High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 24: Der Antrag ---------------------- Schweigen. Fassungslosigkeit stand in den Gesichtern der Clubmitglieder geschrieben. Wendys Schultern verkrampften sich abwehrend, als sie in das zuversichtliche Gesicht des Anführers blickte, der sich gewohnt lässig eine blonde Haarsträhne aus der Stirn strich. Das konnte doch nicht wahr sein! Was hatte sich dieser hirnrissige Idiot dabei nur gedacht, einen Außenseiter mit in den Club zu bringen? Der hatte doch echt den Arsch offen! „Oh“, entglitt es Zeph träge, der inzwischen den Jutesack zusammengefaltet und wieder in seinem mit Flecktarn gemusterten Rucksack verstaut hatte. Selbst Angelo hatte für einen Moment die Tipparbeit unterbrochen und blickte den Neuen kritisch über seine halbmondförmigen Brillengläser hinweg an. „Bist du gut in Physik und Mathematik?“, analysierte er monoton die Lage. Neil wurde immer blasser und war nahe daran in Ohnmacht zu fallen. Ein dicker Kloß steckte in seinem Hals und machte ihm das Sprechen schier unmöglich. „N...nein. Eigentlich kann ich gar nichts...“ Seufzend senkte er den Blick. Er fühlte sich so unwohl, dass ihm schwindlig und schlecht wurde. Genau wie vorhin vor der Klasse. Also im Grunde wie immer, wenn er Menschen um sich herum hatte, in deren Mittelpunkt er ungewollt stand. Und dass alle schwiegen und ebenso wenig wie er wussten, was er eigentlich hier sollte, machte es auch nicht gerade besser. „Calma e gesso, Piccolo!“ Balotellis rechte Hand klopfte ihm fest auf die Schulter, während er sich mit dem linken Zeigefinger auf die Nasenspitze tippte und wieder eine Aura der Zuversicht verströmte. „In diesem Jungen hier steckt großes Potenzial, das kann ich riechen!“ Wendy schnaubte verachtend, doch sagte kein Wort. Sie schien ihre Drohung ein halbes Jahr nicht mehr mit ihm reden zu wollen ernst zu meinen. Vorerst. Er würde sie ja sowieso mit seiner charmanten Art dazu bekommen, sich wieder zu beruhigen. Denn er, der großartige, gutaussehende und wohlerzogene Tornado Balotelli, war ja nicht so stümperhaft wie dieser Vald, der einfach keine Ahnung hatte, wie man mit einer Dame umzugehen hatte. Obwohl das Wort „Dame“ eigentlich nicht so ganz auf Wendy zutraf. Jedenfalls... Wo war er stehengeblieben. Ja, da war doch was! Balotelli atmete tief durch und kniete sich vor dem Neuen nieder, der angesichts seiner schmachtenden blauen Augen erneut wie eine verängstigte Maus zu zittern begann und nervös mit der Hasenpfote in seiner Jackentasche spielte. Der Blonde räusperte sich und schob mit einer Hand sein lachsfarbenes Stirnband zurück, um seinen kommenden Worten noch mehr Ernsthaftigkeit zu verleihen. „Allora...“14 Neil wollte sich zur Tür wenden, doch der Blick des anderen hatte ihn gelähmt, als konnte er ihn der Medusa gleich zu Stein verwandeln. Das ist wirklich ein Dämon... Balotelli legte die etwas spröde Hand des Neuen in seine eigene und es war deutlich zu sehen, wer von beiden sich mit Nagelpflege beschäftigte und wer nicht. „Ich frage dich nun, Me...“ KLATSCH! Die eben noch gehaltene Hand schnellte empor und hielt Balotelli den Mund zu, der von der plötzlichen Reaktion so erschrocken war, dass er fast die Balance verlor. „Ich heiße Neil, okay?“ In den ängstlichen blauen Augen flackerte für einen Moment eine Drohung auf. „NEIL. Und nicht anders.