Rauhnacht von Luca-Seraphin (Das Gewicht einer Seele) ================================================================================ Kapitel 2: Eis in den Knochen ----------------------------- Anabelle saß vor dem Kamin in Zaidas Salon. Die Wärme des Feuers reichte kaum aus, ihre gefrorene Mechanik wieder anzutauen. Auf irgendeinem Weg musste Feuchtigkeit unter ihre Haut und in die Gelenke eingedrungen sein. Bei jeder noch so kleinen Bewegung kratzten und knirschten sie. Mit jedem Ticken der Standuhr schienen sie steifer zu werden. Es war wie verhext. Trotz des Feuers nahm ihre Geschmeidigkeit ab. Was war die Ursache hierfür? Zut alors – an dem einzig gut beheizten Raum im Haus konnte sie sich nicht untersuchen, da Hailey praktisch neben ihr auf dem Kanapee saß und missmutig in die Flammen starrte. Als Zaida mit Verbandszeug eintrat, hellte sich seine Mimik auf. Anabelle folgte ihr mit Blicken. Als sie sich neben Hailey setzte, zog sich ihre Essenz zusammen. Zugleich lag der lange, forschende und eindeutig besorgte Blick ihrer Freundin auf Anabelle. Nur langsam wandte sie sich zu dem Inspecteur, der sich – so wie der Knochen unter den Manschette hervorstand – sein Handgelenk gebrochen hatte. Dass er von Zaida versorgt wurde, schien ihm ausnehmend gut zu gefallen. Er sonnte sich in ihrer Aufmerksamkeit, folgte ihr mit Blicken bei jeder noch so kleinen Bewegung, streichelte sie beinah damit. Seine Art der Beobachtung besaß etwas Obszönes aber Zaida ließ es zu. Diese Art der Nähe verursachte in Anabelle ein beinah menschliches Verlangen, ihn umzubringen. Zaida war nichts für einen Parvenu wie ihn. Dazu besaß sie zu viel Verstand und Niveau. Er stand in jeder Weise weit unter ihr: gesellschaftlich, geistig und in seinem Wesen, immerhin stammte er aus Ostlondon. Zaida hatte wiederum bereits in ihrer Heimat als Dame gegolten und war eine von den Portugiesen und Angolanern gleichermaßen hoch angesehene Frau. In England hatte sie zu Anfang sicher nicht den Respekt gefunden, der ihr zustand, und einige Personen der oberen und gehobenen Gesellschaftsschicht konnten sich nicht mit der schwarzen »Dame« des britischen Empires abfinden, aber in den höfischen Kreisen, speziell von Ihrer Majestät, erhielt sie Ansehen und festes Vertrauen. Mon dieu und jetzt saß ihr dieser stiernackige Parvenu gegenüber und begaffte ihren Körper mit seinen lüsternen Blicken! Für einen Moment stach diese brennende Eifersucht in ihre Eingeweide. Wie hatte sich das damals angefühlt, als sie noch ein Mensch gewesen war? Nicht viel anders, zerreißend, quälend erfüllte dieses Gefühl auch diesmal ihre Essenz. Zaida hob kurz den Kopf und warf ihr einen Blick zu. Die Wärme in ihren großen, schwarzen Augen sorgte für ein Beben in Anabelles Essenz. Der Blick berührte und streichelte sie. Über ihre vollen, dunklen Lippen huschte ein liebevolles Lächeln. In dem Moment sah Hailey auf und räusperte sich. Der Blickkontakt riss ab. Oh, kann Hailey nicht einfach verschwinden?! Schneidende Kälte blieb mit brennender Wut zurück. Non, natürlich nicht. Zaida hatte ihren Namen und ihren Ruf dafür eingesetzt, dass Hailey nichts gegen Anabelle unternahm. Was für ein Tausch … Nur weil er das Geheimnis um die Maschine »Anabelle