Rauhnacht von Luca-Seraphin (Das Gewicht einer Seele) ================================================================================ Kapitel 1: Erfroren ------------------- Anabelle hob Mantel und Röcke an, um sich vor der Toten niederzuknien. Der Anblick des wächsern bleichen Gesichts besaß etwas Erschreckendes. Unter den eisverkrusteten Brauen standen die Augen weit offen, sodass die Augenwinkel beinah ausgerissen zu sein schienen. Die Iris wirkte fahl und zugleich stark erweitert. Auch wenn sich das feine Geäst geplatzter Äderchen unter dem Reif nur erahnen ließ, so musste sie im letzten Augenblick ihres Lebens nahezu rote Augen gehabt haben. Zugleich hielt sie die Nase kraus gezogen und die Zähne aufeinander gepresst. Wahrscheinlich ließen sich die Kiefer selbst im aufgetauten Zustand mit nichts mehr auseinanderzwingen. Was immer sie getötet hatte, war sicher nicht nur die Kälte gewesen. Eher schien sie zu Tode erschrocken worden zu sein oder hatte in ihren letzten Augenblicken versucht, sich ihres Angreifers zu erwehren. Anabelle konnte den Blick kaum von dem Gesicht abwenden. Dieses Entsetzte, Maskenhafte in ihren wächsernen Zügen besaß eine beinah hypnotische Wirkung. Nein, sie musste sich konzentrieren. Hailey hatte nicht Zaida und sie rufen lassen, weil die Tote praktisch in ihrem Vorgarten lag. Anabelle schloss die Augen, um alle anderen Eindrücke von sich zu schieben, was gar nicht so einfach war, denn selbst jetzt starrte die rotäugige Leiche sie aus der Dunkelheit an. Seufzend schüttelte Anabelle dieses Bild ab und hob die Lider. Es brachte ihr rein gar nichts, wenn sie sich davon beeindrucken ließ. Erneut neigte sie sich über die Tote. Diese verzerrte Mimik deutete darauf hin, dass ihr Schreckliches begegnet war – mindestens jemand wie das legendäre Duo Burke und Hare, deren grausamer Ruhm als Mörder und Leichenhändler noch immer über Britannien lastete. Gleichgültig wie, sie mussten gewusst haben, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Nicht abschweifen! Anabelle riss sich von dem verzerrten Gesicht los und betrachtete die Leiche in ihrer Gesamtheit. Es lag nah, dass es sich bei ihr um eine sehr einfache und arme Frau handelte. All ihre Kleider trug sie in Schichten übereinander. Es war die praktikabelste Weise, sein Hab und Gut mit sich zu führen, wenn man keinen festen Wohnsitz hatte und selbst um das Bisschen bangen musste. Überdies diente es im Winter als Schutz vor der Kälte. Arm – oui, naturellement. Aus dem geflochtenen Knoten hatten sich einzelne Strähnen ihres verdreckten sowie von Nahrungsresten, Speichel und Grind verklebten Haars gelöst. Sicher war es einst sehr schön gewesen. Einzelne Locken hatten sich um ihre Arme und Hände geschlungen. Sacht hob Anabelle die Finger der Toten, befreite sie und zog ihr die schmutzigen Handschuhe aus, die sich bereits selbst auflösten. Unter den rissigen Nägeln saß Dreck. Die Haut zeigte Stellen fahler Erfrierungen und die Kuppen hatten sich bereits schwarz verfärbt; eine Nekrose durch die Kälte? Die Erfrierungen musste sie vor ihrem Tod erlitten haben. Aber das ließ sich momentan kaum mit Sicherheit sagen. Sie hob wieder den Blick zu der entstellten Totenmaske. Unter ihren weit zurückgezogenen, blassblauen Lippen schimmerten gesunde, makellos weiße Zähne. Die wenigsten Menschen, die in Ostlondon lebten, besaßen solch ein gesundes und gepflegtes Gebiss. Wie alt sie wohl sein mochte? In dem Zustand, in dem sich der Körper befand, konnte Anabelle nur schätzen. Die Haut unter dem Kinn und am Hals war noch recht glatt und gut erhalten. Unter den Ohren fand sie keine Fältchen. Auf den Händen fehlten Altersflecken. Wenigstens stand fest, dass sie bestenfalls verbraucht und vom Leben in Armut gezeichnet worden war, nicht aber