Ein Traum aus Asche von Palmira (Denn Blut ist auch dicker als Lyrium [Fenders]) ================================================================================ Kapitel 3: Zweifel, die bleiben ------------------------------- Die Dunkelheit schien sie zu verschlucken. Als Anders ein paar blasse Funken zwischen seinen Fingern beschwor, schien das Licht geradezu schwächlich, es erreichte Fenris kaum. Der Elf bewegte sich leise, seine bloßen Füße verursachten kein Geräusch, das man eindeutig den Schritten einer Person hätte zuordnen können. Früher war Anders davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine Dalish-Technik handelte, doch das hier war anders. „So“, sagte er, eher um seine eigene Stimme zu hören und festzustellen, ob sie angemessen fest klang, als um ein Gespräch zu beginnen. „Das ist ziemlich zwielichtig. Sollte ich in Eurer Gesellschaft jetzt um meine Tugend fürchten?“ „Wohl kaum, Magier.“ Fenris‘ Augen reflektierten das trübe Licht wie eigenartig geschliffene Murmeln. „Weder interessiert mich Eure Tugend, noch bin ich Eure einzige Gesellschaft.“  „Vor kaum einer Minute wart Ihr ziemlich genau über mir. Wenn das Eure Lieblingsposition zum Reden ist, frage ich mich ernsthaft, was Ihr tut, wenn Ihr interessiert seid“, spottete Anders, wobei er die Betonung imitierte, die Fenris vorhin noch benutzt hatte. „Euer Freund verheimlicht etwas.“ Themenwechsel – beeindruckend geschickt verpackt. Anders schnaufte abfällig. „Ihr schleift mich nachts hierher, um mit mir Nates Führungsqualitäten zu diskutieren? Oder forscht Ihr nach, weil er Euch nicht verraten wollte, ob er für eine kurze Nummer zu haben ist?“ Obwohl Fenris‘ Augen sich im Schatten seiner Augenhöhlen verbargen, konnte Anders seinen bohrenden Blick äußerst deutlich spüren. Wider besseren Wissens sträubten sich seine Nackenhärchen dabei; seine bisherigen Erfahrungen hatten ihm einen feinen Sinn für Drohungen verliehen, und seine Instinkte warnten ihn beständig vor Fenris. Was der Elf hatte, war übler als die Fähigkeit der Templer, jede Unze Magie aus jemandem herauszupressen. „Ihr vertraut ihm.“ Fenris sprach einen Hauch langsamer, als würde Anders ihm sofort nicht mehr folgen können, sobald er aufhörte, in möglichst einfachen Sätzen zu sprechen. Und offenbar hatte er nicht vor, ihn in Ruhe zu lassen, bis er das Spiel mitspielte – obwohl es unklug wäre, sich umzudrehen, ihm den Rücken zuzuwenden und wegzugehen. Der Heiler seufzte, was sich auf halbem Weg in ein Gähnen wandelte. „Wenn Carver Euch gewarnt hat, dass er nicht bloß ein Adliger, sondern auch ein Howe ist, hat er Recht. Die Howes sind in ganz Ferelden verhasst.“ Und, jetzt trockener: „Aber er bezahlt Euch, und mehr solltet Ihr nicht wissen wollen.“ „Worüber hat er mit Euch gesprochen?“ Fenris‘ Tonfall war so selbstverständlich fordernd, als hätte er jedes Recht der Welt, das zu erfahren. Anders verschränkte seine Arme gegen die Kälte, während ihm nur zu bewusst war, dass er seinen Stab zwar bei sich hatte, dieser jedoch auf seinen Rücken geschnallt war. „Warum so neugierig?“ Fenris äußerte kaum je Zweifel an den Entscheidungen eines Anführers. Entweder erwartete er von Menschen wie Hawke, seine möglichen Einwände von selbst zu beachten, oder er akzeptierte es, ein Teil der Machtstruktur zu sein. Was konnte ihn an einem Gespräch zwischen zwei theoretisch alten Freunden (oder was auch immer Fenris unter dem Begriff ‚Freund‘ verstand) dermaßen ärgern? „Howes Plan schließt Euch ein. Das allein ist Grund genug für Misstrauen.“ Fenris‘ giftige Laune hatte sich anscheinend seit dem Abendessen kein bisschen gebessert. Anders zog eine Grimasse und wedelte mit der Hand, ein Versuch seinerseits, sowohl ruhig als auch ungeduldig zu wirken. Lediglich eins von beidem traf zu. „Beim Erbauer, das hat wehgetan – ich würde Euch ja bitten, nicht ständig unter die Gürtellinie zu zielen, aber ich vergesse ständig, dass Ihr ja so verdammt klein seid.“ Und falls das in die Nähe eines empfindlichen Punkts getroffen hatte, fügte Anders hinzu: „Nichts als Wächter-Sachen, alles sehr langweilig und, na ja, verdorben. Wir neigen dazu, uns darüber ständig auszutauschen.