High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 33: Im Bauch der Erde ----------------------------- Der Weg ins Innere der Erde schien Stunden zu dauern. Still liefen die fünf Kite Knights und ihr Betreuer die nicht enden wollende Steintreppe hinab. Nur ihre Schritte hallten dumpf von den niedrigen Wänden wider, die einem Stollen gleich ins Erdreich gehauen worden waren. Am Anfang hatte ihnen noch der Lichtkegel einer Taschenlampe den Weg in die Finsternis gewiesen, doch hatte dieser nach nicht einmal zehn Minuten zu flackern begangen, bis er gänzlich erloschen war. Zeph, der zum Glück seinen Rucksack und darin ein Campingfeuerzeug mitgenommen hatte, ging voran und ersparte es ihnen, in völliger Dunkelheit durch den Stollen zu stolpern. Dennoch erhellte das Feuerzeug den Weg nur spärlich, sodass sich alle an den Schultern festhalten mussten, um nicht den Anschluss an den Vordermann zu verlieren. So verging die Zeit schleppend. Je tiefer sie kamen, desto kälter wurde es, fast wie in einem alten Kellergewölbe, das man im Sommer betrat. Doch im Gegensatz zu einem Kellergewölbe war die Luft hier nicht muffig und feucht, sondern trocken und schwer, nur durchtränkt mit dem Geruch von zu Staub zerfallenem Gestein. Plötzlich hielt Balotelli inne und schnüffelte. Er war direkt hinter Zeph gelaufen, dessen Feuerzeug durch das abrupte Abbremsen bedrohlich zu flackern begann und schließlich ausging. Wendy, die hinter Balotelli folgte, rutschte auf der nächsten Treppenstufe aus und fiel schmerzhaft auf den Hintern. Neil, der nach ihr kam, packte noch ihr Handgelenk, legte sich aber ebenfalls mit einem erschrockenen Aufschrei daneben. Nur Costas, der als letzter folgte, hielt die Balance und bewahrte Angelo davor, auch noch hinzufallen. Wendy murrte. „Danke, vielen Dank auch! Wie wäre es, wenn du das nächste Mal so etwas sagst wie...“, sie äffte seinen Tonfall nach, „ich kann den Wind riechen! Da vorne ist etwas, meine werten Freunde!“ Das Feuerzeug klickte mehrmals kurz, dann war der Gang erneut in rötlichen Feuerschein getaucht. Vor Wut funkelnde Augen trafen auf strahlendes Zahnweiß. „Bellissima! Seit wann weißt du so gut über mich Bescheid? Liebst du mich etwa so sehr?“ Er hielt ihr grinsend die Hand hin und half ihr dabei, wieder aufzustehen. Genervt klopfte sich Wendy den Staub von der Kleidung. „Na toll!“ Die dunkle Strumpfhose, die sie unter ihrem Rock trug, hatte eine Laufmasche bekommen. Doch Balotelli hörte sie nicht. Theatralisch fuhr er sich einmal mehr durch sein blondes Haar. „Si, das nächste Mal sollte ich dich wirklich küssen, dann kannst du bestimmt meine Gedanken lesen!“ Er lachte. „Aber ja! Es ist nicht mehr weit! Von dort unten kommt eindeutig ein Windzug. Und Svaticato“, er deutete Zeph an, dass er das Feuerzeug ausmachen sollte, „so ist es gut, si! Da unten wird es wieder heller!“ Gebannt starrten alle in die Dunkelheit. Erst umgab sie völlige Schwärze, doch dann sahen sie, was der Teamchef gemeint hatte. In nicht einmal 200 Metern schien der Gang leicht nach rechts abzudrehen und dahinter war eindeutig ein Lichtschein zu sehen. Costas atmete erleichtert durch. „Na endlich! Dann können wir doch bestimmt endlich das Frühstück fortsetzen, nicht? Mein alter Körper macht solche körperlichen Belastungen nicht mehr ohne ordentliche Mahlzeit mit!“ Zur Bestätigung klopfte er ein paar mal auf seinen Bauchspeck, unter dem ein Magen bedrohlich zu knurren begann. Wendy hob eine Augenbraue und räusperte sich. „Jetzt übertreib mal nicht, du bist gerade einmal Mitte 20!“ Die große Hand des Griechen klopfte ihr leicht auf die Schultern. „Das sagst du!“ Auch er schaffte es, hin und wieder in einen theatralischen Modus zu kommen. „Werde du erst einmal so alt wie ich! Dann stehst du morgens mit steifen und schmerzenden Muskeln auf und wuchtest dich ins Bad, nur um dann dein allmählich Falten bekommendes Gesicht im Spiegel zu betrachten! Und oh! Man beachte nur die Verdauungsprobleme! Das betrifft nicht nur alte Leute, wie es einem immer die Werbung sagen will! Früher konnte ich einen halben Gyros-Spieß alleine essen, doch jetzt werde ich nach zwei Scheiben Weißbrot schon dick! Und die Verstopfungen erst, oh Mann!“ Sie setzten den Weg nach unten fort, diesmal etwas zügiger. Costas hörte noch immer nicht auf zu reden. „Das erinnert mich daran, dass ich heute noch gar nicht meinen Morgenschiß erledigt habe! Haben wir eigentlich Klopapier dabei? Zeph?“ – „Sei ruhig, alter Mann!“ Die Abfuhr des immer noch vorangehenden Polen ließ den Rest der Gruppe verstohlen kichern. Costas wurde rot. „Niemand weiß hier die Weisheit des Alters zu schätzen, ihr Banausen!“ Er verschränkte die Arme und trottete mit gekräuselten Lippen hinterher. Da es nun allmählich heller wurde, war es nicht mehr nötig, sich aneinander festzuhalten. Alle waren ganz aufgeregt. Nur noch wenige Meter, dann würden sie hoffentlich wieder aus dem Grabhügel hinauskommen. Sie erwarteten einen Ausgang, der dem Eingang nicht ganz unähnlich war, nur am Fuße des Hügels, doch als sie die letzte Biegung hinter sich gebracht hatten, herrschte... Ernüchterung. „Nimmt das denn nie ein Ende?“ Während Wendy sich die Haare raufte, ließ sich Neil erschöpft auf den Boden fallen. Das Licht, das sie gesehen hatten, kam von etwa einem Dutzend Pechfackeln, die an den Wänden hingen. Es gab weder ein Grab, noch Gerippe in dem runden Gewölbe, dessen Decke so hoch war, dass sie gänzlich in der Finsternis verschwand. Fünf Säulen stützten die Wände jeweils zur Rechten und zur Linken des Eingangs, auf dessen gegenüberliegender Seite erneut ein Gang in die Finsternis des Grabhügels führte. Balotelli versuchte seine Enttäuschung zu verbergen und zuckte lächelnd mit den Schultern. „Ich denke, wir werden wohl weitergehen müssen! Mister Irwing wird schon gewusst haben, warum er uns hierher kommen lässt.“ Zeph stöhnte entnervt und packte ein paar Brote aus, die er noch vom Vortag in seinem Rucksack gefunden hatte. Er reichte eines davon Costas und wollte sich gerade nach einem halbwegs gemütlichen Platz zum Sitzen umsehen, als der Boden zu beben begann. Staub rieselte von der Decke, während das Grollen der Erde immer stärker wurde. Die Kite Knights, die gerade erst in die Höhle getreten waren, sahen sich panisch um. Das hatte ihnen ja noch gefehlt! Kaum raus aus dem endlosen Gang, der sie gleich einer Speiseröhre heruntergeschluckt hatte, hinein in einen Magen aus Erde und Stein, der sie begraben und verdauen wollte. Alles rannte in Richtung des Ausgangs, in der Hoffnung ihn noch zu erreichen, bevor die Höhle in sich zusammenfallen würde, doch als sie gerade einmal die Hälfte der Halle durchquert hatten, gab es einen lauten Knall und die Fackeln erloschen. Der Staub in ihrem Lungen ließ die Sechs husten und niesen. Ihre Stimmen hallten von den Wänden wieder, laut wie in einer Konzerthalle. „Alle ... noch am Leben?