Ich sehe was, was Du nicht siehst von abgemeldet ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Hallo Ihr Lieben - willkommen zu einer neuen Geschichte von mir :)! Ihr werdet bemerken, dass sie ein wenig aus dem Raster fällt und ich hoffe, das ist euer Ding^^. Viel Spaß beim Lesen! Lung ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Als ich die Badezimmertür öffnete, stand er mir plötzlich direkt gegenüber. Vor Schreck machte ich einen Satz nach hinten. „Meine Fresse!“, fauchte ich und presste mir die Hand auf die Brust, „Musst du mich so erschrecken? Kannst du nicht anklopfen, um Himmels Willen?“ Ich atmete tief ein und aus. „Was machst du eigentlich schon wieder hier? Hast du nicht schon genug angerichtet, verdammte Axt? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht nach Bad Harzburg fahren werde?“ Knurrend drängte ich mich an ihm vorbei und bemühte mich, ihn dabei nicht zu berühren. Außerdem wollte ich seine traurigen Hundeaugen nicht sehen. Meine Wut auf ihn war noch immer frisch und schmerzhaft. Ich knipste das Licht im Bad an und griff nach meiner Zahnbürste. „Bitte…,“ wimmerte er, „Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, als ich gestern hergekommen bin, aber ohne dich…ohne dich wird sie nie erfahren, dass–,“ „Ich weiß!“, erwiderte ich genervt, „Ich kenne die Geschichte auswendig. Und ich hab keinen Bock, diese Diskussion immer und immer wieder mit dir zu führen. Ich kann nicht nach Bad Harzburg fahren. Für dich mag das ein Katzensprung sein, aber für mich sind das über vier Stunden Zugfahrt. Und ich muss arbeiten. Außerdem habe ich im Moment wenig Lust, dir zu helfen.“ Ich begann mir energisch die Zähne zu putzen. Aus dem Spiegel schaute mir mein finsteres Gesicht entgegen. Über der Nasenwurzel durschnitten flache Fältchen meine Stirn. Und die Ringe unter meinen Augen bezeugten die letzte schlaflose Nacht. Er war immer noch da. Ich konnte seinen leisen Atem hinter mir hören und mir genau vorstellen, wie er da mit gesenktem Kopf seine Hände knetete. Ich wusste, worauf er wartete. Doch ich wollte ihm nicht entgegen kommen. Ich wollte, dass er sich schuldig fühlte. Ich wollte, dass er verschwand. Ich wollte in Ruhe meine Wunden lecken. „Vielleicht…,“ murmelte er, „Vielleicht könntest du sie anrufen?“ Ich prustete weißen Schaum ins Waschbecken und an den Spiegel. Empört drehte ich mich zu ihm um. „Anrufen?“, brachte ich hervor und Zahnpasta lief mir das Kinn hinab, „Ist das dein Ernst? Die wird mich für verrückt halten und auflegen, bevor ich noch irgendetwas sagen kann.“ „Dann rufst du eben nochmal an!“ „Damit sie dann ihre Nummer ändert, weil sie mich für einen Irren hält? Nein, danke.“ Er rang die Hände. „Bitte… Bitte, Tonda. Ich brauche dich. Wenn du mir diesen Gefallen tust, dann verschwinde ich für immer und störe dich nie wieder. Das verspreche ich.“ Ich schnaubte. Kunststück. „Ich flehe dich an. Ich weiß, ich war…am Anfang nicht besonders nett. Und das mit…mit deinem Freund tut mir sehr, sehr leid. Ganz ehrlich. Ich wollte das nicht. Aber du bist meine einzige Hoffnung. Bitte.“ Ich seufzte. Ich stöhnte. Ich fühlte meinen Widerstand bröckeln. Unter seinen Entschuldigungen und Schwüren putzte ich meine Zähne zu Ende und wusch mir Hände und Gesicht. Als ich mich abgetrocknet hatte, hatte er mich soweit. „Eine E-Mail,“ sagte ich entschieden, „Das ist mein Angebot.“ „E-Mail?“, wiederholte er und klang dabei gänzlich ahnungslos. „E-Mail. Du weißt schon. Eine E-Mail. Ein Brief über Computer.“ „Aber…aber das ist so unromantisch…,“ Ich lachte auf. „Unromantisch. Ich bitte dich. Mit Romantik ist es nun sowieso vorbei. Ich schreibe eine E-Mail an sie. Da kann sie mir weder die Tür vor der Nase zuschlagen, noch auflegen. Hauptsache, du kennst ihre E-Mail-Adresse.“ Ich sah zu, wie er grübelte. Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden. Ich murrte und rieb mir die Augen. „Was ist jetzt?“, schimpfte ich, „Ja oder nein? Ich bin müde und will bald ins Bett.“ „In Ordnung!“, rief er in weinerlichem Tonfall, „In Ordnung. Schreib ihr eine E-Mail. Ich…ich kenne ihre Adresse.“ „Na, also.“ Seufzend verließ ich das Bad und schleppte mich ins Schlafzimmer. Er wartete schon neben meinem Schreibtisch. Ich setzte mich hin und erweckte meinen Laptop mit ein paar Mausbewegungen zum Leben. Dann loggte ich mich bei meinem E-Mail-Anbieter ein und ließ mir von ihm mit stockender Stimme die E-Mail-Adresse diktieren. Nach kurzem Nachdenken schrieb ich Nachricht von Ralph in die Betreffzeile. „Was, wenn sie die E-Mail nicht öffnet?“, klagte er neben mir. „Wird sie schon,“ antwortete ich, „Das wird sie nicht ignorieren können.“ Gemeinsam machten wir uns an den Entwurf der E-Mail und mehrmals bekamen wir uns darüber in die Haare. Ralph wollte andere Worte, andere Formulierungen. Ständig wollte er mehr Intimitäten, mehr Insider, mehr Geschmuse, ich dagegen wollte so distanziert wie möglich bleiben. Die Gefahr, dass sie dies alles für einen morbiden Scherz hielt, war sowieso schon groß genug. Nach eineinhalb Stunden waren wir endlich fertig. Liebe Eva, mein aufrichtiges Beileid zum Verlust Ihres Verlobten Ralph. Sie kennen mich nicht, doch ich kannte Ihren Verlobten. Er bat mich, Ihnen etwas auszurichten, dass Ihnen den Abschied von ihm leichter machen und verhindern soll, dass Sie ihn in schlechter Erinnerung behalten. Ich weiß von Ralph, dass Sie in letzter Zeit Misstrauen ihm gegenüber hegten. Doch er möchte, dass Sie wissen, dass er Ihnen gegenüber niemals unaufrichtig war und Sie wirklich nie mit Ihrer Kollegin Nicole betrogen hat. Es tut ihm sehr leid, dass er Ihnen Kummer bereitet hat und hofft, dass Sie in Ihrem weiteren Leben die Liebe finden, die er Ihnen nun nicht mehr geben kann. Er wird die schönen Tage, die Sie gemeinsam am Vienenburger See verbracht haben, niemals vergessen und möchte Ihnen sagen, dass Sie die Frau waren, mit der er sein Leben verbringen wollte. Seien Sie nicht zu lange traurig. Mit freundlichen Grüßen, Tonda Lipkina „Okay…,“ sagte ich und massierte meine Stirn, „Das war’s. Senden wir sie endlich ab.“ „Ich…ich bin noch immer nicht ganz zufrieden.“ „Das ist gut so, Ralph. Da ist alles drin. Der See und die Entschuldigung und der Name Nicole und der ganze Liebesschmu auch.“ „Aber es fehlt die Erklärung!“ „Die Erklärung wird sie eh nicht glauben. Glaub mir. So ist es besser.“ Ralph seufzte. „In Ordnung.“ Erleichtert klickte ich auf Senden. Und fort war die E-Mail. Als ich mich in meinem Schreibtischstuhl umdrehte, stand er am Fenster und blickte hinaus. „Wann wird sie die Mail lesen?“, fragte er in den Nachthimmel. „Wenn sie das nächste Mal ihre Mails checkt, würde ich sagen. Morgen im besten Fall.“ Er seufzte erneut. „Was, wenn sie mir nicht glaubt? Wenn sie für alle Zeiten denkt, dass ich sie betrogen habe?“ „Wenn sie dich so liebt wie du sie, dann wird sie dir glauben,“ antwortete ich, „Aber was auch immer jetzt geschieht, Ralph, es liegt nicht mehr in deiner Hand. Du hast getan, was du konntest. Du darfst jetzt loslassen. Das ist okay.“ Er wandte sich zu mir um. Und zum ersten Mal sah ich ihn lächeln. „Wirklich?“, fragte er leise. Ich nickte. Er seufzte abermals und es klang befreit. „Danke für deine Hilfe. Und ich…ich hoffe, du und dein Freund kriegt das wieder hin.“ Diesmal lächelte ich, schief und freudlos. „Das werden wir nicht. Aber danke.“ „Leb wohl, Tonda.“ „Leb wohl, Ralph.“ Und vor meinen Augen löste er sich auf. Kapitel 1: Eins --------------- Ihr Lieben, ich entschuldige mich für das verspätete Hochladen. Aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Ich werde Euch nicht mit Ausreden langweiligen, sondern Euch nur viel Spaß beim Lesen wünschen: Viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende :)! Lung ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Mitten in der Nacht erwachte ich. Im Zimmer war es kalt und irgendwo in der Ferne brummte der Kühlschrank vertraut vor sich hin. Erst wusste ich nicht, was mich geweckt hatte. Doch dann erkannte ich den Umriss, der sich dunkel vorm Fenster abzeichnete. „Oh, come on!“, wimmerte ich voller Frustration, „Ralph! Was ist dein Problem, Mann? Was machst du überhaupt noch hier? Ich dachte, du wärst–,“ Ich verstummte. Erst jetzt fiel mir ein, dass Ralph einen schicken Anzug getragen hatte. Gewiss kein Nachthemd… „W…Wer bist du?“, fragte ich und setzte mich mühsam auf. Verschlafen rieb ich mir die Augen und tastete an der falschen Stelle nach dem Schalter für meine Nachttischlampe. „Verdammte Axt…,“ knurrte ich, dann flackerte endlich trübes Licht durch mein Schlafzimmer. Ich blinzelte. Am Fenster stand eine verhutzelte alte Frau. Sie hatte schneeweiße Locken, trug ein verwaschenes Nachthemd, darüber einen hellen Pullover und auf der Nase eine runde Brille. Ihr Gesicht machte deutlich, dass sie sich durchsetzen konnte. Einige Sekunden lang starrten wir uns schweigend an. „Gute Nacht…,“ sagte ich matt, als sie keine Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, „Ich heiße Tonda. Sehr erfreut. Darf ich fragen, wie du heißt? Und warum du unbedingt nachts kommen musst?“ Sie betrachtete mich ungehalten. „Hat dir keiner beigebracht, dass man eine alte Dame siezt, junger Mann?“ Sie sprach mit hoher, leicht näselnder Stimme. Ich runzelte die Stirn. „Sagt die Frau, die mitten in der Nacht und unaufgefordert ins Schlafzimmer eines Fremden eindringt und sich dann nicht einmal vorstellt.“ Wir musterten einander verdrießlich. Sie kniff die Lippen zusammen und verschwand, nur um einen Augenblick später direkt neben meinem Bett wieder aufzutauchen. Ich zuckte zurück. „Es geht um meinen Enkel,“ schnarrte sie, als ob damit alle Höflichkeiten überflüssig wären. Ich verdrehte die Augen. Ich hasste es, wenn sie das taten. Als bestünde meine einzige Lebensaufgabe darin, ihre Probleme zu lösen. Als wäre ich ein Automat, der vierundzwanzig Stunden lang auf Abruf zu stehen hatte. „Schön,“ antwortete ich bissig, „Und hier geht es um meinen Schlaf. Also könntest du wenigstens so nett sein, mir deinen Namen zu verraten. Oder ich schlafe auf der Stelle weiter.“ Wir funkelten uns an. Dann straffte sie die Gestalt. „Renate,“ sagte sie, „Renate Geiger.“ „Renate,“ wiederholte ich besänftigt, strich mir das wirre Haar aus dem Gesicht und ergab mich in mein Schicksal, „Okay. Es geht also um deinen Enkel. Wie kann ich dir helfen?“ „Ich verlange, dass du ihn warnst, junger Mann!“, blaffte sie, „Ich verlange, dass du ihm sagst, dass er in die Hölle kommen wird.“ Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Wie bitte? In die Hölle?“ „Er ist im Begriff, sich zu versündigen!“ „Zu versündigen? Was soll das denn heißen? Will er jemanden kalt machen?“ Sie schnappte nach Luft. „Schlimmer!“, behauptete sie und dann senkte sie die Stimme vor lauter Scham, „Er… Er ist… Er ist hmfil!“ Verständnislos verengte ich die Augen und starrte sie an. Sie starrte verheißungsvoll zurück, als erwartete sie, dass ich jede Sekunde vor Abscheu erbleichen würde. „Wie bitte?“, fragte ich stattdessen, „Würdest du das letzte Wort nochmal wiederholen? Das habe ich akustisch nicht ganz verstanden.