Misfits: Herzkönig von Hushpuppy ({boyxboy}) ================================================================================ Kapitel 9: Einfache Physik -------------------------- Meine erste Physikstunde hatte ich gleich am Montag in der Vierten. Ich war bereits genervt, denn in Mathematik kam mir Lena entgegen, warf ihr langes, blondes Haar in den Nacken, lächelte mich dämlich mit ihrem glitzernden Schmollmund an und sagte: „Schöner, neuer Rucksack.“ Marvin, der sich an einem Pickel kratzte, und Katharina, die ihre Hochsteckfrisur richtete, kicherten auf ihren Plätzen und warfen mir feixende Blicke zu. Immer wieder musste ich über die Stunde hinweg dumme Sprüche einstecken, allesamt basierend auf dem Geschehnis mit dem Rucksack vor den Herbstferien. Ständig wurde mir diese Peinlichkeit vorgehalten und Katharina fragte mich ununterbrochen, ob ich das Foto sehen möchte. Ich traute mich nicht einmal „Nein“ zu sagen. Ich sagte gar nichts, sondern starrte stur an die Tafel und hörte zu, wie unser Lehrer versuchte unsere Erinnerungen an das Thema zurück zu bringen. Auf dem Weg zum Physikunterricht wurde ich von Marvin begleitet, der erst ein gutes Stück hinter mir ging und dann aufholte als wir den zweiten Gebäudeflügel betraten. Mich wunderte es kaum, dass es hier genauso aussah wie im Ersten. Nur mit dem Unterschied, dass es gleich im Foyer eine riesige Fläche an der Wand gab, die mit Graffiti verziert war. Ich konnte nicht umhin kurz stehen zu bleiben und das Kunstwerk zu betrachten, es sah fantastisch aus. Gerne wäre ich länger stehen geblieben, doch Marvin, der wie immer eine Mütze über seinem Kopf trug, war nun beinahe auf meiner Höhe, deswegen ging ich schnell weiter. Vergebens. Er ging nun gleich neben mir und für einige Sekunden hüllten wir uns in peinliches Schweigen, dann sagte Marvin: „War bisschen fies von Michael.“ Ich schwieg und wunderte mich über den fehlenden ironischen oder spöttischen Unterton. „Der Rucksack hat ja auch Geld gekostet und das Foto hätten sie auch nicht machen sollen. Ist voll übertrieben. Ich hab Lena aber dazu überreden können, es zu löschen. Ehrlich. Kommt nicht mehr vor, dass sie Fotos von dir machen werden. Katharina wollte dich eben nur ärgern, wir haben das Foto echt nicht mehr.“ Marvin klang freundlich und das verwirrte mich. Aus dem Augenwinkel warf ich ihm einen skeptischen Blick zu und sah, dass er mich stumm anlächelte. Ich hatte das Gefühl, dass er seine Worte tatsächlich ernst meinte und machte den fatalen Fehler ihm entgegen zu kommen. Statt ihn zu ignorieren oder einen bissigen Kommentar abzugeben, sagte ich: „Ehm... danke.“ Sein Gesicht verzog sich zu einem fiesen Grinsen, dann begann er zu lachen und fragte: „Hast du mir gerade etwa geglaubt?“ Ich spürte wie mir mal wieder die Röte ins Gesicht stieg, meine Finger zitterten leicht. Lieber schaute ich den Boden an als Marvin, der mir nun einen Klaps auf den Hinterkopf gab und sagte: „Scheiße, bist du naiv. So langsam solltest du doch mal wissen, dass niemand nett zu dir ist.“ Wir bogen zu den Physikräumen ein und ich beschleunigte meine Schritte, um schnell in der Klasse zu sein und mich an einen Platz zu setzen, der so weit weg wie möglich von Marvin und den anderen beiden Idioten war. Ich befürchtete schon, dadurch dass wir zwei Klassen waren, würde es kaum Plätze geben und ich würde dazu gezwungen sein mich neben die drei Idioten zu setzen, doch tatsächlich saßen sie auf der rechten Seite, während auf der linken Seite in den hintersten Reihen noch genug Platz war für sechs Personen war. Schnell ging ich nach hinten und ließ mich nieder. Die Tische im Physikraum waren weiß und recht groß. Sie standen immer zu