High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 32: Der Grabhügel im Nirgendwo -------------------------------------- Keiner gab auch nur einen Ton von sich, als der Drachenmeister eine vergilbte Schriftrolle, deren Kanten der Zahn der Zeit bereits abgenagt hatte, aus dem Hinterzimmer holte und sie auf dem Tresen des Drachenladens ausbreitete. An vielen Stellen war die Farbe abgeblättert und kleinere Bruchstücke stoben beiseite, doch konnte man, nachdem beide Enden provisorisch mit Büchern beschwert wurden, erkennen, dass es sich bei dem Dokument um eine Landkarte handeln musste. Der Drachenmeister befeuchtete sich die Lippen und sah ernst in die Runde der jungen Menschen, die sich vor dem Tresen versammelt hatten und so gar nicht wussten, was der in ihren Augen verrückte alte Mann ihnen mitteilen wollte. Wandern sollten sie gehen – so hatte es Mister Irwing ihnen an der Kaffeetafel geraten – doch wie dabei eine antiquierte Karte helfen sollte, war ihnen schleierhaft. Besonders Zeph war von der Angelegenheit nicht begeistert, gab es für ihn doch deutlich wichtigere Dinge an einem Wochenende zu „entdecken“, als einen anstrengenden Gewaltmarsch durch Mutter Natur zu unternehmen. Konzentriert fuhr der Drachenmeister mit dem Zeigefinger die Karte ab und murmelte dabei leise vor sich hin. Schließlich blieb er auf einem Hügel stehen, tippte mehrmals auf den dort eingezeichneten Kreis und sagte laut: „Na da haben wir es doch!“ Die Gruppe blickte fragend auf die Karte. Zeph stöhnte genervt. „Ist ganz schön weit weg vom nächsten Ort! Auf einem Berg auch noch!“ Er schüttelte den Kopf. „Dauert bestimmt lange, dorthin zu laufen, nie?“ Die Faust des Drachenmeisters schlug so fest auf die Tischplatte, dass die Bücher, welche die Schriftrolle fixierten, einen Satz nach oben machten. „Und deswegen scheiterst du immer, du fauler Sack!“ Er wollte abschätzig ausspucken, doch hielt er sich in der Anwesenheit seiner hübschen Nichte, die ganz erschrocken von dem plötzlichen Wutausbruch war, zurück. Mit grimmigem Blick beugte er sich über den Tresen und fixierte den schlaksigen Polen. „Ich bin gerade dabei, euch Zugang zu dem größten Geheimnis des Kite-Universums zu machen und du... DU denkst mal wieder nur an deine eigene Bequemlichkeit!“ Er atmete tief durch, straffte die Schultern, legte den Kopf in den Nacken und hob theatralisch den Arm. „Das, was euch dort erwartet, ist ein heiliger Hain! Seit Urzeiten wurden dort Rituale für den Windgott Äolus abgehalten! Es ist das bestgehütete Geheimnis, das nur die wenigsten Piloten jemals erfahren dürfen, da es ihre Vorstellung vom Drachensteigen komplett auf den Kopf stellen würde!“ – „Wow, toll, ein paar Steine, die in der Gegend rumstehen!“, bemerkte Wendy zynisch. Angelo, der erst kürzlich von seinem Intensivkurs zurückgekommen war und die Performance der anderen deshalb verpasst hatte, hatte seinen Tablet-PC herausgeholt und bereits die Koordinaten der angeblichen Kultstätte herausgesucht. Es gab sogar eine bebilderte Internetseite dazu, der man entnehmen konnte, dass es sich wirklich um den unspektakulärsten der unspektakulärsten Steinkreise handelte, von denen es im ganzen Land mindestens 200 gab, die im Grunde genauso aussahen. Und weil er so abgelegen war, kamen nicht einmal New Age Gurus auf die Idee, dort am Wochenende ihren Würstchengrill aufzubauen und barbusig die Sonne anzubeten. „Ihr... Kinder...“ Enttäuscht sackte Mister Irwing hinter dem Tresen zusammen. „Ist doch nicht so schlimm, Onkel James!