“ „Homophil!“, keifte sie, „Er sagt, er sei homophil!“ Diesmal hatte ich verstanden. Ich hatte auf einen Schlag alles verstanden. Und genug gehört. „Ach so. Ich verstehe,“ entgegnete ich gefährlich liebreizend, „Er ist also schwul und du hast etwas dagegen und erwartest jetzt von mir, dass ich ihm das ausrede. Richtig?“ „So ist es,“ sagte sie glatt, mein Gesicht verwandelte sich in eine Maske. „Verstehe. Nun. Tut mir leid, liebe Renate, aber das kannst du dir sowas von abschminken. Gute Nacht!“ Ich haute auf den Schalter meiner Nachttischlampe und warf mich zurück in die Kissen. Ärger kribbelte überall auf meiner Haut. Das Licht ging wieder an. „Was fällt dir ein?!“, schrie sie mich an und ich fuhr mit einer solchen Kraft hoch, dass es mich selbst überraschte. „Was mir einfällt?!“, bellte ich zurück, „Ich bin selber schwul, verstehst du? Ich bin selber homophil! Da werde ich doch nicht zu deinem Enkel gehen und ihm erzählen, dass er in die Hölle kommt, als wäre er ein Massenmörder oder so was! Verdammte Scheiße, er wird es im Leben schon schwer genug haben, da muss ich ihm nicht auch noch Schuldgefühle von seiner toten – toten! – Großmutter einreden!“ Mein Atem ging schwer. Voller Zorn sah ich sie an und sie blickte nicht minder zornig zurück. Doch sie erwiderte nichts mehr. Sie verschwand innerhalb eines Wimpernschlags und kam nicht zurück. Allein saß ich im Zimmer und lauschte meinem wütenden Herzen. Ich knurrte in die Stille hinein. Dann schaltete ich das Licht aus und rollte mich unter der Decke zu einer Kugel zusammen. Ich dachte an Ralph und seine Eva. Ich dachte an die homophobe Renate und ihren armen Enkel. Und dann dachte ich daran, dass ich jetzt endlich nachts im Schlafzimmer wieder rumbrüllen konnte. Noch vor zwei Tagen hatte ich mich jedes Mal ins Bad zurück ziehen müssen, um dort heimlich zu flüstern. Damals, als Marius noch bei mir geschlafen hatte. Doch jetzt – dank Ralph – war es damit vorbei. Jetzt konnte ich endlich wieder zu jeder Tages- und Nachtzeit in der ganzen Wohnung brüllen. Ohne Sorge, dass Marius mich hören könnte. Denn gestern hatte er mich gehört. Und jetzt würde er nie wieder bei mir schlafen. Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um halb sieben. Ich schlug ihn, damit er schwieg, und gab eine Menge mitleiderregender Geräusche von mir, die niemand hörte. Tröpfchenweise kehrten die Erinnerungen des letzten Abends, der letzten Nacht zurück. Und die der vorletzten Nacht. Ich verfluchte mein Leben. Schließlich erhob ich mich trotzdem und stakste steifbeinig ins kalte Bad. Ich wusch mir den Schlaf aus den Augen, zog mich an und goss Kaffee in meiner French Press auf. Dann holte ich Cleo hoch. Als ich die Tür zum Garten erreichte, hörte ich sie schon auf der anderen Seite nach mir rufen. Sie wusste genau, wann ich kam. Kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen, huschte sie laut schnurrend ins Treppenhaus. Mit ihr kam ein Schwall kühle Luft hinein. „Hallo süße Maus,“ murmelte ich liebevoll und kraulte ihr geschecktes Köpfchen, während sie gurrend um meine Beine strich, „Wie geht’s dir? Ich hoffe, deine Nacht war besser als meine.“ Gemeinsam stiegen wir die Treppen zu unserer Wohnung hoch und sie erzählte mir eifrig von ihren nächtlichen Abenteuern. Ich sprach ihre Sprache nicht, aber das machte uns beiden nichts aus. Cleo und ich verstanden uns auch ohne Worte. Wir frühstückten zusammen und nachdem ich Marius‘ Cornflakes leidenschaftlich in den Müll gekloppt hatte, fuhr ich zur Arbeit. Es war halb vier, als ich schließlich verschwitzt und ölbeschmiert wieder nach Hause kam. Ich betrat meine Wohnung und spürte es schon, bevor ich es sah. Cleo lag auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Fensterbrett in der Küche. Ihr Schwanz zuckte und sie starrte auf den Platz neben sich, auf dem wohl kein Mensch außer mir etwas sehen konnte. Ich legte meine Schlüssel auf den Küchentisch. „Ach,“ sagte ich, „Hallo Renate.“ Sie antwortete nicht. Sie stand mit dem Rücken zu mir und schaute aus dem Fenster. „Ich hätte nicht gedacht, dass du nochmal vorbei kommst.“ Sie ging immer noch nicht auf mich ein. Ich verdrehte die Augen. „Mein Enkel,“ begann sie schließlich doch, „Das dort draußen ist er.“ Ich seufzte und trat neben sie. Ich streichelte Cleo, um sie zu beruhigen, und folgte Renates starrem Blick. Sie schaute zum Haus schräg gegenüber, das im Sonnenlicht badete. Dort schloss gerade jemand sein Fahrrad ab. Ein junger Mann, fast noch ein Junge. Kariertes Hemd, dichte braune Haare, ein zerbrechliches Schlüsselbein. Ein sehr hübsches Gesicht. Ich kannte ihn. „Den…habe ich schon häufiger auf der Straße gesehen,“ sagte ich möglichst beiläufig, „Und das ist wirklich dein Enkel?“ „Sein Name ist Jasper,“ erklärte Renate, „Ich möchte, dass du zu ihm hinüber gehst und ihm ausrichtest, was ich zu sagen habe.“ Ich schnaubte und beobachtete, wie Jasper im Hauseingang verschwand. „Ich werde ihm nicht davon abraten, schwul zu sein,“ erwiderte ich brummig, „Wenn er es ist, kann man das eh nicht ändern. Das kann ich dir versichern.“ „Aber in der Bibel steht–,“ „Renate, die Bibel ist hunderte von Jahren alt!“, unterbrach ich sie aufgebracht, „Wir haben jetzt aber 2013, verdammte Axt. Und wir leben in Deutschland. Die Dinge haben sich geändert. Wir richten keine Ungläubigen mehr hin. Frauen dürfen wählen. Wieso fällt es dir dann so schwer zu akzeptieren, dass dein Enkel–,“ Renate verschwand im Bruchteil einer Sekunde von meiner Seite. Noch bevor ich mich darüber entrüsten konnte, erklang ihre schrille Stimme hinter mir. „Ich kann das nicht akzeptieren!“ Mein Geduldsfaden riss und ich fuhr so heftig zu ihr herum, dass Cleo ebenfalls die Nerven verlor und hektisch von der Fensterbank sprang, um sich im Schlafzimmer zu verkriechen. „Meine Fresse, hör mir mal gut zu! Das ist nicht deine Entscheidung, verstanden? Du hast es nun mal zu akzeptieren, wie sehr es dir auch missfallen mag. Es ist sein Leben, verdammte Axt. Er ist nun mal so wie er ist und daran kann er gar nichts rütteln. Und wenn du ihn nicht genau so akzeptieren kannst, dann–,“ Ich brach ab, weil ich plötzlich nicht mehr wusste, ob ich über Jasper oder mich sprach. Renate nutzte diese Unterbrechung, um die alles entscheidende Frage zu stellen. „Wirst du mir nun helfen oder nicht?“ Ich öffnete den Mund, um ihr endgültig meine Hilfe zu versagen. Aber dann zögerte ich. Einerseits widerstrebte es mir zutiefst, ihrem rücksichtslosen Wunsch nachzukommen. Andererseits würde sie ohne meine Hilfe wohl noch lange keinen Frieden finden. Und außerdem – und ich verachtete mich selbst dafür – war ihr Enkel Jasper wirklich sehr, sehr hübsch. Und voll mein Typ. Es stimmte, ich hatte ihn auf der Straße gesehen. Die volle Wahrheit war aber, dass ich ihm jedes Mal, wenn wir uns auf der Straße begegnet waren, hinterher gesehen hatte. Und nun bekam ich diese Chance. Einen Vorwand, seinen Namen zu benutzen, mit ihm zu reden, ihn kennenzulernen. Woher dieser Gedanke kam, wusste ich jedoch selbst nicht. Wollte ich Renate eins reinwürgen? Oder Marius? „Meinetwegen,“ hörte ich mich sagen, „Ich rede mit ihm. Versprochen. Aber ich werde ihm nicht mit der Hölle oder so drohen. Ich helfe dir lediglich, dich mit ihm auszusprechen. Einverstanden?“ Renates Augen blitzten und sie presste die Lippen aufeinander, als hätte sie nicht übel Lust, mich ohne Abendessen auf mein Zimmer zu schicken. Aber dann nickte sie. „Einverstanden.“ „Okay. Schön. Lass mich noch eben duschen und dann–,“ „Dafür haben wir keine Zeit! Ich will das jetzt sofort erledigen.“ „Meine Fresse! Kann ich wenigstens noch pissen gehen?“ „Deine Ausdrucksweise lässt sehr zu wünschen übrig, junger Mann.“ „Pah!“ Zehn Minuten später befand ich mich in Jaspers Treppenhaus. Treppenhäuser waren nicht mein Ding. Marius‘ Treppenhaus war das dreckigste und düsterste der Welt gewesen. Dieses hier roch nach Kohl. Renate war verschwunden, vermutlich war sie schon oben. Langsam stieg ich die Treppen hinauf. Ich war nervös wegen des vor mir liegenden Gesprächs. Außerdem schämte ich mich, weil ich bestimmt nach Schweiß roch und meine Haare strähnig waren. Und ich trug noch immer meine verdreckte, ölige Arbeitskleidung. So einen wie mich würde selbst ich nicht in meine Wohnung lassen. Wieso sollte es also Jasper tun? In der dritten Etage wartete Renate auf mich. Sie deutete wortlos auf die linke Tür und verschwand, bevor ich noch weitere Fragen stellen konnte. Am Klingelschild stand P. Nering/ J. Vosshage. Ich strich mir einige Male durchs Haar und rieb meine fleckigen Finger an der Hose ab. Dann knurrte ich, um die Kraft meiner Stimme zu testen. Ich überflog all die Dinge, die ich gleich sagen musste, all die Erklärungen, die ich geben musste und die so schwer auszudrücken und noch viel schwerer zu verstehen waren. Ich hob die Hand, um zu klingeln, zögerte aber. Ich hatte Schiss. Nach all der Zeit hatte ich mich nie an diese Gespräche gewöhnen können, ich hatte den richtigen Dreh nie rausbekommen. Und jetzt Jasper. Wollte ich dieses Risiko wirklich eingehen? Wäre es nicht besser, ihn für immer bloß flüchtig auf der Straße zu sehen? Ich konnte mich für immer nach ihm umdrehen und bewundern, wie leichtfüßig er sich bewegte und wie sein Haar in der Sonne leuchtete. Meiner Phantasie freien Lauf lassen und eine risikofreie Schwärmerei genießen. Es tat mir in der Seele weh, dass ausgerechnet er mich bald für einen Irren halten sollte. Ich hatte schon Marius auf diese Weise verloren. Er war einfach aus meinem Leben verschwunden, ohne sich noch einmal umzudrehen. Doch Versprechen musste man halten. Wagemutig klingelte ich an der Tür. Kapitel 2: Zwei --------------- Hallo und Willkommen zum zweiten Kapitel :)! Ich hoffe, Ihr habt ein wunderschönes Wochenende und fühlt ordentlich mit Tonda mit^^. Liebste Grüße, Lung ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Erst hörte ich Schritte, dann war Stille. Vermutlich schaute er durch den Spion, also gab ich mir Mühe, harmlos auszusehen. Vorsichtig öffnete sich die Tür. Jasper stand im Türrahmen, ganz verschreckt sah er aus. Die Tür blieb halb geschlossen, als wolle er sie möglichst schnell zuschlagen können, falls ich ein großes Messer hinter dem Rücken versteckte. Meine Fresse, was für schöne, ausdrucksstarke Augen. „Hi…,“ sagte ich idiotisch lächelnd. „Hallo,“ erwiderte Jasper ungläubig und öffnete die Tür ein Stück weiter, „Ich… Ich kenne dich. Ich glaub, ich…ich hab dich schon mal gesehen. Kann das…sein?“ „Ähm, ja. Ja. Ich wohne schräg gegenüber. Nummer dreiundsechzig. Ich heiße Tonda. Tonda Lipkina.“ Er lächelte scheu und ganz besonders zauberhaft. „Was für ein schöner Name,“ sagte er zu meiner Verlegenheit, „Was kann ich für dich tun?“ Ich atmete tief ein, Atmen half gegen die Unruhe. „Ich würde gerne mit dir über was reden. Es ist etwas Persönliches und vielleicht…ein bisschen, ähm, heikel. Könnte ich kurz reinkommen?“ Er schwieg verblüfft. War das Misstrauen? Ich könnte es ihm nicht verübeln. „Ich schwöre, ich komme unbewaffnet und habe keinerlei Interesse an deinem Bargeld. Aber, äh… Also, es geht um deine Großmutter. Renate Geiger.