vom Alter. Wie stand es um ihre Vitalität? Die Kälte raffte viele durch Lungenentzündungen und Grippen dahin. Davon abgesehen richteten Gin und die Arbeit in Fabriken die Menschen nieder. Leber, Lunge und Herz versagten auch bei jungen Leuten schnell. Anhand des Gesamtbildes hatte sie sich wohl zu Tode erschreckt. Womit die Option des schwachen Herzens wieder zutreffen konnte. Für genauere Untersuchungen musste die Leiche an einen wärmeren Ort gebracht werden, sodass sie auftaute und sich ihre Kleidung lösen ließ. Außer Frage stand bislang nur, dass sie von vorn erstochen oder erschossen worden war. Möglich, dass es sich um Gift handelte oder eine der geistverwirrenden Drogen. Das erklärte vielleicht das Entsetzen. Im Todeskampf verzerren sich Gesichter oft nicht anders. Eventuell ließ sich etwas feststellen. Sie näherte sich dem Gesicht der Frau und roch an ihren Lippen. Kein Opiat oder irgendein anderes wahrnehmbares Gift. Also fiel ein Täter wie der jüngst in der Zeitung erwähnte Giftmörder aus Glasgow aus. Möglicherweise ergab sich dahingehend bei der Obduktion noch etwas. Interessanter war, dass von den Lippen nicht der geringste Hauch von Tabak oder Alkohol aufstieg. Die Frau lebte wahrscheinlich noch nicht lang in dieser »Situation«, das erklärte auch ihr immens langes Haar. Viele Frauen schnitten es sich ab und verkauften es an Perückenmacher. Goldblondes, dichtes und gewelltes Haar war wertvoll. Anabelle zog sich zurück. Mon dieu, du gibst mir Rätsel auf, Madame inconnu. Vielleicht wurde sie irgendwo vermisst? Leider wirkte sie extrem entstellt. Ob das für eine Beschreibung ausreichte? Sollte sie ein entlaufenes Großbürger- oder Adelstöchterchen sein, zog die gehobene Gesellschaft es doch zumeist vor, die lieben Anverwandten in der leblosen, steifen Form nicht mehr zu kennen. Das folgende Gerede und die Presse wären sicher verheerend. Aber so heruntergekommen, wie die Frau aussah, bestand für derartige Annahmen kaum Grund. Vorsichtig griff Anabelle in die Manteltasche der Toten. Der schäbige Wollstoff knisterte, als die feine Eisschicht splitterte. Bis auf ein paar Pence und einen Knopf, waren beide Taschen leer. Anabelle hatte nichts anderes erwartet, trotzdem wäre es schön gewesen Brief, Billet, Taschentuch mit Monogramm, Ring mit Widmung oder Medaillon, in dem sich das Bild eines nahestehenden Verwandten verbarg zu finden. Es wäre zu einfach gewesen; solch ideale Zufälle passierten ausschließlich in Romanen wie denen von Wilkie Collins und Charles Dickens. Zu schade aber auch. Trotzdem passte dieses gesunde Gebiss nicht zum Rest der Erscheinung. Übereilig Schlüsse zu ziehen war unklug. In spätestens einem Tag lagen sicher Ergebnisse der Leichenschau durch Coroner und die Polizeiärzte vor. Auf Fakten ließ sich besser aufbauen, anstatt sinnlos zu theoretisieren. Langsam richtete sie sich wieder auf und schüttelte mit beiden Händen den Schnee aus ihrem Rock. »Seltsam, nicht wahr?«, fragte Inspecteur Hailey. Seine Stimme klang undeutlich. Gegen die irrsinnige Kälte trug er seinen Schal um Nacken und Mund geschlungen. Der Bowler saß tief in seiner Stirn. Bis auf seine prominente, mehrfach gebrochene Nase verschwand das markante Relief seines Kopfes in den Schatten seiner Kleidung. Anabelle ließ ihren Blick über die vom Schnee befreiten Wege des Hyde Parks gleiten, während sie nickte. »Haben Sie noch Fußspuren sichern können, Monsieur le Inspecteur?«, fragte sie. Er schwieg, beobachtete sie einen Moment lang, schüttelte jedoch den Kopf. »Dazu war es zu windig. Die Leiche lag unter dem Schnee, als Chief Constable Godley gerufen wurde.« Anabelle seufzte. »Quel dommage!« Hailey sah sie fragend an. »Schade«, wiederholte sie in hoffentlich für ihn akzeptablem Englisch. Ihr Blick glitt wieder von der Toten zu den Passanten. »Wer hat die arme Frau gefunden?