High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 14: Balotelli und der Drachenmeister -------------------------------------------- Nachdem das Ladenschild auf „GESCHLOSSEN“ gedreht und alle Lichter gelöscht worden waren, versammelte man sich auf dem Fußballplatz im Hinterhof des Ladens. Eigentlich war das kein guter Ort, um Drachen steigen zu lassen, doch dank des Windzuges, der permanent durch die für die Durchfahrt von Autos angelegten Häuseröffnungen pfiff, war genug Spannung in der Luft vorhanden, um die Drachen der Kontrahenten in den Himmel zu befördern.   Kritisch beäugte Wendy das Spektakel. Wie? WIE sollte es gehen, dass ein Einarmiger einen Lenkdrachen steuern konnte? Es war überflüssig zu erwähnen, dass es sich dabei um einen Drachen mit ZWEI Griffen handelte, für dessen Steuerung man ZWEI Arme brauchte. Macht er es mit dem Mund? Mit einem Fuß? Oder ganz anders? Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen!   Angelo holte die Clubfahne aus seinem Rucksack – dies ging nur unter kompletter Umschichtung des Inhaltes, da seine Mutter es wieder zu gut mit ihm gemeint und ihm mindestens fünf Butterbrote eingepackt hatte – und streckte den Arm aus. In der Tat, es wehte eine scharfe Brise. Und jetzt, da es aufgeklart hatte, gab es auch kein störendes Schneegestöber mehr, welches das Duell hätte behindern können. „Aufsteigender Westwind mit zu erwartenden Anomalien! Das Duell beginnt in… Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins… LIFT 'EM UP!“ Die Fahne schnellte nach unten. Während Balotelli sofort mit Anlauf begann Gegenwind zu erzeugen, um den Drachen nach oben zu befördern, hielt der Drachenmeister mit geschlossenen Augen inne. Fast war es, als würde er meditieren, wenn nicht seine Zunge herausgestreckt gewesen wäre, wie als wollte er den Wind schmecken. Ethan lächelte stumm in sich hinein. Wer hätte gedacht, dass sein cooler Startspruch sich solcher Beliebtheit erfreuen würde? Ja, er war eben ein Genie, was solche Dinge anging. Unübertroffen! „Lift 'em up!“ war einfach zu gut, um nicht gebraucht zu werden! Balotellis Füße waren bereits jetzt durch den knöcheltiefen Schnee durchnässt. Warum hatte er auch seine normalen Turnschuhe angezogen und keine Stiefel? Mamma Mia, da war Italien schon geformt wie ein Stiefel und dann hatte er trotzdem keinen Schuhtick, der ihm morgens die richtige Wahl passend zu seinem Outfit ermöglichte! Er musste sich stärker als sonst gegen den Drachen lehnen, da dieser in Sachen Größe und Gewicht Icarus um Längen übertraf. Dennoch hatte es ihm keine Schwierigkeiten bereitet ihn in den Himmel zu befördern. Klare Sache also: Wendy würde – selbst wenn sich die Motorik ihrer Finger nicht vollständig wiederherstellen sollte – kein Problem damit haben, einen Drachen aus demselben Material meistern zu können. „Noch zehn Sekunden, dann ist das Zeitfenster zum Aufsteigen abgelaufen!“ Eigentlich wollte Angelo den Drachenmeister in Aktion sehen, doch Regeln waren da, damit sie eingehalten wurden. Er wollte gerade auf seine Stoppuhr blicken und die Sekunden rückwärts bis Null zählen, da öffnete der bärtige Drachenmeister seine Augen, die angriffslustig blitzten. „Ja, jetzt ist es gut! Jetzt hat der Wind die beste Konsistenz!“   Wendy legte den Kopf schief und fasste sich an die Stirn. Hatte der tatsächlich den Wind geschmeckt? Das war ja noch dämlicher als den Wind zu riechen, so wie es der Teamchef immer tat! Wieder einmal fragte sie sich, warum sie sich nicht ein weniger gestörtes Hobby hätte suchen können, so etwas wie Voltigieren, rhythmische Tanzgymnastik oder anderen Mädchenkram wie Synchronschwimmen? Aber nein, es musste Drachensteigen sein! Und mal ganz ehrlich… Ihr Blick wandte sich zu Ethan, der mit verschränkten Armen und kritischem Blick das Duell analysierte. Ohne das Drachensteigen hätte sie Ethan wohl nie kennengelernt und wäre irgendwann sicher mal im Jugendknast gelandet, bei all den makabren Streichen, die sie und Vald anderen Leuten schon gespielt hatten!   „Wie sagt ihr jungen Leute immer so schön? Lift 'em up? Dann passt mal auf!“ Der Drachenmeister befeuchtete die Lippen. „LIFT 'EM UP, ROLLING PUNCH!“ Mit beiden Drachenspulen in der linken Hand bewegte er seinen Arm wie ein Schaufelrad. Die Drachenleinen ließ er dabei so kurz, dass der Drachen beim Vornüberschwung nicht auf dem Boden schleifte. Dann plötzlich schnippte er mit dem kleinen Finger und Daumen die Haltespangen der Leinen auf, genau in dem Moment, in dem der Drachen von hinten wieder nach oben schnellte, sodass durch den Zug, den er verursachte, die Leinen losgelassen wurden. Und … es funktionierte! Dem ganzen Drachenclub stand der Mund offen, als der unscheinbare Delta-Lenkdrachen mit einem Mal hoch oben in der Luft schwebte, nur gesteuert durch einen Arm und den Drachenspulen eingehakt unter Ring- und kleinem Finger, sowie dem Daumen.   „Dieser Mensch ist ein wahrer Könner!“ Ethan war die Ruhe selbst. Das war nicht das erste Mal, dass er den Drachenmeister in Aktion gesehen hatte. „Ich freue mich schon auf Balotellis Gesicht, wenn er gleich verlieren wird!“ Wendy musste schmunzeln. „Du bist ja heute ungewohnt gut drauf, Ethan!“ Er blickte sie an. „Du hättest doch sicher auch deine Freude daran, Vald verlieren zu sehen.“ VOLLTREFFER! Das Lächeln erstarb. „Das ist wahr… Aber DAS hat andere Gründe!“   „Fantastico! Welch bemerkenswerte Technik, ich bin begeistert!“, rief Balotelli euphorisch. „Attenzione! Jetzt werde ich ein paar Rammattacken starten!“ Der Drachenmeister nickte. „Nur zu, Bürschchen! Halte dich nicht zurück!“ RUMMS! Der geliehene Drachen traf voll ins Schwarze. Balotelli war ganz überrascht von der Wucht, die nur durch eine leicht veränderte Materialbeschaffenheit erzeugt werden konnte. Doch sein bärtiger Gegner war nicht im Geringsten beeindruckt. Ganz im Gegenteil: er streckte ihm sogar die Zunge entgegen. „Ohibò! Wie unhöflich!“ ZACK! Ein weiterer Treffer. Doch der Drachenmeister bewegte nicht einen Finger, sondern kostete weiter seelenruhig die Luft aus. Balotellis Blick glitt zur Seite. Dieser Ethan mit seinem unterdrückten süffisanten Grinsen! Er durfte nicht verlieren! Und was das Schlimme an der ganzen Sache war: er durfte seinen Kirit nicht beschwören, wenn er nicht in dem in drei Wochen stattfindenden Duell im Nachteil sein wollte! Nein, die Blöße gab er sich nicht. Icarus durfte heute nicht geweckt werden. Heute musste Balotelli-Power völlig ausreichend sein! Ein weiterer Treffer! Balotelli rannte, was das Zeug hielt und ließ den Leihdrachen von allen Richtungen auf den Drachenmeister hinunter schnellen, doch dieser war noch immer nicht im Geringsten beeindruckt. Bloß nicht verlieren! Dass er gegen einen Einarmigen ins Schwitzen kam, der nicht mal seinen Drachen bewegte, war eine Ungehörigkeit! Die Zunge verschwand wieder im Mund des Drachenmeisters. „Ja, jetzt ist gut!“ Er machte einen Ausfallschritt nach vorne und ballte die Faust. Der Delta-Lenkdrachen schwankte unruhig im Wind hin und her.   Ethan nickte wissend. Er hatte die Arme verschränkt und tippte unruhig mit seinen Fingern. „Gleich ist es vorbei.“ Wendy beäugte ihn kritisch. Oh Mann, Ethan. Du kriegst dich innerlich ja kaum ein vor Vorfreude!   „Auf geht’s, Bürschchen! Spüre meine Götterfaust!“ – „Und du die unbändige Balotelli-Power! Haa!