☾ Mikadzuki von Mimiteh ================================================================================ Kapitel 62: Sayo's Lied ----------------------- "Riiiin“ Jakens quäkende Stimme schallte quer über den Trainingsplatz. „Hier bin ich doch, Jaken“, erwiderte das Mädchen und kam von der Seite her auf den kleinen Krötendämon zu. Jaken schrak etwas überrascht zusammen, ehe er sich schüttelte und zu Rin aufsah. Sie war gewachsen, im vergangenen Jahr, aber er hatte ja schon immer zu ihr aufsehen müssen. „Was tust du denn noch hier draußen?“, wollte er wissen. Rin lachte fröhlich. „Ganz einfach. Arata-sensei hat eine letzte Trainingsstunde angesetzt, ehe wir morgen aufbrechen“, erklärte sie lebhaft, ehe sie sich auf dem Absatz umdrehte und zurück in die Richtung lief, aus der sie gekommen war. Jaken blickte ihr perplex nach. „Es ist unglaublich, dieses Mädchen. Im letzten Jahr ist sie noch unausstehlicher geworden, seit sie trainiert, oh, gami, das darf einfach nicht wahr sei-“ „Willst du meine Entscheidungen anzweifeln?“, unterbrach Sesshômarus kühle Stimme den Krötendämon. „N-nein, Sesshômaru-sama! Niemals!“, beteuerte der Krötendämon sofort und warf sich zu Boden, verneigte sich mehrmals, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. „Es… es ist nur… die Fürstin befahl mir, Rin zu holen, damit sie auf den Prinzen aufpasst“, fuhr er stockend fort. Sesshômaru sah ausdruckslos auf ihn hinab. Wie er Natsu kannte, hatte sie Jaken eher gebeten, aber der nahm es mit derlei Einschätzungen nie so genau. „Geh und sag Rins Zofe, sie soll das übernehmen“, trug er dem Krötendämon auf und der hastete stolpernd davon. Sesshômaru würdigte ihn keines Blickes mehr, stattdessen wandte er sich dem Tor in der Schlossmauer zu, wo Masa stand und alles koordinierte. Die Inu-Schamanen standen um sie herum und lauschten. Daneben wurden die Wachen eingeteilt, die schon heute aufbrachen und den Weg absicherten. Wenn Morgen alle aufbrachen, würden auch genug wehrlose Diener und Bedienstete mit im Zug sein. Die goldenen Augen des Inuyôkai wanderten hinauf zum Himmel. Es war Frühsommer, ein schöner Tag. Etwas mehr als ein Jahr war nun Ruhe gewesen. Seit die Zustimmung für die Umsiedlung durch war, war alles verblüffend schnell gegangen. In insgesamt fünf Treffen hatten die Fürsten abgeklärt, was abzuklären war. Morgen war es soweit. Mithilfe der jeweiligen Schamanen würden die Fürstensitze im Original auf die Inseln verfrachtet, die Bewohner zogen hinterher. Alle Fürstentümer würden es so halten und auch einige der nicht organisierten Dämonenvölker hatten sich angeschlossen, darunter einige Pferde, Rehe, Krähen und andere Vogelvölker, Wildschweine, Falter, Affen und einzelne Marderhunde. Ihn ging das wenig an. In diesem Sinne war jeder für sich verantwortlich. Sein Blick wanderte zu dem Fenster hoch, hinter dem sich Natsus Gemach befand. Kurz überschatteten sich seine Augen. Er hätte glücklich sein können, hatte er sie nun doch offiziell an seiner Seite und niemand versuchte mehr etwas dagegen zu unternehmen. Offenbar hatte Kuraiko ihre Tochter gut im Griff, denn von Tôran war nichts mehr zu hören. Aber Sesshômaru wurde dennoch jeden Tag aufs Neue an ihre Taten erinnert, mit jedem Blick, den er auf seinen Sohn warf. Kin war noch immer blind. ~*~ In ihrem Gemach, an ihrem Schreibpult kniete Natsu derweil und schrieb einen Brief. Sie und Amaya hielten so am Leichtesten Kontakt, auch wenn sie sich seit jenem Tag vor etwa vierzehn Monaten nicht mehr gesehen hatten. Liebe Schwester, ich bin