Talleyrand« kannte, musste Zaida ihm nicht noch mehr als die notwendige Aufmerksamkeit zollen. Aber Zaida betrachtete ihn als Freund. Freund … Dieser Mann würde alles geben eine Nacht an Zaidas Seite zu liegen und … Anabelle verdrängte die Konsequenz aus diesem Gedankengang. Es war nie gut seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Ein Freund – war er das oder nutzte er die Beziehungen schamlos aus? Sie arbeiteten zusammen. Das musste reichen. »Mögen« stand auf einem anderen Blatt. Seufzend richtete Anabelle sich auf und ging mit knarrenden Gelenken zur Tür. Haileys Blick folgte ihr. »Miss Anabelle, Ihre Mechanik hört sich nicht gut an.« Langsam wandte sie sich um. Schnelle Bewegungen machte ihr Körper nicht mit. In seinen kleinen Schweinsaugen schimmerte etwas. Möglicherweise nur die Spiegelung des Feuers? Er hielt die Lippen zusammengepresst, kniff nun die Lider zusammen, bis von seinen Augen kaum mehr als ein schmaler Spalt übrig blieb. Lag darin tatsächliche, ernst gemeinte Sorge? Bêtises! Vollkommener Unfug. Trotzdem war es sinnlos ihn zu belügen. Hailey würde schnell merken, dass ihr Körper ihr nicht mehr gehorchte. Sie nickte und verließ den Raum. Anabelle verschloss gründlich die Zwischentür zum Büro und der Bibliothek. Aus dem Salon drangen leise Geräusche. Das Knarren von Federn und das Rascheln von Zaidas Rock, der über Dielen und Teppich schliff. »Was hat sie, Madame Zaida?« Haileys Stimme klang gedämpft. Die Antwort blieb aus, dafür klapperte ein Holzkästchen. Anabelle lehnte sich gegen die Wand neben der Tür und schloss die Augen. Mit einiger Verspätung antwortete Zaida: »Der Angriff hat etwas in ihrem Körper beschädigt. Allerdings weiß ich nicht was.« Dieses Mal antwortete Hailey nicht. Die Geräusche von Scherblättern und Stoff erklangen. Verarztete sie ihn? Zaida war zu gut zu ihm. Mit einiger Willensanstrengung hob Anabelle die Lider und stieß sich von der Wand ab. Bekam dieser Ostlondoner überhaupt etwas mit? Realisierte er, dass er störte und Zaida seine Gefühle nicht erwiderte? Non, er schien nichts zu begreifen, obwohl er doch wusste, dass er keinerlei Chancen bei Zaida hatte. Empfand er sie denn nicht als Konkurrenz? Oder nahm er Anabelle als solche gar nicht wahr? Er bewegte sich so entsetzlich selbstsicher und besaß auch noch die Dreistigkeit, sich um Anabelles Probleme Sorgen zu machen … Zut alors! Allein deswegen fühlte sie sich nicht gut. Er sorgte sich und sie empfand es als aufdringlich. Momentan war es egal. Es gab wichtigeres als Arthur Hailey! Es wurde Zeit, sich die Schäden an ihrem Körper anzusehen; ohne einen Arthur Hailey, der in ihrem Kopf umherspukte! Hoffentlich verschwand er bald aus dem Salon, damit sie Zaida die Schäden zeigen konnte. Umständlich legte sie den Hausmantel ab, knöpfte mit steifen Fingern die kleinen Perlknöpfe an ihrer Bluse auf, streifte sie ab und zog die Bändchen an ihrem Miederhemd auf. Der Anblick war gewohnt und zugleich abstoßend. Laid comme un crapaud. Solange hochgeschlossene Kleidung die Hautlappen über ihren Gelenken und die große blau schimmernde Kristallplatte über dem Dekolletee auf Höhe des Herzens verdeckte, wirkte sie menschlich. Alles an ihr sah perfekt aus – bis sie sich entkleidete. Schlimmster