“ Flüchtig fixierte er jede im Raum anwesende Person. Dann war sein Mut auch schon wieder verflogen und er kratzte sich nervös an der Wange. „U...und das gilt für jeden...“ Der Teamchef schüttelte das ungewohnte Gefühl, dass man ihm ins Wort gefallen war, ab und fuhr fort. „Allora, Neil!“ Sein Blick wurde ernst. „Ich frage dich nun: willst du Teil unseres Drachenclubs werden, ihn lieben und ehren, bis zum Schulabschluss und noch viel länger? Dann antworte nun mit 'Si', äh... 'Ja'!“ Neil verspürte ein nervöses Grummeln in der Magengegend und wünschte sich auf der Stelle eine Toilette herbei. Ein Antrag. Der Dämon hatte ihm gerade einen Antrag gemacht. Na gut, wohl eher einen Vertrag, der ihn direkt in die Hölle bringen sollte. Und so wie der Rest der dämonischen Bande aussah, waren es bestimmt wirklich die Boten der kommenden Apokalypse. Es gab also eigentlich keinen Grund, jetzt „Ja“ zu sagen. Und wieder sahen sie ihn an. Kamen sogar näher, bis sie alle in einem Halbkreis mit Schulterschluss aufgereiht waren, so dass sie ihm einer Mauer gleich jede Option auszuweichen nahmen. Und noch schlimmer: Sie nickten ihm zu. Der Kleine kritisch, der Große träge, das Mädchen schmollend und der Erwachsene lächelnd. Und dazu noch dieser glitzernde Dämon mit dem komischen Stirnband. Welche Wahl hatte er also schon? Wenn er an seine bisherige Schulzeit zurückdachte, dann war er immer der Außenseiter gewesen. Der Junge, den man immer als letztes beim Sport gewählt hatte und über den man lachen konnte, weil er immer ein bisschen nach Kuhstall miefte und ständig irgendwo irische Kobolde und andere Fabelwesen gesehen haben wollte. Der Junge, der nun ganz allein mit seinen Eltern in einer neuen Stadt war. Und der eigentlich nichts hatte, was er verlieren konnte. Außer vielleicht seine Seele. Obwohl ihm jetzt, wo er so darüber nachdachte, der blonde Dämon eigentlich gar nicht mehr so gruselig vorkam, sondern eigentlich ziemlich nett. Und vielleicht konnte er ihm ja wirklich helfen endlich einmal richtige Freunde zu finden. Mit einem Nicken forderte er Balotelli dazu auf sich wieder aufzurichten und hielt ihm schließlich die Hand hin. Es fiel ihm nicht leicht, ihm in die Augen zu sehen, so dass er zum Ausgleich unruhig mit dem dunkelblonden Rattenschwanz in seinem Nacken spielen musste. „Ich hab zwar keine Ahnung, was auf mich zukommen wird, aber“, seine Haltung wurde selbstbewusster, „ja, ich will!“ Schweigen. Erneut hatte es der Neue, bei dem sich alle immer noch fragten, warum der Spitzname von Meredith O'Neil „Neil“ und nicht „Merry“ war, geschafft, dass alle ihn fassungslos beobachteten. Ein Tag war seit dem verrückten Aufeinandertreffen mit Balotelli gegangen und abgesehen von dem einen oder anderen Beinahe-Herzinfarkt, den ihm der ganze Trubel beschert hatte, schien sich Neil wieder gefangen zu haben. Mehr sogar: er war die Ruhe selbst. Wendys linke Augenbraue zuckte, während ihre rechte Fußspitze sich immer wieder leicht hob und auf den Boden tippte. Nur nichts sagen und sich einen zynischen Kommentar verkneifen. Ja, dieser dunkelblonde Typ, der es anscheinend für voll cool hielt mit seit bestimmt 20 Jahren aus der Mode gekommenen Rattenschwanz herumzulaufen, hielt es anscheinend für noch cooler, hier mit Wünschelrute durch den Materialschuppen