High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 17: Shinigami, der Albtraumgott --------------------------------------- Akribisch kalkulierte Angelo die sich im präsentierenden Zahlen auf dem Bildschirm. „Noch ein bisschen weiter nach rechts. Und die Leinen einen halben Meter kürzer fassen. Ja, ja, so ist es gut!“ Die Anzeige wechselte auf Grün. Damit konnte er arbeiten. Tornado hatte Icarus erhoben, an dessen Gestänge Angelo zuvor neben einer Kamera auch einen Wind- und einen Temperaturmesser angebracht hatte. Der junge Techniker hatte sich nämlich im neuen Jahr vorgenommen von allen Drachenduellen Videoaufzeichnungen zu machen, damit sich das Team dadurch einen Eindruck über die Stärken und Schwächen machen konnte, an denen es bis zur Weltmeisterschaft in anderthalb Jahren zu arbeiten galt. Costas warf einen kritischen Blick über seine Schultern. „Warum brauchst du ein Thermometer? Solange der Wind günstig weht, kann einem die Temperatur doch egal sein, Kleiner!“ Angelo zuckte zusammen. Hatte dieser fette Grieche ihn gerade „Kleiner“ genannt? Nur nicht die Beherrschung verlieren! „Wendy dort drüben hatte beim letzten Mal Schwierigkeiten mit der Synchronisierung ihres Kirits. Um einen erneuten Hitzeausbruch zu vermeiden, gilt es ihren Status permanent zu observieren.“ Er nahm seine Brille ab und putzte die halbmondförmigen Gläser mit einem karierten Stofftaschentuch, auf dem seine Mutter die Initialen „A.D.“ – Angelo Devlynn – gestickt hatte. Costas pfiff erstaunt. „Das Mädel hat so viel Energie? Oh Mann, würde mich ja nicht wundern, wenn die auch im Bett 'ne Granate ist! Ob die was für Südländer übrig hat?“ – „Ganz bestimmt nicht für solche Fettknödel wie dich, selbst wenn dein Drachengeist riesig ist!“ Ihre Augenbrauen zuckten. „Ich habe alles gehört!“, blaffte Wendy. 'Ne Granate im Bett... Was dachte der sich nur? Und wenn, dann ging das nur sie etwas an. Und vielleicht auch... Sie errötete. FUCK! Warum musste der Stirnbandheini ihr auch diesen Floh ins Ohr setzen! Das, was er an Silvester behauptet hatte, denjenigen, den sie mochte, den sie sehr mochte... Warum konnte er das nicht für sich behalten?! „He, he, he!“ Costas rieb sich schelmisch über das Kinn. „Du magst also dicke Dinger?“ Sie knurrte gereizt. „Halts Maul! Halt einfach dein Maul und sieh zu!“ Oh-oh. Bloß keine schlechte Laune bekommen! Wendy atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Denk daran, was du mit Balotelli und seiner Schwester geübt hast. Und daran, was die anderen gesagt haben. Ihr Blick wanderte zu Zeph, der inzwischen einen Verband um die linke Wade trug und erschöpft wie immer drein blickte. „Ist wie aufs Klo gehen, einfach laufen lassen!“, hatte er zu ihr gesagt, kurz bevor Cleaver explodiert ist. Und jetzt stand sie hier, hatte sich Aquila ausgeborgt und hoffte inständig, dass nicht wieder dasselbe passieren würde. Nur die Ruhe bewahren! Wird schon schief gehen! Gischt sprühte empor. Das heutige Duellfeld lag zwar am Strand, doch anstatt des ebenen Sandbodens hatte man sich diesmal für eine Ansammlung von porösen schwarzen Felsen entschieden, die zum Teil mit glitschigen Algen überwuchert und stets von Wellen umspült waren. Es würde also schon allein wegen der Örtlichkeit ein spannendes Duell werden, an dessen Ende aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens eine Person klatschnass im Wasser landen würde. „Attenzione! Ich werde nun die Lift-Phase starten! Es duellieren sich heute Hayate mit Shinigami und Wendy mit Aquila. Auf die Positionen!“ Tornado wechselte kurz die Drachenleinen in eine Hand, um eine Trillerpfeife hervorzuholen. „Dreißig Sekunden Startsequenz beginnt... JETZT!“ Er blies so kräftig in die Pfeife, dass sich alle – bis auf die beiden Kontrahenten – die Ohren zuhielten. Sofort sprintete Wendy los und sprang mit großen Schritten von Stein zu Stein, um ausreichend Gegenwind aufzubauen. „Drei, Zwei, Eins! LIFT 'EM UP!