aller Schandflecken war der misslungene Kautschuküberzug ihrer Hände, genaugenommen die Handinnenflächen. Daran erkannte jeder auf den ersten Blick, was sie war. Andererseits musste sie immer wieder an ihren Gelenken die Schrauben nachziehen und die Schläuche austauschen. Öle griffen Kautschuk an. Aber wozu musste sie besonders schön aussehen? Der Sinn ihrer Existenz bestand fraglos nur noch in Wissenschaft, Kampf und Ermittlungen. Sie zog einen »Hautlappen« hoch. Er war erstaunlich flexibel, ganz im Gegensatz zu den Kugeln und Federn. Trotzdem wies die Kunsthaut Risse und Schnitte auf. Sie wirkte beinah wie überdehnte Seide, die Fäden zog. Anabelle ließ sich in Zaidas grünen, lederbezogenen Schreibtischstuhl sinken. Das Gefühl von Erschöpfung nistete sich ein, trotz allem unterschied es sich von der normalen geistigen Ermüdung. Dieses Mal ließ sich nicht leugnen, dass es sich um einen rein körperlichen Eindruck handelte. Sie ließ die Arme auf die hölzernen Lehnen sinken. Matt registrierte sie all die Kratzer und Löcher, die sicher von den Krallen der beiden Raben stammten. Der Gedanke verlor sich in diffusem Grau. Nein, nicht der Müdigkeit nachgeben! C’est terrible. Mühsam drängte sie die Erschöpfung zurück. Blieb nur zu hoffen, dass sie im Anschluss überhaupt wieder auf die Füße kam. So sicher schien das momentan nicht zu sein. Langsam stemmte sie sich gegen die Versteifung ihrer Glieder, raffte den Rock und rollte die Strümpfe herab. Erschreckend, dass die Kälte und der Angriff auch hier Schaden angerichtet hatten. Wie an den Armen hingen überdehnte Hautlappen herab. Kupfer und Stahl lagen frei und das Maschinenfett glänzte feucht. Aus einem Riss sickerte Öl und verteilte sich durch den Stoff auf ihrem Bein. Etliche Hydraulikleitungen waren beschädigt. Die Kälte hatte nicht nur den Federn und Zahnrädern in ihren Gelenken geschadet. Dieses Resümee gefiel ihr nicht. Sie konnte unter keinen Umständen in diesem Körper bleiben. Merde! Nun fiel es ihr sogar zu schwer überhaupt die Strümpfe wieder aufzurollen! Konnte das denn sein? Einige Bewegungen waren nicht mehr möglich, oder sie erlahmten sofort wieder. Alle Gelenke knirschten von Eisablagerungen und Nässe. Sinnlos es zu versuchen. Wenn Zaida doch Hailey endlich loswerden konnte … Langsam brauchte sie ihre Hilfe. Zut alors! Umständlich hakte sie das Korsett auf, um zumindest das einzige nicht von Kunsthaut Überzogene zu untersuchen – die Herzplatte. Der nahezu unzerstörbare, blaue Kristall wirkte trüb. Feine Sprünge spannten sich von der Mitte bis zum Messingrahmen, der ihn in ihre Brust einfasste. Das nebulös wogende Gas im Zentrum ihres Körpers war Antrieb und zugleich Hauptsubstanz der zentralen Gehirnsteuerung. Sollte die Platte zerbersten, starb sie – dieses Mal unwiderruflich. Das musste nicht sein. Immerhin hatte sie mit diesem Körper eine zweite Chance zu leben geschenkt bekommen. Sie musste dringend mit Zaida reden. Umständlich kleidete sie sich wieder an. Korsett und Bluse konnte sie nicht mehr schließen. Dazu fühlten sich ihre Finger zu unbeweglich an. Umständlich schlang sie sich den Hausmantel um. Wenn Hailey doch endlich ginge …! In seiner Anwesenheit konnte sie ihren Körper nicht gegen einen anderen wechseln. Obwohl