Ich sehe was, was Du nicht siehst von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Drei --------------- Und hier ist das dritte Kapitel :)! Macht Euch einen schönen Tag und viel Freude und Empathie beim Lesen ;) Liebste Grüße von Lung ●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○● Okay. Vielleicht war das doch ein bisschen viel auf einmal gewesen. War Jasper vorhin schon recht erschrocken, dann war er nun vollkommen entsetzt. Er starrte nicht nur, seine Augen traten geradezu aus ihren Höhlen. Mit einem Schlag war er erneut aschfahl. Schuldbewusst verzog ich das Gesicht. „W… D… M…,“ stotterte Jasper unzusammenhängend, Renate seufzte genervt. „Ich weiß,“ sagte ich und hob beschwichtigend die Hände, „Es tut mir leid, ich–,“ „Sch… Stopp!“, rief Jasper und ich verstummte auf der Stelle, während er sich die Handballen auf die Augen presste. Er atmete tief ein und aus. „Das…das ist genug…,“ flüsterte er und fächelte sich mit beiden Händen Luft zu. Mit einem flauen Gefühl im Magen schaute ich ihm zu. Selbst Renate schien bedrückt. „Das ist genug,“ wiederholte Jasper und funkelte mich auf eine Weise an, die mir sehr bekannt vorkam, „Das. Kann. Doch. Nicht. Dein. Ernst. Sein. Du willst mir sagen, dass meine Oma hier ist? In diesem Raum? Jetzt gerade?“ Ich nickte stumm. „Du machst dich über mich lustig…,“ wisperte er. Da war er hin, mein Optimismus. Da war das Ausrufezeichen. Ich konnte es ganz deutlich in seinen Augen sehen. Mein Herz wurde mir schwer wie Blei. „Nein…,“ antwortete ich trotzdem und schüttelte den Kopf, „Ich schwöre, ich mache mich nicht über dich lustig. Es ist mein voller Ernst…,“ Ich machte eine Pause und hasste mich für die Resignation in meiner Stimme. Aber ich erschrak darüber, wie weh es plötzlich tat. Ebenso wie bei Marius, vor zwei Tagen. Doch ich riss mich am Riemen und gab mir alle Mühe, nicht gleich im Selbstmitleid zu versinken. Dafür war später noch genug Zeit. Eine Strategie kannte ich noch. „Hör zu, ich kann mir vorstellen, wie du dich gerade fühlst. Jeder, dem ich das bisher erzählt habe, hat mehr oder weniger so reagiert. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber du–,“ „Nein, ich–,“ fing Jasper an, aber ich unterbrach ihn entschieden. „Sie ist ungefähr eins sechzig groß. Sie hat kurze Locken, wahrscheinlich die klassische Dauerwelle für alte Damen. Sorry, Renate. Sie trägt eine Brille mit runden Gläsern, ein Nachthemd und darüber einen Pullover in…beige, würde ich sagen. Und braune Hausschuhe.“ Mit offenem Mund sah Jasper mich an. Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „D… Das sind die Klamotten, in denen mein Papa sie gefunden hat. Sie…ist in ihrem Lesesessel eingeschlafen.“ Ich lächelte behutsam. „Sie ist ganz schön energisch, deine Oma. Sie nennt mich ständig junger Mann, wenn sie sich über mich ärgert, was ziemlich oft vorkommt. Ich fürchte, sie hält mich für einen Dummkopf.“ „Allerdings,“ schnarrte sie und ich knurrte zur Antwort nur. Jasper lauschte mir wie hypnotisiert. Mit einem Mal sah er so jung und zerbrechlich aus. Wie ein Enkel, der vor kurzem seine Oma verloren hat. „Welches Buch hast du am Abend deines Todes gelesen, Renate?“, fragte ich. „Die Konferenz der Tiere von Erich Kästner…,“ erwiderte Renate unter Jaspers unverwandtem Blick, der auf mich gerichtet war, „Mein Lieblingsbuch.“ „Die Konferenz der Tiere,“ wiederholte ich für ihren Enkel, „Das war ihr Lieblingsbuch.“ Jaspers Augen füllten sich mit Tränen. Dieser Anblick ließ mich schlucken. „Das stimmt…,“ flüsterte er und lächelte zaghaft, „Sie…sie hat mir und meiner Schwester manchmal daraus vorgelesen, als wir jünger waren.