“ Fenris starrte ihn an. Es war ein Starren, unter dem einem durchaus unwohl werden konnte, auch wenn sein Gesicht sich bislang nicht auf diese gefährliche Weise angespannt hatte. Anders hatte festgestellt, dass Fenris es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, die Spitzen seiner Ohren zu kratzen, wenn er ihm auf die Nerven ging – was direkt niedlich hätte sein können, wäre das Genervtsein nicht so ein beliebtes Begleitsymptom, sobald sie die Luft eines Raumes teilten. Oder kalte Nachtluft. „Ihr lügt.“ Für einen verräterischen Moment war Anders sprachlos. Fenris hatte es mit absoluter Sicherheit gesagt; wenn er bloß Anders‘ Reaktion testete, war er ein besserer Schauspieler, als ihm irgendjemand zugetraut hatte. „Ich-“ „Euer Körper folgt Euren Worten nicht, Magier“, unterbrach der Elf ihn barsch. „Spart Euch die Mühe.“ Anders öffnete den Mund für eine Parade, dann begriff er, dass sein Versuch tatsächlich vergebens sein würde. Fenris hatte den Großteil seines Lebens damit verbracht, davon abhängig zu sein, wie gut er die Stimmung und Neigungen einer Person von ihrem Körper ablesen konnte: ein Versagen konnte Schläge bedeuten, den Verlust eines dringend notwendigen Mahls oder sogar einen unglücklichen Weiterverkauf. So sehr Fenris auch bestritt, diese Fähigkeiten noch zu besitzen, sie waren ein Teil von ihm. Bei geschickten Lügnern wie Varric oder Isabela waren diese Kompetenzen nutzlos (daher die Pechsträhne beim Kartenspiel), allerdings offensichtlich nicht bei Anders, der nicht mal wusste, worüber er eigentlich log. Weil er keine Ahnung hatte, welches Geheimnis Nathaniel und Gerechtigkeit miteinander geteilt hatten. Was auch immer es war, es ging selbst unter Fenris‘ in diesen Fällen sehr dicke Haut. „Habt Ihr gelauscht?“ „Antwortet mir nicht mit einer Frage, Magier.“ „Ich beantworte gar nichts. An Eurer Technik als Inquisitor müsst Ihr wirklich noch arbeiten“, brummte Anders und löste seine Arme voneinander. „Und Ihr habt auch keinen Grund, Euch Falten in Eure hübsche Stirn zu grübeln – Nate hat einen weiteren Zivilisten mitgebracht“, obwohl es ihm schwer fiel, Zevran als solchen zu bezeichnen, „also werdet Ihr nicht mit Dunkler Brut konfrontiert. Gut, abgesehen von den üblichen Verstreuten.“ „Still“, zischte Fenris, gerade dann, als Anders begann, sich mit seiner Erklärung zufrieden zu fühlen. „Ja, das habt Ihr vorhin schon gesagt – und mich danach aufgefordert zu reden. Eure Signale-“ Diesmal ersetzte Fenris seine ursprüngliche Technik, um Anders zum Schweigen zu bringen, durch eine Neue: er riss dessen Handgelenk nach unten und drückte kräftig zu, sodass die Funken zwischen den Fingern erloschen. Anders verdrängte ein schmerzerfülltes Grunzen gerade noch rechtzeitig. Weil das Klirren einer Rüstung seine Ohren erreicht hatte. Und es kam nicht aus dem Lager. Er warf einen schnellen Blick auf den kleinen Ruheort, der größtenteils im Dunkeln lag, doch keiner der schlafenden Umrisse, nicht einmal Shale, rührte sich. Vermutlich, weil die Geräusche die Lee-Seite nicht erreicht hatten. Nur durch ein Drehen des Windes hatten seine Ohren dieses Rasseln überhaupt aufgefangen, auch wenn Fenris‘ scharfe Sinne es als Erstes erkannt hatten. Der Elf hatte sich geduckt und war bereits außer Reichweite, er bewegte sich tiefer in die Nacht und die Richtung des Geräusches. Anders zögerte, dann entschied er sich, Shale den Vertrauensvorschuss zu geben, den der Golem sich explizit verbeten hatte, und folgte. Es war schwer, sich ohne jegliches Licht leise zu bewegen. Anders streifte hastig seine Stiefel ab – wenn der Erbauer für ihn vorgesehen hätte, wie ein Dieb herumzuschleichen, hätte er ihm Katzenpfoten statt Magie gegeben! – und biss sich auf die Zunge, wann immer er auf spitze Steine trat. Das Mondlicht war gerade noch genug, um Fenris‘ weißen Haarschopf in der geringen Distanz zu erkennen. Die Dunkle Brut trug Rüstungen, aber die Sinne eines Grauen Wächters wären darauf längst aufmerksam geworden, schon bevor er den Laut selbst hören konnte. Strauchdiebe und Qunari hatten keine Verwendung für so geräuschvolles Rüstzeug. Anders‘ Herz begann zu rasen, und er packte das Holz seines Stabs fester. Wenn das eine Falle war, um den Wachposten wegzulocken, war er geradewegs hineingerannt und hatte das Lager ohne Schutz zurückgelassen. Wenn Nathaniel das herausfand, würde er ihn förmlich und überkorrekt enthaupten. Der Panzerhandschuh auf seinem Arm ließ ihn zusammenzucken, und Anders unterdrückte knapp einen Fluch, als er auf den sandigen Boden gezerrt wurde. Orientierungslos und blind in der Dunkelheit tastete er nach irgendetwas – ein Fels, direkt vor ihm. Wenn er Fenris nicht gekannt hätte, hätte er es als freundliche Geste gewertet, ihn aufzuhalten. Mit einem Mal waren die Schritte sehr viel näher, und Anders schob den Gedanken beiseite. Er presste sich flach auf den Boden und spürte Fenris dasselbe tun, dann kroch er ein Stück vorwärts, um über den Fels zu spähen. Eine Patrouille der Stadtwache. Eine verdammte Patrouille! Anders spuckte beinahe verächtlich aus. Das hatte ihn also dermaßen erschreckt, ein paar von Avelines pflichteifrigen Kundschaftern?! Ganz ohne Zweifel war sie momentan froh, zwei ihrer fleißigsten Unruhestifter für ein paar Wochen aus der Stadt zu haben, und jetzt- Anders hielt inne und lehnte sich weiter über den Fels. „Die Rüstungen“, zischte er. „Könnt Ihr das Wappen erkennen?“ Neben ihm neigte Fenris den Kopf. „Es ist nicht Kirkwall“, erwiderte er, Ernst ersetzte die Gereiztheit in seiner Stimme. „Ich höre Kettenhemden.“ Die Stadtwache trug Plattenpanzer – Kettenrüstungen waren kostspielig, und Captain Jeven war überaus gründlich in seiner Tätigkeit gewesen, das Geld für diese Anschaffungen zu veruntreuen. Anders erinnerte sich noch sehr genau daran, dass Aveline jedes Mal vor Zorn brodelte, wenn eine ihrer Wachen deswegen unnötige Wunden in Kämpfen davontrugen, und es würde noch lange dauern, bis das Arsenal aufgestockt werden konnte. Im Gegensatz dazu gab es in den Freien Marschen eine Stadt, die sich derart hochwertige Ausrüstung für ihre Wachen tatsächlich erlauben konne. „Andrastes Pfeile“, flüsterte Anders. „Starkhaven!“ Es waren im Ganzen sechs Wachen, vier Männer und zwei Frauen. Zwei von ihnen trugen Laternen, das dumpf von ihren Schilden reflektiert wurde und Anders erlaubte, den weißen Kelch in der Mitte von Starkhavens Wappen zu erkennen. Abgesehen von den Geräuschen ihrer Ausrüstung verhielten die Krieger sich still und machten keine Anstalten, sich in die Richtung der Markierungsfeuer in der Ferne zu wenden. „Sie verstecken sich nicht“, wisperte Fenris und verengte die Augen. „… aber sie sind auch nicht versessen darauf, bemerkt zu werden“, beendete Anders den Satz. „Weiß Aveline davon?“ Fenris antwortete nicht. Seine Stimme dämpfte sich noch stärker, als die Patrouille sich näherte. „Keine Bogen oder Armbrüste. Sie haben sich auf die Dunkelheit eingestellt.“ „Wenn sie sich verirrt haben, sind sie verdammt weit vom Schuss.“ Anders strengte sich an, um mehr zu hören; obwohl der Wind aus dem Landesinneren wehte und die Geräusche daher zu ihnen herübertrug, sprach keine der Wachen. Sie marschierten schlichtweg stumm voran, ein gelegentliches Drehen der Köpfe deutete auf Wachsamkeit anstatt von Langeweile hin. Kirkwall und Starkhaven waren nahe Handelspartner, der Umgangston der beiden Städte war sogar direkt freundschaftlich zu nennen. Aber keine Freie Stadt würde fremde Soldaten zur Sicherung ihrer Küste zulassen, zumindest nicht, wenn sie vorhatte, frei zu bleiben. Kein Einziger in der Patrouille trug das Wappen von Kirkwall, und selbst wenn sie eine Verstärkung ihrer Truppen erhalten hätte, hätte Aveline diese Wachen nie unter sich bleiben lassen. Die Patrouille schien die Küste zu meiden, daher bestand keine unmittelbare Notwendigkeit, einen der anderen zu wecken. Dennoch verspürte Anders ein bohrendes Gefühl von Unruhe, sobald sie sich aus ihrem Versteck zurückzogen und zum Lager zurückkehrten. Es beschwichtigte ihn auch nicht, dass Fenris nicht länger darauf bestand, ihm wegen seines Gesprächs mit Nathaniel die Daumenschrauben anzulegen. Wenngleich er Zevran später wie vereinbart weckte, um mit ihm den Wachposten zu tauschen, fand er für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr.   „Patrouillen aus Starkhaven?“ Offensichtlich war es zu viel von Nathaniel verlangt, jemals überrascht zu sein. Er kämmte mit den Fingern ein paar Sandkörner aus seinem Haar, dann klemmte er seinen Bogen unter dem Oberschenkel ein, um ihn zu spannen. „Bist du sicher?“ „Ich bin nicht der Einzige, der’s gesehen hat.“ „Ich bin lediglich skeptisch. Der Kommandant musste dich jedes Mal mit Gerechtigkeit zur Wache einteilen, weil du ausnahmslos immer eingeschlafen bist.