er nur davon wusste, besaß allein dieses Wissen zu viel Intimität. Hätte er es nicht vor Jahren selbst herausgefunden, wäre sie bis heute nicht bereit gewesen, ihm davon zu erzählen. Lange würde sie diese Farce nicht mehr aufrechterhalten können. Er musste endlich verschwinden. Als sie zurückkehrte, saß der Beamte vergleichsweise unglücklich auf dem dunkelroten Kanapee an der Südwand, machte aber auch keine Anstalten, sich zu verabschieden. Leider! Andererseits hegte sie nicht den Hauch von Mitleid mit ihm. Schließlich stand es ihm frei, jederzeit zu gehen. Als er ihren Blick bemerkte, rutschte er tiefer in die Polster und wandte sich Zaida zu, die gerade frisch zubereiteten Tee in eine zierliche Porzellantasse goss. Wahrscheinlich lag Haileys krampfhaftes Abstand halten an der Situation, seiner Verletzung, der gesamten, unglücklichen Lage und Konstellation oder schlicht an dem Wetter, was ihm sicher auch in den Knochen saß. Bon, das grenzte das Ratespiel stark ein. Er war schlicht wütend, dass er sich verletzt hatte. Ausnahmsweise hatte sie eigene Probleme, auch wenn Hailey sie nicht erahnen konnte. Oh Zaida, bitte … wenn es keine Neuigkeiten zu der Toten gibt, setz ihn vor die Tür, nur einmal, mir zuliebe. Das konnte Anabelle unmöglich aussprechen. Sie warf ihrer Freundin einen flehenden Blick zu. »Wenn Sie Schnaps oder Gin haben, Madame, ist mir das eigentlich lieber als Ihr Tee«, gestand Hailey. Zaida hob die Brauen und stellte ihm das Tässchen auf einem nicht weniger zierlichen Unterteller auf den Tisch. Im Vergleich zu seinen riesigen, kräftigen Händen wäre wahrscheinlich auch die Kanne zu klein gewesen. Sie setzte sich an seine Seite und machte sich an dem recht abenteuerlich gewickelten Verband zu schaffen. Er verzog kurz das Gesicht. »Tee wärmt, betäubt aber den Geist nicht, Arthur. Wenn Sie trinken wollen, gehen Sie in einen Pub.« Bei diesem Kommentar stöhnte er leise auf. Zaida lächelte spöttisch. Er wusste, dass sie ihn nicht ernst nahm. Ungerührt verschnürte sie den Verband. »Gin bekommen Sie in den Pubs im Eastend, Monsieur Hailey. Hier sollten Sie vielleicht ein wenig auf die Etikette achten«, knurrte Anabelle. Sein starker Alkoholkonsum war ihr zuwider. Trotzdem lag auf der Hand, wieso er trank. Seine Arbeit nahm ihn mit. Er hatte es fast ausschließlich mit Morden zu tun und begegnete gewissenlosen, grausamen Männern und Frauen. In erster Linie musste er ihre Taten nachvollziehen können, in sie hinein schlüpfen, denken, wie sie denken; und alles nur, um die »braven« Bürger Londons vor ihnen zu schützen. Ganz zu schweigen von dem, was jenseits der einfachen Tötungen lag und in den Bereich des Übersinnlichen oder zumindest Unerklärlichen fiel. Wahrscheinlich betäubte er sich speziell davor. Es gab viel, was das Fassungsvermögen eines gläubigen Menschen sprengte. Vermutlich lag im Alkohol die einzige Möglichkeit mit all den unheimlichen Erscheinungen klarzukommen, mit deren Klärung er von Scotland Yard beauftragt wurde. Schließlich war es nicht sein Wunsch, Sonderdienst für seine Vorgesetzten zu leisten. »Nach dem, was da passiert ist, wäre mir eine Flasche Gin noch zu wenig.