froh, dass du inzwischen besser zurechtkommst. Tamoko hat dich gut vorbereitet, und Nori und Tadako haben ihr Werk fortgeführt. Wenn ich mir deine letzten Berichte so anschaue, machen sie das gut. Ich bin stolz auf dich, imouto-chan. Oh, was ist in den letzten Monaten nur alles passiert. Wenn mir jemand vor nur drei Jahren erzählt hätte, dass du heute oberste Schamanin und ich Fürstin der Hunde mit Sohn und Ziehtochter sein würde – ich hätte ihn wohl für verrückt erklärt. Oh, Amaya, manchmal habe ich immer noch das Gefühl, es nicht glauben zu können, auch wenn das Glück nicht ungetrübt ist. Kin ist noch immer blind, der Fluch konnte nicht gebrochen werden. Seit du es damals versucht hast, habe ich immer wieder aufs Neue gehofft. Sogar Kagome hat es versucht, sie hat es wohl schon einmal geschafft, einen recht starken Fluch zu brechen. Aber gegen diesen hier kam sie nicht an. Mein Ältester wird wohl tatsächlich nie Erbprinz sein können, ganz so wie Kuraiko-oba-san das wohl damals schon prophezeihte. In diesem Punkt weiß ich nicht mehr weiter und es hält mich davon ab, wirklich befreit in die Zukunft zu sehen. Dabei gäbe es so viel Dinge zu berichten, die nicht düster sind, sondern, im Gegenteil, sehr gut. Seit Rin vor über einem Jahr mit dem Training bei Arata angefangen hat, hat sie viel gelernt. Sie ist dabei so euphorisch bei der Sache wie bei jeder anderen und hat es inzwischen geschafft, sich mit mehr Leuten als nur Arisu anzufreunden. Sogar der zweite Schüler Aratas scheint etwas aufzutauen, seit sie ihn sich vorgenommen hat. Manchmal bleiben sie am Kampfplatz, wenn der jeweils andere trainiert. Ich glaube, aus den beiden könnten noch Freunde werden. InuYasha geht hier ein und aus. Ich weiß noch, wie traurig ich es damals fand, dass Sesshômaru und sein Bruder so gar nicht miteinander klarzukommen schienen. Von Rin und Kagome habe ich inzwischen erfahren, dass es schonmal weit schlimmer war, als zu dem Zeitpunkt, als ich InuYasha kennenlernte. Aber inzwischen benehmen die beiden sich wirklich wie Brüder – auch wenn sie sich oft genug gegenseitig aufstacheln. Aber das wird sich vermutlich nie ändern. Ja, viel ist geschehen, das sehe ich immer wieder, wenn ich so wie jetzt darüber nachdenke. Und wenn es nach mir geht, kann es gerne so friedlich bleiben. Mit ein wenig Glück bekomme ich in ein paar Jahren einen zweiten Sohn, dann ist endgültig alles politisch korrekt. Wie sich das anhört! Aber deswegen wird Kin ja nicht weichen müssen. Eigentlich sollte ich darüber lächeln können. Ausgerechnet Sesshômaru, der eiskalte Hund, der unter den Neko noch verschrieener war, als jeder andere Inuyôkai, ausgerechnet er sieht davon ab, seinen gehandicapten Sohn zu verstoßen. Auch wenn ich es nie erzählt habe, so kannst du dir sicher denken, dass ihn und mich mehr verbindet als sein Ehrgefühl ob dieser einen Nacht. Einmal hat er es ausgesprochen, ein einziges Mal nur. Seit dem weiß ich es. Dennoch bin ich unheimlich froh, dass sich alles so gefügt hat. Nun, genug der Nachdenklichkeit. Liebste Schwester, drück‘ die Daumen, dass wir uns morgen sehen. Theoretisch müssten sich unsere Wege ja kreuzen. Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen. Deine Natsu Die junge Löwendämonin legte den Schreibpinsel zur Seite. Sie und ihre Schwester schrieben sich oft genug Briefe, sodass das Meiste auf diesem Papier sicher nichts Neues mehr für Amaya war, aber es war ein gutes Gefühl noch einmal Revue passieren zu lassen, was die letzten Monate geschehen war. Es war eine Umbruchsituation, nie hatten die Fürsten so einig beisammen gestanden und nie hatte so eine entscheidende Wendung in dem Leben der Yôkaivölker Einzug gehalten. Sie ahnte, dass das nicht unbedingt von langer Dauer sein würde, aber solange es so war, war es erstaunlich. Und Morgen würden sie umziehen. Hinter sich hörte Natsu, wie Moe, die inzwischen ihre offizielle Zofe war, ihre Kleidung für die Reise zu recht legte. Natsu sah an sich hinunter. Im letzten Jahr hatte sie selten etwas anderes als einen Kimono getragen. Morgen würde sie sogar wieder eine Rüstung haben, Sesshômaru hatte ihr eine neue anfertigen lassen. Sie wusste, dass einige Diener darüber tuschelten, Rin hatte, unbefangen wie sie war, oft genug ausgeplaudert, was Arisu ihr von der Gerüchteküche im Schloss erzählte. Aber weder das eine, noch das andere machte Natsu groß etwas aus. Im Gegenteil, ihr gefiel es, dass sie solcherart über die Geschehnisse im Schloss informiert war. Früher war sie das immer gewesen, aber ihr Kammerdiener, ein alter ToraYôkai, der seit einem Kampfunfall keine Gefahr für ihre Ehre mehr dargestellt hatte, und sie hatten ja auch mehr als dieses Geheimnis gehabt. Von ihm wusste sie alles, was sie kampftechnisch und strategisch drauf hatte. Gemeinsam mit Kuraikos… Verhaltensunterricht war sie zu einem Charakter geformt worden, der oft genug sauer aufgestoßen war, das wusste sie genau. Aber es interessierte sie recht wenig. Von denen, die ihr wichtig waren, war sie immer akzeptiert worden, wie sie war. ~*~ Rin war derweil zurück am Trainingsplatz. Arata wartete schon auf sie, ganz in der Nähe stand auch Kôhei, lehnte am Stamm eines Baumes, ganz, als ginge ihn das alles nichts an. Sein Blick ging sonstwohin, aber Rin kannte ihn inzwischen gut genug um zu wissen, dass an seiner Teilnahmslosigkeit nicht so viel dran war, wie er gerne glauben machen wollte. Also schenkte sie ihm ungeachtet seines abgewandten Blickes ihr üblich strahlendes Lächeln, sich sehr bewusst, dass er es aus dem Augenwinkel sehrwohl wahrgenommen hatte. Auch Arata hatte die Geste gesehen und schmunzelte still in sich hinein, während er das einfache Übungsschwert aus der Scheide zog und es Rin hinhielt. Inzwischen war es eines mit metallener, wenn auch stumpfer, Klinge und wenn sie so weitermachte, würde er den Fürsten wohl demnächst ansprechen, damit Rin eine richtige Waffe bekam. Mit amüsiert blitzenden Augen sah er zur Seite. Vielleicht sollte er danach mal versuchen, Kôhei und Rin gegeneinander trainieren zu lassen. Das wäre mit Sicherheit ein Anblick. Noch immer waren die beiden im Verhalten die vollkommen gegenseitigen Pole. Kôhei, der stille, stets disziplinierte aber unlustige junge Dämon und Rin, das stets fröhliche, gesprächige Menschenmädchen, dass es mit der Disziplin nur dann genau nahm, wenn ihr gerade nichts besseres einfiel. Aber jetzt sollte er sich erst einmal auf Rins eigenes Training konzentrieren. Er nahm den Holzstab auf, den Rin treffen sollte. Wenn er selbst eine Klinge nähme, wäre die Gefahr zu groß, sie zu verletzen und das wäre fatal. Für Rin und für ihn, denn Sesshômaru hatte direkt zu Beginn deutlich klargemacht, was er davon gehalten hätte. Sie war zwar im vergangenen Jahr schneller und gewandter geworden, ihre Statur war sehniger als zuvor – und erwachsener, weiblicher, nebenbei bemerkt –, aber sie war und blieb ein verletzlicher Mensch, den jede geschlagene Wunde mehr leiden ließ als jeden Dämon. Aber das war nun einmal Tatsache und er glaubte einen Weg gefunden zu haben, damit umzugehen. „Na