“ Anders biss die Zähne zusammen. „Ich bin wirklich überglücklich, dass es dir fern liegt, jemals nachtragend zu sein. Sei bedankt für dein Vertrauen, und im Übrigen hat Fenris mich wachgehalten.“ Als ihm auffiel, dass das auffällig zweideutig klang, fügte er hinzu: „Seine Ohren sind besser als meine, also frag‘ ihn.“ Nathaniel betrachtete ihn mit seiner typischen Gelassenheit. „Ich bezweifle das nicht. Aber ich hatte nicht erwartet, dass es sich so schnell entwickelt.“ Anders glättete eine Feder auf seiner Schulterklappe und versuchte, das aufkommende Zucken seines Mundwinkels zu unterdrücken. „Wir haben eine sehr lebhafte Vergangenheit“, summte er – bevor er sich erinnerte, dass er hier mit Nathaniel sprach. Der Mann machte keine Scherze über Sex. Und er machte ganz sicher keine Scherze über Sex unter Männern. Seine Jahre in Kirkwall hatten Anders beinahe vergessen lassen, dass die Erziehung in Amaranthine zwar nicht erzkonservativ, allerdings auch nicht sonderlich offen für diese Dinge war. Und das galt doppelt für den Erben eines Arltums, der so viele legitime Bälger brauchte, wie er kriegen konnte. Zevran wählte sich ausgerechnet diesen Moment der Unannehmlichkeit aus, um sich zu ihnen zu gesellen. „Eine Vergangenheit, von der ich hoffe, dass Ihr sie heute Abend mit uns teilt. Nichts stärkt Bande untereinander so sehr wie Geschichten, nicht wahr?“ Erbauer, wenn du seine verfluchten Ohren nicht verändern kannst, ändere wenigstens seine Art. Anders entschied sich, die offenkundige Neugier zu ignorieren. „Welche Entwicklung meintest du tatsächlich?“ Nathaniel wirkte mehr als nur ein bisschen erleichtert, nicht auf das heikle Thema von elfischen Liebhabern festgenagelt zu werden – Zevrans verschmitztem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatten sie das bereits getan. Das sorgte immerhin dafür, dass er erheblich eher bereit war, Anders zu antworten. „Gerüchte besagen, dass die Auslöschung der Familie Vael von Blutmagiern unterstützt wurde. Der neue Prinz von Starkhaven hat die Patrouillen verstärkt, um die wichtigsten Handelsrouten von Starkhaven und dessen Verbündeten zu kontrollieren.“ Nathaniel hatte seinen Bogen gespannt und streifte ihn über seine Schulter, sichtlich der Meinung, dass seine Aussage ausreichend war. Anders blickte zwecks einer besseren Klärung zu Zevran und bemerkte, dass Fenris sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Er schien sogar ein kleines bisschen ungeduldig, als hätte er darauf gewartet, dass Anders von den Vorkommnissen berichtete, die sie gesehen hatten. Und daher sämtliche unglaublich feinsinnige Witze über ‚geteilte Schichten‘ und frei herumtobende Magier auf sich zog. „Es steckt etwas mehr dahinter“, stimmte die Krähe zu, nicht ohne dabei ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen zu haben. „Goran Vael ist ein schwacher Herrscher – Maßnahmen wie diese helfen ihm dabei, wie ein entschlussfreudiger, versierter Anführer zu wirken, und gleichzeitig kann er die verbreitete Angst der Adligen vor Magie anheizen. Schließlich ist es kaum möglich, das Gegenteil von seiner Schuldbehauptung zu beweisen.“ Zevran kicherte leise. „Und da er es sich nicht leisten kann, dem mächtigen Zirkel von Starkhaven in die Quere zu kommen und Blutmagier üblicherweise nicht um das Schafott herumstolzieren und ihre Hinrichtung erwarten, gibt es kaum einfache und verlustarme Möglichkeiten.“ „Ich warte noch auf das howe- und stichfeste Problem“, bemerkte Anders und fing sich dafür einen genervten Seitenblick. „Und Ihr sollt es haben. Genial, wie er nun mal ist, hat Goran sich entschlossen, sein wachsames Auge auf die Magier zu richten, die sich außerhalb des Zirkels befinden, ohne dabei erklärte Kriminelle zu sein – als solches Familien, die für Magie in ihrem Blut bekannt sind, Dalish-Hüter… und Graue Wächter.