“ Libby klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, unfähig etwas anderes sinnvolles zu tun. „Diese Jugend von heute... Und nicht mal du, Balotelli, brichst in Begeisterungsstürme aus... Dabei habe ich gerade von dir erwartet, dass dich meine Worte überzeugen würden...“, jammerte er leise, doch der blonde Teamchef der Kite Knights hörte ihm gar nicht zu. Angelo nämlich war so überzeugend in seiner Argumentation, dass wirklich niemand Interesse daran hatte, dem Vorschlag für einen Wanderausflug zuzustimmen. Alle, bis auf... „Also ich ... finde die Idee ganz gut!“ Neil umgriff fest die Tischkante, um seine Nervosität zu unterdrücken, und beugte sich soweit nach vorne, dass er das Häufchen Elend hinter dem Tresen sehen konnte. „Si?“ Balotelli hob fragend die Augenbraue. Er war zwar immer für ein Abenteuer zu haben, doch wusste er, dass er spätestens am Montag nach der Wandertour ein schlechtes Gewissen haben würde, weil er seine Eltern und deren Mitarbeiter gerade zur Stoßzeit in der Pizzeria alleingelassen haben würde. Und wenn auch noch Wendy Urlaub nehmen musste, dann – so wusste er – würde sein absolut nicht stressresistenter Vater spätestens am Dienstag mit theatralisch schmerzverzerrtem Gesicht in der Ecke liegen und in bester italienischer Manier sofort den Krankenwagen und gleich noch den Bestatter rufen, weil er – „Ah! Mamma Mia!“ – ja so geschwächt sein würde, dass er unmöglich noch einen weiteren Tag voller Arbeit überleben würde. Neil schluckte seine Angespanntheit hinunter und fuhr fort. „Wer weiß, was uns dort erwartet? Allein von Fotos und Beschreibungen von Touristen kann man doch nicht sagen, dass dort wirklich nur ein Haufen Steine ist. Vielleicht ist dort etwas, das man nur erkennt, wenn man Drachensteiger ist! Irgendetwas ganz Besonderes, vielleicht Magisches... So wie unsere Drachengeister zum Beispiel... Oder so ... ähnlich...“ Je länger er sprach, desto roter wurde er im Gesicht. Am Ende wurde seine Stimme ganz dünn und die Röte hatte sogar die Ohren erreicht. Im nächsten Moment, das wusste er, würde er keinen Ton mehr herausbekommen und bestimmt anfangen zu schwitzen. Oh Mann, wie peinlich... „Du sagst es, Bürschchen!“, brüllte der Drachenmeister und schlug Neil so kräftig auf die Schulter, dass dieser husten musste. „Es ist alles eine Frage der Perspektive! Und ich verspreche euch, dass euch nach zwei Tagen in der Wildnis, so ganz ohne Klo und nur mit Dosenravioli im Rucksack, so einiges klarer werden wird!“ Er rollte die Karte zusammen und klatschte sie Neil gegen die Brust, damit er sie an sich nehmen konnte. „Und jetzt raus aus meinem Laden! Raus!“ Er sprang über den Tisch und schubste sie zur Tür. „Und denkt nicht dran, dass ich euch wieder hier reinlasse, bevor ihr nicht ein paar Selfies von euch vor dem Steinkreis auf Facebook hochgeladen habt!“ Er hob Zeige- und Mittelfinger und deutete erst auf seine eigenen Augen, und dann in Richtung der Gruppe. „Ich beobachte euch... Auch online!“ … Als die Ladentür zuknallte und sie hinter sich die Messingglocken schellen hörten, war es Wendy, die nach einer gefühlten Ewigkeit als erste das Wort wiederfand: „Der Typ hat doch echt einen an der Klatsche...“ Die anderen nickten zustimmend. Nur Balotelli war seltsam still geworden und starrte mit vor Schock geweiteten Augen auf den Asphalt: „Dosen... Ravioli...