los, auf geht’s, Rin“, forderte er ruhig. Solange sie allein auf dem Trainingsplatz waren, behandelte er seine Schülerin so, wie sie es wollte, das hieß, er sprach sie einfach nur mit Namen an. Wenn sie wollte, konnte sie sehr vehement protestieren, wenn man sie zu höfisch behandelte. Sie hasste diese Scheinheiligkeiten, hatte sich vielmehr damit arrangiert, wie kontrovers die Ansichten der Schlossbelegschaft über sie als menschliche Fürstentochter waren. Sie hatte derweil den Schwertgriff nachgefasst und lief nun auf ihn zu. ~*~ Auch in Musashi wurden die Zelte abgebrochen. InuYasha übernahm es, den Reitdrachen, den Sesshômaru ihm interessanterweise geschickt hatte, zu bepacken. Es war nicht AhUhn, und dieser hier war deutlich weniger leutselig, dafür aber ebenso gehorsam. Shiori achtete derweil auf Sangos und Mirokus Kinder. Die Dämonenjägerin und der Mönch waren seit ein paar Wochen in geheimer Mission unterwegs und würden, der Planung nach, erst in ein paar Tagen zurückkehren. Kaede würden sie ihnen dann hinterherschicken, denn die alte Miko hatte entschieden zu bleiben. Frei nach dem Motto: „Alte Bäume verpflanzt man nicht“, hatte sie erst gar keine Anstalten gemacht, sich dem Umzug anzuschließen. Aber sie half natürlich dennoch, reichte InuYasha manche Dinge an, die er dann auf dem Rücken des Reitdrachen festzurrte. Decken, Proviant, Stoffe, Kleidung, Saatgut, was die Dorfbewohner ihnen eben alles mitgaben. Nur die schweren Dinge holte er selber. Yume, das seit seiner Rückkehr im Dorf geblieben war, stand dabei mehr im Weg herum, als das es half, aber das konnten sie alle verkraften. Als sie fertig waren, setzten sie sich noch einmal vor der Hütte zusammen, die bisher Sangos und Mirokus gewesen war. Kaede musterte die beiden, die von der bunt gemischten Truppe nur anwesend waren. Auch Kagome fehlte. Vor ein paar Tagen war sie von Jaken – der über diesen Auftrag alles andere als glücklich gewesen war – abgeholt worden und bereits zu den Inseln eskortiert worden, wo sie gemeinsam mit Schamanen aller Yôkaivölker erste Vorkehrungen für den Bannkreis treffen sollte. Shiori gab sich ruhig, aber sie war sichtlich nicht besonders gut drauf. Es war über ein Jahr vergangen, seit ihrer Flucht, seit sie kein Lebenszeichen von Tián erhalten hatte und dennoch war sie sichtlich noch immer hin und hergerissen zwischen hoffen und aufgeben. Auch Inuyasha war brummig, weil er Kagome vermisste, was er aber natürlich nicht zugab. Außerdem hielt er sich zurück, weil er wusste, dass Shiori es schwerer hatte. Er wusste wenigstens, wo Kagome war, dass sie in Sicherheit war und dass er sie bald wiedersehen würde. Und Kaede war bei aller Bestimmtheit, mit der sie im Dorf bleiben wollte, auch bedrückt, wenn sie daran dachte, dass sie die bunte Gruppe gehen lassen musste. Auch wenn sie schon einige Zeit gehabt hatten, sich auf diesen Tag vorzubereiten, ein Gespräch wollte nicht so richtig in Gang kommen und schließlich erhob InuYasha sich. „Ich geh‘ nochmal nach Jinenji schauen. Mal sehen, ob er sich entschieden hat, mitzukommen“, verkündete er und zuckte dabei doch etwas amüsiert mit den Hundeohren. Sesshômaru hatte in gewisser Weise keinen Mucks gemacht, als Kagome darauf bestanden hatte, Sango, Miroku und deren Kinder mitzunehmen, aber jedes weitere Zugeständnis war ein Kampf gewesen, wenn auch nur verbal. Irgendwann hatte Sesshômaru dann aber zugestimmt, dass auch die beiden anderen Hanyô in InuYashas Bekanntenkreis mit auf die Inseln durften, sprich Jinenji und Shiori. Shiori war