High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 3: Das erste Treffen ---------------------------- Beschwingt öffnete Wendy die Beifahrertür und stieg in den rostroten Transporter ihres Vaters ein. „Hallo, Papa!“ Die Tür knallte. Der Anschnallgurt klickte. Dann heulte der Motor auf und die Heimfahrt begann. „Arr!“ (1) Wendy blickte aus dem Fenster und sah die Bäume der Allee vorbeifliegen. Grün, Rot, Gelb und Braun. Bunt durchgemischt wie der beginnende Herbst, doch alle noch voll im Laub. Sie schmunzelte. „Eigentlich ist heute viel zu viel passiert. Ich hätte nicht gedacht, dass es so aufregend werden könnte!“ Sie begann von der Klasseneinteilung zu erzählen, dem plötzlichen Herzinfarkt des Lehrers und von der Einladung in einen Schulclub. Ihr Vater, ein sehr wortkarger Geselle, antwortete hin und wieder einmal mit einem kehligen „Arr“ und nickte. „Nicht wahr? Ihr habt mir zwar erzählt, dass die Schule alt ist, aber so wie sie aussieht, muss das Gemäuer mindestens aus dem Mittelalter stammen.“ ... „Arr.“ (2) Er zwinkerte mit seinem verbliebenen linken Auge – das rechte lag verborgen unter einer schwarzen Augenklappe, was ihm mit seinem kupferroten Rauschebart das Aussehen eines waschechten Piraten verlieh – doch Wendy schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht, Paps. Ich muss morgen früh aufstehen, da wir vor der Schule ein Clubtreffen haben. Aber beim nächsten Mal gerne.“ Sechs Uhr früh hatte Tornado gesagt. „Beim ersten Sonnenstrahl auf der Wiese hinter der Schule, denn dort ist die Luft besonders gut.“ Eigentlich war das viel zu früh. Wendy verzog das Gesicht. Wenn sie nur daran dachte, dass sie den weiten Weg bis zur Schule mit dem Fahrrad auf sich nehmen musste und zudem noch ein gehaltvolles Frühstück verspeisen wollte, dann hieß das wohl um vier Uhr aufstehen. Juhuu! … NICHT. Alles Idioten. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?! „Arr?“ (3) „Doch, doch! Es ist nur...“ Sie suchte nach den passenden Worten. Der Wagen fuhr in die Einfahrt. „Ich war nur so lange nicht mehr so aufgeregt!“ Es dämmerte schon, als Wendy ihre Hausaufgaben beendet hatte. Sie setze ihre Lesebrille ab, schaltete das Licht der Schreibtischlampe aus und öffnete das Fenster. Auch wenn sie es im fahlen Zwielicht nur schwer erkennen konnte, wusste sie doch ganz genau, wo der dicke Ast des großen Baumes, der im Garten zwischen den Häusern stand, ihrem Zimmer am nächsten war. Langsam stieg sie auf das Fensterbrett und tastete sich vorwärts. Das Blattwerk war noch dicht und grün und raschelte leise, als sie auf den Ast stieg und die wenigen Schritte zu ihrem Baumhaus hinüber balancierte. Groß und stabil war die Bretterbude, die ihr Vater vor einer halben Ewigkeit in die Baumkrone gezimmert hatte. Sie machte zwar von außen nicht viel her, da sie vom Wetter gezeichnet war, doch in ihrem Inneren war sie Wendys kleines Himmelreich. Eine stille Zuflucht, die man aufsuchte, wenn man einmal Abstand vom Alltag gewinnen wollte. Und auch ein Ort, an dem geheime Treffen abgehalten worden waren. Die Wände waren mit Namen und Handabdrücken verziert. Kleine Hände, große Hände. Zeugnisse davon, wie sie und ihre Freunde gewachsen waren, eingeritzte Daten neben den Buchstaben, die Jahr für Jahr erweitert wurden, so dass Wendy nicht einmal mehr wusste, wie viele Abdrücke es überhaupt waren. Das rechteckige Loch in der Wand, durch das sie einst mühelos hinein geschlüpft war, war über die Jahre derart geschrumpft, dass Wendy nur noch gebückt eintreten konnte. Sie griff nach der oberen Kante, schwang sich hinein und... „Autsch!