“ Das Wochenende war gefühlt viel schneller gekommen, als diese Wanderung nun schon dauerte. Der Himmel war strahlend blau und es wehte ein laues Lüftchen, das die Blätter der Laubbäume, die den stetig ansteigenden Kiesweg umsäumten, leise zum Rascheln brachte und diese ein Spiel aus Licht und Schatten auf den Boden werfen ließ. Eigentlich war es der perfekte Tag für einen Kurzurlaub in Mutter Natur und das perfekte Wetter, um gute Laune zu haben. Nur irgendwie ... zog das ganze an Wendy – und zur Verwunderung aller auch an Balotelli – vorbei. Beide mühten sich ab, sich den Hügel hinauf zu wuchten, die eine, weil sie trotz langer Ärmel, Hut und reichlich Sonnencreme bereits krebsrot im Gesicht war, der andere, weil er aus Angst vor kulinarisch minderwertigem Dosenfraß seine halbe Küche in einem großen Campingrucksack, der bei einer Fernreise mit dem Flugzeug bestimmt einen Zettel mit der Aufschrift „extra heavy“ aufgeklebt bekommen hätte, mit sich schleppte. Neil, der in allem Mittelmaß war, bildete auch diesmal die Mitte und ließ sich von Costas, der selbstverständlich als Begleitperson auf diese „Studienreise“ mitgekommen war, ein Ohr im Bezug auf die Vorzüge von Frauen mit großen Brüsten und großem Gesäß abkauen, während Angelo, getrieben von seinem Forschergeist, und Zeph, getrieben von dem Willen, endlich stärker zu werden, fast außer Sichtweite voran preschten. Am Anfang hatten sie sich noch unterhalten, doch nun herrschte Schweigen, nur durchbrochen durch das regelmäßige Keuchen und Schnaufen im Takt mit dem knirschenden Kies unter ihren Schuhen. Ab und zu hatte Balotelli noch versucht, Wendy mit einem kurzen „Findest du nicht auch, dass du ein bisschen zu dick angezogen bist?“ davon zu überzeugen, doch zumindest die schwarze Clubjacke auszuziehen, doch nachdem sie ihn jedes Mal mit „Vergiss es! Im Gegensatz zu dir werde ich in der Sonne rot und nicht braun! Sieh dich doch mal an! Wir sind erst drei Stunden unterwegs und du siehst aus wie zwei Wochen Strandurlaub am Mittelmeer! Das ist total unfair!“ angeblafft hatte, beließ er es dabei vorerst sämtliche Konversationsversuche einzustellen und konzentrierte sich stattdessen auf seine eigenen Schritte. Es kam ihm vor, als hätte man ihm Bleigewichte umgeschnallt, so sehr drückte ihn das Gewicht auf seinen Schultern nach unten. Jeder Schritt war eine Qual und die Muskeln schmerzten – und er wusste ganz genau, dass er selbst daran Schuld war. Aber lieber sich zu Tode schleppen, als am Ende eine Dose mit Ravioli oder Spaghetti über dem Lagerfeuer erwärmen zu müssen. Das konnte seine Ehre als Italiener doch nicht zulassen! Niemals! Auch Hayate hätte die Last sicher ohne das Gesicht zu verziehen getragen... Er hätte konzentriert einen Fuß vor den anderen gesetzt und hätte sich vollkommen in seinen Geist zurückgezogen, so wie er es immer tat, wenn er vor einer besonders schwierigen Aufgabe stand. Wann immer es einen komplizierten Bericht für die Schule zu schreiben gab, wann immer er verbissen an einer neuen Technik für Shinigami feilte und wann immer er seine täglichen Iaidô-Übungen durchführte, war Hayate so konzentriert, dass er sich nicht einmal aus dem Konzept bringen ließ, wenn er, der superheiße Balotelli … „Leute, ich glaube, wir sind da!“ Neils Rufen durchbrach einen Gedankengang, der Balotelli ebenso rot im Gesicht hatte werden lassen, wie Wendy. Sie hatten das letzte Waldstück hinter sich gebracht und näherten sich nun der Hügelkuppe, die mit saftig grünem Gras und Wildblumen bewachsen war. Ein Windzug ließ die Löwenzahnsamen wie kleine Fallschirme durch die Luft sausen. Bienen und andere Insekten summten an jeder Blüte und es roch durch und durch nach Sommer. Der blonde Teamchef hielt sich die Hand vor das Gesicht und blickte nach oben. Die Sonne stand bereits tief am Nachmittagshimmel und stach in seinen Augen. Dort, in nicht einmal hundert Metern Entfernung, standen Zeph und Angelo vor einem beginnenden Steinkreis und winkten ihnen zu. Wendy stöhnte entnervt und beschleunigte ihren Schritt. „Können wir nicht wieder in den Wald gehen? Dort gibt es wenigstens Schatten!