zu gehen und leise vor sich hinzusummen. Oh. Mein. Gott. Dieser Typ Mensch war doch genau das, worüber sie sich immer lustig gemacht hatte. Sie schmollte. Bestimmt war das wieder einer von diesen perfiden Plänen des Stirnbandheinis, in ihr irgendeine Art von Persönlichkeitsveränderung hervorzurufen. Erkennen, dass auch Loser wertvoll sein können und dass man nett zu ihnen sein sollte. Aber das konnte er vergessen. Wenn dieser Neil Kacke war, dann würde sie ihn auch so behandeln. Schluss, Aus und Ende. Wer blödes Zeug machte, der konnte doch nicht von ihr verlangen, dass sie das auch noch gut fand. Genau wie diese dumme Sache mit dem Schrank gestern, über die sich heute schon die ganze Schule das Maul zerrissen hatte. „Der Drachenclub ist voll peinlich“ – „Das wussten wir doch schon vorher!“ – „Nur Freaks da drin!“ – „Eigentlich schade, ich fand den Blonden immer ganz süß...“ Eigentlich wollte sie Balotelli ja bestrafen. Einfach nicht mehr mit ihm reden, bis er sich dafür entschuldigt hatte, dass er sie so vor der ganzen Klasse blamiert hatte. Doch je länger sie sich das ganze Theater mit ansehen musste, desto stärker wurde der Drang ihm einfach nur eine zu verpassen und ihn anzuschreien. Doch sie konnte sich beherrschen, biss die Zähne zusammen und schob sich so nah es nur ging hinter ihn, damit der Neue nicht hören konnte, was sie mit dem Teamchef zu bereden hatte. „Warum darf er mitmachen, ohne vorher unser Buch geöffnet zu haben? Was, wenn er es doch nicht kann und du dich zur Abwechslung mal geirrt hast, du Schlaumeier?!“ Der Blonde musste schmunzeln. Also doch! Soviel zu einem halbjährigen Schweigegelübde. „Bellissima, man soll ein verschrecktes Tierbaby doch nicht überfordern!“ Er winkte ab. „Alles zu seiner Zeit. Du hattest immerhin schon Erfahrung, si! Da wusste ich von Anfang an, dass du nicht Nein sagen würdest.“ Eine Ader auf Wendys Schläfe begann bedrohlich zu pochen. „Du … wusstest es?!“ Balotelli sprang plötzlich vor Schmerz auf. „Ahi!2 Lass los, Bellissima, prego!3“ Wendy hatte in seine Backe gekniffen und zog solange schmerzhaft daran, bis sich ein großer roter Fleck gebildet hatte. Beleidigt hielt sie von ihm ab und verschränkte die Arme. „Tse! Ich hasse es, wenn du immer so tust, als wärst du ein großer Idiot, obwohl du eigentlich einen Plan verfolgst.“ Sie erwartete eine überraschte Antwort, doch stattdessen hob der andere nur kurz seine Augenbrauen und lächelte kühl. „Du hast keine Ahnung davon, was ich eigentlich alles geplant habe, Wendy...“ Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken herunter. Das war ja fast schon Black Hayate hier. Auch der zurückhaltende Japaner, der vor einigen Wochen wieder in seine Heimat geflogen war, hatte eine dunkle Seite, die er so gut wie niemals preisgab. Ergänzten sich ja wirklich fabelhaft, die beiden. Hatten bestimmt eine Geheimbasis mit einem Masterplan voller Pfeile und Bilder und lachten sich jedes Mal ins Fäustchen, wenn der nächste Schritt getan war. Sie seufzte resignierend. „Mach doch was du willst. Ich bin zu dumm für solche Spielereien und kapiere sowieso nicht, was in deinem Hirn vorgeht. Aber bitte bring nie wieder so eine beknackte Aktion wie die gestern, okay?