« Er stieß die Luft durch die Zähne aus. »Eine Gouvernante mit den Kindern ihrer Herrschaft.« »Ausgerechnet Kinder«, flüsterte Anabelle. Ihr Blick verlor sich bei den wenigen Schaulustigen. Ausnahmsweise gab es für Godleys Männer kaum etwas zu tun. Selbst die Reporter blieben aus; was für London eher ungewöhnlich war. Aber nahezu jeder mied die intensive Winterkälte. Auch der Leichenfund zählte zu den Absonderlichkeiten der vergangenen Wochen. Erneut musterte Anabelle die Leiche. Was hatte sie hier zu suchen gehabt bevor sie gestorben war? Aus Mayfair stammte sie nicht. Das Gesicht war Anabelle fremd. Hatte sie hier jemand gesucht? War sie vielleicht eine der vielen Bediensteten in den hier ansässigen Haushalten gewesen, jemand der durch den Hausherren schwanger geworden war? Wenn all das nicht zutraf, hatte diese Frau hier wenig verloren. Zut alors! Warum bastelte sie schon wieder an Theorien, die gar keine Grundlage besaßen? Aus dem Augenwinkel sah sie zu dem Inspecteur. Wenn Scotland Yard Hailey entsandte und dieser auf die Hilfe von Madame Zaida und ihr angewiesen war, entsprach nichts der Norm. Was erwartete das Yard? Der Schneesturm in der vergangenen Nacht hatte alle verwertbaren Spuren effektiv vernichtet. Hailey trat auf der Stelle. Ihm schienen die Füße einzufrieren. »Finden Sie denn etwas, Miss Anabelle?« Nachdenklich betrachtete sie die Tote. »Offensichtliche Unstimmigkeiten – leider nicht mehr.« Er nickte. »Äußere Verletzungen gibt es keine; zumindest nicht nach dem ersten Eindruck.« Anabelle wiegte den Kopf und schob beide Hände in die Taschen ihres Mantels, bevor das Hydrauliköl einfror. »Das wird die Untersuchung zeigen, Monsieur le Inspekteur.« Obwohl ihr normalerweise die Kälte wenig ausmachte, knirschten ihre Gelenke. Wie stark mussten die Temperaturen gesunken sein? Wenn sie nicht sehr bald in einen geheizten Raum kam, würden früher oder später auch die umstehenden Polizisten mitbekommen, dass ihr Körper aus Metall, Schläuchen und Pumpen bestand. »Wird wieder Docteur Vance gerufen?« Hailey nickte schwerfällig. Auch er schob die Hände tiefer in die Taschen und trampelte im Schnee auf und ab. »Wahrscheinlich. Der stellt die wenigsten Fragen, wenn ihm was Seltsames bei einer Untersuchung auffällt.« Abwesend nickte sie. Langsam wurde es zu kalt. Ewig würde ihr Körper nicht mehr mitmachen. Leider musste sie auf Zaida warten. Nervös sah sich Anabelle nach ihr um. Die elegante, schlanke Gestalt der angolanischen Magierin hob sich wie ein schwarzer Schattenriss gegen den farblosen Himmel ab; Schwarze Haut, schwarzes Haar, die Kleidung aus dunkelgrauer Wolle. Sie wirkte wie eine Statue. Die Kälte schien sie gar nicht zu berühren. Reglos stand sie auf dem Weg. Die angespannte, konzentrierte Haltung Zaidas verriet, dass sie etwas entdeckt haben musste. Über ihr schwebte einer ihrer beiden Raben, der zweite hüpfte dicht neben der Leiche von einer Bank in den tiefen Schnee und verschwand darin. Hailey regte sich neben Anabelle. »Sie scheint etwas gefunden zu haben. Dann ist sie hier«, er nickte zu der Leiche, »vielleicht von einem Geist zu Tode erschreckt worden?« Anabelle vermied es zu nicken. Geister konnten entsetzlich aussehen, aber an dem resultierenden Schock starben die Wenigsten. Was immer Zaida gefunden hatte, es musste ihr unbekannt sein, sonst hätte sie sich bereits über Details ausgelassen. »Und, was meinen Sie, Miss Anabelle?« Sie wandte sich Hailey zu und fing seinen neugierigen Blick auf. »Ich denke«, entgegnete sie vage. »Sir?«, fragte Constable Masters, der sich leise seinem Vorgesetzten genährt hatte. »Können wir die Tote abtransportieren lassen?