Misfits: Herzkönig von Hushpuppy ({boyxboy}) ================================================================================ Kapitel 17: Einkaufstour mit Noah --------------------------------- In Nordrhein-Westfalen hätte vermutlich jeder Noah einen schiefen Blick zugeworfen, doch wir wohnten in Berlin und hier gab es noch ganz andere Gestalten, denen ich schiefe Blicke zuwarf. Nachdem ich nun fast ein halbes Jahr hier lebte, hatte ich mich an den Anblick von Cybergothics, Hardcore Emos und Hopper Mädchen, die selbst im Winter bauchfrei trugen, gewöhnt und war auch nur halb so überrascht wie ich es vor einem halben Jahr gewesen wäre, als ich Noah gegenüber stand. Heute trug er eine Hose in Regenbogenfarben, die mir absolut nicht gefallen wollte und unter seiner dunklen Winterjacke blitzte ein weiß-pinker Pullover hervor. Mir gefiel das Outfit nicht, doch musste es mir auch nicht gefallen. Sollte Noah doch tragen was er wollte. Überraschter war ich dann doch als er mich mit einer Umarmung begrüßte. „Danke, dass du mitkommst“, lächelte er als wir wieder auseinander gingen. „Ich hasse es alleine einkaufen zu gehen. Fynn hat keine Zeit, genauso wenig wie Gaara, Kaito, Sam oder sonst welche Freunde von mir und mein Vater muss arbeiten. Du warst meine letzte Hoffnung!“ Und deine letzte Wahl. Ich könnte mich ohrfeigen, dass mir dieser Gedanke in den Kopf kam. Natürlich wollte Noah lieber mit seinem Vater, seinem festen Freund und seinen besten Freunden shoppen gehen als mit einem Kerl, den er gerade mal ein paar Wochen lang kannte und das noch nicht mal wirklich gut. Obwohl ich mir dies einredete, wurde ich das schlechte Gefühl in mir nicht mehr los. Wir zogen durch halb Berlin auf der Suche nach passenden Geschenken. Ich war schon immer schlecht im Geschenke machen gewesen und hatte stets ein schlechtes Gewissen, weil mir die Geschenke, die ich im Endeffekt kaufte, nicht gefielen. Noah machte dies nicht gerade besser, denn er hatte tolle Ideen für seine Familie und Freunde. Jedoch auch genug Geld, um den ganzen Spaß zu bezahlen. So kaufte er seinem Vater zwei Konzertkarten in einem Ticketstore und ich schaute mich derweil bei den Prospekten um. „Musicals“, murmelte ich und griff nach einer Broschüre für Tanz der Vampire. „Meine Mum ist ne ganze Zeit lang in Musicals gegangen und wollte sich schon immer mal Tanz der Vampire anschauen...“ „Dann hast du doch was für sie“, sagte Noah. „Hmm...“ Ich schaute nach den Preisen und meine Laune sank. „So viel Geld habe ich gar nicht. Ich denke mir immer, dass ich vielleicht neben der Schule arbeiten gehen sollte, damit ich mehr Geld habe, aber irgendwie kommt es dann doch nie dazu. Wo arbeitest du eigentlich?“ „Nirgends“, sagte Noah und klang verwirrt. „Und woher hast du dann das ganze Geld?“, fragte ich und deutete auf die Tickets in seiner Hand. Zusammen hatten sie hundert Euro gekostet. „Taschengeld“, antwortete Noah Schulterzuckend. „Hast du das ganze Jahr über gespart oder was?“ „Nein, ich bekomme im Monat 150 Euro Taschengeld.“ Mir fiel die Kinnlade herunter und Noah fing an zu lachen. „Hundert von meinem Vater und fünfzig von meiner Mutter“, erklärte er. „Deine Eltern geben dir getrennt Taschengeld?“, krächzte ich und kam mir dämlich vor mit meinen dreißig Euro Taschengeld. Als Mum das Geld erhöhen wollte, hatte ich ihr gesagt sie soll es sein lassen. Schließlich verdiente sie nicht sehr viel und hatte niemanden mehr, der sie bei den Finanzen unterstützen könnte. „Das ist der Vorteil von getrennten Eltern“, grinste Noah schief. „Und ich habe von meiner Mum im Voraus zweihundert Euro Weihnachtsgeld bekommen, dabei kaufe ich ihr seit fast drei Jahren keine Geschenke mehr, nicht einmal mehr zum Geburtstag. Das ist dann wieder rum der Vorteil, wenn ein Elternteil das alleinige Sorgerecht hat. Das andere Elternteil wird immer versuchen sich deine Liebe zu erkaufen. Ich würde noch mehr Geld bekommen, wenn Naomi nicht wäre.