OsT #002: Der Süßwarenhändler von TheGreenArrow (Schreibzieher-OneShot-Tausch 2013) ================================================================================ Kapitel 1: Der Süßwarenhändler ------------------------------ Jetzt: Sein Name ist William Davis und er war Süßwarenhändler. Damals: „Peter! Hilf' mir doch bitte mit den Brausebonbons.“ Es war ein warmer Sommerabend und ich hatte meinen Süßwarenladen vor ein paar Minuten geschlossen. Und dennoch begann für mich erst jetzt die richtige Arbeit. Aufräumen, umräumen, Inventur; all die organisatorischen Dinge, die nun einmal anfielen, wenn man einen beschaulichen Laden zu führen hatte. Das Verkaufen und die Interaktion mit meinen Kunden hingegen, das machte mir so viel Spaß, dass ich es beim besten Willen nicht als Arbeit bezeichnen mochte. Gerade war ich dabei, eine neue Lieferung Brausebonbons ins Regal zu räumen, als sich mein Rücken bemerkbar machte. Ich war zwar erst Mitte 50, aber die Schmerzen wurden mit jedem Tag schlimmer. Und so bat ich Peter, meine Aushilfskraft, mir die Arbeit abzunehmen. Er war ein junger Mann Anfang 20, der sich neben der Ausbildung in meinem Laden etwas Kleingeld verdiente. Es war nicht viel, was ich ihm bezahlen konnte, und ich war mir sicher, dass es genügend Jobs gab, die mehr Geld einbrachten; aber ich spürte in ihm das gleiche Feuer, das auch mich packte, wenn ich morgens mein Geschäft öffnete. Ganz zu schweigen von seiner Art, mit den Leuten umzugehen. Oft wusste er schon, was sie wollten, bevor sie auch nur daran gedacht hatten. Während er nun das Regal einräumte, ging ich hinter den Tresen und setzte mich in meinen alten, aber nicht minder bequemen Sessel. Ich warf einen Blick in die Zeitung und traute meinen Augen nicht, als ich lesen musste, dass der kleine Jeffrey Hawkins verschwunden war. Jetzt: Wie jeden Abend saß er in seinem Sessel am Fenster und schaute auf die Straße herunter. Dort unten hatte er einst ein kleines Geschäft besessen, doch das war vor langer Zeit gewesen. Für seinen bereits damals schon angeschlagenen Rücken wurde die Arbeit irgendwann zu viel, weshalb er den Laden hatte verkaufen müssen. Nicht einmal eine Woche hatte es gedauert, bis eine junge Dame damit begann, ihren Friseursalon einzurichten. So saß er nun hier oben und beobachtete das Leben der Anderen und schwelgte dabei in alten Zeiten, anstatt das Hier und Jetzt zu genießen. Dann jedoch gab es auch nicht mehr viel, an dem er noch Spaß hatte. Auf meine Besuche allerdings freute er sich immer besonders; so sagte er zumindest. Jeden Freitag um Punkt vier Uhr stand ich in seinem Zimmer und berichtete ihm von meiner Arbeit, meiner Frau Jennifer und meinen zwei Kindern, Emily und Jason. Er war immer froh über unsere Gespräche und gestand mir, dass sie ihm eine willkommene Abwechslung zu seinem sonst so tristen Alltag waren. Denn obwohl wir uns seit der Zeit des Süßwarenladens kannten, waren die Unterhaltungen, die ich mit ihm führte, die einzige Zeit, in der er die Vergangenheit hinter sich lassen und sich mit der Gegenwart beschäftigen konnte. So pünktlich, wie ich jedes Mal eintraf, bereitete ich mich stets eine Stunde später darauf vor, wieder nach Hause zu gehen. Doch vorher ging ich zum Süßigkeitenregal und entnahm eine Tüte Bonbons. Und wie in den letzten Wochen fragte ich auch dieses Mal: „Hast du dich entschieden?“ Doch wie zuvor schüttelte er nur den Kopf. „Du weißt, dass ich immer für dich da bin, William.“ „Das weiß ich in der Tat, Peter.