« Dunstwölkchen stiegen von seinen Lippen auf. Hailey zog den Schal von seinem Gesicht. Die Hitze, die sein massiger Körper verströmte, wurde zu feinem Nebel, der sich unter der Krempe seines Hutes staute. Offenbar schwitzte er unter seinen Kleidern. Hailey wies zur Straße. »Holt den Leichenwagen hier her. Ich will nicht, dass die Tote durch die Gegend getragen wird. Das könnte in Mayfair nur Probleme bedeuten.« »Verstehe, Sir, falsche Gegend.« Edward Masters wandte sich dem Tor zu und winkte dem Kutscher. Offensichtlich schien der Mann froh zu sein, sich wieder bewegen zu dürfen. Sein Pferd weniger, es ging extrem steifbeinig. Zut! Wie kalt war es wirklich?! Insgeheim beschloss Anabelle, zu Hause die Außentemperatur zu messen. Sie besaß kein Wärme-Kälte-Empfinden, was ihr jede Einschätzung unmöglich machte. Im schlimmsten Fall froren die Schläuche, Fette und Öle in ihrem Körper ein. Das war nichts, was sie auf dem gleichen Weg wie ein Mensch wahrnehmen konnte. Vom Verstand erfasste sie es, spürte aber nichts. Die meisten Menschen um sie herum vermummten sich bis zu den Augen, zitterten, lamentierten und wurden krank. Eine Böe wirbelte lockeren Schnee auf. Für einen winzigen Moment glaubte Anabelle eine darin verborgene Monstrosität zu erkennen. Doch die Schleier aus Eisstaub legten sich sofort wieder. Beunruhigt versuchte sie, Zaidas Blick einzufangen. Die Aufmerksamkeit ihrer Freundin richtete sich ausschließlich auf jene Stelle, an der die leichte Schneeverwehung Gestalt angenommen hatte. Anabelle wandte sich zu Hailey um. Schrecken lag in seiner Mimik. Verspätet reagierte ihr Körper mit einem Zucken. Hailey sah etwas? Normalerweise bemerkte der Inspecteur selten die Auswirkungen solcher Phänomene. Dieses Mal spürte er sie. Offenbar bildete sie sich diese Erscheinung nicht ein. Vielleicht war es das, was die Frau zu Tode erschreckt hatte? Haileys abstoßend hässliche Boxervisage verzerrte sich vor Anstrengung. Anabelle sah, wie Schweiß aus seinen Poren trat und sein rotes Gesicht mit einer schimmernden Schicht überzog. Seine kleinen Schweinsaugen weiteten sich. Gefahr! Anabelle fuhr herum. Im gleichen Moment raste eine unbeschreibliche Scheußlichkeit auf sie zu! Für realen Schrecken blieb nicht die Zeit, lediglich das Abbild dessen klammerte sich fest. In einer fließenden Bewegung wich Anabelle zurück. Sie fühlte wie Hailey seine Arme um ihre Taille schlang und sie instinktiv herumwirbelte. Eine orkanartige Böe erfasste sie und schleuderte beide zu Boden. Sie brachen durch den eisüberzogenen Schnee. Wuchtig schlugen sie auf. Hailey stöhnte gequält. Erschrocken sah sie zu ihm. Glücklicherweise kam sie nicht direkt auf dem Inspecteur zu liegen. Mit ihren 240 Pfund Gewicht hätte sie seine Knochen sicherlich zertrümmert. Stöhnend rollte er sich auf die Seite und umklammerte seinen Arm. Merde! Sie hatte ihn verletzt. Allerdings kam sie nicht dazu, sich um ihn zu kümmern. Erneut wirbelte Schnee auf. Sie sah sich einer undurchdringbaren Wand aus Eiskristallen gegenüber, die in flirrender Bewegung waren. Angriffslustig senkte sie den Kopf und ballte beide Fäuste. Sie wusste, wie wenige Chancen sie mit körperlichen Attributen gegen ein Geschöpf aus inkonsistenter Nässe und Kälte hatte. Dennoch versuchte sie, alle Klauen und Sporne in ihrem Körper zu aktivieren. Was normal eine Angelegenheit des puren Willens war, scheiterte. Das feine Knacken der dünnen Eisschicht verriet ihr, dass just in diesem Moment alle Triebfedern ihrer körpereigenen Waffen einfroren. Entsetzt hob sie den Blick. Vor ihr baute sich etwas Gewaltiges, Massiges auf. Ein riesiger Schädel pendelte auf einem stiernackigen Hals. Leere Augenhöhlen starrten zu ihr herab. Das Maul klaffte auf und entblößte fingerlange Reißzähne. Eiseskälte schlug ihr entgegen. Mehr ärgerlich als entsetzt presste sie