“ Sie war erstaunt, wie schnell sich Zephs Drachen trotz der animalischen und ganz und gar nicht aerodynamischen Form erheben ließ. Keine fünf Sekunden dauerte es, bis sich Aquila unter starken Windböen auf den Aufwind gelegt hatte, so dass sich Wendy mit all ihrer Kraft dagegen lehnen musste, um die Kontrolle zu behalten. „LIFT 'EM UP, Sakura Dance Style!“ Hayates Blick war noch immer der eines von Furien Getriebenen, doch seine Stimme blieb die Ruhe selbst. Fast kam sie nicht gegen das Brausen der Brandung an, doch dafür erhob sich Shinigami umso schneller und aggressiver in die Lüfte. Tornado nickte und lehnte sich zurück. „Alles klar... Das wird spannend werden!“ Er konnte beim besten Willen nicht einschätzen, wer bei diesem Duell im Vorteil war. Hayate, der seinen eigenen Drachen benutzte und über einen äußerst gefährlichen Kirit verfügte, oder doch Wendy, sofern es ihr gelang ihren eigenen Kirit nun unter Kontrolle zu bringen. „Los jetzt, schaffst du!“, feuerte Zeph die Rothaarige an. „Aber nicht Aquila kaputt machen, nie?“ Wendy nickte entschlossen. „Ich gebe mein Bestes...“ Mit fixen Augenbewegungen machte sie einen sicheren Weg über die Felsen aus. Dann rannte sie los, bereit Hayate mit einer schnellen Rammattacke ins kalte Meerwasser zu befördern, bevor der überhaupt in Fahrt kam. Doch Hayate war diesmal ein anderer Hayate als der, gegen den sich Tornado auf dem alten Deich an Halloween duelliert hatte. Dieser Hayate war getrieben von Hass und bereit dazu kompromiss- und gnadenlos zuzuschlagen. Noch bevor Wendy den letzten Stein erreicht und ihre Arme herum schwingen konnte, um Aquilas Schnabel volle Breitseite gegen Shinigami zu donnern, war Hayate ausgewichen und mit flinkem Schritt hinter sie getreten. Das alles ging so schnell und lautlos, dass Wendy ins Taumeln geriet. Das salzige Meer kam ihr bedrohlich nahe, doch Aquila, der sich tapfer auf dem Aufstrom hielt, fing sie ab, so dass sie wieder sicher auf beiden Beinen stand. Sie atmete auf und wandte sich um. „Und deshalb sollten Männer immer den ersten Schritt machen...“ Nein. Sie hatte nicht vor denselben Fehler wie der Chef zu machen. Sie wollte sich nicht dazu hinreißen lassen, immer und immer wieder einen Angriff zu starten, um am Ende dann kraftlos mit einer einzigen Attacke aus dem Ring gepfeffert zu werden. Den Gefallen wollte sie Hayate nicht tun! Schweigend blickten sich die beiden Kontrahenten an. Allein das Halten der Drachenleinen erforderte heute viel Kraft in den Armen, so dass sich jeder sicher war, dass dieses Duell nicht allzu lange dauern würde. Wendy legte den Kopf schief. „Was ist denn? Willst du mich nicht angreifen?“ Warum grinste Balotellis Stecher nur so süffisant, als dachte er gerade an etwas äußerst Perverses? Nichts geschah. Sie sog scharf die Luft ein. „Gut, dann muss ich eben wieder angreifen! Ha~!“ Erneut spurtete sie mit voller Geschwindigkeit auf den Japaner zu und ließ Zephs Drachen auf Shinigami krachen. RUMMS! Volltreffer! Diesmal war Hayate nicht ausgewichen. Doch gebracht hatte es auch nicht viel. Dann eben noch einmal! WUMMS! Und noch einmal! RATSCH! Aquilas spitzer Schnabel riss ein kleines Loch in die Tragflächen des sichelförmigen Drachen. Shinigami bekam einen leichten Drall nach rechts, doch Hayate reagierte sofort und verkürzte die linke Drachenleine, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Noch einmal! RUMMS! Eine große Welle brandete gegen die Felsen und verwandelte sich in kleine Tropfen und weißen Meerschaum. Sogar die Luft schmeckte nach Salz. Immer noch blickte Hayate ernst und süffisant grinsend drein und dachte nicht im Traum daran auszuweichen. Wendy hob eine Augenbraue. „Hast du nicht langsam mal genug?“ Leichte Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Musste sie wirklich mit Aquilas Schnabel den anderen Drachen zerpicken, um Hayate aus der Reserve zu locken? Oh Mann! Dieser Typ war echt ein Buch mit sieben Siegeln! Langsam schüttelte Hayate den Kopf und erhob schweigend den rechten Zeigefinger. „Habe ich was im Gesicht?“ Wendy blickte irritiert an sich herab und dann wieder zurück zu Hayate, der leise zu lachen angefangen hatte. „Das nicht, Wendy-san...