“ Carvers Kopf ruckte von seinem Frühstück hoch. Anders konnte förmlich sehen, wie sein Appetit sich bei dem Gedanken auflöste, dass seine eigene Familie sehr genau in diese Beschreibung passte. „Viscount Dumar ringt bereits jetzt darum, seine Macht zu erhalten, und er ist vollauf mit den Qunari beschäftigt, daher hat er keinen Einwand vorgebracht, um den Frieden mit Starkhaven nicht zu gefährden. Kommandantin Meredith hat ihn in diesem Beschluss vermutlich unterstützt, aber sobald diese Angelegenheit gelöst ist, wird sie fremde Patrouillen keinen Moment länger dulden“, fügte Nathaniel hinzu, ohne seine Augen zu heben. Carver erhob sich und verlagerte sein Gewicht, er kämpfte sichtlich mit dem Drang, auf und ab zu laufen. Es hätte Anders belustigt, wenn das Thema nicht so bitter gewesen wäre. Er hatte geglaubt, ausreichend Abstand zwischen sich und die Templer gebracht zu haben, und nun folgten sie ihm. „Was soll ich also tun, sobald wir am helllichten Tage auf eine Patrouille treffen? Meinen Kopf in den Sand stecken? So tun, als sei ich ein Busch?“ „Ich würde Euch um der Authentizität willen anpissen“, versetzte Carver, womit er Anders prompt bewies, dass emotionaler Aufruhr noch lange kein Grund war, eine Steilvorlage ungenutzt verstreichen zu lassen. „Ich hätte wissen sollen, dass Ihr Euch sofort auf eine Chance stürzen würdet, mir Euren Familienschatz zu präsentieren. Was soll ich tun, da unten nach irgendetwas Abscheulichem suchen?“ Carver erblasste vor Wut, obwohl seine Hand diesmal nicht den Schwertgriff berührte. „Ich schwöre beim Erbauer, Ihr kleiner, dreckiger-“ „Ihr beide.“ Nathaniel stand auf und staubte Sand von seiner Tunika, ohne einen von ihnen anzusehen. So wie ungehorsame Kinder, die nicht mit Aufmerksamkeit belohnt wurden. Einen kleinen Neffen zu bekommen hatte den Howe offensichtlich mit der neuen Fähigkeit beschenkt, auch alle Anderen wie Kinder zu behandeln. „Die Bemühungen des Prinzen sind wahrscheinlich nutzlos und werden von seinem Umfeld nicht lange hingenommen werden. Doch selbst bis dahin muss er gewisse Regeln respektieren.“ Nathaniel neigte seinen Kopf gen der Silhouette von Kirkwall in der Ferne. „Wenn er die Unterstützung des Adels will, muss er ihn ehren.“ Und als der Kommandant von Vigils Wacht war Nathaniel der Arl von Amaranthine, wie es sein Geburtsrecht bereits für ihn vorgesehen hatte. Seltsamerweise trug das nicht dazu bei, Anders zu beruhigen; im Gegenteil, er begann unvermittelt, sich erst jetzt wie krank zu fühlen. Die schützende Hand eines Adligen, die über ihn gehalten wurde, um den Makel seiner Magie zu legalisieren. Es war das Tor zu Willkür und grausamer Ruchlosigkeit, wie die Magister von Tevinter sie praktizierten. Wenngleich es diesmal von einem Freund ausging, dem er vertraute, und bloß aus Notwendigkeit geschah, weckte es ein übles Gefühl von Fehlverhalten in ihm. Es ist anders. Es ist gerecht. Wenn er es nach der Unerschütterlichkeit beurteilte, mit der dieser Gedanke in ihm aufstieg, war es nicht sein eigener. Carvers Anspannung hatte sich ein wenig gemildert, doch er schien nicht mehr in der Stimmung zum Essen zu sein. Er nickte abgehackt, seine Kiefer kauten auf etwas herum, das ebenso gut Goran Vaels Herz hätte sein können. Zevran tätschelte ihm einigermaßen besänftigend den Rücken – ob aus Mitgefühl oder mit subtilem Spott, konnte Anders nicht erkennen. „Warum so mürrisch, mein Freund? Ich kenne da etwas, das Euch garantiert aufheitern wird: eine kultivierte Schlägerei in dieser überaus romantischen Szenerie. Sobald wir auf irgendetwas stoßen, das es wert ist, Stahl dagegen zu ziehen, gehört es ganz Euch.“ Ah, ja – das war die gesunde Reaktion auf jegliche Art von Problem, oder? Nachdem man ihn wie ein Maultier an einem Strick herumgeführt hatte und ihm in etwa gleich viel Mitspracherecht zugebilligt hatte, war Anders danach, Feuerbälle auf jemanden zu schleudern. Trotz seiner Gabe der Heilung war das immer noch seine Lieblingsmethode, um Frust abzubauen. „Es wird zunehmend wahrscheinlich, dass ich Moos ansetzen werde, bevor irgendeine von den weichen Kreaturen sich dazu bequemen wird, sich zu bewegen.“ Shales knirschende Stimme gab einen Hauch von Gereiztheit wieder, als der Golem sich erhob und einen kurzen Blick in den Himmel warf. „Ich finde es überaus ermüdend“, fügte er zwecks Betonung hinzu. Nathaniel nickte knapp, sein Mund hatte sich erneut zu einer grimmigen Linie in seinem Gesicht zusammengepresst. „Gehen wir.