“, presste Costas heraus und wischte sich über die Augen, die vor Staub zu tränen begonnen hatten. Stille. Auch das Erdbeben war abgeklungen. Wieder klickte Zephs Feuerzeug ein paar Mal, doch diesmal war es vergebens. Kein Leuchten erhellte die Dunkelheit. Sie waren gefangen. Gefangen im finsteren Bauch der Erde, ohne Orientierung und ohne genug Proviant, um hier ein paar Tage auf Rettung zu warten. Ein beklemmendes Gefühl machte sich breit. Das Rascheln von Angelos Tasche war das einzige, was sie neben den Atemzügen der jeweils anderen vernahmen. „Nichts.“, sagte der Teamtechniker trocken. „Selbst der Akku meines Tablet-PCs ist alle, dabei war er vorhin noch fast voll!“ „Verdammt!“ Wendy stapfte fluchend im Dunkeln umher. „Warum lässt uns der verrückte alte Sack nur so etwas Gefährliches machen? Der hat sie doch nicht mehr alle!“ Sie hatte die Hände ausgebreitet und tastete sich vorsichtig voran, um nicht plötzlich irgendwo dagegen zu stoßen. Erst fand sie nur staubige Luft vor sich, doch dann schließlich spürte sie eine der zehn Säulen unter ihren Fingern. „Ich sag's euch, wenn ich jemals wieder hier rauskommen sollte, dann hau ich den Kopf dieses Spasten ein paar Mal kräftig auf seine Theke, während ich ihm einen 'Guten Flug' wünsche, also echt!“ Sie ballte die Faust und schlug ein paar Mal heftig gegen die Säule vor sich. „Das ist doch echt nicht wahr!“ Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie schniefte leise. „Bellissima! Beruhige dich! Bestimmt geht das Feuerzeug gleich wieder und dann können wir weitergehen!“ Balotelli glaubte seinen eigenen Worten nicht. Seine Stimme zitterte. „Bisher hat doch alles irgendwie geklappt, nicht?“ Er versuchte ein Lächeln zu lächeln, das ohnehin niemand in der Dunkelheit sehen konnte. „Irgendwie geklappt, ja?“ Wendy schäumte über vor Wut. „Der ganze Club hier... Alles, wozu du mich bisher gebracht hattest... Das ist doch nichts weiter als eine Farce!“ Mit einem lauten Kampfschrei ließ sie ihren Fuß auf die Säule vor sich krachen. „Ich will nicht mehr! Ich will hier raus! Oder zumindest etwas sehen können, sofort!“ Noch einmal. Und noch einmal. RUMMS. RUMMS. RUMMS. Sie keuchte erschöpft. Die erste Wut war verflogen und nun einem dumpfen Schmerz in ihren Zehen gewichen. Sie stützte sich mit der Hand auf der Säule ab. Wenn ich mich doch wenigstens entschuldigt hätte... Plötzlich breiteten sich – ausgehend von Wendys Hand – feine, rotglühende Linien wie ein Adergeflecht auf der Säule aus. Es wurde heller und heller in der Höhle, je mehr sich die Linien ausbreiteten. Erschrocken wandte sich die Rothaarige um und sah die Jungen an. „Ich weiß nicht ... wie ich das gemacht habe!“ Die Linien wanderten weiter und weiter, bis sie begannen über den Boden zu wuchern. Costas legte grübelnd die Hand ans Kinn und sah von einem Gesicht ins nächste. „Nicht schlecht! Ich würde sagen, dass wir das unbedingt mit den anderen Säulen auch versuchen sollten!“ Balotelli nickte. „Si! Angelo, Piccolo, ihr geht auf diese Seite! Sfaticato, Costas, ihr nehmt diese beiden Säulen!“ Er selbst ging – ohne genau zu wissen warum – zielgerichtet auf die mittlere Säule auf der linken Seite zu, legte seine Hand darauf, so wie Wendy es – wenn auch versehentlich – getan hatte, und konzentrierte sich. Er wusste nicht, an was er denken sollte. Er hatte Angst, doch wusste er, dass er sich als Anführer niemals die Blöße geben durfte, seine Schwäche vor allen einzugestehen. Tief atmete er durch, leerte seinen Geist und konnte plötzlich nur noch an eine Sache denken: Wenn wir hier wieder rauskommen, werde ich Hayate besuchen, assolutamente! Prompt erschienen weiße Linien auf der Säule und breiteten sich