“ Er nickte übereinstimmend. Wenn du wüsstest... Es war still geworden. Neils Summen, das bis eben noch immer wieder lauter und leiser geworden war, verstummte. Die Wünschelrute schwang unruhig in seinen Händen, als er vor einem Drachen stehengeblieben war, der eigentlich nur als ein Memento an frühere Clubmitglieder aufbewahrt wurde. „Oh, das da? Nicht schlecht, nie?“, murmelte Zeph, der lässig an der Tür lehnte, verwundert, während Angelo, der alles aus sicherer Entfernung beobachtete, die Hand grübelnd ans Kinn legte. „Interessant.“ Neil legte die Wünschelrute beiseite und nahm vorsichtig den grünen Libellendrachen. „I...ist das jetzt gut ... oder schlecht?“ Sein blasses Gesicht suchte in den Blicken der anderen nach Bestätigung. Bestätigung, die aber ausblieb. Wendy schlug fassungslos die Hand vor die Augen. „Meinst du nicht, du solltest dir eher einen einfacheren...“ – „Si! Das ist vollkommen in Ordnung so, Piccolo!“ Balotelli flitzte hinter den Dunkelblonden und schob ihn lächelnd durch die Tür des neu gebauten Geräteschuppens nach draußen. „Dieser Drachen hat dich gerufen, si? Dann ist er der richtige für dich!“ Für den Bruchteil einer Sekunde sah er mit ernstem Blick zu der Rothaarigen hinüber, als wollte er ihr sagen den Neuen doch bitte wie ein rohes Ei zu behandeln. Wendy verstand und schüttelte resignierend den Kopf. Das ist alles ein Plan... Neil war sich sicher, dass der Blonde ihm irgendetwas verheimlichte, doch konnte er sich nicht wehren und umentscheiden, da dieser ihn immer weiter auf die Wiese hinter der Schule bugsierte und inzwischen gar nicht mehr locker und aufgeweckt daherkam, sondern eher seriös und bestimmend. „Zeph“, kommandierte Balotelli wie ein Anführer und wandte dabei den Kopf zurück, „pack Aquila aus, du bist heute mal dran!“ Kurz darauf hatte sich die gesamte Truppe auch schon auf der Wiese postiert. Oder besser: auf dem, was davon übriggeblieben war. Ein großes Areal des vorher so gepflegten englischen Rasens war ausgehoben und mit Sand planiert worden. Und genau auf diesem Ring, der den Eindruck eines durch Außerirdische erschaffenen Kornkreises vermittelte, standen sich nun Zeph, der eigentlich viel lieber nur zuschauen wollte und ganz genau wusste, dass er nur ausgewählt wurde, weil er der am wenigsten gefährlichste, da schwächster Gegner war, und Neil, der keine Ahnung hatte, was man eigentlich von ihm wollte, gegenüber. Balotelli breitete die Arme aus. „Kite Knights, Attenzione!4 Das, was ihr hier seht, wird schon bald unser neuer Trainingsring werden, der nach den offiziellen Maßen der Weltmeisterschaft gebaut wird!“ Wieder einmal genoss er es, einfach nur im Mittelpunkt zu stehen und eine große Rede schwingen zu können. „Der Platz erscheint euch vielleicht etwas groß, doch werdet ihr in ein paar Wochen sehen, dass er euch doch mehr einschränken wird als bisher.“ Er trat zwischen die Kontrahenten, die beide gleich lustlos dreinblickten. „Heute wird hier aber noch nach den üblichen Regeln gekämpft, das heißt: kein Körperkontakt, kein Verlassen der Sandfläche und vor allem...“, ein Blick von Neil zu Zeph und zurück erfolgte, „tut euch bitte nicht zu sehr weh...“ Neil schluckte. „Drachensteigen tut... weh?