“   Er hätte sich niemals darauf einlassen dürfen. Der Satz wiederholte sich in Anders‘ Gedanken; nachdem er wusste, was in Kirkwall vor sich ging, fühlte es sich umso falscher an, jetzt nicht dort zu sein. Und was das Ganze noch schlimmer machte, er hatte keine Ahnung, zu welchem Zweck er überhaupt hier war. Der Architekt war tot. Dragos Ruhe mochte auch den Held von Ferelden verschlungen haben, aber die Kreatur war gestorben. Anders hatte sie fallen sehen, seine Wächtersinne hatten ihren Tod gespürt. Die Erinnerung war von seinen eigenen aufgewühlten Gefühlen getrübt, doch diese Schwäche hatte Gerechtigkeit nicht. Nachdem der verstorbene Kommandant Anders und Sigrun weggeschickt hatte, um die verderbte Zwergin zu verfolgen, hatte er sich mit den verbleibenden Kämpfern auf die Suche nach der Mutter gemacht. Anders‘ Erinnerungen hatten sich an diesem Punkt mit Gerechtigkeits vermischt, weshalb er auf Ereignisse zugreifen konnte, die er selbst nicht erlebt hatte. Sigrun und er waren umgekehrt, sobald die grauenvollen Schreie der Kinder erklungen waren, aber die Schlacht war bereits vorbei gewesen, als sie angekommen waren. Sie hatten die Zwergin nie gefunden. Konnte das die Wächter alarmiert haben? Dragos Ruhe war, gelinde gesagt, ein ganzes Stück von Kirkwall entfernt, und hätte Hawke seine neugierige Nase nicht in die Thaigs gesteckt, hätten die Grauen Wächter nicht einmal gewusst, dass diese kein exklusives Gebiet mehr waren. Ein Schatten tauchte in seiner Peripherie auf und lenkte ihn mit stummer Beharrlichkeit ab, bis Anders endlich geruhte, ihn zu bemerken. Der Magier rieb sich die Augen und fühlte das Brennen von salzigem Wind in seinen Augenwinkeln. „Ja, Elf?“ Fenris starrte geradeaus. „Ich wurde aufgefordert, neben Euch zu gehen.“ Nathaniel und seine verblödete Marschordnung – dachte er wirklich, dass Anders davonrennen würde? Der Heiler seufzte. „Wie Ihr sehen könnt, grübele ich bereits. Bietet Ihr mir Eure fachkundige Unterstützung dabei an?” „Ich ziehe es vor, wenn Ihr den Mund geschlossen haltet.“ „Man hat mir schon öfter gesagt, dass ich dann erheblich charmanter bin.“ „Unwesentlich.“ „Also gut, was habt Ihr auf dem Herzen?“ Anders schmunzelte ätzend. „Welcher glücklichen Fügung schulde ich es, in den Genuss Eurer überwältigenden Unterhaltungskünste zu kommen?“ Fenris musterte ihn kalt, aber er bestritt es nicht. Schließlich sagte er: „Wenn die Patrouille nur eine Zurschaustellung zielloser Aktivität war, warum waren dann keine Templer dabei?“ Anders zuckte mürrisch mit den Schultern. „Wie wollt Ihr wissen, dass es keine gab?“ „Keiner von ihnen trug das Wappen der Kirche.“ Mit einem Mal beobachtete Fenris ihn mit beunruhigender Intensität, als hätte irgendetwas an Anders‘ Reaktion ihn wachsam werden lassen. „Selbst wenn sie das Wappen ausgelassen hätten, wäre es nicht möglich. Starkhaven ist zu weit weg.“ „Und?“, brummte Anders. Er hatte entschieden das Gefühl, wie ein Trottel behandelt zu werden. Es war gut, wenn die Leute ihn für dumm hielten. Es war weniger gut, wenn er das selbst von sich dachte. „Lyrium.“ Fenris klang schnippisch. “Sie hatten keines bei sich. Wären sie den ganzen Weg von Starkhaven bis hierher gereist, selbst zu Pferde, und hätten dabei einigermaßen gründlich nach Blutmagiern Ausschau halten müssen, wären mittlerweile Symptome aufgetreten.“ „Ah.“ Anders kam nicht umhin, zumindest kurzzeitig verlegen zu werden. Er war gezwungen, sein ganzes Leben mit den Templern und ihren Praktiken zu teilen, und von allen Leuten auf dem Werk des Erbauers musste ausgerechnet Fenris ihn darauf aufmerksam machen, dass etwas an Nathaniels Geschichte nicht stimmte?! Beim Erbauer, ich werde endgültig zu alt dafür. „Woher wisst Ihr, dass sie… keins hatten?“ „Ich weiß es.“ Die Endgültigkeit in Fenris‘ Stimme besagte deutlich, dass er nicht näher darauf eingehen würde, und Anders ließ es darauf beruhen. Gerechtigkeit hatte ebenfalls ein feines Gespür für Lyrium; das Mineral in dem wimmelnden Bienenstock zu spüren, der Kirkwall nun mal war, war schwierig, und solange Anders keinen Fuß auf die Insel der Galgenburg setzte, konnte er das schwache Kribbeln unterdrücken. Hier in der offenen Landschaft sollte er allerdings in der Lage sein, das Lyrium zu fühlen, das Nathaniel bei sich trug, auch wenn die Menge gering war. Ganz zu schweigen von dem Glühwürmchen neben ihm. Wenn Glühwürmchen glühten, signalisierten sie damit ihren Wunsch, sich zu paaren. Wenn man dasselbe über Fenris sagen könnte, wären ein paar Dinge viel einfacher. Oder… vielleicht auch nicht. „Das heißt vermutlich bloß, dass die Kirche keine Lust hatte, bei Gorans Scharade mitzuspielen, und jetzt hofft er, dass niemand zu genau hinschaut.