“ Polter. Tschiling. Koller-koller... Flaschen klirrten aneinander, als sie ein paar Schritte nach vorne stolperte und unsanft auf dem Hinterteil landete. „Das hatte ich ja ganz vergessen!“ Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. In der schummrigen Dämmerung hatte sie eine Reihe an Bierflaschen übersehen, die seit dem letzten kollektiven – es war ihr ja schon ein bisschen peinlich – Besäufnis am Anfang der Sommerferien in ihrem Baumhaus die Stellung gehalten hatten, weil sie bisher nicht dazu gekommen war diese zu entsorgen. Vielleicht war es unschicklich für ein Mädchen, sich ab und zu einmal die Kante zu geben. Und vor allem ganz und gar unerhört mit fünfzehn Jahren. Aber wem etwas vormachen? Ihre Familie war durch und durch irisch, die Trinkfestigkeit lag also in den Genen. Und Geselligkeit wurde ohnehin schon immer groß geschrieben. Sie zog die Knie an die Brust und seufzte leise. Was ihre Freunde jetzt wohl machten? Mit Sicherheit waren sie Feuer und Flamme ihren bescheuerten Drachenclub zu gründen, von dem sie bis heute Mittag noch gedacht hatte, dass er der einzige seiner Art werden würde. Doch jetzt... hatte alles eine Wendung genommen, mit der sie einfach nicht gerechnet hatte. Sie war mitten in eine Situation hineingeschlittert, die unendlich viele Türen für sie offen hielt. Und es war an ihr selbst zu entscheiden, welchen Weg sie nun nehmen würde; jetzt, da sie gezwungenermaßen in diesen blöden Drachenclub eintreten musste. Doch war es wirklich erzwungen und unfreiwillig? Ihr Blick schweifte zur Decke. Es war inzwischen so dunkel, dass man nur noch die Umrisse eines schwarzen Lenkdrachen erkennen konnte, auf den mit weißer Farbe eine Piratenflagge gemalt war. Böse grinste sie der Totenkopf an, fast noch unheimlicher als im Tageslicht. „Wer hätte gedacht, dass dieser Stirnbandheini so eine gute Nase hat?“ Sie musste schmunzeln. Vielleicht war es ja doch Schicksal gewesen, dass ausgerechnet sie an diesem Tag das Buch aus dem Regal gezogen hatte, schlummerte in ihr doch die kleine Seele eines Drachenkämpfers. „Morgen früh nehme ich dich mit in die Schule. Und dann zeigen wir es ihm! Nicht wahr, Cleaver?!“ Zeph gähnte langgezogen und steckte sich den Finger in die Nase, um genüsslich zu popeln. Immer schön tief hinein auf der Suche nach Goldklumpen, wurde er fündig und schnippte seinen Fund auf das vom Sommer trocken und fleckig gewordene Gras. Neben ihm lag ein Stapel neuer Autoreifen, die er – wie er immer zu sagen pflegte – „gefunden“ hatte, als er sich auf dem Weg zur Schule unbemerkt an die Fahrzeuge deren Besitzer heranpirschte, um mit fachmännischer Genauigkeit dafür zu sorgen, dass sein Schwarzmarkt für Reifen aller Art immer genug Nachschub hatte. Im „Finden“ war Zeph, eigentlich Zephyr Sokolewski, ein Experte. Ein eigentlich dauerhaft träger Geselle mit flinken Fingern, die schon das eine oder andere Mal nützliche und unnütze Dinge eingesteckt hatten und jetzt damit beschäftigt waren die spärlichen Bartstoppeln an seinem Kinn zu kratzen. Er lehnte sich zurück und blickte kopfüber in Richtung seines Teamchefs, der – die Augen geschlossen – gegen den Wind stand, seine Sinne ausgestreckt bis zum Horizont in Erwartung eines Hauchs einer Fährte, die ihm die Ankunft des neuen Clubmitgliedes verraten würde. „Und du bist dir sicher, dass dieses Mädchen kommen wird?