Misfits: Herzkönig von Hushpuppy ({boyxboy}) ================================================================================ Kapitel 2: Schweigen ist nicht immer Gold ----------------------------------------- Regel Nummer 2: Geh auf keinen Fall in der Kantine zwischen den Tischen durch, sondern immer den weiten Weg außen herum. Gehst du zwischen den Tischen durch, wird dir garantiert das Tablett aus der Hand geschlagen. Regel Nummer 3: Setz dich lieber vor die Tür der Kantine als in die Nähe der Idiotengruppe, sie werden dir garantiert Schokoladenpudding in den Nacken klatschen. Regel Nummer 4: Versuch nicht Kontakte zu knüpfen in dem du dich in der Kantine zu ein paar Leuten aus einem deiner Kurse setzt, sie werden dich doof anschauen, dich ignorieren oder sich wegsetzen. Regel Nummer 5: Setz dich nicht alleine an einen Tisch, ansonsten zischt dir jeder ein „Scheiß Opfer“ entgegen, der vorbei kommt. Regel Nummer 6: Versuch dich nicht zu wehren, wenn sie dich wieder mobben. Ein Wort über deine Lippen und sie verwenden es, um dich die nächsten zwei Wochen damit aufzuziehen. Regel Nummer 7: Am besten packst du einfach deine Sachen und ziehst in ein anderes Land! Drei Tage vor den Herbstferien hing ich mal wieder morgens über der Kloschüssel. In den letzten sechs Wochen, die ich nun schon in der Oberstufe verbrachte, hatte ich knapp zwei Wochen lang gefehlt, meistens, weil ich mich morgens übergeben musste. Bei dem Gedanken daran in die Schule zu gehen, schlief ich mit Bauchkrämpfen ein und wachte morgens mit umgedrehten Magen auf. Ich konnte kaum aufstehen, mir war schlecht, mein Kopf pochte und das jeden Morgen. Wenn ich schlief wurde ich entweder von fiesen Träumen über die Schule heimgesucht oder ich träumte, dass ich noch in Nordrhein-Westfalen lebte, mit Simon und Lynn in eine Stufe ging und morgens gemeinsam mit Dad frühstückte, nur um aufzuwachen und festzustellen, dass dies nicht der Fall war. Die Umzugskartons waren immer noch nicht alle ausgepackt und Mum versuchte mich vergebens zu einem Arzt zu schleppen, doch ich wollte nicht. Er würde mir sagen, dass es mir gesundheitlich eigentlich gut ging und meine körperlichen Beschwerden auf meiner Psyche beruhten, und dann wollte Mum vermutlich, dass ich zu einem Psychologen gehe. Das hatte sie schon einmal vorgeschlagen, um den Tod von Dad besser zu verarbeiten, aber ich wollte nicht zu einem Psychologen. Auf gar keinen Fall. Lichtblicke brachte mir Zeit, die ich mit Alex verbrachte und das Skypen mit Simon und Lynn, das alle zwei Tage anstand. Zum Glück hatte es keiner der drei so schlimm in der Schule wie ich. Meine beiden beste Freunde erzählten von coolen Leuten, die sie kennen gelernt hatten und mit denen ich mich, ihrer Meinung nach, auch verstehen würde und Alex schien bereits eine neue beste Freundin gefunden zu haben. Währenddessen schien Monika, die beste Freundin meiner Mum, so gut wie eingezogen zu sein. Allen ging es mittlerweile besser, nur mir nicht. Simon und Lynn wussten nicht, dass ich in der Schule gemobbt wurde. Ich hatte ihnen erzählt es gäbe ein paar coole Leute, mit denen ich mich ganz gut verstehen würde, was schlichtweg gelogen war. Wenn Mum mitbekam, dass ich mal wieder kotzte, dachte sie es läge an Dad und dem Umzug. Alex schien zu ahnen, dass es etwas mit meiner Stufe zu tun hatte, doch jedes Mal, wenn sie nachfragte, log ich sie an. Ich wusste nicht, warum ich log. Ich tat es einfach. Beim näheren Nachdenken war es mir peinlich das Mobbingopfer der Stufe