“ Ich lächelte und verließ das Zimmer, während sich William wieder in den Sessel sacken lies. Bereits im Treppenhaus konnte ich die Kinderstimmen vor der Haustür vernehmen. Es hatte sich schnell herum gesprochen, dass jeden Freitag um kurz nach fünf Herr Aries aus der Wohnung des alten Süßwarenhändlers kam und ein paar Süßigkeiten zum Verteilen dabei hatte. Immer wenn ich alles ausgeteilt hatte, blickte ich ein letztes Mal zu dem einsamen Fenster im zweiten Stock; und jedes Mal hatte ich den Eindruck, dass sich William für einen kurzen Moment wieder so fühlte, als führe er noch seinen Laden. Damals: Einige Tage vergingen ohne Neuigkeiten bezüglich Jeffrey Hawkins. Dann stand plötzlich ein Mann vor meiner Theke und hielt mir eine Polizeimarke hin. „Sind sie William Davis, der Eigentümer dieses Ladens?“ Ich nickte. „Mein Name ist Detective Carl Johnson, ich ermittle im Fall Hawkins. Ich nehme an, sie haben davon gehört?“ „Ja, der kleine Jeffrey. Eine Tragödie. Er war oft hier gewesen, um Süßigkeiten zu kaufen.“ „Deswegen bin ich hier. Nach aktuellem Stand der Ermittlungen dürften sie die letzte Person gewesen sein, die ihn lebend gesehen hat.“ Ich musste kurz schlucken und meine Gedanken ordnen. „Zeugenberichten zu Folge war er Donnerstag letzte Woche bei ihnen im Laden. Können sie das bestätigen?“ „Ja, er kam nach der Schule hier her und kaufte seine übliche Mischung: Drei Schlümpfe, sieben Brausebonbons und zwei Lutscher.“ „Wissen sie noch die ungefähre Uhrzeit?“ „Nicht aus dem Kopf heraus“, antwortete ich und zeigte dann auf die Überwachungskamera hinter dem Tresen. „Aber das Video hat einen Zeitstempel.“ „Wären sie so freundlich, das entsprechende Band abzuspielen?“ „Aber natürlich.“ Ich ging in den Abstellraum und suchte nach dem Donnerstagsvideo. Als ich es gefunden hatte, ging ich zur Theke zurück und legte es in den Videorekorder. Ich drehte den Monitor zu Detective Johnson und suchte die entsprechende Stelle. „14:23 Uhr, wie vermutet.“, sagte er und schrieb etwas in seinen Notizblock. „Sie sagten, er habe nur seine übliche Mischung gekauft?“ Ich nickte. „Und das hier?“ Er zeigte auf den Bildschirm, wo zu sehen war, wie ich Jeffrey ein Bonbon aus einer Glasschüssel überreichte. „Achso, ja. Für jeden Einkauf über 1 Dollar, gibt’s ein Gratisbonbon.“ Ich zeigte auf die Schüssel auf der Theke. „Jede Woche wähle ich eine andere Sorte, die ich einfülle.“ „Und die bekommt jeder?“ „Sofern er genug einkauft.“, lachte ich. „Verstehe. Die Schale müssten wir zur Untersuchung konfiszieren.“ Ich nickte erneut. „Gibt es sonst noch etwas, das sie wissen?“ „Nein, tut mir leid. Wie ist denn die aktuelle Lage?“, fragte ich. „Tut mir leid, über laufende Ermittlungen darf ich leider nicht berichten. Aber es sieht nicht gut aus. Sie waren unsere letzte große Spur. Es kann sein, dass wir uns noch einmal bei ihnen melden. Und rufen sie uns bitte an, wenn sie noch etwas erfahren.“ Jetzt: Es war früher Nachmittag als ich von der Arbeit nach Hause kam. Die Sonne thronte über einem wolkenlosen Himmel und hielt dadurch die Temperatur auf einem angenehmen Niveau. Ich fuhr den Wagen in die Einfahrt und stieg aus. Jennifer hatte es sich auf einer Liege im Garten gemütlich gemacht, Emily und Jason tollten über den Rasen. Als sie mich entdeckten, rannten sie zu mir und warfen sich mir um den Hals. Ich erwiderte die Umarmung und ging zu meiner Frau, nachdem ich mich befreit hatte. Sie hatte die Augen geschlossen und mich noch nicht bemerkt. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, woraufhin sie lächelte. „Du entschuldigst, wenn ich noch ein wenig weiter döse?“, fragte sie mich. „Aber klar; ich muss mich ohnehin noch umziehen.