“ „Du kanntest meine Oma? Ehrlich? Woher?“ „Wir…haben uns vor kurzem kennen gelernt,“ erwiderte ich ausweichend, „Darf ich reinkommen?“ Jasper dachte noch einen Augenblick nach, ging in Gedanken vermutlich alle Waffen durch, die er im Falle eines Falles schnell erreichen konnte. Aber dann trat er zur Seite und ließ mich hinein. Kaum stand ich im Flur, hörte ich Renates Stimme von links. Jasper hörte sie nicht. „Diese Küche ist eine Zumutung!“ „Ich…ich bin grad am Kochen,“ sagte Jasper, „Wollen wir uns in die Küche setzen?“ „Ähm, klar. Gern.“ Ich folgte ihm in den ersten Raum auf der linken Seite. Die Küche war absolut keine Zumutung. Grasgrüne Wände und bunte Postkarten an den Einbauschränken. Vielleicht ein wenig unordentlich, aber auf eine sehr gemütliche Art. Außerdem roch es herrlich nach Spaghetti und mir lief prompt das Wasser im Mund zusammen. Meine letzte Mahlzeit war schon wieder eine Weile her. Renate stand rechts vom Fenster und funkelte uns mit verschränkten Armen an. Jasper sah sie nicht. Aber er rieb sich die Arme, als würde er frösteln. „Bitte,“ sagte er und deutete auf einen der Küchenstühle. Dankbar lächelnd nahm ich Platz. Er entschuldigte sich für das Küchenchaos, während er in dem Topf auf dem Herd rührte, und ich winkte ab. Dies war das berühmte Vorgeplänkel, ein bisschen Smalltalk, bevor der Bigtalk anfing. Verdammte Scheiße, wie ich diese Gespräche hasste. Renate räusperte in regelmäßigen Abständen mahnend in sich hinein. „Also…?“, fragte Jasper, als sich das beklommene Schweigen auszubreiten begann, „Du sagtest, es ginge um meine Oma?“ „Ja… Richtig. Sie bat mich, mit dir über etwas zu reden, das ihr sehr auf dem Herzen liegt.“ „Echt? Ich…ich hatte keine Ahnung, dass ihr euch so nahe steht.“ „Naja…,“ „Ich… Ich weiß nicht… Offenbar hat es dir noch keiner gesagt, aber meine…meine Oma ist vor drei Wochen gestorben.“ „Oh, äh. Doch. Doch, das habe ich erfahren. Mein Beileid.“ „Danke…,“ Jasper senkte den Blick und wandte sich ab. Er schaltete er den Herd aus und schüttete die Spaghetti durch ein Sieb in der Spüle. Heißer Wasserdampf stieg auf wie ein Atompilz. Seine verstorbene Oma wedelte mit ungeduldiger Miene den Dampf fort, sodass ein anmutiger Wirbel entstand. Jasper achtete nicht darauf. Ich wollte etwas Tröstendes sagen, aber mir fiel nichts ein. Außerdem lenkte mich die Tatsache ab, dass er ganz sicher schwul war. Das konnte ich genau sehen. Oder nein, eigentlich war es eher ein Gefühl. Wie er sich bewegte, wie er redete. Wir erkennen einander, hatte Marius mal gesagt. Es wunderte mich, dass Renate es nie bemerkt hatte. Oder vielleicht hatte sie es einfach nie bemerken wollen. „Ich… Ich meine, ich habe dich nicht auf ihrer Beerdigung gesehen,“ fuhr Jasper fort. „Ähm, nein. Nein, das ist richtig,“ antwortete ich. Ich brauchte noch einen Augenblick, um mich zu sammeln. Ich wollte eigentlich nicht sehen, wie sich in Jaspers hübschem Gesicht ein Fragezeichen in ein Ausrufezeichen verwandelte. Doch ich war schon so weit gekommen. Und Renate würde mich bestimmt für alle Zeiten heimsuchen, wenn ich jetzt einen Rückzieher machte. Also räusperte ich mich ein letztes Mal und spuckte es aus. „Offen gestanden…habe ich sie erst nach ihrer Beerdigung kennen gelernt. Gestern Nacht, um genau zu sein.“ Die Stille war sehr still. Jasper schwieg. Ich vermied so lang es ging, ihn anzusehen, und als ich es schließlich doch tun musste, fand ich es sofort – das Fragezeichen. Jasper starrte er mich an, als wären mir soeben Flügel gewachsen. Er lächelte halbherzig. „W…Wie bitte?“ „Er ist manchmal ein bisschen schwer von Begriff,“ mischte sich Renate jetzt laut ein, „Ähnlich wie du übrigens, junger Mann.“ Ich überging sie. Jaspers Augen waren geweitet und auch sein Mund stand halb offen. Er sah immer noch sehr hübsch aus, schöne Lippen hatte er. Das machte alles noch viel schwieriger. Doch ich riss mich am Riemen. „Okay,“ sagte ich, „Hör zu. Ich weiß, dass sich das vollkommen verrückt anhört. Du wirst dich vielleicht fragen, was für einen Irren du in deine Wohnung gelassen hast und das könnte ich total verstehen. Trotzdem wäre es nett, wenn du mich einfach ausreden lässt. In Ordnung? Das würde mir die Sache enorm erleichtern.“ Jasper starrte mich noch immer an. Aber er zuckte die Schultern und nickte. Ich fand uns beide ungemein tapfer. Vielleicht bestand ja sogar die minimale Chance, dass wir uns eines Tages grüßen konnten, wenn wir uns auf der Straße begegneten. Immer vorausgesetzt, das weitere Gespräch verlief gut. „Gut, äh, danke. Okay. Ich…ich erzähle dir jetzt zwei Geheimnisse und es wäre nett, wenn du beide für dich behalten würdest. Wobei das beim ersten nicht ganz so wichtig ist. Gut. Also. Geheimnis Nummer eins, ich stehe auf Männer.“ Dieses Outing war eine spontane Eingebung gewesen. Und sie hatte eine interessante Wirkung. Jaspers Gesicht blühte geradezu auf. Es brachte mich ganz durcheinander. „D… Du stehst auf Männer?“ „Äh, ja. Ja, das tue ich.“ „Wow, das…das hätte ich gar nicht gedacht…,“ „Ach nein?“ „Nee, du… Also, dir geht irgendwie dieses…dieses Getue total ab…,“ Er plinkerte mit den Wimpern und bewegte die Hände auf eine klischeehafte und doch irgendwie treffende Art hin und her. Darüber mussten wir beide lachen. Es tat unendlich gut. Ich entspannte mich. Erst jetzt bemerkte ich, wie angespannt ich tatsächlich gewesen war. Für kurze Zeit war ich ziemlich zufrieden. Bis sich Renate wieder einschaltete und unsere kichernde Zweisamkeit geräuschvoll störte. Sie schien alles andere als angetan vom Inhalt unserer Unterhaltung. Jasper hörte sie zwar nicht, aber ich tat es und ich warf Renate einen grantigen Blick zu, den er verdutzt zur Kenntnis nahm. Ich kam zum Thema zurück. „Okay, gut. Jetzt, wo wir das geklärt haben, Geheimnis Nummer zwei.“ Ich atmete ein letztes Mal tief ein. Jasper hob die Augenbrauen. „Ich bin in der Lage, verstorbene Menschen zu sehen. Und zu hören. Ihre Seelen, wenn du so willst. Ich kann mit ihnen kommunizieren und manchmal…kommen sie zu mir, damit ich für sie ein paar letzte Angelegenheiten regle oder so. Okay?“ Warum ich das letzte Wort gesagt hatte, wusste ich selbst nicht. Okay? Natürlich war es nicht okay, es war völlig irre. Jasper schien das ähnlich zu sehen und mein Herz rutschte mir tiefer in die Hose als je zuvor. Er war praktisch zu Stein erstarrt. Eine Ewigkeit bewegte oder sprach er gar nicht. Schließlich blinzelte er endlich und seine Lippen bewegten sich, zuerst nur lautlos. Dann gluckste er. Dieses Lachen kannte ich gut. Es war das Bitte sag mir, dass das nur ein Scherz war-Lachen. „D… Du… Du verarschst mich…,“ brachte er hoffnungsvoll hervor. Zu meinem Leidwesen musste ich den Kopf schütteln. „Nein. Tut mir leid. Es ist die Wahrheit.“ „A… Aber…,“ „Ich weiß, wie das klingt, glaub mir. Vielleicht bin ich ja verrückt. Aber es ist trotzdem die Wahrheit. Ich kann sie sehen und manchmal…sind sie nicht gerade höflich.“ Bei diesem Seitenhieb schaute ich stirnrunzelnd zu Renate hinüber, die beleidigt mit der Zunge schnalzte. Doch sie zickte nicht zurück. Vielleicht machte sie sich Sorgen um ihren Enkel. Der war ein wenig blass geworden. Und stammelte. „Du… Du… Meinst du das Ernst?!“ Ich nickte. „Aber das… Du meinst Geister? Etwa so wie in Ghost Whisperer?“ Ich brummte und wiegte den Kopf. „Naja. Bei mir wird nicht so viel geheult. Aber ja, so ähnlich.“ Jasper schnappte nach Luft. Er betastete sein Gesicht, als fürchtete er, es würde jeden Moment auseinander fallen. Seine Augen zuckten blicklos durch die Küche und seine Mimik zeigte eine sehr abwechslungsreiche Reihe an Emotionen. Gesichtskirmes, hatte Marius das genannt. Wieso musste ich eigentlich schon wieder an den denken? „Und du willst mir sagen, dass meine Oma Reni…,“ „Ja. Sie ist gestern Nacht zu mir in meine Wohnung gekommen und hat mich gebeten, mit dir zu reden.“ „Ich glaub’s nicht…,“ wisperte er, „Das ist das Krasseste, was ich jemals gehört habe. Wenn…wenn das eine Anmache ist, dann ist es die kreativste, die ich je erlebt habe. Und allein deswegen würde ich schon mit dir ausgehen.“ Renate riss die Augen auf und protestierte. „Ich muss doch sehr bitten!“ Doch ich ignorierte sie. Ich war perplex und entzückt. „Das würdest du?“, fragte ich. Jasper lächelte peinlich berührt und knibbelte mit den Fingern an seinem Mund herum. „Naja… Ja. Wieso nicht?“ „Weil…es keine Anmache ist, fürchte ich. Es ist die Wahrheit.“ Jasper blinzelte und blinzelte und schüttelte den Kopf. „Ich… Ehrlich, ich versuche, dir zu glauben, aber…,“ Er verstummte, aber ich wusste trotzdem, was er meinte. Das mit dem Glauben war so eine Sache. In einer Welt der Wissenschaft, in der wir gelernt hatten, fast jedes Phänomen rational zu erklären, glaubten die meisten Menschen nur das, was sie selbst sahen. Und ich hatte mehr als fünfundzwanzig Jahre gehabt, um mich an meine ausgedehnte und möglicherweise krankhafte Perspektive zu gewöhnen – und Gott weiß, dass es Zeiten gab, in denen ich mir selbst nicht glauben konnte. Ich hatte nie eine tiefe Überzeugung aufgeben müssen, so wie ich es jetzt von Jasper erwartete. Und für solch einen Kraftakt waren fünf Minuten ziemlich knapp bemessen. Also nickte ich Jasper verständnisvoll zu. „Ich verstehe schon. Ich weiß, es ist unglaublich. An deiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich schon rausgeworfen. Mit dem Rat, mir schleunigst einen guten Therapeuten zu suchen,“ fügte ich mit einem Anflug von Galgenhumor hinzu. Jasper lächelte. Inzwischen hatte er wieder mehr Farbe auf den Wangen. Renate räusperte sich zum hundertsten Mal. Sie war es wohl leid zu warten. Ich leckte mir über die Lippen. So weit, so gut. Es war Zeit für den nächsten Schrecken. „Jasper…,“ sagte ich und war erstaunt, wie viel Befriedigung es mir verschaffte, seinen Namen auszusprechen, „Deine Oma…,“ „Sie hat dich gebeten, mir etwas zu sagen.“ „Richtig. Aber nicht nur das. Sie…ist hier, weißt du. Hier in der Küche. Sie steht dort neben dem Fenster.“ Kapitel 3: Drei --------------- Und hier ist das dritte Kapitel :)! Macht Euch einen schönen Tag und viel Freude und Empathie beim Lesen ;) Liebste Grüße von Lung ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Okay. Vielleicht war das doch ein bisschen viel auf einmal gewesen. War Jasper vorhin schon recht erschrocken, dann war er nun vollkommen entsetzt. Er starrte nicht nur, seine Augen traten geradezu aus ihren Höhlen. Mit einem Schlag war er erneut aschfahl. Schuldbewusst verzog ich das Gesicht. „W… D… M…,“ stotterte Jasper unzusammenhängend, Renate seufzte genervt. „Ich weiß,“ sagte ich und hob beschwichtigend die Hände, „Es tut mir leid, ich–,“ „Sch… Stopp!“, rief Jasper und ich verstummte auf der Stelle, während er sich die Handballen auf die Augen presste. Er atmete tief ein und aus. „Das…das ist genug…,“ flüsterte er und fächelte sich mit beiden Händen Luft zu. Mit einem flauen Gefühl im Magen schaute ich ihm zu. Selbst Renate schien bedrückt. „Das ist genug,“ wiederholte Jasper und funkelte mich auf eine Weise an, die mir sehr bekannt vorkam, „Das. Kann. Doch. Nicht. Dein. Ernst. Sein. Du willst mir sagen, dass meine Oma hier ist? In diesem Raum? Jetzt gerade?