“ Mit einem mal erschien ihm der bisher so harmlose, da dürre und unsportliche Zeph wie ein Hüne, ein grober Schlächter voller geheimer Kräfte und Fähigkeiten, mit denen er ihn, den unerfahrenen kleinen Neil, filetieren wollte. Warum konnte er nicht gegen das Mädchen antreten? Die war wenigstens nicht so groß und gefährlich und bestimmt auch nicht so stark, auch wenn sie eine große Klappe hatte. „Hab nicht so Lust auf Schmerzen. Machen wir ein faires Duell, nie?“ Der große Typ mit dem Dreitagebart hielt ihm seine Hand mit den langen Fingern hin und lächelte freundlich, fast schon harmlos, wie ein treuer Welpe, dem man nichts übel nehmen konnte. Doch sicher lag darin die ultimative Gefährlichkeit. Neil versuchte seine Angst zu verdrängen und gab ihm schüchtern die Hand. Er erwartete, dass man ihm die Finger zerquetschte, doch der Griff des braunhaarigen Polen war ebenso lasch wie der Ausdruck in seinen Augen. „Alles bereit?“ Balotelli übernahm heute selbst den Schiedsrichter und trat an den Rand des Rings zurück, wo er die Clubfahne ausstreckte, um die Windrichtung zu prüfen. „Der Wind kommt heute von Nordosten, also stellt euch so gegenüber. Neil, du kommst hierher!“ Er winkte den Jüngeren zu sich. „Aber das ist voll unfair, nie...“, lamentierte Zeph. Costas, der sich bisher stillschweigend aus dem Geschehen zurückgehalten hatte, hob den Zeigefinger an die Lippen. Natürlich war es unfair, wenn der Neue Rückenwind hatte und seinen Drachen so leichter starten und in der Mitte des Rings halten konnte, doch war es besser ihm erst einmal ein Erfolgserlebnis zu verschaffen, anstatt ihm gleich wieder den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wendy musste sich das Grinsen verkneifen. Super, Zeph, du hast die Aufgabe heute überzeugend ein Duell zu verlieren, ich wünsche dir viel Vergnügen dabei! „Alles steht richtig? Alle bereit?“ Neil nickte verhalten, Zeph war beleidigt. „Dann beginnt das Duell in 3, 2, 1... Und los!“ Die hoch erhobene Fahne schnellte nach unten. Sofort lief Zeph in die Mitte des Rings, um genug Anlaufweg zu bekommen, drehte sich um, spannte die Leinen des braunen Steinadlerdrachens und rannte zum Rand zurück. „LIFT 'EM UP!“ Mit dem sich nun aufbauenden Gegenwind gepaart mit der moderaten Geschwindigkeit war es ein leichtes für ihn Aquila auf einen Luftstrom zu befördern. Schließlich stand er wieder auf seiner Ausgangsposition. Neil beobachtete ihn skeptisch. Noch nie hatte er einen Drachen steigen lassen. Und noch nie hatte er jemanden dabei gesehen, wie er dies tat. Die Plastikspulen lagen ungewohnt in seinen Händen und er wusste nicht so recht, was er eigentlich tun sollte, doch bevor er sich blamierte und sich wieder jeder über ihn lustig machte, wollte er lieber genau das tun, was der andere ihm gerade vorgemacht hatte. Er hob die Arme und spannte die Leinen, so dass der Libellendrachen hinter ihm lag, nahm dann einen tiefen Atemzug und rannte in Richtung Mitte. Er wusste nicht, ob er es richtig war, ob es peinlich aussah und ob es durch den Spruch noch dümmer wirken wurde, aber als er los sprintete, konnte er den Luftwiderstand auf den Libellenflügeln spüren. Der Wind zog stärker und stärker an den Lenkschnüren, bis es ihm fast die Arme ausriss. Mit voller Inbrunst und geröteten Wangen schrie Neil „LIFT 'EM UP!“ und schwang die Arme nach vorne. Und der Drachen stand auf dem Luftstrom, als hätte sein Pilot nie etwas anderes gemacht. Balotelli klatschte begeistert in die Hände. „Fantastico!5 Ich wusste, ich würde Recht haben!