“ Ich gab ihr einen weiteren Kuss und betrat das Haus. Ich durchquerte das Wohnzimmer und nahm die Treppe in den zweiten Stock. Oben angekommen betrat ich das Schlafzimmer und holte ein paar neue Klamotten aus dem Schrank. Ich ging ins Bad und legte alles auf der Waschmaschine ab. Mein Spiegelbild glotzte mich träge an und spritzte sich dann etwas Wasser ins Gesicht. Die Abkühlung tat mir gut, weshalb ich erst einmal tief durchatmete. Ich zog meine Kleidung aus und betrat die Dusche. Als ich fertig und wieder angezogen war, ging ich zurück in den Garten, wo Jennifer schon auf mich wartete. „Anstrengender Arbeitstag?“, fragte sie mit einem Lächeln. „Das kannst du laut sagen. Das war heute das reinste Chaos.“ „Naja, jetzt hast du dir erst mal den Feierabend verdient und morgen Abend beginnt ja auch schon wieder das Wochenende.“ „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich darauf freue.“ „Carl hat übrigens vorhin angerufen. Er und Michelle kommen morgen gegen sechs Uhr vorbei.“ Ich nickte kurz. Das hatte ich vollkommen vergessen. Morgen wollten wir mit den Johnsons grillen. „Ich habe das Holz noch nicht abgeholt. Soll ich jetzt noch fahren oder reicht morgen?“, fragte ich meine Frau. „Lass dir ruhig bis morgen Zeit. Das Holz wird schon nicht weglaufen.“ Ich lachte und nahm in der Liege neben ihr Platz. Als es allmählich dunkel wurde, schickten wir die Kinder zum Zähneputzen rein und räumten den Garten ein wenig auf. Emily und Jason hatten sich bereits ins Bett gelegt, als wir unsere tägliche Gute-Nacht-Runde starteten. Wir deckten die beiden zu und gaben ihnen einen Kuss auf die Stirn. Dann löschten wir das Licht und zogen uns ins Schlafzimmer zurück. Damals: Vier Jahre waren seit dem Verschwinden von Jeffrey vergangen. Die Ermittlungen waren seit meiner Unterhaltung mit dem Detective nicht vorangegangen. Bis sie ein paar Tage später den leblosen Körper des Jungen in einem Hinterhof gefunden hatten. Untersuchungen hatten ergeben, dass es neben körperlicher Gewalt auch zu sexuellen Übergriffen gekommen war; die genauen Details wurden zurückbehalten. Allerdings konnten sie keine Spuren sicher stellen und so war der Täter zunächst straffrei davon gekommen. Im Ort hatte sich daraufhin eine Art Bürgerwehr zusammengerottet, die alles anstellte, um den Schuldigen zu finden. Doch wie auch schon die Polizei waren sie zu keinem Ergebnis gekommen. Wochenlang hatten Eltern ihre Kinder nicht mehr alleine zur Schule geschickt und auch in meinen Laden waren sie mitgekommen. Alle hatten die Befürchtung, dass der Täter noch einmal zuschlagen würde; doch das hatte er nicht getan. Einige Zeit war verstrichen, bis sich alles wieder normalisiert hatte. Die Leute waren ihren täglichen Geschäften nachgegangen und hatten Jeffrey schon fast vergessen, bis ihnen der Fall wieder schmerzhaft bewusst gemacht wurde. Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach seinem Verschwinden, war ein weiteres Kind, Rose Jackson, entführt worden. Es war am ersten großen Sommerfest unseres Ortes seit acht Jahren geschehen. Und wieder war die Polizei völlig ratlos gewesen. Als man sie eine Woche später gefunden hatte, hatten die Untersuchungen die gleichen Ergebnisse wie schon bei Jeffrey ergeben. Die Polizei war sich unschlüssig gewesen, ob es sich um einen Nachahmer oder einen Serientäter gehandelt hatte. Da ihre Recherchen aber wie schon zwei Jahre zuvor keine Anhaltspunkte geliefert hatten, waren sie auch dieses Mal gezwungen gewesen, den Fall auf Eis zu legen. Es brauchte weitere zwei Jahre und eine erneute Entführung, bevor die Polizei endlich einen brauchbaren Hinweis zur Identifizierung des Täters finden konnte. Als man Philipp Morrison eine Woche nach dessen Verschwinden