. Mehrere Asteroiden schlugen in unmittelbarer Umgebung des Ungetüms ein und brachten die Erde zum Beben. Wendy lachte laut auf und genoss die Zerstörungskraft, die ihr der Gott Belenus verliehen hatte. Die Hitze verließ ihren Körper, doch der Fieberglanz stand noch immer in ihren Augen. Angelo musste zur Seite springen, denn der Monolith, hinter dem er sich verborgen hatte, zerbarst unter der Wucht des Einschlages in tausend Trümmer. Er rollte sich auf den Boden und robbte so schnell er konnte in Sicherheit, ohne wegen der aufsteigenden Rauchfahnen genau zu sehen, wohin er eigentlich kroch. Doch der Drache hatte ihn entdeckt. Wütend ließ er von Diogenes, der seltsam grau und durchsichtig geworden war, ab und spie eine Feuersäule in den Himmel. Costas schnaufte erleichtert durch, als der schmerzende Druck auf seinen Körper nachließ, doch nun war es Neil, der vor Schmerzen schrie und vornüber kippte. Das Drachenfeuer hatte Darter mit voller Wucht erwischt. Wendy wusste insgeheim, dass Neil und Darter gerade genau dasselbe durchmachten, wie sie in der verhängnisvollen Nacht an ihrem sechzehnten Geburtstag. Der verkohlte Rest, der von der grünen Libelle übriggeblieben war, fiel zu Boden und zuckte mehrmals. Dann war es vorbei. Neils Kirit hauchte sein letztes bisschen Energie aus und der Windmarker an seiner Hand erlosch. Allen blieb vor Schreck das Herz stehen und die Angriffswelle kam kurzzeitig zum Erliegen. Aquila, die sich gerade im Sturzflug befunden hatte und mit schnellen Bewegungen der Feuersbrunst ausgewichen war, flatterte ein paar Mal mit den Flügeln und schraubte sich erneut in den Himmel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diogenes hatte sich erschöpft vor den Team aufgebaut und gebot ihnen zumindest etwas Schutz vor der Wut des Ungetüms. Balotelli beugte sich mit blassem Gesicht herab und tippte Neil auf die Schulter. „Alles okay, Piccolo?“ Neil antwortete mit einem schwachen Stöhnen und drehte sich auf den Rücken. „Alles okay, mir geht’s gut. Und Darter auch... Irgendwie...“ Er hob zitternd die linke Hand und zeigte allen, dass noch immer ein bisschen Energie in ihm steckte. Der Windmarker flackerte blass. Balotelli atmete erleichtert durch und sah ernst von einem Gesicht ins andere. Dann hob er den Daumen und grinste Zeph und Wendy siegessicher an. „Sieht so aus, als liegt es jetzt an uns, dem harten Kern der Kite Knights, diesen Kampf zu gewinnen.“ Die Drei nickten einander zu. Stumm sahen sie sich gegenseitig in die Augen und dachten zurück an all die verrückten – und manchmal gefährlichen Dinge – die ihnen im letzten Jahr widerfahren waren. Zeph dachte zurück an die vielen Tage, an denen man ihn getriezt hatte, weil sie in ihm nur den faulen und schwachen Kleptomanen sahen und an denen man ihn dazu gezwungen hatte Dinge zu tun, auf die er eigentlich keine Lust hatte. Doch er dachte auch daran, wie aufregend und lustig sein Leben war, seitdem er den Teamchef und die anderen kennengelernt hatte. Er wollte nicht, dass es hier und jetzt endete. Jetzt, wo er stark war, wollte er seine Stärke auch dafür nutzen, dass etwas Gutes geschah. Dafür, dass sie alle wieder nach Hause kamen und am Ende wieder gemeinsam an dem großen runden Tisch im Turmzimmer saßen und gemeinsam nach dem Training frühstückten. Wendy dachte zurück an die unheimliche Begegnung in der Besenkammer, gefolgt von der bizarren Unterhosenwette. Sie dachte an all die Kämpfe und Rückschläge, die sie bestreiten musste, bis Sting endlich geboren worden war. All die Tage, an denen sie traurig war, an denen sie vor Wut an die Decke gehen konnte und es einfach nicht weiterzugehen schien, gehörten genauso zu ihr wie all die Tage, an denen sie lachte und glücklich war und von denen sie sich wünschte, dass sie nie vorbeigegangen wären. Wenn das heute also ein schlechter Tag war, dann war dieser noch lange nicht vorbei. Und weil dies so war, konnte es noch ein guter Tag werden. Auch Balotelli dachte ähnlich, als er sich mit den Beiden vor den nicht mehr kampffähigen Costas und Neil aufstellte. Sie waren ein Team – und als Team würden sie heute gewinnen oder verlieren. Nein. Verlieren würden sie ganz bestimmt nicht. Sie würden gewinnen und stärker werden. Und am Ende würden sie gemeinsam zur Weltmeisterschaft fahren und wieder gewinnen. Gewinnen. Stärker werden. Ein Team. Wendy, Zeph und er. Und Hayate. Auch wenn er jetzt nicht da war. Weltmeisterlich, mit Neils und Angelos Hilfe. Und Costas Ratschlägen. Gemeinsam. Weil sie die Wright Kite Knights waren. Für immer. Doch so wie er es sich vorgestellt hatte, sollte es niemals kommen. An diesem Tag sollte sich alles für immer verändern. Denn als Aquila den Drachen gerade genug abgelenkt hatte, damit Angelo die letzten Meter zum Eingang der Grabkammer sprinten konnte, war es Kermad, der unten am Boden seine Stimme erhob und mit voller Inbrunst rief: „Dort drüben ist er, der Normalsterbliche! Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen!“ Der Drache brüllte triumphierend, als er Angelo im Visier hatte. Nichts, weder Aquilas voller Körpereinsatz, noch eine Salve von Icarus' Lichtpfeilen, noch Stings rasender Feuerblitz, vermochte es, das Ungetüm noch aufzuhalten. Es stürzte sich vom Himmel herab, spannte kurz über dem Boden die Flügel, hob die Pranke und fegte das jüngste Mitglied der Kite Knights zur Seite wie eine Spielzeugfigur. Alles ging so schnell, dass niemand so Recht mitbekam, wie genau der Drache Angelo erwischt haben musste, doch wussten sie alle, dass er so zumindest keine Schmerzen gehabt haben musste. Als er leblos liegenblieb, sickerte Blut aus seinem Hinterkopf. Die Brillengläser waren zerbrochen und die Augen starr und leer. Leere, das war nun auch in Ihnen. Kermad, der alte Druide, hatte sie verraten. Und für diesen Verrat musste Angelo Devlynn, gerade einmal 15 Jahre alt, mit seinem Leben bezahlen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)