“ Kaum auf dem Hügel angekommen, suchte sie sich schon den größten Monolithen, um sich in dessen Schatten niederzulassen. Hektisch öffnete sie ihren Rucksack und holte einen Spiegel und eine kühlende Salbe heraus. „So ein Mist!“ Knallrot. Definitiv knallrot. Auch Hals und Nacken waren verbrannt und zeigten einen deutlichen rot-weißen Übergang zu den von der Jacke bedeckten Stellen. Kurz vergewisserte sie sich, dass Costas und die anderen damit beschäftigt waren die Sachen auszupacken und die Zelte aufzubauen, dann zog sie ihre Handschuhe aus. Sieben Monate war es jetzt schon her, dass Sting ihr die Hände verbrannt hatte. Die Wunden waren zwar gut verheilt und auch die Beweglichkeit der Hände war wieder vollkommen hergestellt, doch hatten die Narben einen hässlichen rosafarbenen Ring um ihre Handflächen hinterlassen, den sie nicht unbedingt jedem zeigen wollte. Nicht, weil sie sich entstellt fühlte. Die Verbrennungen waren für sie ein Zeichen von Schwäche und Versagen, etwas, auf das man unmöglich stolz sein konnte. Und außerdem hatte sie keine Lust jedem, der daherkam und auf ihre Hände starrte, auf die Frage „Was hast du denn mit deinen Händen gemacht? Sieht ja böse aus!“ zu antworten. Deshalb cremte sie sich schnell Gesicht und Hals ein und zog sich die Handschuhe wieder an, noch ehe die kühlende Wirkung der Salbe einsetzte. Nein, diese Narben sollten wirklich nur ihre Familie und ein paar Personen, die sie an einer Hand abzählen konnte, sehen dürfen. „Warum denn so nachdenklich, du Hummerkrabbe?“ Costas lehnte sich lässig gegen den Felsblock und grinste breit. Wendy verzog das Gesicht. Ausgerechnet der! Na ja, wenigstens vergrößerte er durch seinen dicken Körper den Schatten... „Bist du ganz erschöpft von der Wanderung? Aber keine Sorge, ich als fürsorgliche Lehrperson werde dir nachher gerne im Zelt den Rücken massieren!“ Er hob beide Daumen und zwinkerte. „Glaub mir, schon so manche Dame war ganz begeistert von meiner Handarbeit!“ Die Rothaarige spürte eine Ader an ihrer Schläfe pochen. Wenn sie nicht ohnehin schon rot gewesen wäre, hätte ihr Gesicht nun eindeutig Zornesröte angenommen. „Warum muss ich mir das überhaupt anhören?“, keifte sie ihn an und sprang auf. Ihre Stimme war so laut, dass sie zwischen den Felsen widerhallte und alle für einen Moment erschrocken zu ihnen hinübersahen. „Ich weiß ja nicht, was du dir dabei denkst, aber ich bin definitiv nicht das Quoten-Mädchen“, sie hüstelte und sah sich um, „ja gut, ein bisschen schon, aber... Aber das gibt dir noch lange keinen Grund, ständig deine perversen Witze mit mir zu machen!“ Sie schubste ihn so heftig, dass er zu Boden ging. Costas erbleichte und hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, Wendy, so war das doch gar nicht gemeint!“ Sie trat mit festem Schritt auf ihn zu und knackte mit den Fingern. Ein dunkler Schatten hatte sich vor ihre Augen gelegt. „Ich meine“, Costas brach der Schweiß aus, „ich wollte doch nur nett zu dir sein! Immerhin sind wir sechs Personen mit drei Zelten, bei irgendwem musst du doch schlafen! Und ich dachte, wenn der liebe Herr Lehrer verantwortungsbewusst und nett zu dir ist, dann musst du keine Angst haben, dass heute Nacht die perverse, überschäumende Jugend deiner Mitschüler über dich herfällt!