ebenfalls bis zum Boden aus, wo sie ähnlich eines Nervensystems mit den roten Wendys, den hellblauen Neils, den erdfarbenen Costas und den silbernen Zephs zu einem Knoten verschmolzen. Auch ihnen war es gelungen, ihre Gedanken zu kanalisieren. Nur Angelos Säule blieb so glatt und unbeleuchtet wie zuvor. Die feinen Wurzeln begannen bis in den Himmel zu wachsen und zum ersten Mal sah man, wie hoch die Höhle wirklich war. Weit oben angekommen, bildeten sie Sternen gleich kleine Verdickungen und verwandelten die Decke in ein Lichtermeer, welches mit keiner irdischen Erscheinung zu vergleichen war. Wieder begann die Erde zu beben, doch diesmal wurde es nicht dunkel. Der Knotenpunkt in der Mitte begann zu strahlen und zu leuchten, bis sich alle schmerzhaft die Hände vor die Augen halten mussten. Niemand sah, was nun passierte, doch wussten sie selbst lange Zeit, nachdem sie zurückgekehrt waren, dass etwas Großes geschehen war. Etwas, das sie nicht in Worte fassen konnten, egal wie lange sie darüber nachdachten. Es begann damit, dass das Adergeflecht sich über ihre Füße legte und sie alle – bis auf Angelo, der vom Erdbeben zu Boden geschleudert war und seine Brille verloren hatte – bewegungsunfähig machte. Die Linien wuchsen und wuchsen, die Beine hinauf, über die Hüfte und schließlich über die linke Körperhälfte gerichtet, bis sie die linke Handfläche erreicht hatten. Was dann geschah, war so schmerzhaft, dass man es am ehesten wie tausend glühend heiße Nadeln, die sich ins Fleisch brannten, beschreiben konnte. Wendy kannte diesen Schmerz – oder zumindest glaubte sie, ihn zu kennen. Das Licht, das sich in ihre Handfläche fraß, war soviel heißer, soviel schmerzhafter, als alles, was sie bisher erlebt hatte, sodass sie glaubte, innerlich verbrennen zu müssen. Dagegen waren die Schmerzen, die sie nach ihrem Drachenunfall an ihrem Geburtstag hatten, nichts weiter als eine lästige kleine Spritze beim Arzt gewesen. Sie wusste nicht, wie lange sie so unbeweglich dastand und nichts anderes tun konnte, als zu schreien und die Energie durch sich fließen zu lassen. Auch den anderen erging es gleich. Vielleicht waren es nur wenige Sekunden, vielleicht auch Minuten oder Stunden, doch als das Licht endlich schwächer wurde, sackten sie alle erschöpft zusammen und blieben keuchend auf dem kalten Erdboden liegen. Eigentlich hätte es dunkel werden müssen, nachdem sich das Adergeflecht zurück in die Säulen gezogen hatte, doch der Raum war noch immer erleuchtet, strahlte nun in dem hellen Licht, das aus den jeweils linken Händen der Kite Knights kam, während sie selbst nur kraftlos daliegen konnten. Als Angelo seine Brille wiedergefunden hatte und sich die anderen langsam wieder aufsetzen konnten, verschwand auch das letzte Glimmen der seltsamen Energie, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Wieder wurde es dunkel, doch hörten sie diesmal Schritte aus dem Ausgang der Höhle auf sie zukommen, die einen warmen Kerzenschein mit sich brachten. Es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis schließlich ein weißhaariger alter Mann mit langem Bart, der von zwei unter langen Kutten mit Kapuzen verborgenen Frauen, die Kerzen trugen, begleitet wurde, vor ihnen erschien, in die Hände klatschte und sie freundlich anlächelte. „Willkommen, willkommen, Gesandte der Außenwelt!“, begann er mit seltsam jugendlicher Stimme zu sprechen. „Willkommen in den heiligen Hallen der Túatha Dé Danann, den Wächtern des Äolus!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)