“ Seine Stimme klang so unheimlich, dass ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. „Es ist nur so... In wenigen Minuten wirst du sterben!“ Sie zuckte zusammen. „Was? Wie? Du redest doch Unsinn!“ Nervös blickte sie zu Tornado und den anderen, um sich zu vergewissern, dass Hayate nur geblufft hatte, doch dort, wo die anderen bis eben noch standen, war nun... „FEUER! FEUER!!“ Panisch wandte Wendy sich um, doch egal in welche Richtung sie auch blickte, überall loderten giftig grüne Flammen. Auf dem Sandboden, auf den Felsen – und sogar auf dem Wasser selbst. „Scheiße, Mann, wie machst du das nur?“ Sie wich ein paar Schritte zurück. Wenn rings herum alles in Flammen stand – die komischerweise keinerlei Wärme verströmten – dann konnte das Duell auch nicht durch ein Verlassen des Rings entschieden werden, sondern nur durch Aufgabe, die Kraft vom eigenen Geist und Körper oder durch das Zerstören des gegnerischen Drachen. Hayate warf sein violettes Haar zurück und zwinkerte. „Ich will bloß sichergehen, dass du für den Hauptteil meiner Vorstellung bereit bist. Denn jetzt kannst du nicht mehr fliehen, Wendy-san!“ Sie schluckte und umfasste die Drachenspulen fester. „Das... hatte ich auch nicht vor...“ Wieder schüttelte Hayate den Kopf. „Keine Sorge, das wirst du noch wollen! Erlaube mir, dir nun meinen Drachengeist vorzustellen: Shinigami, erwache!“ Er riss die Hände nach vorne und machte ein paar meditative Fingerzeichen. Dann erklang plötzlich ein lautes Pochen ähnlich eines Herzschlages. Alle Umgebungsgeräusche verstummten. In Hayates Händen bildete sich eine Wolke aus gleißendem Licht, die sämtliche Farben aus dem Kampfring anzog, bis er schließlich vollständig in kaltes Grau getaucht war. Wendy zog vor Anspannung die Schultern hoch. War das wirklich Hayate, der gerade mit seiner Kraft spielte? So wie sie ihn bisher kennengelernt hatte, konnte das doch nicht möglich sein. Das musste doch einfach ein Hayate-Klon sein, ein schlechter Schauspieler, den sie bisher nicht erkannt hatte, weil für sie als Europäerin Asiaten so schwer auseinanderzuhalten waren! Oder ein Außerirdischer. Ja, mit Sicherheit ein Außerirdischer, denn diese Fähigkeiten, die er zu offenbaren begann, waren nicht mehr normal! Mist! Warum hatte sie keinen Alufolienhut dabei, wenn sie schon nicht weglaufen konnte! „Sag, Wendy-san...“, begann Hayate mit unheimlich ruhiger Stimme. „Gibt es etwas, wovor du dich fürchtest?“ Wendy presste angespannt die Lippen zusammen und nickte. „Das ist schön... Dann hat Shinigami ja eine prächtige neue Spielkameradin gefunden!“ Wieder dieses Lachen. Und so wie es lauter und wahnsinniger wurde, hob Hayate seine Hände empor, um die Energiewolke aufsteigen zu lassen, bis sie schließlich über dem Drachen stand und ein wirklich albtraumhaftes Wesen gebar. Während Icarus ein geflügelter Krieger mit Pfeil und Bogen war, der aus dem Licht geboren wurde, war Shinigami ein Wesen der Finsternis, wenn nicht die Finsternis selbst. Mit wehendem Gewand stand ER plötzlich auf dem Drachen, der aschfahle Gevatter Tod mir der großen Sense, bereit seinem Opfer ohne mit der Wimper zu zucken den Garaus zu machen. „Oh Scheiße...“ Wendy zitterte am ganzen Körper. „Aquila, los, Rammangriff!“ Sie stürzte voran, um ihrer Niederlage nicht völlig tatenlos ins Auge zu blicken, doch eine unsichtbare Mauer stieß sie zurück und ließ sie gegen die ebenso undurchdringbare Flammenwand prallen. Mit schreckgeweiteten Augen musste sie mit ansehen, wie Shinigami mit seiner Sense weit ausholte und sie direkt auf ihren Hals sausen ließ, während Hayate noch immer mit unheimlichem Lächeln schweigend über das Geschehen wachte. FLATSCH! Blut spritzte. Gleich einer Fontäne schoss es aus ihr hinaus und presste sämtliche Luft aus ihren Lungen. Doch es war nicht rot und warm. Nein, es war pechschwarz und teerig. Und anstatt den Lebenssaft aus ihr herauszusaugen, legte es sich wie eine schwere Decke um sie und verwandelte den gesamten Ring in tiefste Nacht, die nicht ein Lichtstrahl zu durchdringen vermochte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)