“ Wendys Faust zuckte und sie sog scharf die Luft ein. Armselig, wie er dort vor ihr lag und sich fast in die Hosen machte, der „liebe Herr Lehrer“! Am liebsten wollte sie ihm gleich eine ihrer 25 Wrestling-Techniken, bei denen der Gegner garantiert ohnmächtig wurde, zeigen. Ungelenkig wie ein Insekt drehte sich der dunkelhaarige Grieche auf den Bauch und versuchte weg zu krabbeln, doch ein umgefallener Hinkelstein versperrte ihm den direkten Fluchtweg nach vorne. Wendy kam näher und näher und... „Bellissima!“ Mit strahlendem Lächeln sprang Balotelli zwischen die beiden Streithähne und ergriff die verkrampfte Hand der Rothaarigen. „Calma e gesso!“1 (#sdfootnote1sym) Er legte ihre Hand an seine Brust und näherte sich ihr bis auf wenige Zentimeter, so wie er es mit Neil an seinem ersten Schultag gemacht hatte. Glitzernde Funken sprühten in seinen blauen Augen und es war fast, als sprossen Rosen rund um sein Gesicht hervor. Wendy schluckte die aufkommende Galle herunter. Was war denn nun schon wieder? „Bitte reg dich nicht über solche trivialen Dinge auf! Dein Held naht! Sieh mich an, ich bin hier!“ Er umfasste ihre Hüfte und zog sie noch näher an sich heran. Es fehlte nur noch kitschige Geigenmusik, um das Bild zu komplettieren. „Du musst keine Angst haben! Ich weiß schon, was du willst!“ Er warf sein blonden Haar zurück, schloss die Augen und legte zwei Finger an die Stirn. Seine leuchtende Aura hatte eine lähmende Wirkung auf Wendy. „Hach... Heute Nacht. Nur wir beide. Allein in einem Zelt.“ Seine linke Hand legte sich an ihr Kinn, die rechte an ihre Schulter. Nein. Nein. Nein. „Was da wohl noch alles passieren wird?“ Jetzt der auch noch. Oh, bitte nicht! Seine Lippen kamen immer näher. Wendy wollte sich wehren, doch schien ihr ganzer Körper bewegungsunfähig zu sein. Sie spürte seinen heißen Atem, der über ihr Gesicht strich und sah, wie sich seine blauen Augen schlossen. Der wollte doch nicht etwa... Nur noch wenige Millimeter trennten sie voneinander. Würde es so enden? Würde dies der erste Kuss Wendy O'Callaghans sein? Vergeben an einen schmalzigen italienischen Schönling, der ihr damit eigentlich nur einen Streich spielen wollte? In Gedanken malte sie sich aus, wie sie eines Tages gemeinsam vor dem Traualtar standen und er einen strahlend weißen Anzug mit einer lachsfarbenen Rose im Knopfloch trug. Ihr Vater würde heulen wie ein Baby und ihre Mutter würde wie blöd mit der Kamera umherspringen. Und dann würden sie in die Flitterwochen fahren und kleine blonde Balotellis mit grünen Augen und Sommersprossen machen, mit denen sie dann Drachen steigen lassen würden, sobald sie alt genug waren. Doch irgendwie... fühlte es sich falsch an. So falsch. Ihr Herz raste wie wild und pochte laut in den Ohren. Nein, so durfte es nicht enden. NIEMALS! Als Balotelli in hohem Bogen zu Boden geschleudert wurde und sich anschließend das schmerzende Auge rieb, schrie Wendy noch immer aus voller Kehle. „Du Dieb!“ Sie sprang auf ihn zu und rammte ihm den Ellbogen in die Magengrube. „Das hättest du dir so gedacht! Ich hab ganz sicher nicht vor, die zukünftige Pizzabäckerin Nummer Eins in der Stadt zu werden!“ Sie packte ihn am Hemdkragen und schüttelte ihn heftig. „Was sollte das gerade? Ich dachte, du hast Hayate!