“ Über Renates Gesicht huschte ein zärtliches Lächeln und sie nickte, mit einem Mal ganz sprachlos. Ich jubilierte im Stillen. Eigentlich vermied ich den ganzen Liebeskram ja, aber diesmal durchflutete mich Erleichterung. Beide waren sie nicht mehr wütend. Vorerst jedenfalls. „Sie erinnert sich daran,“ sagte ich. Jasper schniefte und tupfte sich die Augen trocken. Er rührte mich so sehr, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Stattdessen ergriff ich seine Hand und zog ihn zu einem der anderen Küchenstühle, damit er sich setzen konnte. Seine Hand fühlte sich in meiner ganz schmal und weich an. Ich hielt sie fest, ein unerhört schönes Gefühl. „Sie…sie ist wirklich hier?“, fragte er leise, „Ganz ehrlich?“ Ich nickte. „Etwa schon die ganze Zeit?“ Ich nickte erneut. Jasper zog die Nase hoch. „Oh Gott…,“ murmelte er. Mit großen Augen sah er mich an. Große braungrüne Augen. Mit goldenen Sprenkeln. „Warum?“, hauchte er, „Was…? Ich… ich meine, wie geht es ihr?“ „Tja, sie hat da noch etwas, was sie mit dir besprechen möchte. Deshalb ist sie noch nicht…,“ „Ins Licht gegangen?“ „Naja, eigentlich gibt es kein Licht. Das ist eine Erfindung von Hollywood. Aber ja, deshalb ist sie noch hier. Und wie es ihr geht, kannst du sie selbst fragen. Sie kann dich hören.“ Jasper richtete sich in seinem Stuhl etwas auf. Sein Blick glitt hin und her und richtete sich dann auf die Ecke, in der Renate am Fenster stand. „Wie geht es dir, Oma?“, wisperte er. „Gut, gut,“ antwortete Renate gereizt, „Ich möchte nun aber endlich zum Thema kommen.“ Da war sie wieder. Renate, wie sie leibt und lebt. Leibte und lebte. „Du könntest ruhig ein bisschen einfühlsamer sein,“ entgegnete ich ihr bissig, „So einen Schock zu verkraften, braucht seine Zeit.“ Renate und Jasper begannen gleichzeitig zu sprechen. Jasper fragend, Renate zänkisch. Ich hob die Hand und sie verfielen beide in Schweigen. „Es wäre nett, wenn ihr abwechselnd redet, okay? Multitasking war nie meine Stärke. Okay. Jasper, es geht ihr gut. Aber sie möchte jetzt gern zum Grund ihres, ähm, Besuchs kommen. In Ordnung? Renate, ich werde sozusagen als dein Sprachrohr fungieren. Was du zu Jasper sagst, sag ich nochmal laut, damit er dir antworten kann. Alles klar?“ Sie nickten wie eine Person. Beide wirkten erwartungsvoll. Jaspers Tränen waren inzwischen getrocknet. Zum Glück. Leider brauchte er jetzt aber auch meine Hand nicht mehr. Ich öffnete den Mund, um den Startschuss zu geben, doch Renate brauchte mich nicht. „Sag ihm, dass ich es weiß,“ begann sie säuerlich, „Und sag ihm, dass es mir nicht gefällt.“ Ich brummte und schon wieder lagen mir eine Menge mürrischer Entgegnungen auf der Zunge. Aber ich hielt mich zurück. Das war jetzt eine Sache zwischen den beiden. Falls Jasper Hilfe brauchen sollte, konnte ich ihm immer noch beispringen. „Sie sagt, dass sie es weiß. Und sie will, dass du weißt, dass es ihr nicht gefällt.“ Verständnislos schaute Jasper mich an. „Hä?“ „Sie meint, dass…,“ entschuldigend erwiderte ich seinen Blick, „Dass du schwul bist. Das meint sie. Sie weiß es und es…gefällt ihr nicht.“ Jasper verfiel erneut ins Starren und auf sein Gesicht trat ein Ausdruck des ungläubigen Widerwillens, verbitterter Ärger färbte seine Haut rot. Schlagartig sah er nicht mehr jung und zerbrechlich aus und ich musste mich schleunigst daran erinnern, dass sein Groll nichts mit mir zu tun hatte. Er stieß ein wutentbranntes Schnauben aus und wandte den Blick ab. „Das ist ja wieder klar…,“ zischte er, „Meine Oma geht nicht auf die andere Seite, weil sie etwas dagegen hat, dass ich schwul bin. Natürlich. Das hätte ich mir ja denken können…,“ Er erhob sich, ging ein paar Schritte nach links und ein paar nach rechts. Beklommen beobachtete ich ihn dabei. An den Bewegungen seiner Hände konnte ich erkennen, wie die Gedanken durch seinen Kopf rasten. „Ich glaub es einfach nicht!“, fuhr er auf und ich zuckte tatsächlich etwas zusammen, „Ich fass es nicht, dass du allen Ernstes immer noch versuchst, mein Leben zu bestimmen! Immer, immer war das schon so. Wie, du willst Germanistik studieren, Jasper? Schlag dir das besser aus dem Kopf, Germanistik ist eine brotlose Kunst. Studier lieber Medizin, so wie dein Opa. Oma, du bist tot!