High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 30: Battle Royale ------------------------- Der Tag war noch jung und die Luft roch nach Morgentau. Sanft fielen die Sonnenstrahlen über den Trainingsplatz hinter der Schule. Ein frischer Wind wehte. Nachdem Wendy so offensichtlich gegen Costas verloren hatte, war das ganze Team angespannt und hatte bereitwillig zugestimmt, einen etwas ungewöhnlichen Drachenkampf auszutragen. Battle Royale lautete das Stichwort. Vier Spieler, ein Feld, Jeder gegen Jeden. Angelo, der wie immer den Schiedsrichter mimte, hatte sich von Costas erklären lassen, worauf er achten musste. Es würde schmutzig werden und chaotisch zugehen, doch er sollte alles durchgehen lassen, gab es doch heute nur eine Sache, die wichtig war: jeder sollte völlig aus sich hinausgehen und von Anfang an alles zeigen, was er zu bieten hatte. Dafür hatte Costas, der trotz der morgendlichen Kühle nur ein Muskelshirt trug und seine dicken, aber durchtrainierten Oberarme präsentierte, extra eine Kamera mitgebracht. Ruhig und entspannt lief er am Spielfeldrand entlang und filmte jeden der Teilnehmer dabei, wie er seinen Drachen aufbaute. Er hatte eine Ahnung, was heute passieren würde, hatte er doch vor nicht einmal ein paar Tagen Wendys Selbstbewusstsein im Drachensteigen durch seinen so einfach errungenen Sieg einen herben Dämpfer verpasst. Sie hatte geflucht und geschmollt und ihn solange ignoriert, bis er sie in seiner Pflicht als Lehrer daran erinnert hatte, das Formular für die Kurswahl im zweiten Jahr einzureichen und er sie somit auf andere Gedanken gebracht hatte. Jetzt war sie wieder die Ruhe selbst und Costas – der die Kamera selbstverständlich unauffällig auf ihren Hintern gerichtet hatte – glaubte, dass ihr genau das dabei helfen würde, heute als Siegerin aus dem Gruppenkampf hervorzugehen. Balotelli klopfte sich noch einmal auf die Wangen und rückte sein Stirnband zurecht. Zeph streckte seine trägen Muskeln und gähnte beherzt, während Neil versuchte das Zittern in seinen Knien zu unterdrücken. Angelo blies in die Pfeife und richtete damit alle Aufmerksamkeit auf sich. „Da sich nun vier Piloten gegenüberstehen, ist ein gerechtes Starten leider nicht möglich. Nehmt daher Position auf je einer Markierung der Himmelsrichtungen ein, bis ich das Startsignal gebe.“ Die Duellanten nickten. Sofort verteilten sich Balotelli auf Nord, Wendy auf Süd und Zeph auf Ost, gleich einem stummen Verständnis Neil als dem neusten Mitglied seinen Start am leichtesten zu machen, denn es wehte Westwind. Oder hing es doch eher damit zusammen, dass Zeph als Pole den Ostblock für sich einnahm, Balotelli aussah wie ein gebräunter Schwede und das Feuer Wendys im Süden am stärksten brannte? „Alle bereit? Auf Grund außergewöhnlicher Umstände verlängere ich die Lift-Phase auf 30 Sekunden. Anlaufrichtung im Uhrzeigersinn.“ Wie sooft hob er die mit dem silbernen Clubwappen bestickte Fahne hoch über seinen Kopf, legte aber dazu noch die Pfeife an die Lippen. Costas ging ein paar Schritte vom Rand des Kite-Rings weg und setzte sich, nachdem er die Kamera auf ein Stativ geschraubt hatte, auf einen eigens mitgebrachten Campingstuhl. Dann öffnete er seine Tasche und holte ein Pausenbrot und eine Thermoskanne hervor, um während des Kampfes in Ruhe zu frühstücken. Es roch nach Käse und Oliven, gepaart mit Gyros, Kraut und Tsatsiki. Eine tödliche Mischung am Morgen, eingepackt in ein Pitabrot, die seinen Schülern, die