“ Bei jedem Ch-Laut knarzte seine Stimme. Es war unverkennbar, dass er aus einer polnischen Familie stammte. Tornado nickte schweigend. „Ich hoffe, dass sie hübsch aussieht. So mit großen Brüsten und schönen Lippen, weißt du? So ein Mädchen hat unser Club noch nicht! Ich glaube...“, er beendete seinen Satz nicht, sondern drehte sich stattdessen auf den Bauch und verzog das Gesicht. „Iih! Was ist das denn? Ein Junge mit Rock und 'n bisschen Schminke?“ Atemlos stieg Wendy von ihrem Fahrrad ab. „Dieser Hügel ist wirklich... puh! Also ich bin jetzt da.“ Sie nickte Tornado zu. „Ich verstehe zwar immer noch nicht so recht, wie das mit den Mädchenunterhosen funktioniert hat, aber Wettschulden sind Ehrenschulden.“ Sie strich sich durch das durch die Fahrt ganz zerzauste kurze Haar, doch es fiel sofort wieder zurück in seine wirre Form. Nicht einmal die Haarspange, auf der ein grinsender Totenkopf prangte, konnte sie bändigen. Starr lächelnd stapfte sie ein paar Schritte vorwärts, bis sie direkt vor Zeph stand. „Und denk' nicht, dass ich das nicht gehört habe, mein Lieber.“ Er schluckte. In ihrer Stimme lag etwas bedrohliches, das ihm eindeutig sagte, sich besser nicht mit ihr anzulegen. „Also eigentlich...“, versuchte er die Situation zu retten, „bist du sehr gut gebaut, nie?“.  Eine Ader trat auf Wendys Schläfe hervor. „Ich meine, du hast einen tollen Hintern. Schön rund und so, nie?“ Ein Grummeln drang aus ihrer Kehle. Zeph suchte nach Worten. „Und gut aussehende... Schuhe!“ Ganz ruhig. Ganz ruhig. Er will ganz bestimmt nur nett sein. Tief durchatmen. Ganz tief. Ja, so ist es gut. Das Lächeln wurde immer unheimlicher. Fast war es, als stiegen Wogen dunkler Energie aus Wendys Körper empor. „Vielen... Dank.“, presste sie gekünstelt hervor. „Aber ich muss dich leider enttäuschen. Ich mag nur große, starke Jungs, die Klartext reden. Und keine versuchten Schleimscheißer wie dich!“ Zeph drehte sich um, richtete sich auf und hob beschwichtigend die Hände. „Ich bin kein Schleimscheißer, nur ein scheiß Schleimer, haha~!“ Wendy legte ihm die Hand auf die Schulter und antwortete ruhig, fast schon zu ruhig: „Ja, das bist du!“ Ein Räuspern erklang. „Avanti! Wenn ich euer überaus herzliches Kennenlernen nun beenden dürfte, denn die Zeit schreitet voran und bald wird die Sonne so hoch stehen, dass die Luft auf Grund der gesteigerten Wärme nicht mehr dieselbe Tragfähigkeit entwickeln kann.“ Er musterte das Fahrrad und schmunzelte. „Ich wusste es! Was bist du nur für ein raffiniertes Luder, mir solch wichtige Information vorzuenthalten, Wendy! Du hast ja deinen eigenen Drachen mitgebracht!“ Wendy errötete und starrte den Boden an, als Tornado noch einen Schritt näher kam und sich vor dem Lenkdrachen niederkniete, um ihn ganz genau zu studieren. „Sieh nicht so genau hin. Diesen Drachen habe ich in der Mittelschule gebastelt. Der ist bestimmt nicht gut!