froh darum gewesen. Es war offensichtlich, wie beruhigt sie gewesen war, als klar wurde, dass der Halt, den sie in Kagome und den anderen gefunden hatte, nicht auch wieder wegfallen würde. Jinenji dagegen hatte sich gewohnt scheu gegeben, hatte noch keine klare Entscheidung gefällt. Nun, jetzt wurde es Zeit dazu. ~*~ „Gut, Rin. Lassen wir es damit gut sein“, sagte Arata und lehnte den deutlich eingekerbten Holzstab an einen nahen Felsen. „Wir sehen uns heute Abend bei der Feier“, verabschiedete er sie dann und nahm das Übungsschwert entgegen, dass sie ihm bereitwillig hinhielt. Heute Abend würde ein kleiner Ball stattfinden, zu dem nur die höherrangigen Bediensteten mit eingeladen waren. Aber Arata gehörte ebenso wie seine Enkelin eindeutig dazu. Rin schaute sich derweil um. „Huch… wo ist Kôhei denn hin?“, fragte sie dann mehr sich selbst als irgendjemand anderen. Arata sah auf. Tatsächlich, der junge Ookami lehnte nicht mehr an dem nahen Baum. Arata runzelte die Stirn und witterte leicht. Dann nickte er hinüber zum jenseitigen Ende des Trainingsplatzes, wo sich eines der Botentore in der Schlossmauer befand. Wenn er seine Schüler mit hinaus nahm, gingen sie meist dort lang, schien als habe Kôhei diesen Weg genommen. Will er sich wieder abseilen? Wäre ja nicht das erste Mal, aber warum?, fragte der alte Inuyôkai sich unwillkürlich, sagte aber nichts mehr weiter. Rin hatte sich seine knappe Geste auch so zu deuten gewusst. Arata sah ihr schmunzelnd hinterher. Rin hatte es schon öfter geschafft, den verschlossenen, jungen Wolfsdämon zu öffnen und er vermutete insgeheim, dass sie inzwischen mehr über Kôhei wusste, als er. Rin war derweil einfach durch das Tor marschiert. Die Wachen hielten sie nicht auf, sie hier hinten kannten Rin recht gut. Das junge Mädchen lief hinaus auf die Wiese, sah sich sorgfältig um. Sie kannte die geschützten Hügel, in die Kôhei sich gern zurückzog. Plötzlich erklang ein Japsen neben ihr. Intuitiv zuckte Rin zusammen, fuhr herum – und entspannte sich wieder. „Miyu!“, begrüßte sie den weißen Vierbeiner, der da neben ihr stand. Sie erinnerte sich noch genau, wie sehr sie erschrocken war, als Kôhei ihr die weiße Wölfin vorgestellt hatte. Zu wach noch war der Nachgeschmack ihrer Ermordnung gewesen. Aber langsam hatte sie begonnen, Miyu kennenzulernen. Die helle Fähe trug ihren Namen nicht umsonst, aber eigentlich gehörte sie zu Kôheis kleiner Schwester. ‚Lebendes Pelzkissen‘ hatte Kôhei sie einmal genannt und da hatte sie ihn zum ersten Mal etwas lächeln sehen. Rin wusste, wie sehr der junge Wolfsdämon seine kleine Schwester vermisste. Sayoko war alles für ihn, das hatte sie schnell kapiert. Jetzt aber kniete Rin sich ersteinmal hin. „Kommst du Kôhei noch einmal besuchen, vor dem Umzug?“, fragte sie lächelnd und prompt leckte die helle Fähe ihr über das Gesicht. Rin lachte noch mehr. „Wo ist er denn, hmm?“ Miyu japste auf und drehte sich um, jagte davon. Rin beeilte sich, hinterherzukommen. Als sie aufschloss, stand die weiße Wölfin bereits neben dem jungen Wolfsdämon und ließ sich die Wange kraulen. Sie wollte ihn ansprechen, verharrte aber in der Bewegung, als sie seine eingesunkene Haltung erkannte – und hörte, was er vor sich hin murmelte. Nun, eigentlich war es eher ein SingSang, ein melancholischer SingSang. „Still, still kleiner Stern, ich bin hier, wache über dich bei Tag und bei Nacht. Gleich was auch bald kommen mag, was das Schicksal wirkt und sich erdacht…“ Miyu winselte etwas, hielt aber still. Schien ganz so, als kenne sie das