er in der ersten Unterrichtsstunde im Sport hatte, sicher nicht gefallen würde. Alles schärfte seine Sinne. Jeder Muskel wurde angespannt, jedes Ohr gespitzt und mit jeder Faser des Körpers die Seele des Windes gespürt. Jeder der Vier versuchte alle Gegner gleichzeitig zu erfassen. Den einen direkt, die anderen durch die Augenwinkel. Drachenspulen lagen fest in den Händen, die Drachen selbst mit locker im Wind baumelnden Leinen über den Schultern. Balotelli fixierte Wendy. Ein Zucken ging durch seine Augenbrauen. Dann eine flüchtige Augenbewegung nach rechts, welche die Rothaarige mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken beantwortete. Schließlich war es soweit. Angelo blies in die Trillerpfeife und ließ die Fahne knatternd nach unten schnellen. Das Duell begann und Chaos tobte. „LIFT 'EM UP!“ Keiner der Vier wollte sich erlauben langsam zu sein. Alle rannten was das Zeug hielt, bis sich die Leinen hinter ihnen gespannt hatten und sie ihre Drachen zum Himmel schicken konnte. Zeph war erleichtert, dass es im Uhrzeigersinn losgegangen war, denn so hatte Neil – und nicht er – gleich zu Beginn Wendy im Nacken. Er betrat den mittleren Ring und pumpte all seine Muskelkraft in die Arme, um sofort mit Aquilas voller Kraft zuzuschlagen, doch war er bereits jetzt zu langsam. „Lichtpfeilregen!“ Icarus schnitt ihm den Weg ab, noch bevor er überhaupt seinen Kirit beschwören konnte. Er geriet ins Straucheln und blieb an den im Boden steckenden Pfeilen hängen. Darauf hatte Wendy gewartet. „Flammenpeitsche!“ Stings brennender Skorpionschwanz traf ihn mitten in der Magengegend und gab ihm dem Rest. Wie ein nasser Sack kippte der braunhaarige Pole zur Seite, gefolgt von Aquila, der außerhalb des Rings auf die Wiese krachte. Costas, der gerade einmal drei Bissen gegessen hatte, nickte bestätigend. „Wie nicht anders zu erwarten...“ Angelo wollte schon in die Pfeife blasen und den Gewinner verkünden, hielt sich dann aber doch zurück, als er sah, wie Balotelli und Wendy nun erneut zusammenarbeiteten und sich den inzwischen kreidebleichen Neil vornahmen. Der hatte zwar seinen Drachen gut unter Kontrolle, bisher aber nichts anderes gemacht, als nur tatenlos am Rand des Rings zu stehen. Er versuchte, die Nervosität herunterzuschlucken. Sein Rattenschwanz wehte ihm über die Schulter nach vorne. Er hatte Rückenwind und eigentlich die besten Voraussetzungen sich zu verteidigen. Doch er hatte Angst. Zwei gegen einen, das war schon ein bisschen unfair, besonders wenn der Teamchef und Wendy sich zusammentaten und dabei fast schon wie ein Liebespaar aussahen, das sich wortlos verstand. Die beiden hatten sich wohl zur Aufgabe gemacht, erst die schwächeren Piloten aus dem Weg zu räumen, um sich dann einen unerbittlichen Zweikampf zu liefern. Doch Neils Blick wurde ernst. Nein, er würde es den beiden nicht so leicht machen. Bei Zeph, der ja bekanntlich eine ziemliche Trantüte war, würde die Strategie vielleicht noch aufgehen. Nicht aber bei ihm! „Darter, hörst du mich?“ Er horchte tief in sein Inneres. Nein, auch er war nicht allein. Auch er hatte eine Partnerin an seine Seite, die höflich und elegant für ihn kämpfen würde. Hier bin ich... Sein Herz hüpfte vor Freude. „Denkst du, du kannst nochmal dasselbe machen wie neulich?