Portrait der Sünde von LauraAStern (Eine Geschichte aus Mr. Crawfords Haus im Nebel) ================================================================================ Kapitel 5: 11. September ------------------------ Zwischen den Seiten steckte ein loses Stück Papier, welches Viktor als einen Artikel aus dem Oxford Journal vom 11. September erkannte, den er selbst kopfschüttelnd überflogen hatte. Wahnsinniger auf freiem Fuss Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns diese Meldung aus der katholischen Kirche St. Aloysius Gongaza in der St. Giles Street. Simon Kelley - der zuständige Pfarrer der Kirche - liess gestern Abend gegen sechs Uhr dreissig nach der Polizei schicken, da in seinem Beichtstuhl ein womöglich gefährlicher Wahnsinniger sass. “Natürlich ist es eigentlich nicht mit dem Beichtgeheimnis zu vereinen“, erklärte der Jesuitenpater auf unsere Anfrage, “aber was hätte ich sonst tun sollen? Dieser junge Mann hatte mir gerade einen Mord gestanden und behauptete, von einem Gemälde der Ermordeten, das ihm seine Seele rauben wolle, verfolgt zu werden. Ich fürchtete um die Sicherheit und das Wohlergehen der Bürger Oxfords und beschloss, dass es wohl das Beste für alle wäre, den jungen Mann in die Hände von Spezialisten zu übergeben.“ Als die Polizei jedoch eintraf, war der mutmassliche Mörder bereits flüchtig. Kommissar James Sullivan von der Oxforder Polizei gab an, man bemühe sich nach Kräften, den Flüchtigen aufzuspüren, jedoch erschwere die mit dem Beichtstuhl verbundene Anonymität die Ermittlungen erheblich, da so lediglich Pater Kelleys Einschätzung anhand der Stimme - Er schätzte den Mann auf rund zwanzig - und keine exakte Beschreibung des Mannes vorhanden sei. Die Bürger Oxfords und ganz besonders die werten Damen, werden zur äussersten Vorsicht aufgerufen und gebeten, verdächtige Vorgänge umgehend der Polizei zu melden. Ach, diese Kleingeister der Zeitung und der Polizei. Sehen sie denn nicht, dass ich das Opfer der Dirne wurde, nicht sie das meine? War nicht sie es, die mein Herz in Stücke schlug, als sie mich verschmähte? Welche andere Wahl hatte ich denn? War nicht sie es, die mich behexte, sodass ich bei Tag wie auch bei Nach nur noch an sie denken konnte? War nicht sie es, die als Dämon dem Portrait entstieg um mich zu peinigen? „“Genug davon!“, rief Viktor aus und wandte sich schaudernd von dem Tagebuch ab. Das konnte unmöglich wahr sein, es konnte nicht Lawrences Hand gewesen sein, die diese Worte geschrieben hatte. Und doch sprach alles dafür, jeder Strich und jeder Bogen, jeder säuberlich gesetzte Punkt war exakt, wie Lawrence zu schreiben pflegte und die Sprache war die seine. Mortimer warf seinem Sohn einen besorgten Blick zu, als dieser sich erschüttert auf einem Hocker niederlies. Viktor wusste, dass sein Vater sich bei aller Besorgnis doch auch darauf brannte, das Ende dieser unglaublichen Geschichte zu erfahren und nickte ihm zu um ihm zu zeigen, dass er seines Trostes nicht bedurfte. Mortimer runzelte kurz die Stirn, lass dann jedoch scheinbar ungerührt weiter. Es ist mein Glück, dass der Priester mein Gesicht und meine Stimme nicht erkannte, sonst wäre ich wohl schon längst in einem Irrenhaus, eingesperrt wie ein vernunftloses Tier. Doch andererseits, wem könnte ich es tatsächlich übelnehmen, wenn er mich für wahnsinnig hielte? Ich glaube ja selbst kaum, was mit mir geschieht. Und doch geschieht es und es