fand, hatte sich an seinem Hosenbein ein kleiner Schraubverschluss verfangen. Er war grün und zeigte einen hämisch grinsenden Smiley. Die Ermittler waren sich nicht sicher, ob es sich dabei um eine Nachricht oder ein Versehen des Täters handelte. Mittlerweile war allerdings klar, dass sie es mit einem Serientäter zu tun hatten, der alle zwei Jahre im Juli zuschlug. Auf Grund dessen wurde das FBI eingeschaltet, was ab sofort die Ermittlungen leitete. Erste Untersuchungen ergaben, dass sich an dem Verschluss DNA-Spuren befanden; unklar war jedoch, ob es sich dabei um die des Täters handelte. Als diese Information veröffentlicht wurde, herrschte helle Aufregung im Ort; auch ich war gespannt, wie es weiter gehen würde. Nach einigen Tagen kam dann die Bestätigung, dass es sich bei den Spuren nicht um die von Philipp Morrison handelte, sondern sie von Edgar Green stammten. Mr. Green war bereits vorbestraft, weil er Kindern auf einem Spielplatz nachgestellt hatte. Die Ermittler vermuteten, dass diese Bestrafung der Grund für seine Eskalation gewesen war. Noch am selben Tag stürmten Beamte des FBI und der Polizei Edgars Wohnung und nahmen ihn fest. Auf seinem PC wurden mehrere kinderpornografische Videos und Bilderreihen sicher gestellt und in seiner Abstellkammer fanden die Ermittler kurze blonde Haare, die zu Philipps Frisur passten. Während Edgar im Gefängnis saß, gingen die Ermittlungen weiter, die schließlich ergaben, dass die gefundenen Haare tatsächlich von Philipp Morrison stammten; damit schien die ganze Sache erledigt. Jetzt: Ich stellte meinen Wagen auf dem Parkplatz des örtlichen Kindergartens ab und stieg aus. Ich hatte mich zum Erzieher ausbilden lassen, nachdem ich festgestellt hatte, mit welcher Hingabe und Leidenschaft ich mit Kindern arbeiten konnte. Seit einigen Jahren arbeitete ich nun hier im Kindergarten meiner Heimatgemeinde. Ich ging durch das Eingangstor und wurde von Mrs. Harrison, der Leiterin, begrüßt. Wir wechselten ein paar Worte und ich ging in meinen Gruppenraum, um ihn für die Ankunft der Kinder vorzubereiten. Etwa eine Stunde später war meine Gruppe vollzählig und wir begannen unser Begrüßungsritual. Abwechselnd bekam jeder von uns den Erzählbär in die Hand und wir berichteten, was wir am Vortag alles erlebt hatten. Von Schwimmbad, über Fußball bis Super Mario war alles dabei; ich selbst berichtete davon, dass ich vergessen hatte, Holz zu kaufen, was die Kinder lachen ließ. Nach den Begrüßungen setzten wir unsere Lesestunde vom Vortag fort. Jeden Tag las ich den Kindern ein Kapitel vor und stellte ihnen im Anschluss Fragen dazu. Momentan lasen wir ‚Der kleine Prinz‘, eines meiner Lieblingsbücher, als ich selbst noch klein war. Danach frühstückten die Kinder, was ich dazu nutzte, um ein Telefonat mit Mr. Stern zu führen und mich über die Holzlieferung zu informieren. Nach dem Frühstück teilten sich alle auf die verschiedenen Gruppen auf, je nachdem worauf sie gerade Lust hatten. Mein Raum war auf Malen und Basteln ausgelegt; andere waren zum Lesen, Rangeln oder Spielen da. Heute war es ausnahmsweise recht ruhig, nur zwei Mädchen und ein Junge saßen am Tisch in der Mitte des Raumes und malten Bilder von ihren Familien. Ich ging zu ihnen herüber und betrachtete die Malereien im Detail. Die beiden Mädchen malten, was man gemeinhin als Kinderkritzelei bezeichnete; der Junge, Leon, hingegen besaß ein besonderes Talent. Er war zwar erst fünf Jahre alt, doch seine Striche hatten eine gewisse Autorität an sich, die man nicht bestreiten konnte. Ich lobte alle drei und setzte mich wieder in meinen Sessel. Gegen Mittag versammelten sich Kinder und