“ So mit richtig viel Krach? Neil nickte und klammerte sich fester an die Drachenspulen. Wendy und Balotelli hatten sich hintereinander aufgestellt. Wendy war das Schutzschild, das Balotelli das Zeitfenster beschaffte, eine stärkere Attacke als die Lichtpfeile zu beschwören. Sie war die blitzschnelle Kanonenkugel, die eine Schneise für den Angriff brennen sollte. Doch nicht mit ihm. Nicht mit dem manchmal etwas verschrobenen und abergläubischen Neil, der schon lange keine Lust mehr darauf hatte, immer nur auf der Reservebank zu sitzen. Costas sah auf die Uhr. Nicht mal zwei Minuten waren seit dem Anpfiff vergangen und bereits jetzt stand die Entscheidung kurz vor der Tür. Er griff in die Brotdose, um sich ein zweites Pitabrot herauszuholen, doch glitten seine Finger ins Leere. „Ey...“ Genervt sah er zu Zeph herüber, der es sich auf dem zweiten Campingstuhl bequem gemacht hatte und genüsslich in das Brot biss. Costas verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Da hab ich die Brotdose gerade fünf Minuten offen und schon klaust du mir mein Essen!“ Doch Zeph winkte ab. „Nie, nie, die Brotdose lag auf dem Boden. Einfach so. Hab ich gefunden!“ Der dunkelhaarige Grieche seufzte genervt und schlug die Hand vors Gesicht. „Du hättest auch einfach was sagen können, dann hätte ich dir auch so etwas abgegeben. Ist ja nicht so, als würde ich so schnell verhungern.“ Er grinste und klopfte sich auf den gut genährten Bauch. „Du solltest übrigens auch mehr essen. Wenn einer in diesem Team die undurchdringbare Mauer sein soll, dann bist wohl du das.“ Zeph verstand nicht und kratzte sich fragend die dünnen Bartstoppel am Kinn. „Du bist vorhin umgekippt wie eine billige Holzpalisade aus dem Baumarkt bei einem leichten Sturm, dabei steckt in dir mindestens die Standhaftigkeit von Stahlbeton.“ Diese Metapher verstand Zeph. Er blickte auf seine freie rechte Hand und bildete eine Faust, bevor er ihm antwortete. „Alle sagen immer: 'Zeph, du bist faul, du bist schwach, trainiere mehr.', aber du sagst ich bin stark.“ Er nahm einen großen Bissen und sprach mit vollem Mund weiter. „Gefällt mir gut. Du bist stark, dir glaube ich, nie!“ Eine Druckwelle breitete sich in Neils Mitte aus. Er konnte nicht nur spüren, sondern auch hören, wie sein Herz bis in den Hals schlug. Darter war überall. In jeder Faser seines Körpers, denn sie war ein Teil von ihm. Auch wenn es ihm komisch vorkam, dass ein Teil von ihm ein Mädchen sein sollte, liebte er das Gefühl, wenn sie aus ihm hinaufstieg. Wendy kam auf ihn zu gerannt, einen Kampfschrei auf den Lippen und ihrem Gesichtsausdruck zufolge mehr als nur entschlossen dazu, ihn filetieren zu wollen, doch er war ruhig. Die Knie hatten aufgehört zu zittern. Er wusste, was er tun wollte und auch, was er tun konnte. Er warf die Arme nach vorne und schickte seinen Drachen auf direktem Kollisionskurs mit Sting, der in ein pinkes Flammengewand gehüllt war. Darter löste sich von der Oberfläche und begann augenblicklich mit den Flügeln zu schlagen. Ein schriller Ton erklang. Die Flügel bewegten sich so schnell, dass man nur einen flirrenden Umriss erkennen konnte. Doch man konnte sie hören. Wendy glaubte, ihr Kopf würde platzen. Schützend hielt sie sich die Hände vor die Ohren und bracht die Attacke ab. Auch Balotelli fiel es schwer die bisher gebündelte Energie zu halten. Beide krümmten sich vor Schmerzen und auch Costas und Zeph unterbrachen ihr Gespräch, um sich die Finger in die Ohren zu stecken. Angelos Brillengläser zersprangen. Der einzige, der durch den Lärm nicht beeinträchtigt war, war Neil selbst. Er nutzte die allgemeine Verwirrung und raste auf Wendy zu, um ihr mit dem Drachen eins auszuwischen. Er warf die Arme herum und schnitt eine Kurve an, um nicht Sting, sondern sie selbst zu erwischen, doch Wendy schaltete sofort um und sprang im letzten Augenblick zur Seite. Das war der Moment, in dem Balotelli zuschlagen konnte. Icarus spannte die Sehne des Bogens bis zum Anschlag, bereit einen einzigen, riesenhaften Pfeil abzuschießen. „Zorn des Himmels!