“, er schnappte nach Luft, „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie lange ich das schon mit mir rumschleppe? Ich weiß schon seit Jahren, dass ich auf Männer stehe. Schon seit ich zwölf bin. Aber ich habe es immer verschwiegen, weil ich wusste, dass du es nicht akzeptieren würdest. Aber nun habe ich die Nase voll, Oma. Ich kann und will nicht mehr so tun als ob, ich will endlich ich sein!“ Er atmete schwer und seine Augen bohrten sich wie Laserstrahlen in mein Gesicht. Mein Mund wurde ganz trocken. Hilfesuchend schaute ich zu Renate hinüber, die kein Stück gelassener als ihr Enkel wirkte. Tatsächlich sahen die beiden sich mit einem Mal erschreckend ähnlich. Familie, ganz klar. „Ich verbitte mir diesen Ton!“, herrschte sie mich/Jasper an, „Und ich habe niemals versucht, dein Leben zu bestimmen, junger Mann. Ich wollte lediglich das Beste für dich.“ Ich übersetzte, Jasper lachte auf. „Ja, klar! Und das Beste für mich ist natürlich, genau zu sein wie du. Oder wie Opa.“ „Sie sagt, das wäre Blödsinn.“ „Das ist es nicht! Du warst immer nur dann zufrieden, wenn ich die Dinge so gemacht habe, wie du sie für richtig hältst. Nachdem ich mich für Germanistik und Geschichte eingeschrieben habe, hast du eine Woche lang nicht mit mir geredet. Eine Woche lang!“ „Sie meint, sie wollte dich nur davon abhalten, dein Leben wegzuwerfen.“ Es wurde ein wenig hässlich. Renate und ich erfuhren, dass Jasper offenbar schon seit geraumer Zeit eine große Menge Frust mit sich herum trug. Er rannte durch die Küche und redete und redete und gestikulierte dabei. Ich war froh, dass Renate immer nur kurz und knapp antwortete. Zwar waren ihre Worte laut und scharf und voller Missbilligung, aber sie waren leicht weiterzureichen. Wie sehr sie Jaspers zahlreiche Vorwürfe beschäftigten, bemerkte man überwiegend an ihrem Äußeren. Ihre Augen blitzten, ihr Mund war eine schmale Gerade und während des Gesprächs verschwand sie immer wieder und tauchte unvermittelt irgendwo anders in der Küche wieder auf. Wäre es ein »normaler« Streit gewesen, hätte ich mich höchstwahrscheinlich bereits nach zwei Minuten davon gemacht. Aber da die zwei auf mich angewiesen waren, musste ich es aussitzen und ich saß mitten in der Mitte. Ich bekam wohl oder übel sämtliche zornerfüllten Blicke von Jasper und die ganze Gewalt von Renates Stimmvolumen ab. Es war harte Arbeit. Schließlich – nach Stunden, wie mir schien – beruhigte Jasper sich. Inzwischen war er den Tränen nahe. Seine Worte kamen abgehackt und ich konnte sehen, wie er zitterte. Nach der letzten halben Stunde, in der er mir seine nachtragende, aggressive und höhnische Seite gezeigt hatte, erstaunte es mich fast, wie sehr mich seine Verzweiflung erschütterte. Ich mochte ihn immer noch. Eigentlich mochte ich ihn jetzt sogar noch mehr als zuvor. Jetzt mochte ich ihn wirklich. Jetzt kannte ich ihn. „Du hast gesagt, du willst nur das Beste für mich. Warum willst du dann nicht, dass ich glücklich bin?“ Er schluchzte fast. Und neben all meiner Anteilnahme beeindruckte es mich, wie man diese ganze Auseinandersetzung auf diesen einen Satz herunter brechen konnte. „Und wirklich glücklich kann ich eben nur sein, wenn ich mein Leben so leben kann, wie ich es möchte. Ich möchte das studieren, was mir Spaß macht. Ich möchte das anziehen, was mir gefällt. Ich möchte das essen, was mir schmeckt. Und ich möchte so lieben, wie ich will,“ er schniefte und schluckte, „Oma, ich bin schwul. Und ich habe es mir wirklich nicht leicht damit gemacht. Zehn Jahre lang habe ich versucht, anders zu sein. Aber ich hab’s nicht geschafft, weil ich halt so bin. Ich weiß, die Bibel und so, aber–,“ Renate sagte etwas dazwischen und ich hob die Hand, um Jaspers Monolog abzubrechen. „Was hast du gesagt, Renate?