Erzieher in der großen Halle zum Mittagessen; danach durften die Kleinen aufs Außengelände, um sich ein wenig auszutoben. Bis auf das Lesezimmer, dessen Aufsicht ich heute übernahm, waren die restlichen Räume zu dieser Zeit gesperrt. Zunächst war ich alleine im Zimmer, dann traten Leon und die zwei Mädchen von heute Morgen über die Türschwelle. Ich nickte ihnen zu und beobachtete, wie sie sich aufs Sofa setzten und ein paar Bücher durchblätterten. Sie kamen mir fast wie eine Art Gang vor; bei dem Gedanken musste ich unweigerlich schmunzeln. Die Zeit verging wie im Flug und so versammelte sich meine Gruppe schon bald wieder in unserem Raum zur Verabschiedung. Die ersten Eltern warteten schon im Flur, während wir uns noch alle die Hand gaben. Nachdem die Kinder abgeholt waren, packte ich meine Sachen und bereitete mich darauf vor, das Holz zu besorgen. Zuvor war aber noch mein wöchentlicher Besuch bei William an der Reihe. Damals: Edgar Green beteuerte stets seine Unschuld im Fall Morrison. Er gab zwar zu, diverse Bilder und Videos von Kindern zu besitzen, aber an der Entführung von Philipp sei er nicht beteiligt gewesen. Er war sich sicher, dass jemand seine DNA und die Haare des Jungen absichtlich platziert haben musste, um den Verdacht auf ihn zu lenken. Aber nicht einmal sein Verteidiger glaubte wirklich an diese Geschichte, betrachtete man seine Vergangenheit und die Beweise auf seinem PC. Die Bevölkerung war erleichtert, dass der Täter endlich gefasst worden war, und fieberte dem Ende der Ermittlungen entgegen. Aufgrund zahlreicher Drohungen gegen den Angeklagten beschloss das Gericht, die Verhandlung nur per TV-Übertragung der Masse zugänglich zu machen. Am ersten Tag passierte nicht viel bei Gericht; Anklage und Verteidigung machten ihre Standpunkte klar, Edgar Green beteuerte erneut seine Unschuld. Einige Beweisstücke, unter anderem der Verschluss, wurden abgehandelt, aber im Großen und Ganzen verlief die erste Sitzung recht ereignislos. Gegen Nachmittag verließen Edgar Green und sein Verteidiger, eskortiert von vier Sicherheitsleuten, das Gerichtsgebäude, damit man ihn erneut in seine Zelle bringen konnte. Draußen wartete schon ein tobender Mob, der Mr. Green mit Beschimpfungen übersäte. Die Beamten bahnten sich einen Weg durch die Masse und geleiteten Edgar die Eingangstreppe hinunter in Richtung des bereit stehenden Polizeiwagens. Plötzlich stob die Menschenmenge kreischend auseinander, nachdem ein Knall die Luft erfüllt hatte. Die Sicherheitsbeamten zogen ihre Waffen und schauten sich um, bis sie eine junge Frau entdeckten, die am Fuß der Treppe stand, den rauchenden Colt noch immer auf die Eskorte gerichtet. Zwischen den Sicherheitskräften war Edgar Green mittlerweile zu Boden gesunken und rührte sich nicht mehr, während sich der Blutfleck auf seinem Hemd stetig ausbreitete. Zwei der Beamten sicherten die Umgebung, während der Verteidiger bei seinem Klienten blieb. Die restlichen beiden zielten auf die Frau und forderten sie auf, die Waffe fallen zu lassen. Diese schien in einer Art Trance und reagierte zunächst nicht auf die Aufforderung. „Ma’am, legen sie sofort die Waffe weg!“, rief einer der Beamten erneut. Die Frau schien zu realisieren, was hier vor sich ging, und lies die Hände sinken. „Ganz langsam; und lassen sie ihre Hände, wo ich sie sehen kann.