“ Balotelli stürzte auf den Drachenmeister zu, bereit für eine finale Rammattacke, die dessen Drachen zurück auf die Erde schicken sollte. Alles lief perfekt! Diesem Gegendruck konnte der Bärtige nichts entgegensetzen! „HAA!“ Die Faust des Drachenmeisters schnellte nach vorne. Im selben Moment frischte der Wind auf und stob Schneeflocken gleich Kristallen auf. Balotelli musste die Augen zukneifen. Seine Attacke ging daneben. Darauf hatte der Drachenmeister gewartet. Die Faust verwandelte sich in pures Licht, flog einen Bogen und traf Balotelli so empfindlich im Rücken, dass er nach Luft rang. Er geriet ins Taumeln, stolperte ein paar Schritte nach vorne, rutschte wegen seiner Turnschuhe auf dem Schnee aus und landete im Gebüsch. „Das Duell ist vorbei! Sieger ist der Drachenmeister durch offensichtliches Verlassen des Rings durch Tornado!“, fällte Angelo sein Urteil und ließ die Fahne sinken. Ethans süffisantes Grinsen wurde offensichtlich. „Das ist er, der Fall des großen Balotelli!“ Wendy warf ihm einen giftigen Blick zu. „Du kannst manchmal echt ein Arsch sein, Ethan!“ Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, stapfte sie durch den unter ihren Stiefeln knirschenden Schnee zu ihrem Teamleiter, dem die dornenbesetzte Hecke die Kleidung aufgerissen hatte. „Alles in Ordnung?“ Sie wollte ihm die Hand reichen, um ihm aufzuhelfen, doch hielt sie diese im letzten Moment zurück. „Tut mir leid, die Wunden sind noch zu frisch…“ Mühevoll rappelte sich Balotelli auf und klopfte sich den Schnee von der Kleidung. „Nicht nur deine…“ Dann nickte er und trat selbstbewusst wie eh und je auf den Drachenmeister zu. „Das hast du gut gemacht, Bürschchen!“ Er rollte erst die eine Drachenspule auf, während die Andere noch auf dem Boden lag, und dann die Zweite. „Ich habe Sie und das Lenkdrachenmaterial wirklich unterschätzt, scusi!“ Er senkte den Blick, doch der Drachenmeister schüttelte den Kopf. „Daran lag es nicht. Du hast dich selbst überschätzt, mein Junge!“ Balotelli zuckte zusammen. Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag. „Du musst noch viel lernen, sonst wird dich der Junge da“, er deutete auf Ethan, „noch grün und blau schlagen, wenn ihr euch duelliert!“ Dieses Urteil schmeckte wie bittere Medizin! Was sollte das nur? Er war doch Italiener! Und Italiener waren selbstbewusst und allzeit bereit voranzupreschen! Sollte er… Sollte er mehr nach seiner Mutter gehen und sich in schwedischer Gelassenheit und Fröhlichkeit üben? Er seufzte. Na gut! Er würde gleich nachher ein schwedisches Regal aufbauen gehen und dabei nicht die Geduld verlieren! „Nun hab' dich mal nicht so! Wird schon werden! Und mit den neuen Materialien, die ich euch jetzt bestellen werde, seid ihr sicher ebenbürtige Gegner!“ Er klopfte ihm väterlich auf die Schulter und wandte sich dann dem Rest zu. „Wie wäre es jetzt mit heißem Glühwein und Lebkuchen für alle?“   Wenig später wurden die Geschenke ausgetauscht und sich verabschiedet. „Mi Amici! Wir sehen uns dann am Flughafen in einer Woche, si? Arrivederci!“ Balotelli winkte allen zum Abschied zu und wandte sich dann doch einmal Ethan zu. „Ich habe ganz genau gesehen, wie du dich über mich lustig gemacht hast, Batman!“ Er ballte die Faust. „In drei Wochen werde ich dafür sorgen, dass dir dein Lachen vergeht, versprochen!“ Ethan blieb cool wie immer. „Ich freue mich schon darauf, dich erneut verlieren zu sehen, Balotelli!“ – „Tse! Ich werde gewinnen! Und danach“, wieder zwinkerte er flirtend, „lade ich dich auf eine Pizza bei uns im Lokal ein. Und die wird dir so gut schmecken, dass du danach sicher noch eine Portion „Sugo di Balotelli“[1] in meinem Zimmer kosten willst! Ciao bello!“ Als er sich abgewandt hatte, verzog Ethan das Gesicht. „Wie hält man es mit so einer Person nur aus, Wendy?