ihre Kiefer aufeinander. Schleier der Schneeflocken wehten zu ihr. Es schien, als berührten hunderte tastender Finger ihr Gesicht. Der Wind ähnelte eher einer Art Flüssigkeit, die sich überall hin auszubreiten vermochte. Winzige Flocken krochen unter ihre Kleider. Einen Moment später gruben sich tausend Klauen und Zähne in ihre künstliche Haut. Obwohl Anabelle eine Maschine war, tat es weh. Sie kniff die Augen zusammen und ballte ihre Fäuste. Instinktiv zog sie sich weiter zurück. Sie schlang die Arme um ihren Leib. Offenbar tastete das Wesen sie ab und suchte nach Informationen über ihre Schwachpunkte. Anabelle schrie auf, als die Eisfinger über ihre Herzplatte krochen, hinter der ihre Essenz brodelte. Die Angst, noch einmal zu sterben, breitete sich in ihr aus, krochen mit unbarmherziger Gewalt in ihren Verstand und vernebelte jeden klaren Gedanken. Unwillkürlich aktivierte sie die unaussprechliche, unangetastete Magie, mit der ihre Seele in die Maschine transferiert wurde. Der innere Schutzmechanismus erwachte zu funkensprühendem Leben. Sie wusste, dass etwas vollkommen Unmögliches geschah. Blut, mit Magie vermischt, rann über ihre Stirn, sickerte in die Brauen und ihre Augen, um über Nasenspitze und Kinn auf den Mantel zu tropfen. Ein paar rote Tropfen sammelten sich im Schnee. Ihre Schuhe füllten sich mit Feuchtigkeit. Gleichzeitig bildete sich um sie herum eine Sphäre aus vielfarbigem Licht, dass an die Kristallfacetten erinnerte, in denen ihre Seele einst gefangen gewesen war. Der Angriff verebbte. Anabelle taumelte zurück. Sie hob den Blick. Das Wesen überragte sie um fast das Doppelte. Der Schnee, aus dem sein Leib bestand, befand sich in zielloser Fluktuation. Sie konnte keine festen Formen ausmachen. Sein Schädel neigte sich. Einen Moment später riss er das Maul auf. Eine Orkanböe traf Anabelle. Sie stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Die Sphäre um sie flackerte. Sie spürte, wie das Magiegewebe schwächer wurde. Aufrechterhalten konnte sie es nicht – schließlich war nicht sie die Magierin. Sie konnte diesem Geschöpf nichts entgegen setzen. Einzig ihr stählerner Leib würde sie schützen. »Zaida!« Anabelle riss beide Arme hoch und ballte ihre Hände zu Fäusten. Schwach konnte sie die schwarze Magierin ausmachen. Zaida hob sich kaum noch von ihrer Umgebung ab. Was tat sie – zaubern? Die Nähe eines unsichtbaren, menschlichen Körpers strich an ihr vorüber … Zwei schwarze Schemen stoben aus dem Himmel herab. Federn wirbelten auf. Ein Laut, der zwischen einem hohen Kreischen und unbändigem Gebrüll lag, drang in Anabelles Gehör. Das Monster schrie seinen Hass heraus. Orkanböen bildeten unkontrollierbare Windhosen. Schnee wirbelte zu undurchdringlichen Schleiern auf. Messerklingen aus Kälte jagten durch den Sturm. Zugleich donnerte Zaidas rauchige, dunkle Stimme über den Orkan hinweg. Sie wob ihre finstere Magie, veränderte die Energie, die Anabelles Wesen und Körper durchströmte, zu neuer Form. Ein tiefes Zittern und Beben durchlief Anabelle. In diesem Moment konnte sie empfinden und erleben wie ein wirklicher Mensch. Eine Mischung aus Wärme, Ehrfurcht und Aufregung rann in ihre Essenz und verbreitete sich. Das Spektakel wahrer, starker Zauberei berührte ihre Seele in der Maschine zutiefst. Sie hob den Blick. Das Winterwesen bäumte sich gegen Zaidas Macht, während die beiden gewaltigen Kolkraben erneut herab stießen. In ihrer Mitte flammte ein rotgoldener Flammenball auf. Je näher sie dem Geschöpf kamen, desto stärker schmolz die Feuerkugel den Schnee zu winzigen, schimmernden Tropfen, die sofort in der arktischen Kälte zu Eiskristallen gefroren. Weidwund heulte das Wesen auf und zerfiel zu weißen Flocken, die herabrieselten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)