“ Balotelli verteidigte sich nicht. Er sah sie nur an. Sah, wie sich kleine Wuttränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Und lachte. Lachte erst nur ganz leise, dann immer schallender, bis Wendy schließlich verdutzt innehielt. Er blickte zu den anderen hinüber, die peinlich berührt zur Seite sahen und nach Beschäftigungen suchten. „Ich denke, damit wäre alles geklärt. Will noch jemand freiwillig mit Wendy in einem Zelt schlafen?“ Alle schüttelten den Kopf. Zeph wandte sich Costas zu: „Wir beide, ein Zelt?“ Der Grieche nickte. Auch Neil und Angelo trafen eine stumme Übereinkunft. Wendy ließ Balotellis Kragen los und stand schmollend auf. Sie verschränkte die Arme und musterte ebenfalls peinlich berührt den Boden. „Danke“, nuschelte sie leise, „und tut mir leid!“ Als die Sonne tief am Horizont stand und den Himmel blutrot erleuchtete, hatte auch Balotellis Auge eine tiefrote Färbung angenommen. Da sie kein Eis dabei hatten, musste er sich, während er eifrig damit beschäftigt war, ein Pastagericht über dem offenen Feuer zuzubereiten, immer wieder mit einem feuchten Lappen das Auge kühlen. Schon bald saßen alle um das Lagerfeuer herum und aßen. Alle schwiegen, bis auf Angelo, der zuvor die Ruine inspiziert hatte, während der Rest der Gruppe Steine und trockenes Holz für die Feuerstelle gesammelt hatte. „Meinen Nachforschungen zufolge handelt es sich bei den Steinen um einen rituellen Kreis, der nach Osten hin angeordnet ist.“ Er hatte sich auf dem Tablet-PC eine Skizze von allen Monolithen gemacht, von denen es scheinbar mehr als nur die zehn Blöcke im Zentrum gab, die um ein keilförmiges Hügelgrab, das mit einem rechteckigen flachen Stein bedeckt war und sich nach Osten hin öffnete, angeordnet waren. „Ich habe mich etwas umgesehen. Die ganze Anlage ist etwa 500 Meter breit und wenn es mich nicht täuscht, dann wird die Sonne morgen früh genau zwischen diesen beiden Felsen hier aufgehen.“ Er hob die Hand und deutete auf zwei Steinblöcke, die die Grabstätte in etwa zehn Metern Entfernung flankierten. „Ist so ähnlich wie Stonehenge, nie?“ Zeph wischte sich die Tomatensoße vom Mund und legte fragend den Kopf schief. Angelo nickte. „In der Tat. Hügelgräber und Steinkreise gibt es viele. Meinen Nachforschungen zufolge wurden sie einst von einer prä-keltischen Urbevölkerung zu astronomischen Zwecken errichtet.“ Er nahm eine weitere Gabel voll Spaghetti und kaute nachdenklich. Das Feuer flackerte und knackte hin und wieder, wann immer ein nicht ganz trockener Ast in Flammen aufging. Der Feuerschein reichte gerade einmal so weit, dass sie die Umrisse der Zelte erkennen konnte. „Allerdings“, fuhr Angelo fort und rückte seine inzwischen wieder reparierte Brille zurecht, „verstehe ich nicht so recht, warum in der Mitte ausgerechnet ein Grabhügel ist. Das ergibt einfach keinen Sinn!“ Zeph klopfte ihm auf die Schulter und lächelte entspannt. „Macht nix. Morgen ist ein schöner Sonnenaufgang, nie? Dann müssen wir am besten zeitig schlafen gehen.“ Er beugte sich halb hinter sich und durchsuchte seinen olivgrünen Armeerucksack nach einem Flachmann. Neil erbleichte. „Oh, oh!“ Er erinnerte sich noch daran, wie der braunhaarige Pole vor ein paar Wochen versucht hatte, ihm seinen selbst gebrannten Schnaps anzudrehen. Damals hatte er sich damit herausreden können, dass er noch Hausaufgaben machen musste, doch jetzt, das wusste er, gab es kein Zurück mehr. „Ist ganz harmlos, siehst du?“, versuchte Zeph den zitternden Dunkelblonden zu beruhigen und nahm einen großen Schluck aus der Metallflasche. „Hab sowieso nicht viel dabei, also nur ein bisschen zum Schlafen, nie?