“ Sie seufzte resignierend. „Frag' nicht! Irgendwann gewöhnt man sich noch daran. Und dann ist es eigentlich ganz witzig!“ Sie öffnete ihre Tasche und holte zwei Geschenktüten hervor, die sie Ethan in die Hand drückte. „Bevor ich es vergesse: Ich habe wieder Lebkuchen und Plätzchen gebacken! Und ein kleines Geschenk ist selbstverständlich auch mit dabei!“ Prompt reichte er ihr eine Tüte zurück. „Das ist für Vald, nicht?“ Wendy senkte den Blick und nickte stumm. „Ich bin nicht dein persönlicher Postbote! Wenn du ihm schon ein Weihnachtsgeschenk machst, dann solltest du wenigstens den Anstand haben es ihm selbst vorbeizubringen!“, fällte er harsch sein Urteil. Keine Antwort. Er schloss die Augen, tippte mit den Fingern an die Stirn und sog scharf die Luft ein. „Mein Chauffeur wartet im Auto auf mich. Ich bin bereit dich zu seiner Wohnung fahren zu lassen, aber den Rest musst du allein tun.“ – „Ich will aber ni-“, Ethans Blick wurde hart. Eindeutig. Er duldete keine Widerrede. Wendy sagte kein Wort mehr. Auch nicht, als sie schon im Wagen saßen und sie stumm die Schneeflocken beobachtete, die erneut angefangen hatten vom Himmel zu fallen. Erst als der Wagen anhielt, wurde die Stille durchbrochen. „Von hier aus kann ich selbst nach Hause laufen. Ist ja nicht weit weg.“ Sie war nervös und ihre Stimme zitterte. Und das vor Ethan, wie peinlich! Er hob die Hand zum Gruß. „Bis in drei Wochen! Frohe Weihnachten!“ Die Tür wurde geschlossen. Das Auto fuhr los. Nun war sie ganz allein. Und das fühlte sich gar nicht gut an! Unruhig ging sie die paar Schritte zur Haustür des Mehrfamilienwohnhauses. Sie konnte nicht einmal hinsehen, als sie die Klingel betätigte. Keine Reaktion. Noch einmal. Immer noch nichts. Penner! Pisser! Idiot! Ich hab' keine Lust mehr auf dich! Da will ich einmal ein klärendes Gespräch führen, um unsere Freundschaft noch zu kitten und dann bist du nicht Zuhause! Sie ballte die Fäuste. Schmerz durchzuckte die noch frischen Narben. Das war nicht gut! Dann eben bei den Nachbarn! Wenigstens reagierte dort jemand auf das Klingeln. „Hä?“ „Entschuldigen Sie die Störung, aber ich wollte Vald etwas vorbeibringen. Nur ist der irgendwie nicht da. Kann ich es vor seine Wohnungstür stellen?“ „Hä?“ Oh je! Der alte Mann musste wohl schwerhörig sein! Trotzdem öffnete er anstandslos die Tür, sodass sie das Geschenk wenigstens indirekt abgeben konnte. Wieder nichts. Wieder hätte sie sich nur ärgern können! Hätte schreien können vor Wut, wenn nicht der Schnee eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt hätte. Dann eben nach Hause. Wenigstens konnte sie so sagen, dass sie es versucht hatte! Ein bekanntes Frauenlachen ertönte. Reflexartig versteckte sich Wendy hinter einer dichten Tanne. Schnee rieselte herab, als sie misstrauisch durch die mit Nadeln besetzten Äste schielte. Harriet! Was machte DIE denn hier? Augenblicklich kam ihr die Galle hoch, denn sie war nicht allein. Sie hatte sich bei Vald eingehängt und drückte ihre dicken Megabrüste an seinen Arm, um schließlich einen klischeehaften Satz zu sagen: „Oh, mir ist so kalt, meinst du nicht, dass ich mit reinkommen und mich ein bisschen an dir wärmen kann?“ Oh bitte! Vald. Jetzt fang' nicht das Sabbern an. Dieses Miststück nutzt dich doch bloß aus! Früher hat sie dich doch auch ignoriert! Wendy umklammerte die Zweige so fest, dass die Nadeln schmerzhaft in ihre Hände stachen. „Naja, ich weiß ja nich'…“ Vald zögerte. „Ist doch schon spät und wenn du nich' nach Hause gehst, dann kriegt Ethan noch was mit…“ ALTER! Ihr macht das auch noch heimlich?! Harriet legte ihre Hände in seinen Nacken und zog ihn langsam zu sich heran. „Ach komm schon!