“ Costas nickte zustimmend und ließ sich ins Gras fallen. „Ein Glück, dass ich nicht dagegen gewettet habe, sonst wäre ich jetzt noch ärmer!“ Von Begeisterung war bei Wendy allerdings nichts zu sehen. „Wenn der es jetzt auch noch schafft, einfach so einen Kirit zu beschwören, dann...“ Neil stand da und wusste nicht, was er tun sollte. Doch eines war klar: irgendwie fühlte es sich echt cool an, so einen Drachen in der Luft zu halten. Kraftvoll und doch leicht. Vertraut und doch fremd. Gar nicht mehr so abwegig, wie er vorhin noch gedacht ... RUMMS! Zeph hatte seinen Angriff begonnen. Konzentriert ließ er Aquila auf den Libellendrachen zufliegen und verpasste ihm einen Schlag mit dem Flügel. Neil taumelte für einen Moment überrascht. Jetzt ging es also los, dieses ominöse Drachenduell. Beide würden jetzt wohl solange aufeinander eindreschen, bis einer der beiden Drachen vom Himmel fiel. Gut, wenn das so war... Aquilas spitzer Schnabel sauste von oben auf die Libelle herab. Neil kniff die Augen zusammen und machte mit den Armen eine Bewegung nach rechts, um eine kleine Kurve zu fliegen. Ging ja gar nicht so schwer. Doch Zeph reagierte sofort, lief zwei Schritte auf ihn zu und schickte Aquila auf Verfolgungskurs. Neil konnte spüren, wie der Schnabel seinen Drachen durchbohren wollte, doch das Material blieb so standhaft wie er selbst. Ein weiteres Ausweichmanöver. Und immer aufpassen, dass sich die Leinen beider Drachen nicht verhedderten, da das Duell sonst schneller vorbei sein könnte, als geplant, ohne dass irgendwer von beiden gewinnen würde. Der nächste Schlag erfolgte. Und noch einer. Wieder ausweichen, nur um wieder zur Zielscheibe zu werden. Langsam wurden Neils Arme taub und er begann zu schwitzen, während Zeph immer noch die Ruhe weg hatte. Wie gedacht, in dem großen Typen steckte auch eine Menge Kraft, auch wenn der sich in der Regel gehen ließ, wie er bereits feststellen durfte. Doch hieß der Kraftunterschied gleich, dass er verlieren musste? Dass er automatisch keine Chance hatte, bloß weil das sein erstes Duell war? Er dachte zurück an die vielen Male, die er im Sportunterricht gehofft und gebangt hatte und dann doch immer der Letzte gewesen war, der in ein Team gewählt wurde. Dabei war er doch gar nicht so schlecht! Nur unauffällig... Und...und vielleicht war seine Angst vor dem Paranormalen doch etwas übertrieben, aber das passierte nun mal, wenn man mitten im Nirgendwo lebte und die Eltern einen schon im Kindergartenalter hatten Akte X sehen lassen. Kindheitstrauma. Die Wahrheit ist irgendwo da draußen, zwischen all den Verschwörungen, die man ihm über neun Staffeln dieser Serie eingeflößt hatte. Und weil das so war, wollte er jetzt bitte auch irgendein Supersoldat sein, der über besondere Fähigkeiten verfügte. Immerhin hatte Balotelli ja auch gesagt, dass er in ihm ein großes Potenzial sah. „Bist ganz schön robust, nie?“ Zeph verkürzte den Abstand zwischen ihnen. „Wird dir aber nichts bringen, hab nämlich gleich keine Lust mehr, also ist jetzt ernst.