“ Er reichte den Flachmann weiter an Wendy, die ebenfalls ohne Hemmungen einen Schluck nahm. Balotelli roch erst kritisch an der Flasche, dann trank auch er und hustete. Costas verzog nur kurz das Gesicht. Sogar Angelo ließ sich nicht lumpen und nippte zögerlich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Schnaps auch koscher war. Schließlich sah alles gespannt zu Neil. Costas gluckste zufrieden. „Na hoffentlich falle ich heute Nacht beim Pullern nicht über eine gespannte Zeltleine!“ Der Alkohol stieg ihm sehr schnell in den Kopf und er ließ sich plump nach hinten fallen. „Tut nicht weh“, redete Zeph beruhigend auf Neil ein und klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern, „nur am Anfang. Aber wenn alles betäubt ist, dann spürst du das Brennen nicht mehr!“ Nervös blickte Neil in die Runde. „Mu-mu-muss da-da-dass denn sein?“ Alles nickte zustimmend. „Si, Piccolo, du schaffst das schon!“ Balotellis weiße Zähne schienen im Feuerschein sogar noch heller zu strahlen. Neil atmete tief durch. „Also gut!“ Zeph reichte ihm den Flachmann. Der Alkoholgehalt war so hoch, dass es ihm Tränen in die Augen trieb. Da hätte er doch eigentlich lieber eine Zwiebel schneiden wollen. Oder zwei. Oder zehn. Alles war besser als dieses Höllengebräu! „Na dann... Cheers!“ Er setzte die Flasche an die Lippe und nahm einen kleinen Schluck. Sofort brannte es wie Feuer in seiner Kehle und er konnte jeden Zentimeter spüren, den das Gebräu auf dem Weg zum Magen passierte. Er keuchte und hustete. Irgendjemand reichte ihm eine Flasche Wasser und er trank gierig daraus. Als das Brennen nachließ, stieg auch ihm die Hitze in die Wangen. „Puh! Das was ganz schön stark!“ Er schüttelte sich. Die anderen klatschten in die Hände und lachten. „Piccolo, jetzt gehörst du endgültig in unser Team! Wer Zephs Schnaps überlebt, der überlebt auch jeden Kampf! Fantastico!“ Neil kratzte sich peinlich berührt die Wange. „Danke...“ Er gab Zeph den Flachmann zurück und beobachtete, wie dieser die letzten Schlucke wie Wasser herunterspülte und anschließend die leere Flasche ausschüttelte. „Zeph ist wirklich ein harter Kerl!“, stellte der Dunkelblonde anerkennend fest, wandte sich dann aber an Angelo. „Aber sag mal, habe ich das eben richtig verstanden: du bist Jude? Warum weiß ich davon nichts?“ Angelo nickte und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. „Ganz einfach: du hast mich bisher nicht danach gefragt.“ Am nächsten Morgen zeigte sich, dass der Techniker der Kite Knights mit seinen Berechnungen vollkommen Recht gehabt hatte. Es war noch vor Sonnenaufgang, als Balotelli mit bester Laune zu den anderen ins Zelt kroch und einen nach dem anderen mit seinem schönsten Zahnpastalächeln von den Toten erweckte. Sie alle hatten schrecklichen Muskelkater von der Wanderung am Vortag und der harte Boden, auf dem sie ihre Schlafsäcke ausgebreitet hatten, machte es nicht gerade besser. Im Zelt von Zeph und Costas herrschte eine Mischung aus Alkoholfahne und Männerschweiß, sodass Balotelli im ersten Moment die Luft anhalten musste. Zum Glück hatten die beiden gestern darauf verzichtet, auch noch das Glas mit in Öl eingelegten Knoblauchzehen aufzumachen, sonst wäre er mit Sicherheit an diesem exquisiten Duft gestorben. So hielt er ihnen jeweils einen Becher frisch aufgebrühten Kaffee – Was hatte er denn noch alles in seinem Rucksack mit sich herumgeschleppt?! – vor die Nase und beobachtete, wie die Lebensgeister in den beiden so unterschiedlichen Männern erwachten. Wenig später war es soweit. Der erste Sonnenstrahl, der am Horizont erschien, warf sein Licht genau zwischen die beiden Monolithen und warf lange Schatten, die Fingern gleich auf die Grabkammer zeigten. Und dann passierte... Nichts. Wendy gähnte und streckte sich ausgiebig. „Wow. Toll.