Misfits: Herzkönig von Hushpuppy ({boyxboy}) ================================================================================ Kapitel 29: Alles was zählt, seid ihr. -------------------------------------- Beeindruckt und überrascht zugleich betrachtete ich das Gemälde, welches bereits ein wenig eingestäubt war und ein wenig hinter Kaitos vollbeladenen, unordentlichen Schreibtisch stand. Darauf zu erkennen war ein buntes Chaos aus unterschiedlichen Motiven, die alle in sich eine Bedeutung hatten, doch erst gemeinsam ein fantastisches Bild ergaben. Ich merkte erst, dass mein Mund ein wenig offen stand, als Gaara mich an stupste und mir einen Malblock hin hielt. „Schau dir die Portraits mal an“, sagte er und klappte das Cover auf. Das erste Portrait war eins von Samantha, man erkannte sie sofort. Alles mit Bleistift gezeichnet, doch wunderbar schattiert und detailliert, die kleinen Lichtflecken in ihren Augen ließen sie lebendig erscheinen. Wie konnte ich Kaito nun fast ein halbes Jahr lang kennen, ohne erfahren zu haben, dass er ein Künstler war? Und was für ein Künstler. Er konnte wirklich, wirklich gut malen und zeichnen. Seine Bilder waren fantastisch. „Das hätte ich ihm niemals gegeben“, gab ich murmelnd zu, klappte Samantha um und erkannte als Nächstes Noah mit großen, glitzernden Augen und leicht geöffnetem Mund. Selbst seine Sommersprossen sahen so echt und gut aus. „Ich weiß. Niemand glaubt, dass Kaito gut zeichnen kann“, sagte Gaara schulterzuckend und ließ sich auf dem Bett seines besten Freundes nieder, auf dem ein Haufen Klamotten herum lagen. Sein Zimmer war mit Abstand einer der Unordentlichsten, die ich je gesehen hatte. Leere Pizzakartons, Tüten von McDonalds, Videospielhüllen, alte CDs und DVDs, Klamotten, Schulsachen, leere Flaschen, alles lag kreuz und quer im kleinen Raum herum. Über der Stehlampe neben dem Kleiderschrank, der dem Fußboden zu urteilen nach vermutlich komplett leer war, hing eine Boxershorts. Kaito befand sich im Badezimmer, er war gerade erst mit Duschen fertig gewesen als wir kamen und so langsam dämmerte es mir, wer von den Beiden derjenige war, der zum Unterricht ständig zu spät kam und welcher einfach mit ging, weil es der beste Freund war. Ich blätterte durch die Portraits und hielt bei einem von einer jungen Frau an, deren Hautfarbe dunkel war. Ihre Haare waren kräftig und tiefschwarz. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich überlegte ein wenig bis mir wieder einfiel, dass sie Kaitos Schwester war, die uns zu Gaaras Geburtstag gefahren hatte. „Wie heißt sie noch mal?“, fragte ich und setzte mich neben Gaara, der sich eine Zigarette anzündete und einen bereits randvollen Aschenbecher vom Nachttisch auf die Decke stellte. „Aljona“, antwortete Gaara. „Ist sie seine Adoptivschwester?“ „Nein, Halbschwester. Sie haben unterschiedliche Väter.“ „Aber sie wohnt nicht hier, oder?“ Kaito lebte mit seiner Mutter in einer sehr kleinen Wohnung. Zwar hatte ich nur Flur und Kaitos Zimmer gesehen, doch das reichte vollkommen um einzuschätzen, wie klein hier alles war. Ganz anders als Noahs oder Gaaras Häuser, ganz anders als meine Wohnung. „Nein, sie wohnt mit ihrem Freund zusammen. Die Zwei haben aber nie zusammen gewohnt. Aljona hat mit, ich glaube 16, Kontakt mit ihrer Mutter aufgenommen und dadurch dann auch Kaito kennen gelernt“, erklärte Gaara und ich blickte ihn verdutzt an. Nach ein paar Sekunde brachte er bitter hervor: „Sie hat Aljona direkt nach der Geburt abgegeben.“ „Warum hat sie das gemacht?“, fragte ich verwirrt. „Und warum hat sie das nicht bei Kaito gemacht?