Lied, das Kôhei da sang. „Du brauchst dich nicht zu verstecken. Ich weiß längst, dass Miyu dich hereskortiert hat“, erklang da plötzlich Kôheis Stimme, leise, rau. Hätte Rin nicht genau gewusst, dass Dämonen das nur sehr selten taten, sie hätte angenommen, er würde weinen. Langsam näherte sie sich, weit weniger heiter als zuvor. Sie konnte seine düstere Stimmung nur zu gut erkennen. Was ist denn jetzt schon wieder vorgefallen?, fragte sie sich stumm, sprach es aber nicht aus. Sie wusste inzwischen, dass er dann noch unwahrscheinlicher etwas gesagt hätte. Also setzte sie sich einfach neben ihn ins Gras und sah ihn von der Seite her an. Die nachtblauen Augen des jungen Wolfsdämons blickten unergründlich, während er den Horizont anblickte. „Ich bin ein Ookami. Ich gehöre zum Rudel des Fürsten, meine Familie ist dort“, sagte er schließlich leise. Rin war sich im Klaren darüber, dass Familie insbesondere Sayoko bedeutete. Aber sie sagte weiterhin nichts. „Aber umziehen werde ich mit euch, in der Gefolgschaft des Hundefürsten, ganz so, als gehörte ich nicht mehr zu meinen Leuten. Und meine kleine Schwester… ich bin nicht bei ihr, wenn es in die neue Heimat geht. Ich… es kommt mir vor, als würde ich sie im Stich lassen…“ Er seufzte tief. Rin legte ihm unwillkürlich eine Hand auf den Arm. Sie hätte nicht gedacht, dass jemanden der Umzug so traurig machen konnte. Nun, eigentlich war es ja nicht der Umzug selbst, sondern vielmehr die Struktur dessen, aber das kam auf dasselbe raus. „Aber sie hat doch noch deinen Vater und deine Adoptivbrüder. Du lässt sie doch nicht im Stich, wenn du weiterlernst! Und hast du nicht mal gesagt, dass du gerade das nur für sie tust?“, wandte sie vorsichtig ein. Kôhei senkte den Blick zu Boden. „Das stimmt auch. Sie ist Kôgas Sohn versprochen. Wenn sie in ein paar Jahren richtig verlobt werden, werde ich zum Wächter einer der beiden ‚heiligen‘ Waffen der Wolfsdämonen. Und bis dahin muss ich lernen mit dieser Art von Waffe, sprich, mit dem Naginata, auch umzugehen“ Es war nicht das erste Mal, dass Kôhei ihr das erzählte, aber Rin schwieg darüber. Immerhin brütete er nicht mehr stumm vor sich hin. „Das Lied eben… du hast es für Sayoko gesungen, oder?“, fragte sie nach einem Moment der Stille. Kôhei nickte wieder. Die Hand, die bisher Miyus Nacken gekrault hatte, raute deren dichtes Fell etwas auf. Darunter kam ein Halsband aus andersfarbigem Fell zu Tage. „Es ist wie ein Brief für die Ohren. Sayokos Amme hat es hergestellt, als ich ging. Miyu trägt so kleine Botschaften zwischen Sayoko und mir hin und her. Sayoko mag gerade so alt sein wie ein vierjähriges Menschenkind, sie versteht sich schon sehr gut darauf, Dinge zu kommentieren, die ich ihr berichte. Aber dieses Lied… Mutter hat es damals gesungen, seit kurz vor Sayokos Geburt. Als sie schon wusste, dass sie ihr Kind nicht lange erleben wird, hat sie das in diese Verse gekleidet. Sayoko kennt dieses Lied seit dem sie auf der Welt ist und – wer weiß – vielleicht auch schon früher. Es war Mutters einzige und letzte Botschaft an ihre Tochter. Das einzige, was Sayoko von ihr hat. Ich habe mir die Verse damals gemerkt, wenn ich bei Mutter war und ihr Gesellschaft geleistet habe“ Einen Moment lang wusste Rin nicht, was sie dazu sagen sollte. So sehr hatte Kôhei sich selbst ihr gegenüber noch nie geöffnet. „Es… es hörte sich sehr traurig an – aber zugleich irgendwie schön. Deine Mutter war eine gute Sängerin, oder?