« Seine Stimme klang dumpf. Anabelle ging an ihm vorüber und drehte sich zu ihm um. Ihre Glieder kratzten. Der Wiederstand nahm zu. Ihre Bewegungen konnten auch für Hailey nicht mehr flüssig wirken. Glücklicherweise verlor sich sein Blick in den prasselnden Flammen des Kamins. »Monsieur Hailey?«, fragte sie vorsichtig. Langsam, als fiele es ihm besonders schwer seinen Blick vom Feuer zu lösen, hob er den Kopf. Müdigkeit sprach aus seinen kleinen, rot geränderten Augen. Er atmete schwer durch. Etwas lag ihm auf der Seele. Die Begegnung von vorhin oder sein verletzter Arm? »Miss Anabelle, was war das?«, fragte er hilflos. Sie schüttelte langsam den Kopf. Eine Antwort darauf hatte sie nicht. Zaida zog sich auf die gesellschaftlich anerkannte Mindestdistanz zurück, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände über dem Knie. »Ich möchte vermuten, dass dieses Wesen eine Art Naturgeist ist. Vermutlich liegt hierin auch begründet, warum die Londoner das Gefühl haben, in Sibirien zu leben.« Hailey sah sie an. »Sie meinen, die Kälte hat etwas mit diesem«, er zögerte, offenbar fand er kein passendes Synonym für den Grund seiner Hilflosigkeit, »… Ding zu tun?« Zaida nickte sacht. »Für genauere Definition müsste ich recherchieren.« »Zumindest wissen wir nun, was die arme Frau getötet hat. Nur was wollte sie ausgerechnet hier?« Anabelle verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wir wissen auch nicht, woher sie stammt. Sie muss doch einen Bezug hier her nach Mayfield haben.« »Ich überprüfe gleich mit Masters, ob sie hier in einem der Haushalte gearbeitet hat, bevor sie abgerutscht ist«, schlug Hailey vor. Zaida wiegte den Kopf. »Seien Sie nicht ganz so vorschnell.« »Gibt es denn noch andere Möglichkeiten?« Sie zuckte die Schultern. »Sicher. Solang wir aber keine Hinweise auf ihre Identität haben, liegt diese Theorie nah.« Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Miss Anabelle, was denken Sie?« Gute Frage. Generell traf Haileys Annahme sicher zu. Aber was, wenn diese Frau nicht umsonst direkt gegenüber im Park gestorben war? Was wäre, wenn ihr Ziel dieses Haus gewesen war? »Vielleicht wollte sie Hilfe von uns.« Er runzelte die Stirn. Folgen konnte er anscheinend. Seiner Mimik war zu entnehmen, dass er genau wusste, worauf Anabelle hinaus wollte. »Das würde mit dem Erscheinen dieses Dings zusammenpassen. Stimmt schon. Jemand, der auf der Flucht vor dem Eisgeschöpf Hilfe und Zuflucht bei der Hexe Madame Zaida sucht …« »Magierin!«, korrigierte sie ihn beiläufig, stand dann aber auf. »Aber wie hätte dieses arme Ding Sie bezahlen können, Zaida?« Das war mit Sicherheit nicht die klügste Reaktion gewesen. Zaida übernahm auch Fälle, die ihr finanziell nichts einbrachten. Sie mochte es nicht auf eine reine Detektivin reduziert zu werden, deren Hauptinteresse in der Beschaffung von Geld lag. Anabelle musterte sie. In der Mimik ihrer Freundin hatte sich etwas verändert. Kälte sprach aus ihren Zügen. Sie legte die Hände ineinander. »Arthur, Sie sollten mich besser kennen.« Auffordernd trat sie zur Tür. Dieser Hinweis war nicht dezent, sondern deutlich. Hailey beugte sich der Hausherrin. »Falls Sie doch schon etwas unternehmen sollte, unterrichten Sie uns?