“ Sie lachte leise. „Dein schmutziges Geheimnis ist bei mir sicher! Aber natürlich nur“, sie schlug kokettierend die Augen nieder, „solange du lieb zu mir bist.“ Wendy konnte nicht sehen, was für ein Gesicht Vald machte, doch ihr eigenes sprach Bände. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie sich die Lippen der beiden näherkamen. Warum tut ihr das? Noch näher. Das ist voll eklig! NOCH NÄHER. Hey, und warum kann ich nicht wegsehen?! KRACK! Der Ast brach ab. Vald und Harriet hielten für einen Moment inne und lauschten. Nichts. Nur Stille. War wohl nur ein Tier. Wendy zuckte zusammen. Scheiße, scheiße, scheiße! Ich muss hier weg! Instinktiv hob sie den Ast vor das Gesicht und setzte leise einen Fuß vor den Anderen. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhsohlen, während sie sich einen Weg – durch den Zweig getarnt – an den Mülltonnen vorbei, bis hin zu einem Auto bahnte. Während Harriet ungeduldig „Jetzt komm' schon, ich habe schon ganz kalte Hände!“ sagte, warf Wendy den Ast zu Boden und rannte, was das Zeug hielt. Was war denn nur heute mit ihr los? Eigentlich hätte es ihr doch egal zu sein. Und wenn sie jetzt weglief und erwischt werden würde, dann würde es sicher nicht so aussehen, als wäre sie „nur zufällig“ vorbeigekommen. Boah Vald! Aber Harriet! Die ist ja nicht gerade dafür bekannt, dass sie besonders treu ist! Die hatte doch schon was mit fünf Typen gleichzeitig, da waren wir noch in der Mittelschule! Du kannst mir also echt nicht sagen, dass du … dass du das ernst mit ihr meinst… Als sie kurz vor dem Haus ihrer Eltern angelangt war, hielt sie inne. Sie keuchte atemlos, stützte die Hände auf die Knie und schloss für einen Moment die Augen. Weiße Wolken bildeten sich vor ihrem Gesicht. Es fühlte sich grauenhaft an. Hätte ich dazwischen gehen sollen? Damit sie denken, ich wäre eifersüchtig, oder sowas in der Richtung? Oh Vald, wie kann man nur so naiv sein? Letztendlich wird sie dir wehtun, egal was passiert. Weil sie einfach keine Ahnung hat, wer du bist und was du durchgemacht hast! Das Gartentor ging quietschend auf, als sie mit ihrem Fuß dagegentrat. „Dein schmutziges Geheimnis ist bei mir sicher! Aber natürlich nur solange du lieb zu mir bist.“ Was hatte sie damit nur gemeint? Und hieß das, dass sie ihn erpresste? War Vald ihr persönlicher Callboy, oder was? Wendy kramte den Schlüssel hervor und sperrte die Haustür auf. Nachdem sie sich die Schuhe abgeklopft, die Tür geschlossen und die Jacke ausgezogen hatte, lehnte sie sich erschöpft zurück. Was war nur letzten Sommer passiert, dass er jetzt an Harriet hing und Harriet an ihm? Da war sie gerade einmal eine Woche bei ihren Großeltern und als sie zurückkam, war alles anders. Vald war umgezogen, ohne es vorher auch nur mit einem Wort erwähnt zu haben. Und jetzt auch noch Harriet. Als sie ihr Zimmer betrat und das Licht angeschaltet hatte, blickte sie mit versteinerter Miene auf die Pinnwand. Wenn ich diese Fotos noch länger sehen muss, muss ich kotzen! Vielleicht ist es also besser… Sie begann ein Foto nach dem anderen von Vald von der Pinnwand herunterzureißen. …ich vergesse alles! Ich vergesse dich und all die Erinnerungen. Als das letzte Bild im Mülleimer lag, ließ sie sich ins Kopfkissen fallen. Vielleicht war das ja der eigentliche Grund, warum ihr Drachengeist bisher nicht richtig erwachen konnte? Weil sie nicht loslassen konnte? Ja, so musste es sein. Einfach loslassen und neu anfangen. Dann würde alles sicher wieder gut werden. Als sie dies beschlossen hatte, wurde ihr Inneres plötzlich ganz leer. So leer, dass sie darüber nur noch lächeln konnte.     [1]Balotelli-Saft Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)