dritt als Gruppentische zusammen, sodass sechs Schüler Platz nehmen konnten. Ich saß alleine an einem Gruppentisch und hoffte inständig, dass es so bleiben würde. Mein Blick glitt hinüber zu Marvin, Michael und Hendrik, die die Köpfe zusammen gesteckt hatten und über etwas lachten und diskutierten. Schließlich schauten sie sich gegenseitig auffordernd an und blickten dann zu mir herüber. Ich wusste, was sie vorhatten. Hektisch blickte ich mich im Klassenraum um nach einem freien Platz an einem der anderen Gruppentische, während die drei ihre Taschen über die Schulter warfen und aufstanden, mit der Absicht sich zu mir zu setzen. Mein Herz begann zu rasen und in meinem Kopf drehte sich alles, ich konnte mich kaum konzentrieren und betete bloß, dass sie sich doch nicht zu mir setzen wollten, doch alles wies genau darauf hin. Mein Blick war panisch auf sie gerichtet als es neben mir einen lauten Krach gab. Erschrocken zuckte ich zusammen und wandte den Blick von den drei Idioten ab, die in ihrem Tun zögerten. Neben mir hatte sich ein fremdes Mädchen nieder gelassen, ihren Ordner mit einem lauten Knall auf den Tisch gepfeffert, der genervte Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen wurde durch ein genervtes Stöhnen untermalen. Wie selbstverständlich saß sie genau neben mir, mit mir an einem Tisch, freiwillig. Sie zog aus der Tasche ihrer dünnen, schwarzen Lederjacke ein Haargummi und band sich damit die buschigen, hellbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Haut war von einem bräunlichen, gesunden Teint, ihr Gesicht herzförmig und ihre Gesichtszüge schmal. Ich empfand sie als recht hübsch. Ehe ich auch nur „Hä“ sagen konnte, waren die drei Idioten zu uns gekommen und Michael warf seine Tasche auf einen der Tische, da sagte das Mädchen: „Vergiss es, Hase.“ „Wie bitte?“, fragte Michael sie überrascht und auffordernd. „Wie hast du mich gerade genannt?“ „Ihr könnt hier nicht sitzen“, fuhr das Mädchen fort als hätte es seine Frage nie gegeben. „Es kommen noch drei Jungs, mit denen wir in einer Gruppe sind.“ „Wir?“, fragte Hendrik. „Ja, ich und Bambi.“ Sie zeigte bei dem Wort 'Bambi' mit einer kurzen Handgeste zu mir und erntete dafür von mir einen verwirrten wie auch vorwurfsvollen Blick. In erster Linie war ich jedoch überrumpelt und schaute wahrscheinlich nicht weniger verstört drein wie die drei Idioten, die ihre Münder kaum noch zu bekamen. Ich verstand nichts mehr. Welche Gruppen? Warum Bambi? Was war los und wer war dieses Mädchen überhaupt? „Was für Gruppen überhaupt?“, zischte Marvin hinter den beiden anderen. „Wir machen immer mit Lukas Teamarbeit“, log Michael ohne mit der Wimper zu zucken, ohne das Anzeichen eines fiesen Lächelns auf den Lippen, so als würde diese Aussage tatsächlich stimmen. „Wir sind voll gute Freunde und wollen mit ihm in einer Gruppe sein.“ „Wie niedlich“, sagte das Mädchen sarkastisch. „Wenn du fertig bist mit lügen, darfst du dann gehen. Ihr wollt hier nicht Stress schieben bis meine Jungs kommen.“ Mein Mund stand leicht offen und ich schaute gespannt zwischen dem Mädchen und Michael hin und her. Beide warfen sich die besten Todesblicke entgegen, die ich je zu sehen bekommen hatte und keiner von uns bemerkte, dass sich eine weitere Person in die Runde gesellte. Erst als er seine Tasche auf einem freien Platz gegenüber von Michael, Hendrik und Marvin fallen ließ, waren alle Blicke auf ihn gerichtet. „Ehm, gibt’s ein Problem?