«, fragte Zaida. Er nickte, während er versuchte, die Manschette seines Hemdsärmels über dem Verband zu schließen. Mit seinen riesigen Pranken funktionierte es nicht. Zaida half ihm. Annabelle beobachtete ihre Freundin einige Sekunden lang, bevor sie den Blick durch das Zimmer gleiten ließ. Die verwaiste Vogelstange, auf der sonst Songa und Manikongo hockten, verdeutlichte, dass Zaida nicht den Hauch einer Ahnung besaß, was sie gerade angegriffen hatte. Beide Raben dienten ihrer Herrin als Späher. Vielleicht würden sie mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten das Winterwesen ausfindig machen können. Langsam schritt Anabelle zu dem Fenster, durch das sie über die stille Straße in den Hyde Park sehen konnte. Sie hatten in der vergangenen Nacht beide nichts wahrgenommen. Seltsam … und wie war es diesem Geschöpf gelungen, Zaidas täglicher Suche nach gestalt-gewordenen Mythen zu entgehen? Daraus ergab sich die Frage, mit was sie es überhaupt zu tun hatten. War das Wesen vielleicht mächtig genug, um sich vor Zaida zu schützen? Es hatte so leichtes Spiel mit ihr. Selbst Zaidas starke Magie reichte gerade mal dazu, es zu vertreiben. Feuchtigkeit kondensierte an der Scheibe. In den Ecken kristallisierten die feinen Tröpfchen bereits zu Eis. »Wie kalt ist es?«, fragte Anabelle. Hailey räusperte sich. »Heute früh waren es -22°F. Wie weit die Temperaturen nun abgesunken sind, weiß ich nicht.« Anabelle nickte. In den letzten Wochen war es mit jedem Tag etwas kälter geworden. Sie kannte solch ein Wetter weder aus London noch aus Paris. Ihr Körper war nicht darauf ausgelegt. Sie wandte sich um. »Wann ist der Winter so aus dem Gleichgewicht geraten?« Zaida stand wieder neben der Tür. »Ich glaube vor etwa zwei Monaten.« Anabelle setzte sich wieder an den Kamin. Gab es einen Termin, der eine besondere, magische Nacht ankündigte? Ihr fielen nur Legenden und zumeist deutschstämmige Märchen über die Rauhnächte ein. Die Zeit zwischen dem 21. Dezember und dem 1. Januar galten als die Zeit des Todes oder der Ruhe. In jener ersten Nacht sollte Odins wilde Jagd stattgefunden haben, ebenso wie die Legende Frau Holles genau auf die Spanne dieser zwölf Tage fiel. Langsam fuhr sie sich mit dem Daumen über die Unterlippe und nagte darauf herum. Eigentlich gab es daran weder etwas Romantisches, noch etwas besonders Unheimliches. Aus wissenschaftlicher Sicht klang die Erklärung eher unspektakulär. Aber vielleicht lag auch darin ein Teil des Geheimnisses. Dank der höheren Mondrotation zu Erde und Sonne entstand eine Art Stunden- und Tagesüberstand, der sich rein astronomisch auf die letzten eineinhalb Dezemberwochen festlegte. In etlichen Kulturen bedingte sich daraus das Weihnachts- beziehungsweise Julfest. Stellte sich nun die Frage, ob es hierbei vorkommen konnte, dass dunkle Geister einen Weg auf die Erde fanden, wie es sonst eher in der Samhain-Nacht üblich war? »Was vermutest du?«, fragte Zaida mitten in ihre Gedanken. Anabelle zuckte zusammen. Sie sah zu ihrer Freundin. »Ich versuche gerade eine Verbindung zwischen den Vorkommnissen und den jeweiligen Mythen über die Raunächte herzustellen.« Hailey hob seine unverletzte Hand. »Verzeihung, meine Damen, das ist Ihre Aufgabe. Ich kann zu Mythen und Legenden wenig beitragen.« Er drückte die Klinke herab. »Ich nehme Madame Zaidas Rauswurf in dem Fall gern an.