“ Der Kampfring wurde in gleißendes Licht gehüllt, gefolgt von einer Explosion, in deren Zuge Darters Schallwellen verklangen. Neils Augen brannten vor Helligkeit. Schützend legte er die Hände vor das Gesicht. Doch es war zu spät: der Pfeil durchschlug seine Brust und warf ihn zu Boden. Der Schock nahm ihm den Atem. Während er dort lag, hörte er noch Wendy „Sting Meteor“ rufen und spürte, wie die Erde ein weiteres Mal unter einer Explosion erzitterte, doch dann wurde ihm schwarz vor Augen. ... Wendy warf schmollend die leere Dose Energydrink beiseite und öffnete die nächste, während Neil sich über einen Eimer gebeugt hatte und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Das konnte doch echt nicht wahr sein! Sie hatte extra gewartet, bis Balotelli durch seine Attacke abgelenkt war, um ihm den Gnadenstoß zu verpassen und dann gab sie sich dabei auch noch selbst den Gnadenstoß! Sie leerte die zweite Dose in einem Zug. Der Schultag hatte noch nicht begonnen, also war an Einschlafen nicht zu denken. Tiefe Augenringe zierten ihr Gesicht und ließen sie noch unumgänglicher aussehen, als ohnehin schon. Angelo hingegen sah ohne seine kaputte Brille, die er bedauernd in ein Etui steckte, viel offener und netter aus. Balotelli lächelte den plötzlichen Anflug von Traurigkeit – die Folgeerscheinung seiner Kirit-Beschwörung – einfach weg. Diesmal war er zwar nicht so erschöpft, dass er in Tränen ausbrechen musste, aber er fühlte sich trotzdem elend. Costas trat in die Mitte der Gruppe und nickte zufrieden. „Ihr wart echt gut heute, meinen Respekt!“ Zur Bestätigung hob er den Daumen. „Zum Glück habe ich nicht gewettet, sonst wäre ich jetzt ärmer!“ Er lachte und setzte sich auf den Boden. „Ein Doppel-K.O.! Das war echt nicht zu erwarten!“ Wendy knurrte gereizt und wiegte die Dose in der Hand. Sie fühlte sich ausgelacht und hatte große Lust darauf, sie dem Griechen an den Kopf zu werfen, doch er patschte ihr nur fest mit seiner dicken Hand auf die Schulter und massierte sie leicht. „Ihr habt wirklich ein gutes Teamwork, das hat man eindeutig gesehen.“ Auch Balotellis Schulter wurde kurz von seiner Hand malträtiert, dann ließ er sich nach hinten fallen und blickte hinauf in den wolkenlosen Himmel. „Aber wisst ihr was?“ Er zeigte nach oben. „Der Himmel ist grenzenlos. Macht euch das immer bewusst, dass das da oben ein unendliches Reservoir für eure Kraft sein kann.“ Alle blickten in die von ihm gezeigte Richtung. Ein Flugzeug zog einen langen weißen Streifen hinter sich her und plötzlich wurde jedem von ihnen bewusst, wie klein sie doch eigentlich unter dieser blauen Kuppel, nein, in diesem ganzen Universum waren. Costas drehte sich auf den Bauch und stützte sein Kinn auf den Händen ab, so dass seine Backen noch dicker wirkten. Als er lächelte, bildeten sich kleine Fältchen unter den schmalen dunklen Augen. „Ihr seid gut, aber noch weit von eurem wahren Potenzial entfernt. Aber wisst ihr was? Ich habe schon eine Idee, was wir als nächstes dafür tun können!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)