“ Ich nickte stumm. „Du machst dich über mich lustig…,“ wisperte er. Da war er hin, mein Optimismus. Da war das Ausrufezeichen. Ich konnte es ganz deutlich in seinen Augen sehen. Mein Herz wurde mir schwer wie Blei. „Nein…,“ antwortete ich trotzdem und schüttelte den Kopf, „Ich schwöre, ich mache mich nicht über dich lustig. Es ist mein voller Ernst…,“ Ich machte eine Pause und hasste mich für die Resignation in meiner Stimme. Aber ich erschrak darüber, wie weh es plötzlich tat. Ebenso wie bei Marius, vor zwei Tagen. Doch ich riss mich am Riemen und gab mir alle Mühe, nicht gleich im Selbstmitleid zu versinken. Dafür war später noch genug Zeit. Eine Strategie kannte ich noch. „Hör zu, ich kann mir vorstellen, wie du dich gerade fühlst. Jeder, dem ich das bisher erzählt habe, hat mehr oder weniger so reagiert. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber du–,“ „Nein, ich–,“ fing Jasper an, aber ich unterbrach ihn entschieden. „Sie ist ungefähr eins sechzig groß. Sie hat kurze Locken, wahrscheinlich die klassische Dauerwelle für alte Damen. Sorry, Renate. Sie trägt eine Brille mit runden Gläsern, ein Nachthemd und darüber einen Pullover in…beige, würde ich sagen. Und braune Hausschuhe.“ Mit offenem Mund sah Jasper mich an. Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „D… Das sind die Klamotten, in denen mein Papa sie gefunden hat. Sie…ist in ihrem Lesesessel eingeschlafen.“ Ich lächelte behutsam. „Sie ist ganz schön energisch, deine Oma. Sie nennt mich ständig junger Mann, wenn sie sich über mich ärgert, was ziemlich oft vorkommt. Ich fürchte, sie hält mich für einen Dummkopf.“ „Allerdings,“ schnarrte sie und ich knurrte zur Antwort nur. Jasper lauschte mir wie hypnotisiert. Mit einem Mal sah er so jung und zerbrechlich aus. Wie ein Enkel, der vor kurzem seine Oma verloren hat. „Welches Buch hast du am Abend deines Todes gelesen, Renate?“, fragte ich. „Die Konferenz der Tiere von Erich Kästner…,“ erwiderte Renate unter Jaspers unverwandtem Blick, der auf mich gerichtet war, „Mein Lieblingsbuch.“ „Die Konferenz der Tiere,“ wiederholte ich für ihren Enkel, „Das war ihr Lieblingsbuch.“ Jaspers Augen füllten sich mit Tränen. Dieser Anblick ließ mich schlucken. „Das stimmt…,“ flüsterte er und lächelte zaghaft, „Sie…sie hat mir und meiner Schwester manchmal daraus vorgelesen, als wir jünger waren.“ Über Renates Gesicht huschte ein zärtliches Lächeln und sie nickte, mit einem Mal ganz sprachlos. Ich jubilierte im Stillen. Eigentlich vermied ich den ganzen Liebeskram ja, aber diesmal durchflutete mich Erleichterung. Beide waren sie nicht mehr wütend. Vorerst jedenfalls. „Sie erinnert sich daran,“ sagte ich. Jasper schniefte und tupfte sich die Augen trocken. Er rührte mich so sehr, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Stattdessen ergriff ich seine Hand und zog ihn zu einem der anderen Küchenstühle, damit er sich setzen konnte. Seine Hand fühlte sich in meiner ganz schmal und weich an. Ich hielt sie fest, ein unerhört schönes Gefühl. „Sie…sie ist wirklich hier?“, fragte er leise, „Ganz ehrlich?“ Ich nickte. „Etwa schon die ganze Zeit?“ Ich nickte erneut. Jasper zog die Nase hoch. „Oh Gott…,“ murmelte er. Mit großen Augen sah er mich an. Große braungrüne Augen. Mit goldenen Sprenkeln. „Warum?“, hauchte er, „Was…? Ich… ich meine, wie geht es ihr?“ „Tja, sie hat da noch etwas, was sie mit dir besprechen möchte. Deshalb ist sie noch nicht…,“ „Ins Licht gegangen?“ „Naja, eigentlich gibt es kein Licht. Das ist eine Erfindung von Hollywood. Aber ja, deshalb ist sie noch hier. Und wie es ihr geht, kannst du sie selbst fragen. Sie kann dich hören.“ Jasper richtete sich in seinem Stuhl etwas auf. Sein Blick glitt hin und her und richtete sich dann auf die Ecke, in der Renate am Fenster stand. „Wie geht es dir, Oma?“, wisperte er. „Gut, gut,“ antwortete Renate gereizt, „Ich möchte nun aber endlich zum Thema kommen.“ Da war sie wieder. Renate, wie sie leibt und lebt. Leibte und lebte. „Du könntest ruhig ein bisschen einfühlsamer sein,“ entgegnete ich ihr bissig, „So einen Schock zu verkraften, braucht seine Zeit.“ Renate und Jasper begannen gleichzeitig zu sprechen. Jasper fragend, Renate zänkisch. Ich hob die Hand und sie verfielen beide in Schweigen. „Es wäre nett, wenn ihr abwechselnd redet, okay? Multitasking war nie meine Stärke. Okay. Jasper, es geht ihr gut. Aber sie möchte jetzt gern zum Grund ihres, ähm, Besuchs kommen. In Ordnung? Renate, ich werde sozusagen als dein Sprachrohr fungieren. Was du zu Jasper sagst, sag ich nochmal laut, damit er dir antworten kann. Alles klar?“ Sie nickten wie eine Person. Beide wirkten erwartungsvoll. Jaspers Tränen waren inzwischen getrocknet. Zum Glück. Leider brauchte er jetzt aber auch meine Hand nicht mehr. Ich öffnete den Mund, um den Startschuss zu geben, doch Renate brauchte mich nicht. „Sag ihm, dass ich es weiß,“ begann sie säuerlich, „Und sag ihm, dass es mir nicht gefällt.“ Ich brummte und schon wieder lagen mir eine Menge mürrischer Entgegnungen auf der Zunge. Aber ich hielt mich zurück. Das war jetzt eine Sache zwischen den beiden. Falls Jasper Hilfe brauchen sollte, konnte ich ihm immer noch beispringen. „Sie sagt, dass sie es weiß. Und sie will, dass du weißt, dass es ihr nicht gefällt.“ Verständnislos schaute Jasper mich an. „Hä?“ „Sie meint, dass…,“ entschuldigend erwiderte ich seinen Blick, „Dass du schwul bist. Das meint sie. Sie weiß es und es…gefällt ihr nicht.“ Jasper verfiel erneut ins Starren und auf sein Gesicht trat ein Ausdruck des ungläubigen Widerwillens, verbitterter Ärger färbte seine Haut rot. Schlagartig sah er nicht mehr jung und zerbrechlich aus und ich musste mich schleunigst daran erinnern, dass sein Groll nichts mit mir zu tun hatte. Er stieß ein wutentbranntes Schnauben aus und wandte den Blick ab. „Das ist ja wieder klar…,“ zischte er, „Meine Oma geht nicht auf die andere Seite, weil sie etwas dagegen hat, dass ich schwul bin. Natürlich. Das hätte ich mir ja denken können…,“ Er erhob sich, ging ein paar Schritte nach links und ein paar nach rechts. Beklommen beobachtete ich ihn dabei. An den Bewegungen seiner Hände konnte ich erkennen, wie die Gedanken durch seinen Kopf rasten. „Ich glaub es einfach nicht!“, fuhr er auf und ich zuckte tatsächlich etwas zusammen, „Ich fass es nicht, dass du allen Ernstes immer noch versuchst, mein Leben zu bestimmen! Immer, immer war das schon so. Wie, du willst Germanistik studieren, Jasper? Schlag dir das besser aus dem Kopf, Germanistik ist eine brotlose Kunst. Studier lieber Medizin, so wie dein Opa. Oma, du bist tot!“, er schnappte nach Luft, „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie lange ich das schon mit mir rumschleppe? Ich weiß schon seit Jahren, dass ich auf Männer stehe. Schon seit ich zwölf bin. Aber ich habe es immer verschwiegen, weil ich wusste, dass du es nicht akzeptieren würdest. Aber nun habe ich die Nase voll, Oma. Ich kann und will nicht mehr so tun als ob, ich will endlich ich sein!“ Er atmete schwer und seine Augen bohrten sich wie Laserstrahlen in mein Gesicht. Mein Mund wurde ganz trocken. Hilfesuchend schaute ich zu Renate hinüber, die kein Stück gelassener als ihr Enkel wirkte. Tatsächlich sahen die beiden sich mit einem Mal erschreckend ähnlich. Familie, ganz klar. „Ich verbitte mir diesen Ton!“, herrschte sie mich/Jasper an, „Und ich habe niemals versucht, dein Leben zu bestimmen, junger Mann. Ich wollte lediglich das Beste für dich.“ Ich übersetzte, Jasper lachte auf. „Ja, klar! Und das Beste für mich ist natürlich, genau zu sein wie du. Oder wie Opa.“ „Sie sagt, das wäre Blödsinn.“ „Das ist es nicht! Du warst immer nur dann zufrieden, wenn ich die Dinge so gemacht habe, wie du sie für richtig hältst. Nachdem ich mich für Germanistik und Geschichte eingeschrieben habe, hast du eine Woche lang nicht mit mir geredet. Eine Woche lang!“ „Sie meint, sie wollte dich nur davon abhalten, dein Leben wegzuwerfen.“ Es wurde ein wenig hässlich. Renate und ich erfuhren, dass Jasper offenbar schon seit geraumer Zeit eine große Menge Frust mit sich herum trug. Er rannte durch die Küche und redete und redete und gestikulierte dabei. Ich war froh, dass Renate immer nur kurz und knapp antwortete. Zwar waren ihre Worte laut und scharf und voller Missbilligung, aber sie waren leicht weiterzureichen. Wie sehr sie Jaspers zahlreiche Vorwürfe beschäftigten, bemerkte man überwiegend an ihrem Äußeren. Ihre Augen blitzten, ihr Mund war eine schmale Gerade und während des Gesprächs verschwand sie immer wieder und tauchte unvermittelt irgendwo anders in der Küche wieder auf. Wäre es ein »normaler« Streit gewesen, hätte ich mich höchstwahrscheinlich bereits nach zwei Minuten davon gemacht. Aber da die zwei auf mich angewiesen waren, musste ich es aussitzen und ich saß mitten in der Mitte. Ich bekam wohl oder übel sämtliche zornerfüllten Blicke von Jasper und die ganze Gewalt von Renates Stimmvolumen ab. Es war harte Arbeit. Schließlich – nach Stunden, wie mir schien – beruhigte Jasper sich. Inzwischen war er den Tränen nahe. Seine Worte kamen abgehackt und ich konnte sehen, wie er zitterte. Nach der letzten halben Stunde, in der er mir seine nachtragende, aggressive und höhnische Seite gezeigt hatte, erstaunte es mich fast, wie sehr mich seine Verzweiflung erschütterte. Ich mochte ihn immer noch. Eigentlich mochte ich ihn jetzt sogar noch mehr als zuvor. Jetzt mochte ich ihn wirklich. Jetzt kannte ich ihn. „Du hast gesagt, du willst nur das Beste für mich. Warum willst du dann nicht, dass ich glücklich bin?“ Er schluchzte fast. Und neben all meiner Anteilnahme beeindruckte es mich, wie man diese ganze Auseinandersetzung auf diesen einen Satz herunter brechen konnte. „Und wirklich glücklich kann ich eben nur sein, wenn ich mein Leben so leben kann, wie ich es möchte. Ich möchte das studieren, was mir Spaß macht. Ich möchte das anziehen, was mir gefällt. Ich möchte das essen, was mir schmeckt. Und ich möchte so lieben, wie ich will,“ er schniefte und schluckte, „Oma, ich bin schwul. Und ich habe es mir wirklich nicht leicht damit gemacht. Zehn Jahre lang habe ich versucht, anders zu sein. Aber ich hab’s nicht geschafft, weil ich halt so bin. Ich weiß, die Bibel und so, aber–,“ Renate sagte etwas dazwischen und ich hob die Hand, um Jaspers Monolog abzubrechen. „Was hast du gesagt, Renate?“, fragte ich und sah mich nach ihr um. Inzwischen stand sie vor dem Herd, nur eine Armeslänge von ihrem Enkel entfernt. Sie musterte ihn eindringlich. Jasper musterte mich und wartete stumm. „Du verstehst es einfach nicht,“ zischte sie. Ich knirschte mit den Zähnen. Ich konnte es mir nicht verkneifen. „Was sagt sie?“ „Sie sagt, du verstehst es einfach nicht.“ Jasper schien am Ende seiner Kräfte. Er sackte gegen den Kühlschrank und schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Jetzt war ich an der Reihe, Partei zu ergreifen. „Hör mal, du–,“ Ich unterbrach mich. Renate war verschwunden. „Renate? Renate!