zu sein. Es war einfach peinlich. Und ich wollte mich niemandem entblößen, von meinen Gefühlen erzählen oder neue Probleme aufkommen lassen. Stattdessen redete ich mir ein, dass es nur noch drei Tage waren bis ich im Zug nach Nordrhein-Westfalen saß, um Simon und Lynn besuchen zu gehen. Zwei Wochen lang wieder in der Heimat, bei Simon als Übernachtungsgast. In nur noch drei Tagen... Nachdem ich den Inhalt meines Magens in die Toilette erbrochen hatte, spülte ich mir den Mund aus und wusch mein Gesicht, welches schrecklich blass aussah. Einerseits würde ich liebend gerne Zuhause bleiben und den ganzen Tag lang im Bett liegen, andererseits schrieben wir heute einen Test in Physik, den ich mitschreiben sollte. Ich wollte nicht ständig in der Schule fehlen, ich wollte Abitur machen, ich wollte nicht nachgeben und diese Idioten gewinnen lassen, aber ich würde es auch keine drei Jahre mit ihnen aushalten. Und ich würde nicht mehr lange in diesem Konflikt mit mir leben können, das wusste ich. „Lukas, lass mich ins Bad!“ Alex rüttelte an der verschlossenen Tür bis ich diese öffnete. Als sie mich sah, setzte sie einen skeptischen Blick auf. Ihre braunen Augen, die genauso aussahen wie meine, schienen mich durchbohren zu wollen. „Dir ist schon wieder schlecht“, stellte sie fest. „Angst in die Schule zu gehen?“ „Nein!“, antwortete ich empört. „Ich schlafe nur so schlecht seit Dad... seit ein paar Monaten.“ Bei dem kurzen Erwähnen von Dad konnte ich Schmerz in ihren Augen aufblitzten sehen und sie fuhr sich mit den zierlichen Händen durch ihre zerzausten, herbstbraunen Haare, während sie den Blick zu Boden sinken ließ. „Ich weiß, dass es immer noch schwer ist“, sagte sie leise. Ich spürte wie mein Herz heftiger schlug. Wir hatten bisher noch nicht über Dad gesprochen, nicht seit dem er gestorben war. Jedes ihrer Worte war gleichzeitig gut und schlecht für mein Herz, es war eine Art Schmerz, die es durchbohrte, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Als wäre es ein guter Schmerz. Doch ich mochte dieses Gefühl nicht. „Du hast Dad mehr geliebt, ihr standet euch näher. Es waren immer Mum und ich und dann Dad und du... klar sind wir eine Familie, aber du weißt, was ich meine. Man hat immer ein Elternteil, das man mehr liebt wie das andere...“ „Schon okay“, sagte ich, damit sie aufhörte zu reden. „Ich komm schon klar.“ „Das sehe ich“, sagte sie sarkastisch und hielt mich davon ab an ihr vorbei das Bad zu verlassen. Missmutig blieb ich also vor ihr stehen und blickte sie bittend an. „Ich will nur, dass du weißt, wenn du Probleme hast, sind jetzt Mum und ich für dich da. Normalerweise bist du immer zu Dad gegangen, aber... du kannst auch zu uns kommen.“ „Danke“, sagte ich gedrückt. „Aber wie gesagt, ich komme klar.“ Für einige Sekunden starrten wir uns an, dann machte Alex einen Schritt zur Seite und ich verließ schnell das Badezimmer. Ich hatte schon wieder gelogen. Ich log meine kleine Schwester an, dabei hatte ich vor ihr nie Geheimnisse gehabt. Ich liebte meine kleine Schwester, doch ihre ständigen Bitten mich ihr zu öffnen und meine ständige Lügerei verschlechterte unser Verhältnis. Warum musste auch alles in letzter Zeit so schwer sein... Dasselbe fragte ich mich als ich das Höllenhaus namens Schule betreten hatte und einen Blick auf den Vertretungsplan warf. Ich hatte heute Physik frei. Das Fach wegen dem ich überhaupt erst zur Schule gekommen war und dieser lahme Lehrer mit seiner bescheuerten Frisur hielt es nicht für nötig ebenfalls