“ „Naomi?“ „Meine Zwillingsschwester, sie wohnt bei unserer Mutter und kommt alle zwei Wochen Dad und mich besuchen“, erklärte Noah. „Für Naomi brauche ich auch noch ein Geschenk... hast du eigentlich Geschwister?“ „Ja, eine kleine Schwester.“ Wir verließen gemeinsam den Ticketstore und setzten unseren Weg fort und ich fühlte mich arm. Bei so einem Taschengeld war es ja kein Wunder, dass Noah ständig neue Klamotten trug. Ich war neugierig, was seine Eltern arbeiteten und warum sie sich getrennt hatten, dass ich vollkommen vergaß, dass es besser wäre das Thema zu wechseln. Schließlich ging es um Familie und wenn Noah Gegenfragen stellen würde... aber daran dachte ich in diesem Moment nicht. Er fragte ein wenig über meine Schwester, wie alt sie war und wo sie zur Schule ging und ich war so dämlich zu fragen: „Und deine Schwester?“ „Willst du wissen wie alt sie ist?“, fragte Noah und lachte. Ich wurde rot. Natürlich war Naomi genauso wie Noah 17 Jahre alt. „Nein, ich meinte, was sie macht. Macht sie auch Abitur?“ „Ja, aber sie geht natürlich auf ein anderes Gymnasium.“ Noah blieb vor einem Geschäft mit Schuhen stehen. „Sie fährt total auf Schuhe ab, vielleicht sollte ich ihr welche kaufen. Du könntest deiner Schwester auch welche kaufen?“ „Meine Schwester hat ein Paar Sneakers und ist glücklich damit. Sie trägt sie immer egal zu welcher Jahreszeit. Sie ist nicht die Art von Mädchen, die auf Shoppen und Klamotten abfahren“, seufzte ich. Wenn Alex doch nur diese Art von Mädchen wäre, dann wäre es sehr viel einfacher ihr Geschenke zu kaufen. Obwohl ich sie dann vermutlich nur halb so gut leiden könnte. Wir betraten das Geschäft und mir fiel wieder ein wie gerne meine Mutter Schuhe mochte, nur kannte ich mich überhaupt nicht mit ihrem Geschmack aus und ließ es lieber bleiben ihr welche zu kaufen. „Wohnen deine Mutter und deine Schwester noch in Berlin?“, fragte ich während sich Noah hochhackige Schuhe anschaute und dabei von einer anderen Kundin dumm angeschaut wurde. „Ja, aber sozusagen am anderen Ende.“ „Was machen deine Eltern eigentlich, dass sie so viel Geld haben?“ Ich ertappte mich dabei wie ich selbst nach Schuhen für mich Ausschau hielt. Normalerweise musste Mum mich immer zwingen mit ihr mitzukommen, dass ich mir neue Schuhe zulegte und ich kam auch immer erst mit, wenn meine aktuellen Treter auseinander fielen. „Mein Vater ist Leiter eines Buchverlages“, antwortete Noah. „Und meine Mutter arbeitet als Lehrerin. Und deine Eltern?“ Jetzt wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Sollte ich Noah anlügen und ihm einfach sagen, was mein Vater vor seinem Tod gemacht hatte oder sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Alleine der Gedanke daran trieb mir einen Kloß in meinen Hals und ließ mich schwer schlucken. Er war bereits ein knappes dreiviertel Jahr tot, doch ich hatte die Worte nie über meine Lippen gebracht. Bisher hatte ich nie jemandem sagen müssen, dass er gestorben war. Und ich wollte es auch nicht sagen müssen. „Meine Mutter ist Krankenschwester“, antwortete ich und stockte. „Und dein Vater?“ Noah blickte mich nun direkt an. Seine blauen Augen strahlten geradezu wie sie es immer taten. Tot. Drei Buchstaben, ein so kurzes Wort, ich musste nur dieses kleine Wort sagen, es würde reichen und Noah würde nicht nachfragen. Er war nicht so unsensibel und man sah mir immer an wie ich mich fühlte. Er würde mir ansehen, dass es mir schwer fiel darüber zu reden. Auf jeden Fall. „Architekt.