« Anabelle sah ihn vorwurfsvoll an. »Monsieur!«, ereiferte sie sich, obwohl sie froh war, dass er sich anschickte zu gehen. »Erst ziehen Sie uns zu diesem Fall hinzu und dann wollen Sie sich an der Überlegung nicht beteiligen?« »Im Augenblick ist die Tote einfach nur eine erfrorene Frau, die unglücklicherweise im Hyde-Park gefunden wurde …« »Sind denn in den vergangenen Tagen ähnliche Vorkommnisse aktenkundig geworden?«, unterbrach Zaida ihn. Hailey zuckte mit den Schultern. »Mir sind keine zu Ohren gekommen.« »Wäre es zu viel verlangt«, fragte Zaida, »wenn Sie entsprechende Nachforschungen betreiben könnten, Hailey?« Sie ließ sich in ihrem Stuhl sinken, während sie ihn ansah. Er runzelte die Stirn. »Wenn ich etwas habe, melde ich mich«, knurrte er, wobei er die Klinke herab drückte. »Einen guten Tag!« Anabelle sah ihm nach, bis er ihr Sichtfeld verlassen hatte. Eine halbe Minute später schlug die Eingangstür zu. »Ma cher, du hast ihn beleidigt.« Zaida nickte. »Anders kann man seine Dickfelligkeit auch kaum durchdringen.« In einer fließenden Bewegung erhob sie sich und trat an das Fenster. »Es tut mir jedes Mal leid, ihn zu verletzen, um die Grenzen neu abzustecken. Er ist schließlich ein enger Freund.« Anabelles Fäuste schlossen sich mühsam. Hitze stieg in ihr auf und negierte ihre Worte. Enger Freund? Was verstand Zaida im Zusammenhang mit diesem Mann unter Freund? Begriff sie denn seine Gefühle nicht? Je dichter sie ihn an sich heranließ, desto mehr schürte sie seine Gefühle. Merde! Warum ließ Zaida zu, dass er ihr so nah kam? Wollte sie diese Vertrautheit? Er liebte sie schließlich! Möglicherweise unterwanderte das stechende Ziehen in ihrem Herz – ach nein, es war ja nur noch reine Essenz – jeden Rest Logik, aber allein die Bezeichnung »enger Freund« tat weh. Am liebsten hätte sie Zaida all das gesagt, was eine einzige, kleine Bemerkung in ihr auslöste, aber jetzt war nicht die passende Zeit dafür. Mühsam würgte sie den Ärger hinunter und folgte Zaida. Anabelle lehnte sich in den Rahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Gelenke knirschten bedenklich. Sie wollte nicht weiter über Hailey nachdenken müssen und seine Reaktion diskutieren. »Was hältst du von meinem Denkansatz?« »Die Raunächte?«, fragte Zaida überflüssigerweise, während sie sich mit beiden Händen auf das Fensterbrett stützte. »Genau.« Zaida feuchtete ihre Lippen an. »Deine Vermutung dürfte zutreffen. Der Kälteeinbruch begann nach Samhain. In der Nacht des 31. Oktober muss etwas die Grenzen hierher überschritten haben. Vielleicht brauchte es Zeit, um sich zu etablieren, möglicherweise ernährt es sich von dem entzogenen Leben der Erfrorenen. Jetzt erreicht es den Höhepunkt seiner Macht.« Sie sah Anabelle aus dem Augenwinkel an. »Die vergangene Nacht war die erste Rauhnacht. Der 21. Dezember ist der Tag mit der längsten Nachtphase.« »Aber was ist das für ein Wesen?« »Ich habe keine Ahnung«, gestand Zaida. »In jedem Fall ist es mächtig und lauert auf Leben.« »Und«, fügte Anabelle betont hinzu, »es kann mich vollständig lahmlegen.« Erschrocken richtete Zaida sich auf. »Was meinst du?« Wortlos öffnete Anabelle ihren Hausmantel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)