“, stellte sie trocken fest, „Und dafür sind wir jetzt also den weiten Weg hierhergekommen. Für ein bisschen Sonne zwischen zwei Steinen.“ Sie drehte sich um und ging zum Lagerfeuer zurück, um nach den Spiegeleiern und dem Speck zu sehen, die auf einer Pfanne, die auf einem Gestell über der Glut angebracht war, vor sich hinbrutzelten. Kein Frühstück ohne Speck. Das galt auch hier draußen in der freien Natur. Auch Zeph und Costas streckten gähnend ihre müden Muskeln und wandten sich in Richtung ihres Zeltes um, um noch ein paar Stunden zu schlafen. Neil wusste nicht, wem er sich anschließen sollte. Den Skeptikern, die lieber frühstücken wollten, oder aber den Optimisten, die auf ein Wunder hofften. Fünf Minuten lang passierte nichts. Seine Füße taten ihm langsam weh, denn auch ihm war die gestrige Wanderung ein wenig zu viel gewesen, obwohl er es eigentlich vom Bauernhof seiner Großeltern gewohnt war, ab und zu einmal hart zu arbeiten und viel zu laufen. Gerade, als er ratlos mit den Schultern zuckte und sich umdrehen wollte, packte Balotelli seinen Unterarm. „Sieh mal, Piccolo!“ Angelo war zielgerichtet auf das Hügelgrab hingerannt, als hatte ihn der plötzliche Fieberwahnsinn gepackt. „Ich hab doch gesagt,“ keuchte er stockend und trat in den Eingang des Grabes, „dass das nicht der Norm entspricht, dass inmitten eines astronomischen Kreises ein Grab ist!“ Seine Stimme hallte seltsam in zwischen den aufgestellten Felsen. Alles wandte sich ihm zu, als er seinen Tablet-PC hervorholte und hektisch darauf eintippte. „Meine ganzen Berechnungen spielen verrückt!“ Zeph stopfte sich schnell die letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund, während Wendy den gebratenen Speck und zwei Spiegeleier verschlang. Noch bevor sie fertig gegessen und sich den Mund abgewischt hatten, stürmten sie auf den Eingang des Hügelgrabes hinzu – und blickten verdattert hinein. „War dort ... letzte Nacht auch schon eine Treppe?“, fragte Neil zögerlich, als sich alle in einem Halbkreis aufgestellt hatten und spielte einmal mehr mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Nervosität mit dem Rattenschwanz in seinem Nacken. Angelo schüttelte den Kopf und wischte ein paar Mal über den Bildschirm, um ihnen ein paar Fotos vom Vortag zu zeigen. „Nichts. Nur blanke Erde.“ Wendy schnaubte und kickte einen kleinen Stein weg. „Tse! Der alte Zausel hatte also doch Recht! Und was machen wir nun?“ Balotelli schob sein Stirnband zurück. Alles erwartete, dass er als Teamchef eine Entscheidung fällte. „Ich würde sagen, dass wir hinuntergehen!“ Sein Blick ging von einem Kite Knight zum nächsten und zwinkerte. „Si, wir gehen hinunter!“ Er setzte als erster seinen Fuß in die niedrige Grabkammer. Die Treppe vor ihnen schien weit ins Ungewisse zu führen. „Angelo?“ Fragend sah sich Balotelli nach seiner rechten Hand um. „Die Störung hat aufgehört und ich vernehme gerade keine ungewöhnlichen Messwerte, auch wenn mir das Erscheinen dieses Ganges durchaus suspekt ist. Ich nehme aber an, dass es sicher ist, weiterzugehen.“ Der blonde Teamchef schloss kurz die Augen, atmete tief durch, ging ein paar Stufen hinab und winkte schließlich lächelnd die Treppe hinauf. „Na dann, Avanti! Kite Knights, das Abenteuer beginnt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)