“ Mit den Augen suchte ich die Küche und dann den Flur ab. Nichts. Ich spürte sie nicht mehr. Knurrend sank ich in meinem Stuhl zurück. Aber eigentlich fand ich es ganz schön, endlich mal ganz allein mit Jasper zu sein. „Sie ist weg.“ „Weg?“, keuchte Jasper, „Was heißt weg?“ „Naja, sie ist nicht mehr da. Sie ist verschwunden.“ Vor Empörung schnappte Jasper nach Luft. Falsch lächelnd hob er den Blick zur Küchendecke. „Natürlich… Das ist so typisch für sie. So macht sie das immer. Wenn ihr die Argumente ausgehen, geht sie einfach weg…,“ Er senkte den Kopf und verbarg das Gesicht in den Händen. Er tat mir furchtbar leid. Ich wollte zu ihm hingehen und ihn fest in die Arme schließen. Doch ich wagte es immer noch nicht. Also erhob ich mich nur, um ihn erneut zu einem der Küchenstühle zu geleiten. Schwer ließ er sich auf ihn fallen. „Tut mir leid…,“ wisperte er mit belegter Stimme, die Hände im Schoß. „Du musst dich nicht entschuldigen,“ erwiderte ich und betrachtete seine Hände, „Ist schon gut. Das war alles ganz schön…heftig. Für dich und für sie. Vielleicht braucht sie auch nur ein bisschen Ruhe, um nachzudenken.“ „Meinst du, ich war zu gemein?“, fragte er mich reumütig, „Ich… Ich hab einfach die Nerven verloren und dann… Ich war echt fies…,“ „Naja… Jedenfalls warst du ehrlich,“ sagte ich und freute mich diebisch, als er ein wenig darüber gluckste, „Vielleicht war es einfach mal nötig. Scheinbar hast du das schon zu lange mit dir rumgeschleppt. Und wenn du es nicht jetzt gesagt hättest – wann dann?“ Er schniefte und nickte. Er sah fix und fertig aus. Ich hätte gern wieder seine Hand genommen. Dann hätte er sich an mich lehnen und ich hätte durch sein Haar streichen und vielleicht etwas an ihnen schnuppern können… Ach, verdammte Axt. Ich schlug die Beine übereinander. „Woher hat sie es eigentlich gewusst?“, fragte Jasper mich arglos, „Ich hab nach ihrem Tod noch gewartet, bis sich die Gemüter etwas beruhigt haben. Erst dann hab ich es meinen Eltern und meiner Schwester gesagt.“ Ich zuckte die Schultern. „Vielleicht war sie dabei, als du es ihnen gesagt hast. Du hast sie halt nicht gesehen. Aber sie war bei euch und hat alles gehört.“ Jasper nickte. Seine Augen waren gerötet. Er sah aus wie jemand, der eine Woche nicht geschlafen hatte. Ich wusste, dass ich mich langsam verabschieden sollte, damit er sich sammeln konnte. Aber ich verließ ihn nur ungern. „Ruh dich ein wenig aus,“ sagte ich trotzdem freundlich und konnte mich nicht davon abhalten, zum Abschied meine Hand auf seine Schulter zu legen, „Für einen normalen Mittwoch habe ich dir ziemlich viel zugemutet.“ Er lachte leise und schniefte abermals. „Wenn du…nochmal reden willst…,“ fuhr ich fort und zog den kleinen Schreibblock auf dem Tisch, auf dessen erster Seite Glasreiniger stand, zu mir hin, „Über deine Oma oder…oder was auch immer. Ruf mich an. Okay?“ Mit einem pinken Kuli kritzelte ich meine Festnetznummer auf die zweite Seite. Als ich aufblickte, lächelte er mich an. Jetzt sah er wieder jung und verletzlich aus. Und niedlich, meine Fresse. „Danke. Du… Du bist wirklich sehr nett.“ „Ach, naja…,“ „Doch. Das bist du.“ Na gut. Wenn er meinte. Wie könnte ich ihm da widersprechen? Kapitel 4: Vier --------------- Hier kommt eines meiner oder vielleicht sogar mein Lieblingskapitel :)! Ich hoffe, Ihr habt ebenfalls Spaß! Liebe Grüße von Lung ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Als ich aus Jaspers Haustür trat, war das Wetter umgeschlagen. Nun zeigte sich der April von seiner regnerischen, windigen Seite. Ich beeilte mich, über die Straße und in meine Wohnung zu gelangen. Dort angekommen, lehnte ich mich an die Wand und atmete tief durch. Ich fühlte mich ausgelaugt. Und schwach vor Hunger. Ich warf meine Klamotten von mir als wären es Fremdkörper und stieg endlich unter die Dusche. Lange stand ich dort und schrubbte mich blitzeblank. Und dabei versuchte ich nicht an Marius zu denken, was mir erstaunlich leicht fiel. Doch ich versuchte ebenfalls nicht an Jasper zu denken, was mir dagegen erstaunlich schwer fiel. „Du Trottel,“ sagte ich anschließend zu meinem Spiegelbild und musterte es grimmig, „Hast du dir jetzt einen Crush eingefangen oder was? Na, super. Von einer aussichtslosen Beziehung in die nächste. Das sieht dir ähnlich.“ Nachdem ich mich dürftig abgetrocknet hatte, wickelte ich mir ein Handtuch um die Hüfte und verließ das warme Badezimmer. In der Küche kam mir Cleo entgegen. Sie schnurrte bei meinem Anblick und machte einen Buckel. Sie zu sehen heiterte mich auf. „Hey…,“ seufzte ich zärtlich und nahm sie auf den Arm, „Na du? Hallo, mein Schatz. Du bist bestimmt hungrig, mhm? Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme. Aber wenn du wüsstest, was ich erlebt habe, würdest du es verstehen.“ Ich kraulte ihren Nacken und obwohl sie eigentlich nicht gerne auf den Arm genommen wurde, schnurrte sie mir heute liebevoll ins Gesicht, als wüsste sie, dass ich ein bisschen Liebe brauchte. Nachdem ich sie wieder abgesetzt hatte, fütterte ich sie. Während sie ihr Abendessen verschlang, erzählte ich ihr von Renate und ihrem Problem. Und auch von Jasper. Das konnte ich mir einfach nicht verkneifen. „Aber es ist völlig blöd,“ schloss ich, als Cleo sich nach dem Fressen genüsslich streckte, „Die Wahrscheinlichkeit, dass er nach einer Nacht Bedenkzeit immer noch mit mir ausgehen würde, stehen wohl grad mal bei zehn Prozent. Und selbst wenn ich ihn bald wieder auf der Straße treffe, was sollte ich sagen? Hey, mal wieder was von deiner Oma gehört? Pfff, wohl kaum.“ Ich schüttelte entschieden den Kopf: „Das muss aufhören. Sofort.“ Dann folgte ich Cleo ins Schlafzimmer, um mir was Bequemes anzuziehen und mich anschließend mit irgendwas Essbarem vor die Glotze zu hauen. Es wurden Spaghetti. Auch in dieser Nacht wurde ich geweckt. Diesmal allerdings vom Telefon. Es schrillte mitten durch meinen Tiefschlaf hindurch. Ich schreckte hoch und brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren. Das konnte doch nur ein Albtraum sein. Doch dann hörte ich es wieder, unverkennbar und unverschämt. Ich stöhnte wie ein verletzter Hirsch, schaltete gequält die Nachttischlampe an und blinzelte geblendet auf die Anzeige meines Weckers. Es war kurz nach halb eins. „Verdammte Scheiße…!“, knurrte ich, „Das kann doch nicht wahr sein!“ Wutentbrannt und benommen schlug ich die Decke zurück und lief barfuß in den finsteren Flur, zum schreienden Telefon hin. Beinahe wäre ich gegen einen der Küchenstühle gerannt. Fluchend hob ich ab. „Ja?“, grollte ich, „Was zur Hölle–,“ „Hier ist Jasper!“, schluchzte es am anderen Ende. Mir blieb fast das Herz stehen. „Jasper?!“ „Es tut mir leid, dass ich dich wecke, aber–,“ Er schrie auf und im Hintergrund hörte ich es poltern. Als er wieder sprach, überschlug sich seine Stimme in Panik. Ich presste den Telefonhörer gegen das Ohr, um ihn verstehen zu können. „Bitte! Bittekannstdurüberkommen?! Hierhier…espassierenkomischeDinge! MeineSachen, siesiefliegen, allesbewegtsichund–,“ Er schrie erneut auf und irgendwo schepperte etwas. Obwohl ich nur die Hälfte begriffen hatte, stand meine Entscheidung schon fest. „Ich bin gleich bei dir!“, rief ich, „Hab keine Angst, ich bin gleich da!“ Kopflos schmiss ich den Hörer aufs Telefon und drehte mich einmal im Kreis, bevor mir wieder einfiel, wo meine Schuhe standen. Ich schlüpfte hinein, dachte gerade noch an meine Schlüssel auf dem Küchentisch und stürmte aus der Wohnung. Die Treppen nahm ich ihm Galopp und schon stand ich in T-Shirt und Boxershorts auf der nächtlichen Straße. Der Regen hatte zum Glück aufgehört, aber es war scheißkalt und windig und im Licht der Straßenlaternen schimmerten riesige Pfützen auf dem Asphalt. Ich achtete nicht auf die unmenschlichen Bedingungen, rannte blindlings zu Jaspers Haustür und warf mich dagegen. Es krachte – sie war zu. Knurrend und keuchend suchte ich Jaspers Klingel. Ich fand sie und klingelte Sturm. Keine zwei Sekunden später ertönte der Summer. Ich stürzte ins Treppenhaus und nahm immer drei Stufen auf einmal, wobei ich höllisch aufpassen musste, dass ich mit meinen nassen Schuhen nicht ausrutschte. Mit hämmerndem Herzen erreichte ich schließlich Jaspers Treppenabsatz. Er wartete in der sperrangelweit geöffneten Tür auf mich und kam mir sofort entgegen, sein Gesicht ein einziger Schrecken. Ohne zu zögern sprang er mir in die Arme. In meinem Kopf wurde es für einen Augenblick ganz still. Es war unpassend, aber es fühlte sich verdammt schön an. Sein Körper war so warm und fest, so schön lebendig. Ich drückte ihn enger an mich, als es unbedingt nötig gewesen wäre. Und er klammerte sich um meinen Hals, sodass seine Füße ein Stück über dem Boden schwebten. „Danke!“, schluchzte er erstickt über meine Schulter, „Es tut mir so leid, aber ich…ich wusste einfach nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte…,“ „Schon gut…,“ wisperte ich und streichelte mit einer Hand sein Haar, „Schon gut…,“ Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Außerdem war er mir ganz nah und ich konnte sein Herz gegen meine Brust pochen spüren und den Duft wahrnehmen, den sein Haar, seine Haut und sein grünkarierter Schlafanzug verströmten. Irgendwie süß und weich wie der eines Babys. Und ich fühlte seine Nase, die meinen Hals berührte. Ich wagte kaum zu atmen. Irgendwann musste ich ihn aber doch loslassen. Das tat ich, als das automatische Licht im Treppenhaus ausging. Vorsichtig ließ ich ihn zurück auf den Boden gleiten und schlug gegen den Lichtschalter. Im grellen Licht schaute ich ihn mir genauer an. Sein Haar stand zu Berge und er war immer noch sehr blass. Er schniefte und atmete schwer und grub seine Finger in mein T-Shirt, als könne er noch nicht ganz auf den Körperkontakt zu mir verzichten. Das machte mich ziemlich an, also beeilte ich mich, zur Sache zu kommen. „Okay. Was ist passiert?“ „Ich… Also, ich bin aufgewacht… Wegen der Geräusche. Es rauschte und… Also hab ich das Licht angemacht und da hab ich gesehen, wie alles durchs Zimmer flog!“ Fassungslos verfiel er ins Quieken. Er musste sich einmal räuspern, bevor er weiterreden konnte. „Meine Bücher und das Alpenveilchen und meine Schuhe! Ich…ich hab gedacht, ich spinne. Ich bin aus dem Bett gesprungen und dann ist das Licht einfach wieder ausgegangen – von ganz allein! – und ich…ich bin in den Flur und aus der Küche kam mir ein Stuhl entgegen und da... Da hab ich einfach die Nerven verloren und dich angerufen. Weil, weil…,“ Er rang nach Worten. „Weil… Du weißt schon. Du bist der Einzige, der… Tut mir leid…,“ „Schon gut,“ sagte ich erneut. Gleichzeitig drehten wir die Köpfe und starrten in das schwarze Loch, das Jaspers Wohnung war. Kein Laut kam von dort. „Es hat aufgehört, kaum dass ich aufgelegt hab,“ flüsterte Jasper. Ich atmete tief durch. „Gut. Dann schauen wir uns das doch mal an.