“ Ehe Gaara antworten konnte, ging die Tür auf und Kaito trat ein. Er wirkte gestresst, dabei hatten wir noch mehr als genug Zeit, um zum Kino zu kommen, abgesehen davon war Kaito nie gestresst. Erst wenn es darum ging noch etwa zehn Minuten zu einem Test zu haben, zu dem er nichts gelernt hatte, dann konnte er ein wenig in Panik geraten, doch ansonsten ging er alles entspannt an. Schnell zog er sich durchgetretene Sneakers an und warf eine Lederjacke über seine weite Stoffjacke, deren Kapuze er über seinen geschorenen Kopf zog. Auch ich hatte mich mal wieder in Kapuze gekleidet und mein Pony wuchs langsam aber sicher auf meine Augenbrauen zu. Ich war froh, dass es wieder länger war, ich mochte diese kurzen Haare nicht. „Wir haben noch Zeit, Kaito“, sagte ich, als er seine Schultasche hektisch nach seinem Portemonnaie durchsuchte. „Nein“, widersprach Kaito und drehte sich zu uns um, doch der Blick lag auf Gaara. „Sie ist wieder -“ Er stockte und dann passierte, was zwischen den Beiden beinahe ständig passierte: Sie kommunizierten mental miteinander. Ein einfacher Blickwechsel und Gaara verstand, was Kaito wollte und Kaito verstand, was Gaara dazu sagen würde. Anstatt weiter nach seinem Geld zu suchen, wollte Kaito das Zimmer verlassen und Gaara sprang vom Bett auf, um die Suche zu übernehmen, doch als der Russe die Tür aufmachte, stand dort schon jemand. Im ersten Moment dachte ich eine fremde Frau hätte sich in die Wohnung verlaufen, erst im zweiten Moment verstand ich, dass dies Kaitos Mutter war. Und gleich darauf wurde mir klar, dass Kaito seinen Satz vermutlich mit dem Wort „zugedröhnt“ beendet hätte. Vor Entsetzen klappte mir der Mund auf und ich musterte diese Frau, die dafür, dass sie zwei Kinder hatte, noch recht jung aussah, doch so genau konnte ich das nicht beurteilen, denn sie war abgemagert. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, Schatten hatten sich darunter gebildet und die braunen Iriden waren kaum zu erkennen, denn die Lider waren zu Schlitzen verengt. Ihre braunen Haare waren zerzaust und buschig. In einer Hand hielt sie eine Zigarette, mit der Anderen hielt sie ihren Morgenmantel vorne zusammen. „Ich habe einen neuen Penis-Witz“, brachte sie langsam und schwerfällig herüber. „Den hat mir Monika bei gebracht...“ Sie ließ ihren Morgenmantel los, der ein einfaches Nachthemd entblößte und hielt die Hand neben ihre rechte Wange. Mit der Zunge drückte sie gegen ihre linke Wange und fuhr mit ihr in dieselben Richtungen, in die sie auch ihre zur Faust geballten Hand bewegte. Nach ein paar Sekunden machte sie Würgegeräusche, tat dann so als müsste sie sich übergeben und verbeugte sich tief. Dabei wäre sie beinahe umgefallen, hätte Kaito sie nicht festgehalten. „Vielen Dank, Annabell Petrov der Name, ich trete noch die ganze Woche auf“, sagte sie, während Kaito sie sanft aus dem Zimmer schob. Er sprach zu ihr leise auf russisch und sie behauptete: „Es ist unhöflich vor deinen Gästen nicht deutsch zu sprechen. Habe ich dich denn gar nicht erzogen?“ Doch Kaito redete weiter auf russisch. Ich verstand kein Wort, doch in seiner Stimme schwang deutlich Scham und Betretenheit. Erst als die Tür hinter den Beiden zuging, konnte ich meinen Blick abwenden und noch immer mit offenem Mund Gaara anschauen, der dort mit Kaitos Schultasche in der Hand stand und wie überfahren aussah. Verbittert zog er Kaitos Portemonnaie aus der Tasche, dann schaute er mich mit einem Blick an, als würde er mich auffordern über die Situation zu lachen, doch ich konnte mich nicht erinnern je etwas unlustigeres gesehen zu haben. Nach einigen Momenten des Schweigens und Wartens machte Gaara vorsichtig die Tür auf und schaute in den Flur, dann drehte er sich zu mir und fragte, ob ich all meine Sachen hätte. „Ja“, antwortete ich krächzend. „Dann können wir gehen“, sagte Gaara. Wir verließen die Wohnung, Kaito konnte mich nicht mehr ansehen und ich merkte zu spät, dass ich ihn anstarrte. Verlegen senkte ich meinen Blick, doch ich sagte nichts. Kaito sagte nichts, Gaara sagte nichts und