ist - das kann ich mit aller Gewissheit sagen - so wirklich wie der dichte Nebel vor meinem Fenster. Erneut sitze ich ratlos da. Ich bin auf mich allein gestellt, das weiss ich nun. Ach, ich hätte mich nicht zieren dürfen, das Portrait zu zerstören, ich fühle, dass es der Schlüssel ist. Ganz gewiss birgt es eine Möglichkeit in sich, Cherubina in die Tiefen der Hölle aus denen sie gekrochen ist, zurück zu stossen, sie zu versiegeln und zu bannen. Ja, bannen... Das ist es doch, was man üblicherweise mit bösen Geistern tut! Dass mir das nicht früher eingefallen ist! Doch zunächst muss ich das Portrait zurückholen. Ich bete, dass niemand die Leinwand gefunden und sie mitgenommen hat oder - noch schlimmer - vollendete, was ich nicht konnte... Ich hatte Glück. Die leere Leinwand lag noch immer an der Uferböschung, als ich die Folly Bridge erreichte, selbst das Zeitungspapier bedeckte sie noch; es war lediglich etwas aufgeweicht vom Nebel. Ich drückte das feucht-kalte Paket an mich, als sei es ein teurer Schatz und eilte damit zurück zu meiner Droschke. Sobald ich den wertvollen Inhalt wieder in der Sicherheit meiner Mansarde wusste, eilte ich in die Bodleian Library, wo ich seit nunmehr drei Stunden über alten Schriften brüte. Diese Idee erschien mir heute Morgen geradezu genial, ich war mir sicher, in all diesen Büchern und texten einen Anhaltspunkt zu finden, ein Ritual oder einen Zauberspruch um böse Geister auszutreiben, altes Brauchtum, das mit helfen würde, mich von der schändlichen Präsenz Cherubinas zu befreien. Doch alles, was ich bisher erreicht habe, ist, dass mir der Kopf von wirren Geschichten und Legenden schwirrt und brummt, weshalb ich beschloss, mein Tagebuch fortzuführen um meine Gedanken zu ordnen. Natürlich gibt es Texte, die sich - unter anderem - auch mit dem Bannen und Vertreiben von Geistern und Dämonen beschäftigen; ihre Anzahl erstaunt einen rationalen Mann wie mich. Doch der Inhalt dieser Schriften erwies sich bei kritischer Betrachtung als ebenso nützlich, wie ihre Sprache zeitgemäss ist. König James I brachte die banalen Vorschläge in seiner Daemonologie am besten auf den Punkt, als er schrieb, es gäbe nur zwei Möglichkeiten, einen bösen Spuk zu beenden: Entweder müsste man inbrünstig beten oder Busse tun und sich von den Sünden befreien, die zu der Heimsuchung geführt hätten. Narren! All diese gelehrten Köpfe sind blosse Narren! Habe ich nicht gebetet? Habe ich nicht Hilfe im Schoss der Kirche gesucht? Und was hat es mir gebracht? Cherubina verfolgt mich noch immer! Sie ist noch immer dort draussen! Wartet, lauert in den Schatten auf den perfekten Moment zuzuschlagen wie ein wildes Tier. Aber noch ist nicht die Zeit, zu verzweifeln, noch gebe ich nicht auf. Die Bodleian Library ist gross und viele Bücher habe ich noch nicht angerührt. Es muss eine Lösung geben, es muss! Mortimer schüttelte den Kopf. Soweit er wusste, musste man seine Sünden erst einmal einsehen, um Vergebung erfahren zu können. Im Stillen fragte er sich jedoch, ob eine derart späte Einsicht Mr. Sterling wohl überhaupt noch irgendwie hätte helfen können. Den ganzen Tag verbrachte ich also in der Bibliothek - ungestört, wie ich einigermassen erleichtert berichten kann. Mögen die Gelehrten aus den Büchern auch Narren sein, ihre Berichte erschrecken mich. Ist auch nur ein Quäntchen davon wahr - und so viel Wahrheit steckt ja bekanntlich in jeder Legende - so