“ „Okay...“ Noah warf mir einen langen Blick zu. Ich hatte das Gefühl, dass er mir nicht glaubte. Vielleicht, weil mir das Wort am Kloß hängen geblieben war und nur schwerfällig über meine Lippen kam. Noah kaufte für seine Schwester Schuhe und ich rief Alex an, um sie zu fragen, ob sie bereits ein Geschenk für Mum besorgt hatte. Wie immer ließ sie mich nicht im Stich und sagte im selben Zug sie hätte sich bereits etwas für sich selbst ausgesucht, dass ich ihr schenken sollte. Aber da es drei Tage vor Weihnachten war, sollte ich ihr einfach die zehn Euro an Heiligabend geben und sie ein paar Tage später beim Einkaufen begleiten. Gemeinsam mit Julian, damit er mich und ich ihn besser kennen lernte. „Und woher willst du wissen, ob ich nicht schon etwas für dich habe?“, fragte ich empört. „Weil du Lukas bist“, seufzte Alex. „Ich kenne dich doch und ich bin dir auch nicht wütend. Wenn du Julian eine Chance geben könntest, wäre das das größte Geschenk, das du mir machen könntest. Bitte, es ist mir unheimlich wichtig, dass ihr euch versteht!“ „Hmm.“ Ich grummelte genervt, sagte jedoch ihrem Vorschlag zu. Somit müsste ich in den Ferien einen Tag mit dem aufgeblasenem Idioten verbringen. „Hat deine Schwester eigentlich einen Freund?“, seufzte ich als ich mein Handy wieder verstaute. „Nein“, antwortete Noah. „Sie hatte bisher noch gar keine Beziehung und ist noch Jungfrau.“ „Ich wünschte meine Schwester wäre auch so“, sagte ich gequält und der Junge lachte. Wir setzten unsere Tour fort. Gaara bekam von Noah ein Bandshirt von Metallica gekauft und ich kaufte Genesis ein gelb-grün-rotes Top mit einem Portrait von Bob Marley. Das Top war super schön geschnitten und ein wenig durchsichtig. Genesis würde es bestimmt gefallen. Danach kaufte Noah ein paar Freunden, die ich nicht kannte Kleinigkeiten. Unsere Tour führte uns in einen Tabakladen in dem es viel zu stark nach Rauch roch und ein Mann mit Tränensäcken unter den Augen und schläfriger Miene hinter seiner Theke Rätsel löste. Missbilligend stand Noah vor einer Bong. Ich hatte noch nie eine in Wirklichkeit gesehen, immer nur in Filmen oder im Internet. „Kaito wollte unbedingt mal eine eigene haben, wir benutzen immer meine oder die von Gaara“, erklärte er. Ich war verwundert, dass man sich hier einfach so eine Bong kaufen konnte und ebenfalls verwundert, dass Noah eine besaß. Ich hätte nicht erwartet, dass er Drogen nahm, bei Gaara habe ich es irgendwie erwartet. Und trotzdem enttäuschte es mich. Warum enttäuschte es mich, verdammt? „Dann kauf sie halt“, zuckte ich die Schultern. Mir gefiel der Laden nicht und ich wollte so schnell wie möglich wieder raus, weil mich der Rauch benommen machte. „Nein.“ Noah seufzte schwerfällig. „Kaito hat Probleme mit Drogen. Ich will ihn eigentlich nicht noch süchtig nach Marihuana machen.“ Ein Grund mehr Kaito nicht zu mögen. Wenn er Gaara mit diesem Scheiß ansteckte, würde ich sogar anfangen ihn zu hassen. Am Ende entschied sich Noah gegen die Bong. Wir zogen zu meinem Glück weiter und der Junge grübelte neben mir vor sich hin. Ich kaufte Lynn zwei Bücher und ein Armband mit Glückssteinen und dann brauchte ich nur noch etwas für Simon. Auch Samantha bekam von Noah Bücher gekauft, nur kaufte er direkt eine ganze Buchreihe. „Sie liebt die Serie dazu und sagt die ganze Zeit sie will mal anfangen die Bücher zu lesen, aber irgendwie macht sie es trotzdem nicht“, erklärte Noah. Wir mussten die Buchreihe unter uns aufteilen. Es waren zehn Bücher und jeder Wälzer hatte bis zu siebenhundert Seiten. Meine Schultern schmerzten bei dem Gewicht. „Die waren ziemlich teuer“, stellte ich fest. „Bezahlt du die alle alleine?