“, fragte ich und sah mich nach ihr um. Inzwischen stand sie vor dem Herd, nur eine Armeslänge von ihrem Enkel entfernt. Sie musterte ihn eindringlich. Jasper musterte mich und wartete stumm. „Du verstehst es einfach nicht,“ zischte sie. Ich knirschte mit den Zähnen. Ich konnte es mir nicht verkneifen. „Was sagt sie?“ „Sie sagt, du verstehst es einfach nicht.“ Jasper schien am Ende seiner Kräfte. Er sackte gegen den Kühlschrank und schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Jetzt war ich an der Reihe, Partei zu ergreifen. „Hör mal, du–,“ Ich unterbrach mich. Renate war verschwunden. „Renate? Renate!“ Mit den Augen suchte ich die Küche und dann den Flur ab. Nichts. Ich spürte sie nicht mehr. Knurrend sank ich in meinem Stuhl zurück. Aber eigentlich fand ich es ganz schön, endlich mal ganz allein mit Jasper zu sein. „Sie ist weg.“ „Weg?“, keuchte Jasper, „Was heißt weg?“ „Naja, sie ist nicht mehr da. Sie ist verschwunden.“ Vor Empörung schnappte Jasper nach Luft. Falsch lächelnd hob er den Blick zur Küchendecke. „Natürlich… Das ist so typisch für sie. So macht sie das immer. Wenn ihr die Argumente ausgehen, geht sie einfach weg…,“ Er senkte den Kopf und verbarg das Gesicht in den Händen. Er tat mir furchtbar leid. Ich wollte zu ihm hingehen und ihn fest in die Arme schließen. Doch ich wagte es immer noch nicht. Also erhob ich mich nur, um ihn erneut zu einem der Küchenstühle zu geleiten. Schwer ließ er sich auf ihn fallen. „Tut mir leid…,“ wisperte er mit belegter Stimme, die Hände im Schoß. „Du musst dich nicht entschuldigen,“ erwiderte ich und betrachtete seine Hände, „Ist schon gut. Das war alles ganz schön…heftig. Für dich und für sie. Vielleicht braucht sie auch nur ein bisschen Ruhe, um nachzudenken.“ „Meinst du, ich war zu gemein?“, fragte er mich reumütig, „Ich… Ich hab einfach die Nerven verloren und dann… Ich war echt fies…,“ „Naja… Jedenfalls warst du ehrlich,“ sagte ich und freute mich diebisch, als er ein wenig darüber gluckste, „Vielleicht war es einfach mal nötig. Scheinbar hast du das schon zu lange mit dir rumgeschleppt. Und wenn du es nicht jetzt gesagt hättest – wann dann?“ Er schniefte und nickte. Er sah fix und fertig aus. Ich hätte gern wieder seine Hand genommen. Dann hätte er sich an mich lehnen und ich hätte durch sein Haar streichen und vielleicht etwas an ihnen schnuppern können… Ach, verdammte Axt. Ich schlug die Beine übereinander. „Woher hat sie es eigentlich gewusst?“, fragte Jasper mich arglos, „Ich hab nach ihrem Tod noch gewartet, bis sich die Gemüter etwas beruhigt haben. Erst dann hab ich es meinen Eltern und meiner Schwester gesagt.“ Ich zuckte die Schultern. „Vielleicht war sie dabei, als du es ihnen gesagt hast. Du hast sie halt nicht gesehen. Aber sie war bei euch und hat alles gehört.“ Jasper nickte. Seine Augen waren gerötet. Er sah aus wie jemand, der eine Woche nicht geschlafen hatte. Ich wusste, dass ich mich langsam verabschieden sollte, damit er sich sammeln konnte. Aber ich verließ ihn nur ungern. „Ruh dich ein wenig aus,“ sagte ich trotzdem freundlich und konnte mich nicht davon abhalten, zum Abschied meine Hand auf seine Schulter zu legen, „Für einen normalen Mittwoch habe ich dir ziemlich viel zugemutet.“ Er lachte leise und schniefte abermals. „Wenn du…nochmal reden willst…,“ fuhr ich fort und zog den kleinen Schreibblock auf dem Tisch, auf dessen erster Seite Glasreiniger stand, zu mir hin, „Über deine Oma oder…oder was auch immer. Ruf mich an. Okay?“ Mit einem pinken Kuli kritzelte ich meine Festnetznummer auf die zweite Seite. Als ich aufblickte, lächelte er mich an. Jetzt sah er wieder jung und verletzlich aus. Und niedlich, meine Fresse. „Danke. Du… Du bist wirklich sehr nett.“ „Ach, naja…,“ „Doch. Das bist du.“ Na gut. Wenn er meinte. Wie könnte ich ihm da widersprechen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)