sind die Höllenkräfte dieser Dämonin noch viel gewaltiger, als ich bisher anzunehmen wagte. Ich fühle mich, als hätte ich mindestens jedes zweite Buch schon einmal in Händen gehalten und ich bin doch kein Wort klüger als zuvor, sodass ich diesen Tag wohl als verloren betrachten muss – und das, obwohl ich nicht weiss, wie viel Zeit mir bleibt, bis Cherubina beschliesst, dass sie genug mit mir armem Tor gespielt hat und es Zeit für den finalen Stoss sei. Dass sie mit mir spielt, dessen bin ich mir mittlerweile so gut wie gewiss. Die Szene, die sich mir bot, als ich die Bibliothek niedergeschlagen verliess, bestärkt mich nur in diesem Glauben. Es war einer jener Abende, an denen man glauben mochte, das Ende der Welt bräche herein. Der dichte Nebel hatte sich längst verzogen und es hatte begonnen in Strömen zu regnen, als wollte eine neue Sintflut über die Welt kommen. Donner grollte und krachte, als stürze die Bodleian Library hinter mir zusammen und Blitze erhellten zuckend das finstere Firmament. Und in mitten dieser kleinen Apokalypse stand sie, die sich anschickte, das Ende meiner eigenen, bescheidenen Welt zu sein. Für einen Moment schien alles vor Schreck still zu stehen: Ich selbst, mein Herz, die Welt um mich herum. Und auch sie stand still, vom unsteten Licht der Blitze beleuchtet, das sie bald als die strahlende und engelsgleiche Gestalt im blassvioletten Kleid, die ich malte, bald als die schmutzige und elende Dirne mit offenem Haar und unansehnlichen graubraunen Lumpen, die sie gewesen war, zeigte. Kein Wort kam über ihre Lippen, sie sah mich bloss an. War es Verachtung in ihren Augen? Hass? Mitleid? Eine schändliche Freude an meinem Leiden? Oder all dies, vermischt mit der fürchterlichen, seelenlosen Leere ihrer Augen? Ich vermag es nicht zu sagen. Sie tat nichts, und ach, sie hätte dabei nicht grausamer sein können. Sie war wie eine Katze mit einer Maus, labte sich an der Angst, die mir in den Nacken kroch und mich lähmte. Ich war nicht gewillt, ihr noch einmal die Freude zu bereiten, Hals über Kopf wegzulaufen, jedoch fürchtete ich den Moment, da sie etwas täte, das ihr Spiel ein für alle Mal beendete. Ich wagte nicht, ihr den Rücken zuzukehren und war gleichzeitig zu ängstlich, ihr entgegen zu gehen. Schliesslich war es Cherubina, die den Blick senkte und so den eigentümlichen Bann, der uns erfasst hatte, brach. Sie verschwand vor meinen Augen, als hätte der Sturmwind sie davon geweht. Ja, sie spielt mit mir, behexte mich erneut um mich mit ungewollten Gedanken zu quälen. Gedanken an sie. Ach, dieses Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf. In diesem Moment, ganz kurz vor ihrem Verschwinden, schien sie keine Dämonin mehr zu sein, sondern wieder das schöne, reine Mädchen, das ich malte und so inbrünstig liebte. In dieser Sekunde schien sie so wehmütig, so voller Melancholie, als plage sie die Sehnsucht nach ihrem fernen Geliebten, als hätte sie doch eine Seele. Es würde sich wahrhaftig lohnen dieses Bild festzuhalten, auch wenn ich mich dafür verabscheue, dass sie mich so leicht wieder in ihren Bann ziehen kann; als wäre ich eine Puppe an ihren Fäden... Mortimer runzelte die Stirn. Der letzte Teil von Mr. Sterlings Eintrag machte nicht gerade den Eindruck, als sei es ihm besonders ernst damit, Cherubina zu bannen. Er machte vielmehr den Eindruck eines verliebten Mannes. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)