“ Er kräuselte die Stirn und spannte die Muskeln an. „Chef hat gesagt, ich soll dir nicht weh tun. Wenn doch: Tak mi przykro!6“ Ein Sturm braute sich zusammen. Sand wurde aufgewirbelt und trieb Neil Tränen in die Augen. Er hielt sich die Hände vor das Gesicht und konnte spüren, wie der Libellendrachen dabei unruhig in der Luft auf- und ab schaukelte. Unruhig versuchte er den Abstand zwischen sich und Zeph zu vergrößern, musste aber innehalten, als er die Graskante unter seinen Sohlen fühlte. Noch einen Schritt weiter und es war vorbei, ohne dass es einen verdienten Gewinner geben würde. Er konnte nicht sehen, was da vor ihm passierte, doch ließ ihn der plötzliche Energieausbruch erschaudern. Dort in der Staubwolke braute sich etwas zusammen, das eindeutig eine Folge seiner Lieblingsserie hätte füllen können. Es war groß, schlug mit den Flügeln und stieß einen Adlerschrei aus, der ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Und noch schlimmer: es flog direkt auf ihn zu. Wendy zuckte mit den Schultern und setzte sich zu Angelo, der in eine Art Geigerzähler vertieft war. „Das war's dann wohl mit dem großen Potenzial. Da hat sich wohl jemand verrochen...“ Plötzlich platzte es aus Balotelli heraus: „Gib nicht auf, du schaffst das!“ Woher kannte sie diesen Satz nur? War es... Sie fasste sich an den Kopf. Genau dasselbe hatten sie zu ihr auch gesagt, als sie Sting zum ersten Mal beschworen hatte und es so furchtbar schief gelaufen war. Sie ballte die Fäuste. Die Narben spannten noch immer und würden auch nie aufhören zu spannen. Es war ein ewiges Mahnmal ihres eigenen Versagens. Warum? Warum sollte dieser Junge also etwas auf Anhieb schaffen, für das sie so lange gebraucht hatte? Ganz einfach: weil er es konnte. Im Angesicht der drohenden Niederlage nahm Neil plötzlich all seinen Mut zusammen und schluckte die Angst hinunter. „I...ich hab keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber eines ist klar“, brüllte er gegen die Sturmwand an, „ich will nicht mehr der Junge sein, der übrig bleibt! Ich will jemand sein, der gemocht und gebraucht wird! Ich gebe nicht auf!“ Seine Arme schnellten nach vorne und ließen die Drachenspulen in den Händen aufeinander krachen. Ein lauter Knall war zu hören, gefolgt von einem Impuls, der den Sandschleier beiseite fegte und Zeph beinahe von den Füßen riss. Während Aquila langsam verblasste, entstieg der Oberseite des grünen Libellendrachen eine echte Libelle, die so schnell mit ihren Flügeln schlug, dass diese beinahe unsichtbar waren. Neil wurde schummrig vor Augen, doch er lächelte. Instinktiv wusste er irgendwie, was er tun musste, denn es kam ihm so vor, als konnte er die Stimme des Libellenweibchens hören. Wendy raufte sich die Haare. Warum? Warum? WARUM war sie eigentlich die einzige, die sich so quälen musste, sich verbrannt hatte und fast gestorben wäre, bis Sting sich endlich gezeigt hatte? Sie war so wütend, dass sie am liebsten heulen wollte. „Ein Kirit ist die Manifestation unserer Seele. Er steht sinnbildlich für unsere tiefsten Wünsche und Hoffnungen.“ Costas nickte ihr wissend zu. „Diese Antwort wolltest du doch hören, oder?“ Sie schmollte. „Na toll! Ich will also ein giftiger Skorpion sein, der alle mit seinem Feuer verbrennt?“ Der korpulente Grieche mit den dunkelgrünen Haaren lachte leise und rückte sich den durch die starke Brise verrutschten Anglerhut zurecht. „Ich glaube du brauchst echt noch ein bisschen Nachhilfe in dem Gebiet.“ – „WAS?“ Und wieder kam sie sich ziemlich dumm vor. Er kniete sich zu ihr herunter und tippte ihr erst auf die Stirn und dann auf die Brust. „Du musst im Kopf wissen wer du bist und im Herzen was du sein willst.