wir sprachen nie wieder über dieses Erlebnis. Am Mittwoch bekamen wir unseren ersten Physiktest des zweiten Halbjahres zurück und ich grummelte ein wenig über meine vierzehn Punkte. Nur einen Punkt mehr und es wäre eine Eins Plus, so hatte ich bloß eine glatte Eins und dann hatte ich diesen einen Punkt auch noch wegen zwei dummen Rechenfehlern einstecken müssen. Aus dem Augenwinkel erkannte ich auf Gaaras Test ebenfalls vierzehn Punkte. Er zeigte keinerlei Reaktion zu dieser Note, als wäre es ihm egal und verstaute das Blatt nach nur einem Blick darauf in seiner Umhängetasche. Knurrend knüllte Kaito neben ihm den Test zusammen. Er schob das Kinn ein wenig vor, was seinem kantigen Gesicht einen aggressiven Ausdruck verlieh und murmelte etwas von „Dieses scheiß Arschloch“, womit er zweifelsohne unseren Lehrer meinte. Vorher hätte ich nun vermutlich gedacht, dass der Lehrer nichts dafür konnte, wenn Kaito nicht lernte, aber nun wusste ich, dass er eine drogenabhängige Mutter zuhause sitzen hatte, die von Hartz VI lebte. Rechtzeitig bemerkte ich, dass ich ihn schon wieder mitleidig anstarrte und blickte stattdessen rüber zu Noah, der traurig seinen Test betrachtete. Sam seufzte neben mir genervt: „Schon wieder nur drei Punkte.“ Am liebsten hätte ich sie alle Drei gleichzeitig in den Arm genommen und getröstet. „Vielleicht sollten wir anfangen uns mehr zu helfen“, sprach ich einen Gedanken aus, der mir spontan kam. „Gaara und ich sind gut in Physik -“ „Gaara und du sind gut in allem“, entgegnete Sam Augen rollend. „Nichts für ungut, Jungs. Ich habe euch beide lieb, das wisst ihr, aber ihr könnt einem mit diesen guten Noten echt auf den Sack gehen.“ „Das sagst du“, lachte Noah sarkastisch auf. „Nur weil du in zwei Fächern schlecht bist, musst du nicht solche Reden schwingen. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man ständig schlechte Noten schreibt -“ „Und du auch nicht“, fuhr Kaito ihm hart ins Wort und ich spürte die wachsende Anspannung, die sich über die Gruppe legte. Sofort fühlte ich mich dafür schuldig, schließlich hatte ich mit dieser Diskussion angefangen. „Können wir uns jetzt bitte nicht streiten“, sagte Sam. In der Klasse hatten sich überall Gespräche breit gemacht und der Lehrer diskutierte mit einer Schülerin über ihre Note. Sam wandte sich Kaito genervt zu: „Ich fände es super, wenn du mehr auf deinen Tonfall achten würdest und darauf wie du in letzter Zeit mit uns umspringst. Deine schlechte Laune ist unerträglich, ernsthaft.“ „Ich gebe mir schon Mühe“, entfuhr es Kaito. „Kann ich nichts für, wenn du so empfindlich bist!“ „Ich und empfindlich?“, fragte Sam spöttisch. „Mit euch als beste Freunde? Ich lass mich nur nicht gerne dumm anfahren!“ Kaitos Nervosität wurde schlimmer. Bei der Sneak hatte ich ständig aus dem Augenwinkel seine zuckenden Beine gesehen. Sobald er ruhig sitzen musste, trommelte er mit den Fingern und Füßen und jetzt, da er mit Sam stritt, wurde das Zucken nur noch schlimmer. Gaara saß nur daneben, hatte die Lippen aufeinander gepresst und sagte gar nichts. Stattdessen blickte er aus dem Fenster. Es schneite nicht mehr. Berlin war überzogen von einem Schleier getautem Schnee und langsam wurde es sogar wärmer. „Ich fahre euch nicht dumm an“, erwiderte Kaito. „Ich rede ganz normal.“ „Machst du nicht“, sagte Sam entschieden und blickte mich an. „Oder Bambi?“ „Eh eh.“ Überrumpelt davon, dass ich in diese Diskussion einbezogen wurde, blickte ich von Sam zu Kaito und wusste nicht, was ich sagen sollte. Zum Glück schaltete sich Gaara nun doch ein und sagte beinahe lahm: „Zieh Lukas doch da nicht mit rein.