zu kommen. Missbilligend verzog ich den Mund, meine Laune sank noch tiefer sofern dies überhaupt möglich war. Ich trottete mit dem Strom der Masse zu den Kunsträumen und ließ mich in einem von ihnen für eine Stunde Kunst mit Lena und Katharina nieder. Kunst war noch eines der Fächer, welches nicht so schlimm war, denn wir mussten jeder eine Leinwand bemalen und alle liefen ständig herum und unterhielten sich miteinander in normaler Lautstärke. Katharina und Lena war nicht langweilig, beide saßen am anderen Ende des Klassenraumes und so hatte ich erst mal meine Ruhe. Unsere Aufgabe bestand darin eine Landschaft zu malen. Die meisten malten etwas mit Wäldern und Flüssen, aber ich wollte meiner Fantasie freien Lauf lassen und erschuf auf meiner Leinwand eine Landschaft, die es niemals im richtigen Leben geben wird. Ich versank vollkommen in meinem Bild und mit der Zeit ging es mir sogar besser. Am Ende der Stunde war mir kaum noch schlecht und meine Laune hatte sich ein wenig gebessert. Natürlich änderte sich dies im Laufe des Tages rapide. Eine zusätzliche Freistunde mag vielleicht super klingen, aber wenn man keine Freunde hatte, hieß das nichts anderes wie eine Stunde alleine irgendwo rum zu sitzen und zu versuchen die Zeit totzuschlagen. Für mich hieß es Lernen und Hausaufgaben machen, aber dies war schwierig, wenn man sich kaum konzentrieren konnte. Und ich konnte mich seit Wochen kaum konzentrieren. Abgesehen davon bekam ich bereits jetzt Panikzustände, wenn ich an den Winter dachte. Momentan konnte ich mich noch draußen hinsetzen. Ich trug eine dünne Stoffjacke, deren Kapuze ich mir über die hellbraunen Haare zog, welche mittlerweile vorne so lang waren, dass mir einige Strähnen über die Augen fielen, und ließ mich auf der Mauer nieder, die den Schulhof abgrenzte. Hier hatte ich meine Ruhe, aber im Winter würde es zu kalt werden und ich müsste rein. In den Aufenthaltsraum. Zu der Idiotengruppe. Wie ich mich freute. Mit der Zeit schweiften meine Gedanken mal wieder von der Hausaufgabe weg und ich ließ den Blick über den Schulhof schweifen. Ich konnte sagen, dass es ein schönes Gelände war mit den goldbraunen Blättern, die von einer kühlen Brise über den Asphalt und das Gras gefegt wurde und den Sonnenstrahlen, die um einiges wärmer waren und sich zwischen schneeweißen Wolken hindurch bahnten. Und trotzdem hasste ich den Anblick. Einfach alles an dieser Schule verband ich mit Hass. Da waren nur eine Hand voll Lehrer, die ich einigermaßen mochte. Aber das war es auch schon. Nach der sechsten Stunde, Geschichte, einer meiner beiden Leistungskurse, musste ich zwei Stunden plus Mittagspause warten bis ich zu Sport musste. Heute Morgen hatte ich jedoch keine Sportsachen mitgebracht. Insgesamt hatte ich mir in den letzten sechs Wochen nur zwei Doppelstunden Sport angetan und würde heute wieder schwänzen. Solange zu warten brachte mir Bauchkrämpfe, in die Kantine zu gehen brachte mir Bauchkrämpfe und der Sportunterricht an sich, in welchem ich drei der Idiotengruppe am Hals hatte, darunter auch Michael, der Schlimmste von ihnen, brachte mir nur noch mehr Krämpfe. Es bot sich schlichtweg an zu schwänzen. Es schrie gerade zu danach. Also fuhr ich mal wieder frühzeitig mit der Straßenbahn nach Hause. Am nächsten Tag hatte ich wieder Physik frei. Diesmal war es jedoch gar nicht schlimm, denn donnerstags hatte ich Physik in der ersten Stunde, also konnte ich länger schlafen. Dann jedoch quälte ich mich durch drei der schlimmsten Schulstunden, die ich in den letzten sechs Wochen erlebt hatte. Michael und seine Idioten gaben wirklich alles, was sie hatten, um es mir vor den Herbstferien noch einmal so richtig zu vermiesen. Angefangen bei beleidigenden und demütigenden Sprüchen bis hin zum Beinstellen im Flur. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich Michaels in letzter Sekunde ausgestrecktes Bein nicht bemerkt hatte. Ich spürte nur noch wie ich dagegen stieß und das Gleichgewicht verlor. Ich hätte es noch geschafft stehen zu bleiben, doch zwei Hände stießen mir unsanft gegen den Rücken und schon lag ich bäuchlings auf dem schmutzigen Flurboden. Allgemeines Gelächter ertönte um mich herum und ich spürte wie ich knallrot anlief. „Sorry, Lukas“, lachte Michael so laut, dass es jeder hören konnte. „Warte, ich helf dir auf.“ Ehe ich es aufhalten konnte, hatte mich Michael am Rucksack gepackt und zog mit voller Kraft nach oben. Ich hob nur ein paar Zentimeter vom Boden ab, dann gab es ein lautes Ratschen und das Gewicht meines Rucksackes verschwand von meinem Rücken. „Huch“, machte Michael unschuldig und wieder wurde es mit Lachen kommentiert. Entweder lachten die Umstehenden oder sie schauten tatenlos zu. Immer noch knallrot im Gesicht, mit zusammengepressten Lippen und pochendem Herz stand ich auf und riss Michael den kaputten Rucksack aus den Händen. Die Träger waren abgerissen und baumelten Rucksacklos über meinen Schultern, was scheinbar ziemlich albern aussah. So albern, dass Lena es für nötig hielt ihr Handy auszupacken und ein Foto davon zu machen. „Ich will nicht, dass du mich fotografierst!“, rief ich sauer und wurde von der Gruppe einen Augenblick überrascht angeschaut. „So hört sich deine Stimme also an“, meinte Marvin dann, der an seiner Stoffmütze zupfte, die er immer über dem Kopf trug. Die Anderen lachten. „Lena, lösch das Foto“, verlangte ich ohne auf Marvin zu achten. „Hmm...“ Lena tat als würde sie überlegen und antwortete dann: „Nein.“ „Ich will aber, dass du das Foto löschst -“ „Und ich will, dass deine Mutter dich im Keller versteckt, aber wir bekommen nicht immer alles, was wir haben wollen“, sagte Michael und wieder lachten seine Freunde hämisch. „Was willst du machen, wenn ich es nicht lösche? Mich anzeigen?“, fragte Lena hämisch. „Zu Mama und Papa laufen und petzen? Zu einem Lehrer laufen und petzen?“ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und ich spürte einen Kloß in meinem Hals. Ich kannte dieses Gefühl, es bedeutete, dass ich gerne anfangen würde zu heulen. Niemals würde ich vor denen heulen, deswegen ergriff ich die einzige Lösung, wandte mich um und ging mit schnellen Schritten weg. Während alle Schüler zur fünften Stunde gingen, sperrte ich mich auf der Jungentoilette in einer Kabine ein und übergab mich. Schon wieder. Nachdem ich mich ausgekotzt hatte, wusch ich mir in einem Becken den Mund aus und schluckte mehrmals gegen den Kloß in meinem Hals. Mir fiel es schwer zu atmen. Die abgerissenen Träger hatte ich achtlos auf der Kabine liegen gelassen. Einige Sekunden lang sammelte ich mich, dann packte ich meinen Rucksack und verließ die Toilette wieder. Eigentlich hatte ich noch meinen anderen Leistungskurs Deutsch und danach eine Stunde Mathematik, aber ich würde mir die Demütigung sicher nicht antun mit einem kaputten Rucksack und Tränen in den Augen verspätet in die Stunde zu kommen. Schnell verschwand ich aus dem Gebäude. Lieber schwänzte ich die letzten beiden Stunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)