“ Jasper schluckte. Aber dann nickte er entschlossen. Ich fand ihn so mutig, dass ich ihm einfach die Hand auf die Schulter legen musste. Zu meiner Verblüffung nahm er dies zum Anlass, sich nah an mich zu drängen und mir beide Arme um die Taille zu schlingen. „Sorry…,“ hauchte er und schaute beschämt zu mir hoch, während ich mit der inneren Hitze kämpfte, „Ich fürchte, sonst trau ich mich nicht…,“ „Schon gut…,“ brummte der Trottel in mir zum vierten Mal. So begannen wir unsere Wanderung durch das Niemandsland. Im langsamen Gleichschritt schoben wir uns durch den Türrahmen in Jaspers Wohnung hinein, seine Arme um meine Taille und sein Kopf an meiner Brust, mein linker Arm um seine Schultern. Mit dem Fuß schloss ich die Wohnungstür. Dröhnende Stille und Dunkelheit umgab uns. „Der Lichtschalter ist rechts,“ hauchte Jasper. Ich tastete an der Wand entlang. Licht flammte auf. „Meine Fresse…,“ entfuhr es mir. Mitten im Flur lagen drei der Küchenstühle. Und ein paar Töpfe. In der Ferne erkannte ich heruntergerissene Poster, einen umgekippten Wäscheständer und mehrere Schuhe. „Zum Glück ist Paula grad nicht da…,“ wisperte Jasper, „Wie hätte ich ihr das sonst erklären sollen?“ „Ist Paula deine Mitbewohnerin?“, fragte ich, während wir uns zur Küche vorarbeiteten. „Ja.“ Auch die Küche sah schick aus. Sämtliche Schränke standen offen. Sogar der Backofen. Und jede Menge Besteck bedeckte den Esstisch. Und diese Tomaten hatten gestern Abend sicher noch nicht auf dem Fußboden gelegen. Trotzdem. Es war überschaubar, es hatte System. Ein Chaos, ja. Aber keine Verwüstung. Langsam bahnten wir uns einen Weg durch die ganze Wohnung, schalteten überall die Lichter an und bestaunten das Maß des Durcheinanders. „Siehst du irgendwas?“, wollte Jasper wissen, „Irgendwas…Ungewöhnliches?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nichts.“ Aufmerksam schaute und lauschte ich. Aber da war nix Ungewöhnliches. Nur eine chaotische Wohnung. „Oh nein…,“ machte Jasper, als wir in seinem Zimmer angekommen waren, dem Raum, der mit Abstand am meisten abbekommen hatte, „Und erst vorgestern hab ich so gründlich aufgeräumt…,“ Er löste sich von mir, was ich mit großem Bedauern zur Kenntnis nahm, und stieg über seinen umgeworfenen Schreibtischstuhl, um eine Topfpflanze aufzuheben. Er stellte sie auf den Schreibtisch und sah sich hilflos um, ließ seine Augen über das zerwühlte Bett und die verstreuten Unmengen an Büchern, Papieren, Stiften, Schuhen, CDs, Kissen, Klamotten, Postkarten und allgemeinem Schnickschnack wandern. Ich folgte seinem Blick und überlegte, ob ich ihm vielleicht meine Hilfe beim Aufräumen anbieten sollte. „Hast du so etwas schon mal erlebt?“, fragte er mich. „Äh, nein, nie,“ antwortete ich zerstreut, „Dass Geister solche Saiten aufziehen, ist selten. Meistens haben sie nur relativ kleine Problemchen. Kannst du sicher gehen, dass meine Schwester den Hund kriegt und nicht mein Ex-Mann? So etwas. Aber wenn ein Geist so ein Chaos anrichten kann, dann muss er ziemlich mächtig sein.“ „Und wie wird er so mächtig?“ „Große Gefühle.“ „Wut?“ „Ja, unter anderem. Aber auch Eifersucht, Angst, Liebe. Alles, was uns über alle Maßen bewegen kann, kann auch Geister bewegen. Schließlich sind das auch Menschen. Halt nur tote.“ Jasper schluckte. Ich sah mich um. „Hallo?“, sagte ich laut, „Wenn hier jemand ist, wär es toll, wenn er sich zeigen würde.“ Nichts geschah. „Es ist nicht sehr nett, fremdes Eigentum in der Gegend herum zu schmeißen, ohne wenigstens den Grund dafür zu nennen.“ Immer noch nichts. Jasper schaute mich fragend an. Ich zuckte die Schultern. „Keiner da,“ antwortete ich, „Oder es ist jemand da und er will sich nicht zeigen. Ich fürchte, da können wir jetzt nichts machen.“ „Oh Gott…,“ Jasper fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und ließ sich auf sein Bett sinken. „Aber warum überhaupt? Wer ist es? Was habe ich ihm getan?“ Ich schwieg. Wir musterten einander und dachten wohl das gleiche. Aber wir sprachen es beide nicht aus. „Wie lange wohnst du schon hier?“, fragte ich, „Ist das seit dem schon einmal passiert?“ Mit bekümmerter Miene schüttelte Jasper den Kopf. „Niemals. Und ich wohne bald zwei Jahre hier.“ „Okay. Dann liegt es nicht an der Wohnung.“ „Heißt das… Liegt es dann an mir? Werde ich… Werde ich heimgesucht?“ Er fürchtete sich. Ich konnte es daran sehen, wie seine Augen sich weiteten. Und erneut sickerte die Farbe aus seinem Gesicht. Kein Wunder. Heimsuchungen waren nichts für schwache Nerven. „Kann sein…,“ sagte ich abwägend, „Ist in deinem Umfeld in letzter Zeit jemand gestorben? Ich meine, außer…,“ Jasper schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“ „Okay. Dann müssen wir wohl einfach abwarten. Vielleicht ist es ein alter Bekannter von dir, an den du lange nicht mehr gedacht hast. Es ist aber auch möglich, dass dich jemand verwechselt. Manchmal sind Geister etwas…verwirrt. Besonders wenn sie grad erst gestorben sind und noch nicht ganz geschnallt haben, was mit ihnen passiert ist. Oder es ist halt…,“ Ich verstummte, als Jasper trübselig den Blick abwandte. „So oder so,“ sagte ich, „Du bist nicht allein, okay? Ich wohne direkt nebenan und ich werde dir selbstverständlich dabei helfen, das hier zu überstehen. Okay? Mach dir keine Sorgen.“ Er drehte den Kopf und schaute mich erneut an. Und lächelte dankbar. „Danke.“ „Kein Problem…,“ ich räusperte mich, um meine Verlegenheit zu überspielen, „Okay. Heute Nacht richten wir hier nichts mehr aus. Ich schlage vor, dass wir morgen–,“ Jasper unterbrach mich. Auf seiner Miene war wieder der Schrecken erschienen. „Soll ich… Soll ich jetzt etwa einfach wieder ins Bett gehen? Das kann ich nicht! Heute Nacht mach ich hier kein Auge mehr zu. Was, wenn es wieder losgeht, sobald du gegangen bist?“ Mir kam eine wahnwitzige Idee. „Naja, ich…ich würde dir ja anbieten, bei mir zu schlafen, aber das–,“ „Ja!“ „ –wäre vielleicht ein bisschen…seltsam… Ja?“ Ich war völlig verdutzt. Jasper lächelte peinlich berührt. Mein Herz machte einen komischen kleinen Hüpfer. „Also… Also, wenn es dir nix ausmacht…,“ „N… Nein…,“ stammelte ich, „Natürlich nicht. Wenn du willst.“ „Ja,“ sagte er entschlossen, „Kann ich?“ „Äh, klar. Okay.“ Sekundenlang lächelten wir uns auf die gleiche Weise an, nervös und verlegen. Aber auch irgendwie zufrieden. Dann ging Jasper los, um seine Zahnbürste zu holen. Er meinte es wirklich ernst. Meine Fresse. Kapitel 5: Fünf --------------- Für meine treuen LeserInnen gibt es heute ein großes Kapitel. Das nächste ist dagegen dann eher schmal^^ Viel Spaß und ein schönes Wochenende! ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Ich konnte es nicht glauben. Während wir gemeinsam und frierend über die nasskalte Straße liefen, konnte ich es nicht glauben. Und auch, als wir nebeneinander in meiner erleuchteten und halbwegs warmen Küche standen und jeder ein Glas Wasser tranken und er mich dabei begeistert über Cleo ausfragte, konnte ich es noch nicht glauben. Selbst als wir nebeneinander in meinem Bett lagen, zweifelte ich noch an meinen Sinneseindrücken. Doch es war tatsächlich real. Jasper, der süße Jasper, den ich seit Monaten auf der Straße mit den Augen verschlang, Renates Enkel, den ich erst heute Nachmittag kennen gelernt hatte, schlief mit mir in einem Bett. In meinem Bett. Womit hatte ich das verdient? Entspannt lauschte ich seinem leisen Atem. Ich fragte mich, ob er schon eingeschlafen war. Wir lagen zwar erst knappe fünf Minuten hier, aber nach all dieser Aufregung hätte es mich nicht gewundert, wenn er sofort weggedöst wäre. Ich schloss die Augen und lächelte in mich hinein. Irgendwie fühlte sich dies unheimlich intim an. Obwohl überhaupt nichts lief, was natürlich schade war. Aber Marius hatte mich gelehrt, dass Sex nicht unbedingt etwas mit wahrer Intimität zu tun haben musste. So nah wie ich Jasper jetzt schon war, war ich Marius nie gekommen. Marius. Ich drehte mich auf die Seite und dachte an ihn. Das erste Mal ohne Wehmut. Jasper ähnelte ihm irgendwie. Die beiden entsprachen einem Typ – schlank, brünett, süß, etwas feminin und pseudo-unschuldig, mit einem gewissen Hang zum Schalk. In der Hinsicht war ich tatsächlich ziemlich berechenbar. Meine Fresse. Es war zu traurig. Und auch meine und Marius‘ Beziehung hatte damals so angefangen. Mit einer gemeinsamen Nacht im selben Bett. Wir waren zwar nie verliebt gewesen, aber kaum hatten wir uns das erste Mal in die Augen geschaut, war klar gewesen, dass wir die Nacht miteinander – beziehungsweise aufeinander – verbringen würden. Seine ersten zwei Worte an mich waren Schöner Bauch gewesen. Dabei hatte er seine Finger in meinen Hosenbund geschoben und mich näher gezogen, seine Augen ein Paar blitzender brauner Kristalle. Anschließend hatten wir es ziemlich eilig gehabt, zu mir nach Hause zu kommen. Die Nacht war schlaflos vergangen und am nächsten Morgen fühlte ich mich geradezu entjungfert. Marius hatte jede Menge Phantasie gehabt und jede Menge Lust, diese auch in die Tat umzusetzen. Wir hatten uns nie verliebt, aber er war trotzdem geblieben. Wochenlang hatten wir uns regelmäßig getroffen, um miteinander zu schlafen. Aber auch außerhalb des Bettes hatten wir uns gut verstanden. Marius besaß ein loses Mundwerk, was das Zusammensein mit ihm sehr amüsant gemacht hatte. Und er hatte Cleo gemocht. So hätte es immer weiter gehen können – das hatte ich zumindest gedacht. Bis zu der Nacht, in der ich mich dazu hatte hinreißen lassen, Ralph ein bisschen zu laut im Badezimmer anzubrüllen und Marius daraufhin auf Nimmerwiedersehen aus meiner Wohnungstür gestürmt war. „Tonda?“ Ich schlug die Augen auf und fühlte dem heißkalten Schauer nach, der mir die Wirbelsäule entlang rann. Es war das erste Mal, dass Jasper meinen Namen aussprach. „Ja?“ „Schläfst du schon?“ „Tief und fest. Hörst du mich nicht schnarchen?“ Jasper kicherte in der Finsternis. Auf meinem Gesicht breitete sich ein Schmunzeln aus. Intimität. Jasper kannte mein Geheimnis. Und er war trotzdem hier. „Glaubst du…,“ sprach er es dann endlich aus, „Glaubst du, meine Oma hat das getan?“ Ich schwieg einen Moment. „Würdest du ihr das denn zutrauen?“ „Keine Ahnung. Ich hab das Gefühl, sie gar nicht mehr zu kennen. Aber wenn sie extra hierbleibt, um mir zu sagen, dass sie ein Problem mit meiner Homosexualität hat, dann… Ja, dann traue ich es ihr zu. Bestimmt will sie mich bestrafen…,“ Seine Stimme klang ganz niedergeschlagen. Automatisch tastete ich in der Dunkelheit nach seiner Hand, um ihn zu trösten. Ich fand sie und er verschränkte seine Finger mit meinen, als hätte er nur darauf gewartet. Er schniefte leise. „Ich hab nochmal mit ihr geredet…,“ flüsterte er, „Vorm Schlafengehen, nachdem ich die Spaghetti wieder aufgewärmt und mir drei Folgen Sex and the City reingezogen hatte. Ich wusste natürlich nicht, ob sie da war, aber ich…ich hatte so ein Gefühl. Da habe ich es einfach drauf ankommen lassen und nochmal versucht, es ihr zu erklären. Ganz ruhig diesmal. Aber vielleicht hat sie das sauer gemacht.“ Er stockte. Dann fuhr er fort. „Und ich… Also, ich fürchte…,“ „Was?“ „Ich fürchte, ich hab auch ein bisschen über dich geredet…,“ Fast hätte ich laut nach Luft geschnappt. Mein Herz machte einen Satz nach vorn. „W… Ehrlich?“ Er machte ein zustimmendes Geräusch. Ich konnte seine abwartende Verlegenheit regelrecht spüren. Und er verstärkte den Druck seiner Finger, als wollte er verhindern, dass ich meine Hand zurück zog. Aber natürlich dachte ich nicht im Traum daran. „Was… Was hast du gesagt…?