“ „Ja. – Sie hatte eine ganz weiche Stimme und sie hat gerne gesungen. Aber als sie dieses Lied zusammengedichtet hat, war sie schon sehr schwach. Manchmal war es mehr tonlos als melodisch“, gab er leise zurück und hob den Blick wieder etwas. Und dann begann er, zu Rins Überraschung, das Lied sichtlich von vorne zu rezitieren, wieder in diesem leichten SingSang, melancholisch aber ganz mild: „Still, still kleiner Stern, kleines Licht, dass noch unter meinem Herzen ruht. Gleich wie tief die Nacht wohl auch ist, wird im Licht des Morgens doch alles gut. - Still, still kleiner Stern, der noch schläft, dort in mir geborgen all diese Zeit, hör was meine Stimme singt, mach dich bald für diese Welt bereit. - Still, still kleiner Stern, ich bin hier, wache über dich bei Tag und bei Nacht. Gleich was auch bald kommen mag, was das Schicksal wirbt und sich erdacht. - Still, still, ach ich spür dein Herz, fühle deine Kraft von Tag zu Tag mehr. Ist die Zeit denn nun schon nah und bringt dich so rasch hier zu uns her. - Still, still kleiner Stern, all mein Glück. Hör dies Lied und habe keine Angst. Wild die Welt in die du gehst, doch dort sei nichts worum du je bangst. - Still, still kleiner Stern, denn dein Blut ist gesegnet von Legenden-Licht und erfüllt von Macht und Mut, die aus deines Vaters Herzen spricht. - Still, denn jede Tat alle Zeit, sei bewacht von meinem leisen Lied. Auch wenn ich nicht bei dir bin sei es was doch niemals von dir flieht! - Still, still kleiner Stern, sieh‘ das Licht. Mein Weg endet wo nun deiner geht, doch wenn du die Augen schließt, stets der Wind mein Lied sanft zu dir weht. - Still, ich spüre Sturm und Wut, doch sei stark dein Weg ist längst bereit und mir schwindet bald die Kraft, still geliebter Stern nun ist es Zeit…“ Erst als Kôhei verstummte, merkte Rin, dass ihre Augen feucht waren. Dieses Lied war tieftraurig aber tatsächlich unglaublich schön. Die Botschaft darin war so präsent, ebenso wie die tiefe Liebe, die Sayo trotz aller Schwäche und Schmerzen für ihre Tochter empfunden haben musste. Und doch war da auch die Gewissheit, dass es die einzige Botschaft sein würde. Mein Weg endet, wo nun deiner geht…, hallte es in Rins Kopf wieder. Hingabe, das war das einzige Wort, dass Rin dazu einfiel und nun quollen die Tränen wirklich aus ihren Augen, rannen über ihre Wangen. Rasch wischte sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht, schluckte etwas. „Diese Verse sind wohl wirklich einmalig…“, murmelte sie vor sich hin und pflückte geistesabwesend eine kleine, orangene Blume, die neben ihr wuchs, drehte sie etwas zwischen den Fingern. Erst einen Moment später merkte sie, dass Kôhei sie auf einmal ansah. Als sie den Kopf hob und seinen Blick erwiderte, schüttelte er leicht den Kopf. „Du bist auch einmalig, weißt du das? Es gab nie jemanden, der mir so geduldig zugehört hat, wie du es nicht zum ersten Mal tust. Dabei bist du ein Mensch, bei eurer kurzen Lebensspanne ist diese Ruhe noch verwunderlicher“, bemerkte er sacht. Rin blinzelte etwas, vergaß die Tränen. „Also ich finde das gar nicht verwunderlich. Gerade wir müssen doch so viel wie möglich erleben und kennenlernen, wenn wir schon nur so wenig Zeit haben. Nicht jeder hat das Glück wie ich, in den Erinnerungen anderer vielleicht Jahrhundertelang wach zu bleiben. Und schau dich doch um. Schau dir das schöne Wetter an, die Blumen. Schau, dort oben nisten Vögel. Die Welt hat viel mehr zu bieten, als wir kennenlernen könnten, auch wenn wir uns beeilen würden. Also warum dann nicht das genießen, was man vor der Nase hat? Augen offen; erleben! – Weißt du, als ich ganz klein