“ Wendy verzog das Gesicht. „Pack mich nicht an und hör auf hier so rumzuschmalzen, Mann!“ Sie brachte einen Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und Costas. „Dieser Junge hier...“, Costas deutete auf Neil, dessen Kirit gerade mit einer Konterattacke begonnen hatte und mit den Flügeln Druckwellen auf Zeph schleuderte, „hat sich dafür entschieden, nicht mehr der unbeliebte Junge vom Land zu sein. Er will, dass wir ihn wahrnehmen und er verschafft sich Gehör, indem“, er grinste und seine Augen verengten sich dabei zu Schlitzen, „komm sag schon, Wendy, du hast es verstanden!“ Die Rothaarige kratzte sich die Stirn. „Indem...“ Jede Druckwelle erzeugte einen anderen Ton und jede neue war lauter als die zuvor. Jetzt endlich verstand Wendy es. „Indem er mit Schallwellen um sich schießt!“ Costas hob den Daumen. „Bingo! Kirit-Lektion Nummer 1: dein Kirit ist, was du bist. Und du bist demnach ... ziemlich heiß!“ ... BATSCH! ... Dreimal hintereinander. Eine links, eine rechts und noch einen Stoß in die Magengegend hinterher, der dem Griechen die Tränen in die Augen trieb. „Was... Was fällt dir ein, ich bin immerhin dein Lehrer! Etwas mehr Respekt...“ RUMMS! Die Wucht der letzten Attacke hatte es in sich. Zeph wurde aus dem Ring geschleudert, fiel über Costas und riss ihn mit sich. Beide überschlugen sich mehrmals und blieben als ein staubiges, verwirrtes Bündel liegen. „...bitte?“ Wendy war im richtigen Moment ausgewichen und sah ihn mit einem „Geschieht dir ganz recht, Herr Lehrer“-Blick an. Und als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, sagte Zeph auch noch: „Gut, dass du dick bist. Bin weich gefallen, hat nicht weh getan.“ Nie wieder so einen Spruch. Das war eindeutig schlechtes Karma. „Sieger ist Neil!“, ignorierte Balotelli gekonnt die Situation am Spielfeldrand und ging auf den Gewinner zu, „mit seinem Kirit“, er geriet ins Stocken, „wie heißt der gute Junge eigentlich?“ In Neils Kopf drehte sich alles und er musste sich zusammenreißen, um nicht wie ein Betrunkener zu sprechen. „Der Junge ist eigentlich ein Mädchen. Und sie heißt ... Darter!“ Dann fiel sämtliche Anspannung von ihm ab. Sein Gesicht wurde kreidebleich, er krümmte sich nach vorne und erbrach sich heftig. Vorsichtig massierte der Teamchef die Schultern seines neuen Schützlings, der einfach nicht aufhören konnte zu würgen. „Das muss wohl der Schock sein. Aber das hast du gut gemacht, Piccolo! Wie ich es nicht anders erwartet habe!“ Er reichte ihm ein Taschentuch, damit er sich den Mund abwischen konnte. Doch als er ihm helfen wollte sich hinzusetzen und zur Ruhe zu kommen, erklang am anderen Ende der Wiese eine empörte Stimme. „WAS macht ihr denn hier?“ Vier Grazien aus dem dritten Schuljahr tauchten auf und schwangen aggressiv ihre Tennisschläger. Sofort verfiel Balotelli wieder in den Glitzermodus. „Buongiorno7, meine Damen, womit haben wir die Ehre?“ Die Mittlere rümpfte die Nase und würdigte den Blonden keines Blickes. „Na wir jedenfalls nicht! Ich hoffe doch ihr macht DAS DA schnell weg“, sie deutete auf das Erbrochene – was Neil ziemlich peinlich war – und machte dann mit ihrem Schläger eine weite Bewegung, „immerhin ist DAS HIER Baugebiet für unseren neuen Tennisplatz.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)