“ „Ich brauche nur Unterstützung. Von euch Beiden kann ich die ja nicht erwarten“, meinte Sam und schaute erst zu Gaara und danach zu Noah, der verlegen auf seine Hände schaute. „Ich finde schon, dass du ein bisschen fies bist in letzter Zeit“, gab er kleinlaut zu. So kannte ich Noah gar nicht und diese Streiterei kannte ich ebenfalls nicht. Doch wenn ich so nachdachte, dann war Kaito in den letzten paar Tagen tatsächlich sehr schlecht gelaunt und zynisch gewesen. Vermutlich war es mir nicht so sehr aufgefallen, weil ich ihn für seine Mutter noch immer bemitleidete und mich furchtbar fühlte, weil ich ständig so schlecht über ihn urteilte. „Ihr sagt ihr wollt mich unterstützen, aber eigentlich macht ihr es nicht. Ich beschwert euch nur darüber, dass ich schlecht drauf an. Niemand hat gesagt, dass es einfach wird, wenn ihr mir dabei helfen wollt. Aber scheinbar wollt ihr nicht helfen“, zischte Kaito mit gedämpfter Stimme, damit nur wir es hören konnten. Verwirrt aber höchst interessiert verfolgte ich das Gespräch. „Natürlich wollen wir das, aber ich habe dir schon gefühlte hundert Mal gesagt, dass es so nicht geht“, sagte Sam ebenfalls leiser. „Du hast es schon oft genug versucht. Nur, weil du älter wirst, muss das nicht heißen, dass du eine bessere Selbstbeherrschung erlangst. Alleine kannst du es nicht schaffen und wir sind keine Therapeuten. Herrgott noch mal, wir nehmen doch alle selbst Marihuana und werfen uns bei lauten Partys ne Tablette ein. Wie sollen wir da die beste Hilfe für dich sein?“ Kaito fuhr sich mit beiden Hände über das Gesicht, rieb sich die haselnussbraunen Augen und spreizte dann ein wenig die Finger, damit er Sam dadurch anschauten konnte. In seine Handflächen hinein murmelte er: „Ihr seid der einzige Grund wieso ich überhaupt einen Entzug machen möchte.“ „Es geht auch um deine Zukunft“, setzte Noah an, doch Kaito schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht über die Zukunft nach. Wahrscheinlich schaffe ich mein Abitur nicht, wir haben ohnehin kein Geld um uns eine Uni zu leisten, ich bin perspektivlos, jetzt schon. Alles was zählt, seid ihr.“ Darauf folgte ein längeres Schweigen. Mir fiel auf, dass Kaito sich bei seinem letzten Satz Gaara ein wenig zuwendete als sei besonders er gemeint, was vermutlich auch der Fall war. Ich kam mir seltsam fehl am Platz vor, denn ich gehörte sicherlich nicht zu den wichtigsten Menschen in Kaitos Leben. Endlich sagte Gaara wieder etwas und es war nur ein Trockenes: „Das war ultra schwul.“ „Du bist derjenige von uns Beiden, der auch mal Männer fickt“, meinte Kaito und nahm die Hände wieder von seinem Gesicht. Sein Grinsen war wieder zurück und Gaara erwiderte es. Es klingelte zur nächsten Stunde und auf dem Weg klärten Sam und Kaito ihre Unstimmigkeit. Eine genaue Lösung für Kaitos Entzug wurde jedoch nicht gefunden. Während wir vor dem Klassenraum warteten, wurde ich über die Situation aufgeklärt. Dass Kaito bereits seit Jahren von Koks abhängig war und immer wieder versuchte damit aufzuhören, doch ständig rückfällig wurde. Wenn er zu lange nicht mehr gekokst hatte, stellten sich bei ihm depressive Phasen, wie auch Wutphasen und lang anhaltende Nervosität und Schlaflosigkeit ein. Ich konnte mir vorstellen, dass auch eine drogenabhängige Mutter nicht gerade hilfreich war, um einen Entzug zu machen. Ich kam mir mit Informationen überladen vor. Über den Rest des Tages hinweg, war die Geschichte wie abgeschlossen. Mir fiel Kaitos Nervosität und seine dunklen Schatten unter den Augen viel mehr auf als sonst, außerdem rauchte er beinahe so viel wie Gaara immer rauchte, doch alle Schüler verhielten sich ansonsten wie jeden Tag. Kaito lachte über Scherze, Gaara machte Scherze, Noah brachte seine lustigen, sarkastischen Kommentare, Sam zeigte ihre weibliche Dominanz und ihr Selbstbewusstsein. Sie verhielten sich wie immer und da fragte ich mich, ob dieses Problem mit Kaito vielleicht nur für mich etwas besonderes war und für sie Alltag. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)