“ Nein. Eigentlich wollte sie eine ganz und gar seriöse Oberschülerin werden, die nie wieder so einen Kinderkram wie Drachensteigen betrieb. Eine taffe Schülerin, die fleißig lernte und nebenbei ein bisschen Karate machte, sich irgendwann einmal verliebte, die Haare wachsen ließ und bloß noch hübsche Kleider und Röcke trug. Einfach Dinge tun, die echte Mädchen so taten, die irgendwann einmal heiraten und eine Familie gründen wollten. Und das bedeutete: nie wieder solche Prügelspiele mit den Jungs. Denn Mädchen machten so etwas einfach nicht. Zumindest nicht, wenn sie wollten, dass man sie auch als Mädchen und nicht als Junge ohne Eier ansah. „Wie ich sehe, ist der Drachen doch ganz gut verarbeitet. Vielleicht nicht sehr gut ausbalanciert, aber definitiv ein Drachen, der es wert ist die Luft dort oben zu schnuppern.“ Er löste den Drachen aus der Gepäckklemme und wog ihn in den Händen hin und her. „Trotz seiner Größe ist er sehr leicht. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht! Va bene!“ Wendy schoss das Blut ins Gesicht. Ihre Ohren wurden ganz heiß und pochten. „Würdest du bitte aufhören meine Arbeit zu loben? Du hast Cleaver doch noch nicht einmal fliegen gesehen! Wenn du weiter so viele positive Worte für mich übrig hast, fühle ich mich gleich wie eine schlecht geschriebene Mary Sue!“ Warum zitterte ihre Stimme plötzlich so sehr? Sie straffte die Schultern und ballte die Fäuste, doch das unangenehme Gefühl wollte nicht verschwinden. „Solltest du nicht eigentlich so etwas sagen wie: Du bist ein Anfänger, der noch viel lernen muss! Und dein Drache taugt allemal für die Altpapiertonne?“ - „Wenn Tornado mit dir fertig ist, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass genau dies eintreten wird, bei etwa 85 Prozent.“ Aus den Augenwinkeln sah sie einen etwa 14-jährigen dunkelhaarigen Jungen, der seine halbmondförmige Brille zurechtrückte und in seinem gesamten Gebaren eher wie ein mittelalter Mann wirkte. „Mit fünfprozentiger Wahrscheinlichkeit wirst du dieses Duell gewinnen, aber da die heutige Wetterlage einen Vorteil für Tornado indiziert, minimiert sich dieser Faktor um weitere drei Prozent, so dass du mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit unterliegen wirst.“ Das seltsame Gefühl verschwand. Wendy legte den Kopf schief und konnte sich einen giftigen Kommentar nicht verkneifen: „Wir hatten heute wohl Zahlen in den Frühstücksflocken, Kleiner?“ Er knurrte und schürzte die Lippen. „Nenn' mich nicht Kleiner! Wenn du es dir verdienst, darfst du mich gerne Ehrenwerter Meister nennen, aber sonst...“, er hob warnend den Zeigefinger und stampfte mit dem Fuß auf. „Angelo! Wendy! Basta!“ Beide wandten sich Tornado zu. Er nickte und gab Wendy den Drachen zurück. „Es ist an der Zeit auf Worte Taten folgen zu lassen! Wir werden nun unsere Startpositionen einnehmen. Angelo, du wirst der Schiedsrichter sein.“ – „Und was soll ich tun?“, meldete sich Zeph desinteressiert zu Wort und gähnte einmal kräftig. „Du?“, Tornado umfasste grübelnd sein Kinn. „Du siehst zu und lernst! Und nun...“ Er warf theatralisch die Haare zurück, ließ ein strahlendes Lächeln aufblitzen und rief mit pathetischer Stimme: „Möge das Duell beginnen! Auf deine Position, Drachenkämpfer!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)