“ Die Frau legte die Waffe auf den Boden und hielt die Hände in die Luft. Einer der Beamten sicherte den Colt, während der andere der Frau Handschellen umlegte, und sie zum Polizeiauto führte, das eigentlich für Edgar Green vorgesehen war. Mittlerweile war auch ein Notarzt zur Stelle, der aber nur noch den Tod von Mr. Green feststellen konnte. Auf dem Revier stellte sich heraus, dass es sich bei der Schützin um Amy Morrison, Philipps Mutter, handelte. In den Medien und in der Bevölkerung wurde sie als Heldin gefeiert; die Gerichte hingegen würden sich mit ihr als Täterin in einem Mordfall auseinander setzen müssen. Auch wenn die drei Familien, die ihre Kinder verloren hatten, diese nicht mehr zurückbekommen würden, so hatten sie immerhin das Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Jetzt: Pünktlich um vier Uhr trat ich durch die Tür. „Hallo, William.“ Er drehte seinen Sessel vom Fenster weg und schaute mich an, ohne dabei aufzustehen. „Peter! Schön, dass du da bist. Wie geht es dir?“ „Ein wenig gestresst von der Arbeit.“, antwortete ich und setzte mich in den zweiten Sessel. „Du kennst das ja: Kinder und ihr Tatendrang.“ Wir lachten beide. „In der Tat.“, gab William zurück. „Und mit der Familie? Alles bestens?“ „Aber sicher; heute Abend kommen die Johnsons zum Grillen rüber.“ „Carl Johnson? Der Polizist?“ „Genau der.“ „Ich erinnere mich noch genau an ihn. Er hat damals die Ermittlung geleitet und mich befragt, nachdem Jeffrey verschwunden war. Sehr ambitionierter junger Mann.“ William wurde etwas nachdenklich. „Ein Erfolg hätte seiner Karriere sicherlich gut getan.“ „Sicherlich, aber er hat sich auch so einen Namen machen können. Letzten Monat erst wurde er befördert.“ „Schon wieder? Nicht schlecht.“ William war sichtlich beeindruckt. „Ja. Und das obwohl er erst vor zwei Jahren schon befördert wurde. Schließlich hatte er Edgar Green stellen können.“ „Edgar Green. Armer Bursche. Ob er wohl verurteilt worden wäre? Ich meine, es sah ja nicht besonders gut für ihn aus.“ „Das tat es wirklich nicht; aber wir werden es wohl nie erfahren.“ Eine Zeit lang schwiegen wir und genossen die bequemen Sessel. Ich war es, der die Stille schließlich durchbrach. „Möchtest du einen Tee?“ „Earl Grey, bitte.“ Ich stand auf und ging zur Küchendiele. Nachdem ich den Tee zubereitet hatte, füllte ich zwei Tassen und ging zu William zurück. „Hier, bitte sehr.“ Ich gab ihm eine der Tassen. „Vielen Dank.“ William nippte am Tee und lächelte dann. „Du bist ein wahrer Magier, was Earl Grey betrifft.“ Wir schwiegen erneut und tranken in Ruhe unseren Tee. Als wir fertig waren, räumte ich die Tassen in die Spülmaschine. Ich kam zurück zu den Sesseln und stellte fest, dass William aufgestanden war und nun aus dem Fenster blickte. Ich stellte mich neben ihn und schaute ebenfalls hinaus. Ich bemerkte, dass schon einige Kinder auf dem Bürgersteig saßen, und blickte deshalb auf meine Uhr. Es war bereits zehn vor fünf. „Wie schnell die Zeit vergeht.“ Ich ging zurück zu meinem Sessel und setzte mich hinein. Auch William trat nun vom Fenster weg und setzte sich erneut. „Da sagst du was. Eben ist man noch ein Jungspund und ehe man sich versieht, ist man ein alter Mann, der aus dem Fenster schaut.“ Wir mussten beide lachen, war diese Beschreibung seines Lebens doch erheblich komprimiert. Ich stand schließlich auf und ging zum Süßigkeitenregal. Ich betrachtete die einzelnen Fächer und entnahm eine Tüte Brausebonbons. Dann wendete ich mich an William, der nun ebenfalls wieder aufgestanden war: „Es ist der letzte Freitag im Monat. Ich nehme an, du hast dich entschieden?“ Er trat vor das Regal, entnahm eine kleine Flasche, in der ein einziges Bonbon lag, und überreichte sie mir. „Ja, das habe ich.“ Ich betrachtete den Verschluss der Flasche, auf dessen grünem Untergrund ein Smiley hämisch grinste. „Das Mädchen mit der blauen Jacke, Sarah Langley.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)