“ „Nein, einen Teil bezahlen noch Gaara und Kaito“, antwortete Noah. „Aber egal... ich habe immer noch nichts für diesen Hornochsen von einem Russen. Vielleicht sollte ich ihm einen Aufenthalt in einer Entzugsklinik schenken. Oder einen Termin beim Jugendamt.“ „Was will er beim Jugendamt?“, fragte ich verwirrt. Noah schaute mich an als hätte ich ihn gerade etwas sehr Dämliches gefragt. „Was meinst du wo seine Drogensucht herkommt?“, entgegnete er nur, führte diese Aussage jedoch nicht weiter aus. Augenblicklich fühlte ich mich schlecht, weil ich eine so miese Meinung über Kaito hatte. Ich empfand Mitleid und wollte mehr über seine Eltern wissen, doch ich traute mich nicht zu fragen. Am Ende des Tages hatte ich nur nichts für Simon gefunden. Ich wusste nicht, was ich ihm kaufen sollte, um ihm zu beweisen wie wichtig mir seine Freundschaft war. Noah und ich besorgten uns chinesische Nudeln zum Essen und saßen nebeneinander in beißender Kälte auf einem der größten Plätze von Berlin. Obwohl es so kalt war, waren überall Leute unterwegs und ein riesiger, leuchtender Tannenbaum stand in der Mitte des Platzes. Alles war festlich geschmückt und leuchtete. Wir alberten ein wenig herum, dann bekam Noah eine SMS von seinem Freund und war für einige Momente beschäftigt. „Hmm“, meldete er sich schließlich wieder zurück. „Ich frage mich gerade...“ „Was?“ „Naja ich sitze hier in meiner Regenbogenjeans und meinem pinken Pullover und wechsle Liebesschwüre mit meinem Freund und frage mich nur, ob mein Leben noch schwuler werden könnte.“ Vielleicht war es die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme, die mich so zum Lachen brachte. Noah grinste nur und meinte mit vorwurfsvollem Ton: „Ja, ist doch so!“ Als wir mit Essen fertig waren, blieben wir noch ein wenig sitzen und unterhielten uns. Dann wechselte Noah schlagartig das Thema. „Darf ich noch mal was zu deinem Vater fragen?“, fragte er vorsichtig. Ich spürte wie Hitze in mir aufstieg. Plötzlich war mir überhaupt nicht mehr kalt und der Kloß in meinem Hals war wieder da und drückte schmerzhaft. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Stell dich nicht so an, du Idiot. Es ist ein dreiviertel Jahr her, dass er gestorben ist. „Ja“, brachte ich erstickt hervor. „Ist er wirklich Architekt? Du hast das vorhin so komisch gesagt und irgendwie... kann es sein, dass deine Eltern auch getrennt sind?“ Noah sprach behutsam und beugte sich ein wenig vor, während ich mehrmals hintereinander schluckte, um den Kloß los zu werden, doch er schien nur noch zu wachsen. „Nein, also...“ Ich suchte nach Worten und musste dabei schwer atmen. Memme. „Sie sind getrennt sozusagen, aber nicht so wie du denkst.“ Meine Stimme zitterte und Noah blickte mich entgeistert an. „Lukas?“, fragte er sorgenvoll. Es hörte sich an als würde er die nächste Frage kaum aussprechen wollen. „Lebt dein Vater noch?“ Tränen schossen mir in die Augen und ich schüttelte den Kopf. Jetzt war auch alles egal, ich spürte wie mit die salzige Nässe über die Wangen rinnte und versuchte gequält zu lachen, während ich erklärte: „Seit diesem Jahr nicht mehr, deswegen sind wir nach Berlin gezogen. Meine Mutter ist hier aufgewachsen und wollte nach seinem.... wollte hierher zurück. Du verstehst?“ Mitleid und Erschütterung waren Noah anzusehen. Er beugte sich vor und zog mich in eine tröstende Umarmung. Sicher hatte er es nur gut gemeint, doch das gab mir kurzerhand den Rest und ich begann zu weinen. Verzweifelt versuchte ich mich zu beruhigen. Es dauerte nicht lange bis ich es schaffte, doch ließ ich meinen Kopf auf Noahs Schulter liegen, während er mir über den Rücken strich und sagte, wie leid es ihm tat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)