“, überwand ich mich zu fragen. „Naja…,“ hauchte er und im dunstigen Licht der Straßenlaternen sah ich, wie er beschämt das Gesicht verzog, „So dies und das…,“ Manchmal war keine Aussage auch eine Aussage. Plötzlich war ich ziemlich aufgeregt. Ich stellte mir vor, wie ich mich aufrichtete und mich über ihn beugte, um seinen Mund zu küssen. Es drauf ankommen lassen. Das wäre bestimmt die Strategie schlechthin, um Renate aus der Reserve zu locken. Lass die Finger von meinem Enkel, du Strolch! Meine Gedanken preschten vorwärts. Ich stellte mir vor, wie ich Jasper den Schlafanzug auszog und herausfand, ob er unter ihm genauso schmal und feingliedrig war, wie es sich vorhin angefühlt hatte. Ich fand es sowieso bemerkenswert, dass er einen Schlafanzug trug. Ich selbst trug Boxershorts und irgendein T-Shirt. Marius hatte am liebsten nackt geschlafen. Nackt war überhaupt das Stichwort. Meine Phantasie erzählte mir von Jaspers festen Muskeln und seiner warmen, duftenden Haut, von dem berauschenden Gefühl, in etwas Heißes, Enges einzudringen. Und sie untermalte das Ganze mit einer Palette atemloser, begieriger Geräusche, so wie Marius sie immer von sich gegeben hatte. Mir brach der Schweiß aus und ich spürte, dass ich eine Erektion bekam. Ich ignorierte es und dachte daran, wie Renate über meinem Bett schwebte und uns angewidert beobachtete. Ein exzellenter Abtörner. Ich setzte nichts von meiner Phantasie in die Tat um. Ich fragte nicht weiter nach. Ich schlief einfach ein und als ich die Augen wieder öffnete, war es hell draußen. Und Jasper war immer noch da. Noch im Halbschlaf bestaunte ich ihn, wie er dort direkt neben mir lag, in meinem Bett. Er lag auf dem Bauch, sein Gesicht mir zugewandt und halb bedeckt von seinem wirren Haar. Die linke Faust lag so dicht an seinem Mund, dass es ein wenig so aussah, als würde er im Schlaf am Daumen nuckeln. Er war so zuckersüß, dass ich es nicht wagte, mich zu bewegen – aus Angst ihn zu wecken. Vorsichtig rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und checkte den Wecker. Es war zwanzig vor acht. Ich seufzte. Das kam davon, wenn man daran gewöhnt war, jeden Morgen um halb sieben aufzustehen. Ich überlegte, mich einfach wieder hinzulegen und Jasper wie zufällig den Arm über die Hüfte zu schieben. Allerdings musste ich dringend mal. Und dann dachte ich an Cleo. Sie mochte es gar nicht, wenn ich mich so verspätete. Also stand ich doch auf. Ganz langsam und leise streckte ich mich. Auf Zehenspitzen lief ich zum Fenster und schloss es. Draußen jagten Schäfchenwolken über den Himmel. Die Sonne schien, doch im Zimmer war es arschkalt. Vorsichtig schloss ich hinter mir die Schlafzimmertür und ging ins Bad. Nachdem ich mich erleichtert und mir das Gesicht gewaschen hatte, musterte ich mich im Spiegel. Ich sah schon wieder müde aus. Das war die dritte Nacht in Folge, in der ich nicht hatte durchschlafen können. Ich wurde alt. Aber jetzt lag Jasper in meinem Bett. Das war es wert gewesen. Bevor ich in die Küche ging, um Kaffeewasser aufzusetzen, spülte ich mir ausgiebig den Mund aus, um den fauligen Geschmack loszuwerden. Man konnte nie wissen, was der Morgen brachte. Cleo war not amused. Ihre Begrüßung fiel weniger herzlich aus als sonst und auf dem Weg nach oben zeigte sie mir wortwörtlich die kalte Schulter. Auf der Schwelle unserer Wohnung zögerte sie kurz. Vermutlich nahm sie Jaspers unbekannten Geruch wahr. „Keine Sorge,“ wisperte ich, „Alles in Ordnung, Mäuschen.“ Ich goss Kaffee auf und holte Katzenfutter aus dem Schrank. Während ich es zubereitete, versöhnte sich Cleo mit mir und strich mir schnurrend und maunzend um die Beine. Ich plauderte dummes Zeug mit ihr und dachte an Jasper. Und dann, gerade als ich Cleo ihren Napf hingestellt hatte und nach dem Kaffee sehen wollte, hörte ich die Schlafzimmertür gehen. In meinem Magen breitete sich ein Fallgefühl aus und mit einem Schlag wurden meine Hände ganz ratlos. Ich vergaß, wie man eine French Press bediente. Ich wirbelte herum. „Guten Morgen…,“ sagte Jasper scheu. „Morgen…,“ antwortete ich eben so. Wir lächelten uns verlegen an. Jasper stand im Türrahmen zum Schlafzimmer, sein grüner Schlafanzug war zerknittert und auch sein Gesicht sah noch ganz zerknautscht aus – zum Anbeißen niedlich. Ganz deutlich konnte ich das Herz in meiner Brust schlagen spüren. Es brachte mich ganz aus dem Takt. Cleo dagegen hatte die Ruhe weg, sie fraß und zuckte lediglich mit den Ohren. „Hast du…gut geschlafen?“, fragte ich. Jasper nickte lächelnd und kam tappend näher. Seine Augen waren auf Cleo gerichtet, in der Hand hielt er seine Zahnbürste. „Ja, danke. Ich dachte, ich würde länger brauchen, aber ich bin…ziemlich schnell eingeschlafen. Hallo, Katze.“ „Das ist Cleo. Cleo, das ist Jasper.“ Cleo hatte nur einen flüchtigen Blick über die Schulter geworfen und sich gleich wieder ihrem Frühstück zu gewandt. Sie hatte glasklare Prioritäten. Ich übrigens auch. Mir war eingefallen, worüber wir kurz vorm Einschlafen noch gesprochen hatten. Und woran ich gedacht hatte. Gewaltsam zwang ich mich zu meiner French Press zurück. „Willst du Frühstück?“, fragte ich mit dem Rücken zu Jasper, „Oder willst du gleich rüber?“ „Nein, ich hab erst heute Nachmittag Uni. Frühstück wäre toll.“ „Okay. Ich hab Toast und…ich könnte auch Rührei machen oder so.“ „Klingt gut.“ „Okay. Magst du Kaffee?“ „Ja, gern. Schwarz, bitte. Ich bin laktoseintolerant. Aber drei Löffel Zucker.“ „Alles klar.“ „Kann ich vorher dein Bad benutzen?“ „Sicher.“ „Danke.“ Er ging an mir vorbei, zum Badezimmer. Ich drehte den Kopf und schaute ihm nach. Noch immer konnte ich kaum glauben, dass er hier bei mir war. Heute war mein freier Tag. Der Tag, an dem ich einkaufen ging und Wäsche wusch und meine Eltern per Telefon wissen ließ, dass ich noch lebte. Aber heute war mir das alles egal. Hauptsache, Jasper frühstückte mit mir. Während er im Bad war, briet ich die Eier, deckte den Tisch und räumte alles aus, was mein Kühlschrank zu bieten hatte. Derweilen beendete Cleo ihr Frühstück. Sie leckte sich ihr Schnäuzchen und streckte sich genüsslich. Dann sprang sie auf die Fensterbank und sah hinaus. Kaum waren die Rühreier fertig, kam Jasper zurück. Nun sah er etwas wacher aus. „Darf ich Cleo streicheln?“, fragte er. „Klar. Lass sie vorher an deiner Hand schnuppern.“ Er ging zum Fenster und tat wie geheißen. Kurz darauf kraulte er ihren Kopf und sprach mit leiser, leicht verstellter Stimme mit ihr. So wie die meisten Menschen mit Tieren oder kleinen Kindern sprechen. Ich schob Toastscheiben in den Toaster und lauschte. „Hallo, du… Hallo. Du bist aber eine Hübsche. Und weiches Fell hast du.“ Cleo schloss die Augen und schnurrte laut. Ich erwischte mich beim Lächeln. „Sie ist so süß,“ sagte Jasper strahlend, als er sich zu mir an den Tisch setzte, „Ich glaub, ich bin verknallt in sie.“ Ich öffnete den Mund. Und was ist mit mir?, wollte ich fragen, Bist du vielleicht auch verknallt in mich? Aber ich traute mich nicht. Also schloss ich den Mund wieder, lächelte nur und versorgte Jasper mit Kaffee und Rührei. Während wir frühstückten, sprachen wir über Katzen und ihre typischen Verhaltensweisen. Jaspers Essgewohnheiten faszinierten und lenkten mich ab. Zuerst aß er das Rührei pur, dann nahm er Toast, wobei er auf Butter verzichtete und stattdessen jede Menge Himbeermarmelade drauf haute. Und mir gefiel, wie er sein Messer hielt. Mir gefiel, wie er an seinem Kaffee nippte. Mir gefiel sein Lachen wahnsinnig gut. „Können Katzen… Können sie auch Geister sehen?“, erkundigte er sich neugierig. Ich zuckte die Achseln und schaufelte Rührei auf meinen gebutterten Toast. „Ich weiß nicht, ob sie sie sehen können. Aber Cleo nimmt sie in jedem Fall wahr. Auch von Hunden und Pferden weiß ich, dass sie auf sie reagieren. Wenn ein Geist hier in der Wohnung ist, ist Cleo immer ein wenig nervös.“ „Kann ich verstehen.“ Nachdenklich biss er von seinem Toast ab und in seinen Mundwinkeln blieb Marmelade zurück. Mein ganzer Arm zuckte intuitiv, als wollte er sich ausstrecken, um die roten Flecken mit dem Daumen fortzuwischen. Doch auch diesen Impuls unterdrückte ich. Wenn ich erst eine Hand an seinem Mund hatte, konnte ich für nichts mehr garantieren. Möglicherweise würde ich ihn dann vor Cleos Augen unter dem Frühstückstisch vernaschen wollen. „Erzähl mir mehr,“ bat Jasper und ich erwachte blinzelnd. „Worüber?“ „Über die Geister. Erzähl mir alles.“ „Was alles?“ Voller Wissensdrang lächelte er mich an, zuckte die Schultern und leckte sich die Finger ab – ein sehr inspirierender Anblick, der allen Geisterkrams aus meinem Kopf fegte. „Na, wie sehen sie aus? Wie hören sie sich an? Sind es viele? Wie oft siehst du welche? Ist die ganze Stadt voll von ihnen? Kommen sie immer zu dir? Und wenn sie… Wenn sie ins Jenseits gehen, wie ist das?“, er holte Luft und unter seinem unverwandten Blick wurde mir ganz schwach zumute, „Und… Und du…? Ich meine, bist du der einzige auf der ganzen Welt? Wie lange kannst du das schon? Ist es nicht manchmal sehr, sehr schwer? Und wie viele wissen es? Was ist mit deinen Eltern, können sie das auch? Hast du schon mal mit der Polizei zusammen gearbeitet, weil ein Mordopfer zu dir kam? Und hast du auch Visionen und Träume? So wie Melinda Gordon?“ Er nahm sich kurz Zeit, um zu atmen. Doch bevor er noch einmal so viele Fragen formulieren konnte, hob ich beschwichtigend eine Hand. Zuerst hatte ich da eine Frage. Eine Frage, die mir noch viel mehr auf dem Herzen lag, als die mit dem Verknalltsein. „Heißt das… Heißt das, du glaubst mir?“, fragte ich ruhig, aber innerlich tobend. Einen Moment musterte er mich aufmerksam. Doch dann lächelte er und richtete sich auf, als wollte er seinen Worten würdevollen Ausdruck verleihen. „Ja,“ antwortete er feierlich, „Ja, das tue ich. Ich meine, ich kann es immer noch nicht fassen, aber ich glaube dir. Das, was ich gestern Nacht erlebt habe, das…das war rational nicht erklärbar. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Und ich…ich habe immer daran geglaubt, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als wir denken. Und du… Ich meine, es ist unglaublich. Aber es ist auch wahnsinnig cool. Ich… Ich denke… Ich denke, du bist der spannendste und außergewöhnlichste Mensch, den ich je getroffen habe…,“ Jasper verstummte. Einen Moment schwieg die ganze Welt. Dann liefen wir beide gleichzeitig rosarot an. Er senkte den Blick, ich stotterte. „A… Also… Ich… Also, also nein…,“ ich hüstelte, „Also, so außergewöhnlich bin ich nun wirklich nicht. Eigentlich bin ich sogar total normal. Ich… Ich meine, ich kann sonst nix Besonderes. Ich bin ganz gut bei Autos. Muss ich ja, schließlich arbeite ich mit ihnen. Aber ich kann keine Fremdsprachen. Selbst Englisch kann ich nur auf Schulniveau. Und in…in Erdkunde war ich immer eine Niete. Und Computer sind mir ein Rätsel. Ich kann kein einziges Instrument spielen, nicht mal Triangel. Und ich kann überhaupt nicht zeichnen. Ehrlich, ich kann nur Strichmännchen malen. Und selbst die sehen bescheuert aus–,“ Jasper begann zu kichern und ich klappte den Mund zu, bevor ich noch mehr Nonsens erzählen konnte, der ihn und den Rest der Welt davon überzeugen sollte, dass ich in Wahrheit langweilig und unfähig war. „Ich wette, du kannst doch Triangel spielen…,“ sagte er und lächelte mich so reizend an, dass ich sekundenlang nur das Gurren in meinem Bauch hören konnte. Über dieses Lächeln vergaß ich meine ganzen Unzulänglichkeiten. Plötzlich war ich glücklich. Und dann, weil er mir glaubte und weil er es wissen wollte und weil ich noch nie zuvor mit einem menschlichen Wesen darüber gesprochen hatte, kochte ich Kaffee nach. Und erzählte ihm meine Geschichte. Kapitel 6: Sechs ---------------- Und noch ein kleines Kapitel für Zwischendurch ;) Macht Euch ein schönes Wochenende! ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Ich hatte es schon immer gekonnt. Auf jeden Fall konnte ich mich an keine Zeit meines Lebens erinnern, in der ich es nicht gekonnt hätte. Natürlich erinnerte ich mich nicht an alles. Doch seit ich denken konnte, waren sie da gewesen. Meine Eltern sahen sie nicht. Niemand, von dem ich wüsste, sah sie. Woran das lag? Ich wusste es nicht. Tausendmal hatte ich mir selbst diese Frage gestellt. Vielleicht ein zusätzliches Chromosom? Irgendein Genfehler? Schon möglich. Vielleicht würde ich darauf nie eine Antwort finden. Aber vielleicht gab es auf dieser Welt tatsächlich noch andere wie mich, die sich die gleichen Fragen stellten. Als Kind hatte ich nicht verstanden, was Sache war. Ich brauchte lange, um zu begreifen, was und wen ich da sah. Ganz früher waren die anderen Kinder so wie ich, doch mit der Zeit verlernten sie es. Ich verlernte es nie. Ich erzählte meinen Eltern und meinen Schulfreunden davon, bis irgendwann die ersten Bedenken laut wurden. Liebe Herr und Frau Lipkina, Ihr Sohn Tonda erzählt den anderen Kindern in der Schule von Menschen, die außer ihm niemand sehen kann. Von Ängsten war da die Rede gewesen, vom Ärger anderer Eltern, von kindlicher Phantasie und Kinderpsychologen. Meine Eltern begannen sich aufrichtige Sorgen zu machen. Vielleicht dachten sie, ich hätte ein Aufmerksamkeitsdefizit oder so. Sie führten viele Gespräche mit mir, versuchten zu verstehen, was in meinem Hirn vor sich ging. Schließlich nahmen sie mir das Versprechen ab, den anderen Kindern nichts mehr darüber zu erzählen. Ich schwor es. Und ich schwor mir selbst, auch ihnen nichts mehr davon zu erzählen. Dieses Versprechen hielt ich bis heute. „Du hast nie wieder mit jemandem darüber geredet…?“, wisperte Jasper betroffen. „Doch, schon. Dir hab ich es ja auch erzählt. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, wenn ich einem Geist helfen will. Dann muss ich manchmal seine beziehungsweise ihre Angehörigen oder Freunde einweihen. Aber leider laufen diese Gespräche dann meistens nicht so gut wie mit dir. Und selbst wenn sie mir für den Augenblick glauben, hinterher sind sie trotzdem froh, wenn ich wieder aus ihrem Leben verschwinde. Es ist zu seltsam, zu beängstigend. Niemand schmeißt gerne sein gesamtes Weltbild über Bord. Und deshalb… Ja. So richtig darüber geredet hab ich nie wieder.“ Jasper musterte mich mit seinen großen, mitfühlenden Kulleraugen. Ich versank in diesem Blick. Ich wollte, dass er mich wieder außergewöhnlich nannte, dass er die Last, die ich trug, anerkannte und dadurch leichter machte. Ich wollte mich auf seinem Schoß zusammen rollen und meinen Kopf von ihm kraulen lassen. „Die sind doch alle scheiße,“ brummte er schließlich und brachte mich damit zum Lachen. Bevor ich die Hinzes und Kunzes dieser Welt in Schutz nehmen konnte, regte Jasper sich ein wenig auf. Er war bildhübsch dabei, in seinem grün karierten Schlafanzug. „Nein, ehrlich! Du bist ganz allein damit. Ich dachte immer, ich hätt’s schwer, weil ich schwul bin und mich nicht getraut habe, es meiner Familie zu sagen. Aber ich hatte immer Leute, mit denen ich darüber reden konnte. Ich meine, es gibt Fitnesscenter nur für Homosexuelle. Und es gibt das Schwulen-Referat vom AStA in der Uni. Und meine Eltern haben viel unproblematischer reagiert, als ich erwartet habe. Aber du bist ganz allein. Das… Das ist echt zum Kotzen.“ Ich lächelte. Seine Anteilnahme streichelte mein Ego so wunderbar, dass mein Herz zu flattern begann und mein Kopf vor Wohlbehagen ganz schwer wurde. Ich fühlte mich geradezu wie ein Märtyrer. Wir sprachen noch eine Weile darüber, wie ätzend es war, immerzu etwas vor Freunden, Kollegen oder Verwandten zu verbergen, sei es aus Angst, Scham oder schlechten Erfahrungen. Und auf diesem Wege kamen wir irgendwann zum Thema Beziehungen. „Wie… Wie ist das dann eigentlich bei dir?“, wollte Jasper wissen, während er sich seinen vierten Toast mit Marmelade bestrich, „Ich meine, wenn du…wenn du einen Kerl magst.“ Missmutig zuckte ich die Schultern. „Ach, ich… ich kann keine normale Beziehung führen.“ Schlagartig hob Jasper den Blick von seinem Toast. Er hatte noch gar nicht abgebissen, aber trotzdem konnte ich sehen, wie er schluckte. „Du… Wieso kannst du keine normale Beziehung führen?“ Ich blinzelte. Ich hatte gedacht, das würde auf der Hand liegen. „Naja, weil…weil es halt nicht geht. Wegen der Geheimnisse.“ „Oh. Ja, natürlich...,“ Er räusperte sich und aus seinen Schultern wich die Spannung. Er biss von seinem Toast ab und machte kauend eine Sprich-weiter-Geste. „Ich meine, es funktioniert einfach nicht,“ fuhr ich also fort, „Irgendwann geht es immer schief. Stell dir vor, mein Freund und ich sitzen knutschend im Bett und plötzlich quatscht mich ein Geist lautstark von der Seite an.“ Jasper prustete erstickt und auch ich musste lachen, obwohl die Situation damals echt nicht besonders witzig gewesen war. „Ja, genau. Ich erschrecke mich zu Tode und kann mich gerade noch davon abhalten, laut Sag mal, hast du sie noch alle?! zu brüllen. Wenn man mehr wahrnimmt als alle anderen, kommt man ständig in Erklärungsnot. Ständig fällt einem urplötzlich etwas ein, das man dringend noch erledigen muss. Verdammte Axt. Da muss der andere früher oder später einfach misstrauisch werden.“ Nachdenklich sah er mich an und schluckte den Bissen hinunter. „Das hast du wirklich erlebt, oder? Das mit dem…dem Knutschen und dem Geist.“ Ich brummte zustimmend. „Was hast du gemacht?“ „Hab behauptet, ich müsste dringend mal pinkeln.“ Jasper grinste. „Und wie ist es ausgegangen? „Auf lange Sicht? Schlecht.“ Und dann war Marius mit uns in der Küche. Er stand praktisch direkt neben dem Frühstückstisch. Jasper musterte mich aufmerksam und bevor ich mich versah, erzählte ich ihm auch davon. Ich erzählte ihm von Marius. Allerdings nur ganz knapp. Mehr erzählte ich ihm von Ralph, dem Geist mit dem miesesten Timing aller Zeiten. Ich erzählte ihm von seinem Problem und seiner Forderung, von unserem endlosen Gestreite und meinem Radiowecker, den Ralph in seinem Zorn zu Bruch hatte gehen lassen. Und dann erzählte ich ihm auch noch von Montagnacht. Drei Tage war das jetzt her. „Ich wurde mitten in der Nacht wach, weil er im Zimmer war. Er jammerte rum und schließlich bin ich ins Bad gegangen, damit wir ungestört reden konnten. Aber ich war so entnervt und wütend, dass ich ein bisschen übertrieben hab. Ich hab ihn ganz schön angeblafft. Und dann…flog plötzlich die Tür auf und…da stand Marius. Und starrte mich an. Ralph hat sich sofort vom Acker gemacht, weil er genau wusste…,“ Ich verstummte und kaute auf den Innenseiten meiner Wangen. Marius‘ Blick konnte ich immer noch ganz genau vor mir sehen. „Und weiter…?“, flüsterte Jasper. Ich seufzte schwer. Als ich weitersprach, klang meine Stimme ruhig und gleichgültig. „Ähm… Tja. In Kurzform lief es etwa so ab – Er: Mit wem hast du geredet? Ich: Äh, mit mir selbst. Er: Ja, klar. Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Und dann fing er an. Hat mich gar nicht zu Wort kommen lassen und mir sämtliche Situationen aufgezählt, in denen ich mich irgendwie seltsam benommen habe. Und bei jeder einzelnen hatte er Recht. Er hat mir erzählt, wie es ihn immer mehr beschäftigt hat. Aber er wollte nicht nachfragen, weil er…weil er mich mochte. Aber Montagnacht wollte er schließlich doch die Wahrheit wissen. Also…habe ich sie ihm gesagt.“ Jasper betrachtete mich wie gebannt. Ich lächelte, um Distanz zu schaffen. Zwischen mir und der Erinnerung. Doch als ich den Mund öffnete, kamen keine Worte heraus. Ich musste mir noch einmal die Lippen befeuchten. Jasper half mir. „Er hat dir nicht geglaubt?“, wisperte er. Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Das hat er nicht. Er sagte… Er sagte, dass ich dringend Hilfe bräuchte. Und das wir uns besser erst mal nicht sehen sollten. Dann hat er seine Sachen geholt und ist wie der Blitz aus der Wohnung raus. Ich glaube… Ich glaube, er hatte sogar Angst vor mir.“ Ja. Das war das Schlimmste gewesen. Die Furcht in Marius‘ Augen. Er hatte sich vor mir, dem Irren, gefürchtet. Vielleicht hatte er sich gefragt, wie psychisch gestört ich tatsächlich war. Und ob er in Gefahr schwebte. Ob ich ihm etwas antun könnte… Mein Gott. Dabei hatte mir doch nichts ferner gelegen, als ihm ein Haar zu krümmen. „Tut mir leid…,“ sagte Jasper leise. Ich nickte und mein Mund lächelte. „Danke. Ist schon gut. So läuft das nun mal. Ich kann ihn sogar verstehen. Aus seiner Perspektive was das sicher total beängstigend. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch so reagiert.“ „Wart ihr…? Ich meine, warst du…? Wart ihr…verliebt ineinander?“ Hektisch schüttelte ich den Kopf. „Nein! Nein. Auf keinen Fall.“ Ich schluckte. Und dann drängte die ganze Wahrheit aus meinem Mund. „Keine Ahnung. Vielleicht. Oder vielleicht…hätte es dazu kommen können. Wir hatten eine verdammt gute Zeit. Mit ihm…hätte ich es aushalten können. Verstehst du?“ Jasper nickte. Er lächelte, sah aber auch etwas traurig aus. „Er war nicht der Richtige für dich.“ Ich schnaubte wie jemand, der nicht an die große Liebe glaubte. „Der Richtige…,“ „Ja, der Richtige,“ betonte Jasper mit der tiefen Überzeugung eines Schulmädchens, „Nein, ehrlich. Ich mag den Richtigen für mich nicht finden können, aber bei... Also, dass der nicht der Richtige für dich war, liegt auf der Hand. Der Richtige hätte dir geglaubt. Er hätte verstanden, dass du ihm in einer solchen Situation nur die Wahrheit erzählt hättest. Er hätte dir zugehört. Und er hätte dir vertraut. So wie bei Melinda Gordon und ihrem Jim.“ „Sicher?“ „Ganz sicher. Vertrau mir. Ich seh ne Menge Serien, mit den Richtigen kenn ich mich aus.“ Wir grinsten uns an. Und ich spürte, wie sich irgendwas in mir entkrampfte. Plötzlich konnte ich wieder freier atmen. Als würde grauer Qualm aus meiner Lunge weichen. Serien mochten letztendlich doch kein Spiegel der Realität sein, aber es tat trotzdem gut, die Welt auf diese Weise zu sehen. Jasper und ich hakten das Thema Marius ab. Und auch ich hakte das Thema Marius ab. Vielleicht noch nicht vollständig, aber immerhin. Es war ein Anfang. Und es war gar nicht so schwer. Kapitel 7: Sieben ----------------- Entschuldigt bitte die erneute Verspätung >