“, fragte der Junge in die angespannte Runde. Er war einer der kleinsten Jungen meines Alters, die ich bisher gesehen hatte, noch kleiner wie Simon, hatte einen dünnen, schwächlich wirkenden Körper, strohblonde Haare und besaß strahlend blaue, große Augen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so fantastische Augen gesehen und ich war vollkommen fasziniert von Farbe und Ausdruck. Seine blasse Haut wurde über Nase und Wangen von leichten Sommersprossen geziert und ich war ein wenig gefangen von seinem recht hübschen Gesicht, dass ich erst Sekunden später bemerkte, dass ich tatsächlich so fasziniert von einem Jungen war. Einem Jungen. Einer Person meines Geschlechts, ich dachte gerade, dass er niedlich wäre. Er war ein Junge. Ich löste schnell meinen Blick von seinem Gesicht und bemerkte nun erst wie er gekleidet war. Ebenfalls fiel mir jetzt erst auf, wie sich Michaels Lippen zu einem dreckigen Grinsen verzogen und Marvin und Hendrik musterten den Jungen mit abschätzendem und spöttischen Blick. Er trug einen schwarzen Pullover mit weitem Kragen, dessen Ärmel über seine Hände fielen und der so lang war, dass er beinahe bis zu seinen Knien ging. Darunter trug er eine enge, bunte Leggins. Darauf war wohl das Universum zu erkennen und dazu trug er schwarze Stiefel, bei denen der obere Teil nach unten abgeknickt war. Solche Schuhe sah ich öfters bei Mädchen, aber bisher noch nie bei einem Jungen. „Wie siehst du denn aus?“, fragte Michael mit diesem Ton in der Stimme, bei dem ich mich immer wie der letzte Dreck auf Erden fühlte. „Ich kann's dir sagen“, meinte Hendrik, der nicht mehr aus dem Grinsen raus kam. „Wie ne kleine Schwuchtel.“ „Ja, die Klamotten sind voll schwul“, pflichtete Marvin bei. Der blonde Junge verdrehte die Augen und sagte genervt: „Gott, zum Glück hab ich Typen wie euch, die mich daran erinnern, dass ich schwul bin. Ansonsten würde ich es glatt vergessen.“ Neben mir begann das Mädchen zu lachen. Die Idioten standen dort wie Idioten, überrumpelt und mit leicht geöffneten Mündern und vorne kam der Lehrer herein geschneit und rief, dass sich alle setzen sollten. Für einen Moment glaubte ich die Drei würden sich trotzdem hierher setzen und tatsächlich ertappte ich mich dabei dies zu hoffen. Zu gerne würde ich sehen, wie die beiden fremden Jugendlichen sie zusammen falteten, doch die Idioten waren klug und setzten sich zurück an ihre alten Plätze. „Ab sofort haben wir einige neue Schüler im Kurs“, sagte der Lehrer. „Für diese neuen Schüler gilt: Sucht euch Plätze in bereits bestehenden Gruppen. In meinem Unterricht werden immer Gruppen gebildet, die gemeinsam ein Projekt bearbeiten. Wir erweitern die Gruppen auf fünf bis sieben Personen, ich habe extra neue Aufgaben für euch ausgedruckt. Meine alten Schüler können euch in die Projekte einweisen.“ Er schaute sich im Klassenraum um und sein Blick blieb auf uns, ganz hinten in der Ecke, hängen. „Wo sind Kaito und Gaara?“ „Zu spät“, murmelte die halbe Klasse und ein paar Leute kicherten. „Wie immer“, sagte vorne ein Mädchen und der Lehrer verdrehte die Augen. „Ich sollte anfangen die Minuten, die sie zu spät kommen, zusammen zu zählen, das wird sicher einige Fehlstunden ergeben. Dann fangen wir schon mal ohne die Beiden an.“ Alle begannen ihre Ordner aufzuschlagen und Schreibsachen aus den Taschen zu packen. Der blonde Junge hatte ein weißes I-Phone ausgepackt, welches er unter der Tischplatte versteckte. Ein glückliches Lächeln zierte seine Lippen, während er eifrig SMS am tippen war. Mir schien es als hätten ihm die Sprüche und Blicke absolut nichts ausgemacht. Das Mädchen hingegen breitete ihre benötigten Schulsachen auf unserem Tisch aus und blickte mich dann an. „Danke“, sagte sie. „Hä?“ „Das solltest du sagen.“ „Oh.“ Mir stieg Blut ins Gesicht, schnell zog ich mir meine Kapuze über die Haare und murmelte gedrückt: „Danke.“ „Wer ist das überhaupt?