war, hat mein Vater mal etwas zu mir gesagt, was ich damals noch lange nicht verstanden habe. Er hat gesagt, wenn er einmal nicht mehr da sein sollte, dann sollte ich nicht trauern. Ich sollte mich daran erinnern, was das Leben zu bieten hat, sollte mich auf mein Leben konzentrieren. Nur wenn ich es schaffen würde, mich ohne Trauer an ihn zu erinnern, dann wäre er froh darum. Sonst wäre er sehr, sehr traurig…“ Während ihrer kleinen Rede hatte Rin unwillkürlich die Hand gehoben und in die Umgebung gezeigt. Die kleine Blume fiel ihr dabei aus der Hand und trudelte ein wenig durch die Luft, ehe sie genau vor Kôheis Nase im Gras landete. Vorsichtig klaubte er sie auf, seine Züge waren plötzlich nachdenklich geworden. „Das ist deine Lebensphilosophie, oder? Das Leben nehmen wie es kommt und einfach erleben. Das ist bewundernswert, Rin, wirklich“ Rin schüttelte heftig den Kopf. „Jeder kann sich öffnen, Kôhei. Ich weiß, du tust immer so, als ob du von der Welt nichts wissen willst. Aber ist das denn wirklich so? Bist du nicht in Wirklichkeit einfach nur verprellt, durch das Erlebnis dessen, was man deiner Mutter angetan hat? Du hast doch erzählt, der Täter ist inzwischen bestraft worden. Warum nimmst du das nicht als Neuanfang? Öffne die Augen, Kôhei! Lebe!“ Sie merkte kaum, wie sehr sie sich in Rage geredet hatte und wie aufmerksam der junge Wolfsdämon sie dabei musterte. Selbst ein jeder, der Rin schon länger kannte, hätte sie wohl jetzt mit offenem Mund angestarrt. Ihre Worte sprachen genau von der Unbefangenheit und Lebensfreude, die sie immer zeigte, aber sie klangen zugleich auch richtig gewählt, ja, fast erwachsen. Sie mochte inzwischen über fünfzehn sein, so kannte man sie dennoch nicht. Kôhei erschien auch wie erstarrt, es dauerte eine Weile, bis er ihre Worte verarbeitet hatte. „Meinst du wirklich, ich… könnte das?“, fragte er schließlich fast tonlos. Rin sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. „Jeder kann das“, wiederholte sie im Brustton der Überzeugung. „Versuche es einfach. Nimm deine Umwelt wieder wahr“ Nach einem Moment nickte Kôhei etwas, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Ehe er es sich versah, hatte er sie dankbar an seine Brust gezogen. Rin lächelte leicht. Offenbar hatte sie ihn geknackt. Als er sie wieder loslies, verharrte sie einen Moment, ehe sie sich wieder aufrichtete. Wieder trafen sich ihre Blicke, flüchtig diesmal nur, aber in diesem Augenblick spürte sie auf einmal ein angenehmes Kribbeln, das sich nicht so schnell wieder verflüchtigte. Für ein paar Herzschläge schien die Zeit nicht mehr existent. Und plötzlich beugte Kôhei sich noch einmal vor und gab ihr einen scheuen Kuss auf die Wange. Im nächsten Moment aber zuckte er bereits zurück und sprang auf. „Entschuldige, Rin. Das… sollte ich nicht tun, ich… gehe wohl besser“, murmelte er und ehe Rin etwas einwenden konnte, war er bereits auf und davon. Unwillkürlich hob sie eine Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über die Stelle, die seine Lippen gestreift hatten, während sie ihm entgeistert nach sah. „Was war das denn?“, fragte sie, in Ermangelung eines besseren Ansprechpartners, die weiße Wölfin, die noch immer neben ihr saß und sie fast andächtig beobachtete. Miyu legte den Kopf nur noch ein wenig mehr schief, woraufhin Rin dann doch lächeln musste. Was hatte sie denn auch erwartet, wenn sie selbst es schon nicht verstand. Weder Kôheis Verhalten, noch das seltsame, warme Gefühl im Bauch… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)