“, fragte der blonde Junge und schaute von seinem Handy auf. „Das ist Bambi“, meinte das Mädchen. „Nein“, widersprach ich ein wenig trotzig und deutlich unsicher. „Ich heiße Lukas.“ „Ich bin Noah“, stellte sich der Junge mit einem Lächeln vor. „Und das ist Samantha.“ „Aber wehe du nennst mich so“, sagte sie zu mir. „Du kannst mich Sam nennen, so wie es alle machen.“ Aufgabenblätter gingen im Klassenraum umher und waren nun auch bei uns angelangt. Einige Schüler waren aufgestanden und hatten das Zimmer verlassen, was ich erst etwas seltsam fand, doch als Noah über die Blätter flog, verkündete er glücklich: „Es gibt einen praktischen Teil!“ Sofort war er auf den Beinen und mit den Worten „Ich geh schon mal den Kram dafür holen.“ hatte auch er das Klassenzimmer verlassen. „Noah ist richtig schlecht in Physik“, sagte Sam. „Er macht immer nur was in der Gruppe, wenn es einen praktischen Teil gibt. Wie bist du so in Physik?“ „Geht“, murmelte ich. „Na super“, seufzte Sam. „Ich kann kein Physik, Noah kann kein Physik, Kaito kann kein Physik, du scheinbar auch nicht. Bleibt mal wieder alles an Gaara hängen.“ Als wäre dies das Stichwort gewesen, kamen zwei weitere Schüler zu uns. Zwei Jungen, beide ein gutes Stück größer wie ich, die dem Lehrer ein „Entschuldigung“ zu riefen und sich schnell bei uns am Tisch nieder ließen. Einer von ihnen sah meiner Meinung ziemlich gut aus, er hatte ein freches Grinsen auf den Lippen und schaute von Sam zu mir, die mit einer ausschweifenden Handbewegung auf mich deutete und sagte: „Das ist Bambi und er gehört ab sofort zu unserer Gruppe.“ „Bambi, ja?“, fragte der Junge und lachte als ich Sam genervt anschaute. „Ich heiße Lukas“, murmelte ich. „Ich bin Gaara“, stellte der Junge sich vor. Mir fiel auf, dass er sehr stilsicher gekleidet war. Er trug ein eher enge, schwarze Jeans, die seinen schlanken Körper untermalte und seine Haut noch blasser wirken ließ wie sie ohnehin schon war. Er hatte schmale Gesichtszüge und einen perfekt geformten Nasenrücken auf den ich ein wenig neidisch war, seine Augen waren ebenfalls eher schmal, doch von einem starken braun-grün wodurch sie durchdringend wirkten. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm locker auf die Stirn. Ich hatte auch einmal so die Frisur gehabt, bevor ich mich entschieden hatte mein Pony einfach wie ein Vorhang vor meinen Augen zu tragen. „Und das ist Kaito“, nickte Gaara zu dem Jungen neben sich. Er war noch ein Stück größer wie Gaara, hatte sehr blasse Haut und einen gut gebauten, stämmigen Körper. Ich fand er sah ein wenig unfreundlich aus, woran die weiße Narbe, die sich von seiner Stirn bis auf seine Kopfhaut schlängelte nicht ganz unschuldig war. Hinzu kam, dass er sich die Haare komplett abrasiert hatte und hinter seinem Ohr eine selbst gedrehte Zigarette klemmte. Seine haselnussbraunen Augen schienen tief in den Augenhöhlen zu liegen und dunkle Augenringe formten sich darunter. „Hey“, grüßte Kaito knapp. „Was sind die Aufgaben?“ „Stehen auf den Blättern“, antwortete Sam. „Aber was bringt es dir, die Aufgaben zu kennen, du wirst ohnehin nichts machen.“ „Stimmt“, grinste Kaito. Mir fiel auf, dass er einen leichten, russischen Akzent hatte. „Wo ist Noah ab geblieben?“ „Geht den praktischen Teil holen.“ Während sich Kaito und Sam anfingen zu unterhalten, las ich mir die Aufgaben durch und spürte ständig die Blicke von Gaara auf mir liegen. In diesem Moment war ich mir sicher entweder paranoid oder von Gaara skeptisch und spöttisch angestarrt zu werden, weil mich einfach noch nie ein Schüler auf dieser Schule anders angeschaut hatte. Erst viel später erfuhr ich, dass alles ganz anders war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)