“ Anders kratzte sich die Kopfhaut unter seinem kurzen Zopf. Sie hatten erst eine Nacht an der Küste verbracht, und schon fühlte er sich, als hätte er überall Sand. „Ihr wollt also nicht glauben, dass er gelogen hat.“ Fenris klang nicht überrascht, als hätte er diese Art von Reaktion erwartet. Ganz offensichtlich hatten die Jahre mit Hawke es noch nicht geschafft, in ihm einen festen Glauben an so etwas wie Freundschaft zu pflanzen. Das, oder er war aus irgendeinem Grund sehr entschlossen, Nathaniel zu misstrauen. Anders funkelte ihn finster an. Das konnte er morgens am besten. „Bei Andrastes stählernem Mieder, Elf, wofür haltet Ihr mich? Für Euren Komplizen?!“ Er schaute sich flüchtig nach den anderen um, die scheinbar keine Notiz von ihrem leisen Gespräch nahmen. „Macht Ihr immer einen Oger aus einem Opossum, oder passiert Euch das ganz von allein?“ Fenris erwiderte seinen bösen Blick mit gesunder Abneigung; Anders konnte darin jedoch nicht lesen, ob darunter noch etwas Anderes lauerte. Fenris war engstirnig und manchmal unumwunden grausam, aber er spielte Menschen nicht gegeneinander aus. Er konnte schmerzhaft ehrlich sein, und wenn er ernsthaft beunruhigt war… Nur warum wandte er sich damit an Anders? „Der Kommandant hat einen Meisterspion angeheuert, um ihn mit Informationen zu versorgen, und scheitert dann an einem derart durchsichtigen Manöver?“ Anders stöhnte gereizt. „Bitte, fragt ihn einfach! Oder hattet Ihr den Eindruck, dass ich derzeit irgendwie in die Planung eingeweiht bin?” „Aber Ihr seid-“ „Fenris!“ Beide drehten sich um, um prompt festzustellen, dass die anderen bereits innegehalten hatten und eine ganze Strecke zurückgefallen waren. Carver hob seinen Arm, um sie hastig herüberzuwinken, doch Zevran drückte diesen sanft herunter. Nathaniel war ebenfalls stehengeblieben, er verharrte nahezu bewegungslos vor einem felsigen Engpass auf ihrem Weg. „Ihr angeregtes Gespräch wurde endlich unterbrochen“, bemerkte Shale, wobei seine knirschende Stimme einem gedehnten Murmeln nahekam. „Es scheint, als seien wir in einen Hinterhalt geraten.“ Nathaniel streckte seine Hand langsam nach dem Pfeilköcher aus. Carver begann, sein Schwert zu ziehen: das schabende Geräusch war in der unnatürlichen Stille geradezu laut. Anders wusste, dass die wahre Gefahr eines Hinterhalts, selbst für eine Gruppe, die so gut ausgerüstet war wie diese, im ersten Angriff lag. Der Bolzen einer Armbrust oder, was der Erbauer verhüten möge, Gaatlok, konnte selbst eine schwere Rüstung durchschlagen und sich dabei zu schnell für jeglichen Reflex bewegen. Gleichzeitig waren die Nerven der Angreifer unter Anspannung, und wenn ihre Beute sich furchtlos zeigte, würden sie vielleicht ganz von ihrem Hinterhalt ablassen. Sicher, Shales Kristalle waren wahrscheinlich ein Vermögen wert. Aber es hing ein ganzer Golem daran. Wer so verzweifelt war, war selbst in der Knochengrube noch besser aufgehoben. So oder so war die Gefahr in Anwesenheit eines Golems und eines Heilers drohend, doch nicht tödlich. Dennoch spürte Anders, wie sein Blut in seinen Ohren rauschte, als er seine Finger um seinen Stab schlang, bereit, einen Pfeil mit einem Stoß arkaner Magie abzuwehren. In dieser speziellen Disziplin war er nicht sonderlich gut, aber solange ihm niemand in die Quere kam… Der Regen aus kurzen, spitzen Speeren setzte plötzlich und heftig ein. Anders hatte kaum noch Zeit, seinen Stab zur Verteidigung zu heben, bevor einer knapp an seinem Hals vorbeisauste und sich in den sandigen Boden bohrte. Fenris pflückte einen anderen Speer aus der Luft, noch bevor dieser seine Rüstung treffen konnte, und warf ihn beiseite, als läge nicht mehr Wucht hinter dem Geschoss als hinter einem harmlosen Stock. Ein weiterer Speer kratzte über Shales steinernen Körper, und der Golem knurrte ärgerlich. „Tal-Vashoth!“ Carvers wütender Schrei brach den Bann. Qunari tauchten auf den Felsen auf, ihre erschreckend geschickten Bewegungen straften ihre massigen Gestalten Lügen. Ein paar von ihnen trugen Speerschleudern, die sie bereits für einen weiteren Angriff geladen und gehoben hatten, andere schwangen Streitäxte, als besäßen sie keinerlei Gewicht. Anders war selten so froh gewesen, Banditen auf sich zustürmen zu sehen. Magie schoss in seine Fingerspitzen und erfüllte sie mit einem grimmigen Kitzeln, und als die erste Flammenlohe einen Angreifer einhüllte, verstummten seine bohrenden Gedanken endlich.   „Diese waren… weniger klein.“ „Das ist der Reiz des Reisens, mein Lieber – neue und aufregende Dinge zu erleben.“ Zevran zog seinen Dolch aus der Augenhöhle eines toten Tal-Vashoth und versuchte mit geringem Erfolg, die Klinge an dem gehärteten Leder der Kleidung abzuwischen, die der Gefallene trug. Er seufzte und zog einen Lumpen aus seiner Tasche, um die Klinge zu säubern. „Abwechslung ist wirklich die Würze des Lebens, nicht wahr?“ Shale grunzte vieldeutig. „Diese fallen schwerer. Und reden weniger.” Der grobschlächtige Kopf neigte sich leicht zur Seite. „Ich mag das.“ Sie hatten sich nach dem Kampf wieder versammelt, um Blut abzuwaschen und Verletzungen zu überprüfen. Obwohl es keine Überraschung war, dass ein Golem ein mehr als schmutziges Schlachtfeld zurückließ, hätte Anders fast denken können, Dworkin hätte hier gewütet. Shale hatte massive Steinbrocken aus dem Boden gerissen, um sie auf die Tal-Vashoth zu werfen, und dabei geknurrt, dass wenn sie mich mit Stöcken bewerfen, sollten sie damit rechnen, von mir dafür mit Kieseln beworfen zu werden. Mittlerweile erwog Anders sehr ernsthaft, die Federn von seinen Schulterklappen abzunehmen. „Ihr habt noch nie gegen Qunari gekämpft?“ Fenris unterbrach sich kurz dabei, eine Leiche zu durchsuchen, um Shale mit ehrlichem Erstaunen anzusehen – als hätte er das bezweifelt, wenn es irgendjemand anders gesagt hätte. Shale schien daraufhin über den Unterschied von einer matschigen Kreatur zur anderen nachzudenken. Er kann sich ein Land, wo die Qunari keinen Einfluss haben, nicht vorstellen. Für ihn sind sie immer da gewesen. Anders‘ Lippen krümmten sich zu einem flüchtigen Grinsen, als er einen kleinen Schnitt auf Carvers Handrücken schloss. Der junge Wächter funkelte ihn düster an – ob wegen der Heilung oder des Händehaltens, wusste Anders nicht. Vermutlich für beides. „Das war ein Kratzer“, murrte Carver und riss seine Hand aus Anders‘ Griff. „Wo ich herkomme, tauchen die Orth ihre Pfeile in ihren eigenen Dreck, um ihre Feinde selbst dann dahinsiechen zu lassen, wenn sie ihnen entkommen.“ Anders klopfte Carver belustigt auf den gepanzerten Arm. „Ich mag’s nicht, wenn Menschen an Scheiße sterben. Passiert häufiger, als man denkt, kleiner Hawke.“ Nathaniel steckte einen weiteren gereinigten Pfeil in seinen Köcher, und die Furche zwischen seinen Augenbrauen vermittelte deutlich: Du musstest einfach Streit suchen, oder? Dann entschied er sich nur knapp dagegen, seinen Verdruss zu äußern. „Ihr habt eine effektive Technik“, begann er, ohne Fenris dabei anzuschauen, wenngleich er offensichtlich mit ihm redete. Effektiv war überhaupt ein unangenehm passendes Wort für die Art, wie Fenris kämpfte. „Ich würde Euch mit Freuden bei den Grauen Wächtern willkommen heißen.“ Fenris gönnte ihm keinen Blick. „Ich habe bereits eine Verderbnis in meinen Adern. Ich werde keine Zweite suchen.“ Shale beendete seine Überlegung bezüglich einer Antwort just in diesem Moment. „Keine mit Hörnern.“ Zevran lachte leise. „Männer mit Hörnern – ah, die Konstellation ist zu schön, um darüber keine Scherze zu machen.“ „Üblicherweise sind die Hörner länger“, warf Fenris ein, womit er bei Zevran eine weitere Welle von Heiterkeit auslöste. Shale wandte sich zu ihm, das Glühen seiner Augen schien ihn mit so etwas wie Neugier zu betrachten. „Wie erklärt es dann, dass der Qunari keine hatte?“ Fenris war sichtlich verwirrt, aber er beschloss, sowohl Zevrans mehr oder weniger leises Amüsement zu ignorieren als auch die Tatsache, dass Shale von lediglich einem Qunari sprach. „Das sind Tal-Vashoth. Sie haben sich vom Qun abgewandt und unterscheiden ihr Aussehen von dem Antaam.“ „Hornlos, ich verstehe. Vermutlich, damit man ihnen wieder die Hörner aufsetzen kann”, kommentierte Zevran, dann schüttelte er den Kopf und gab etwas von sich, das verdächtig nach einem Kichern klang. Vielleicht taten die Krähen von Antiva das, um ihr Tagewerk auf gesunder Distanz zu halten. Anders konnte sich schlimmere Wege der Bewältigung vorstellen, als fadenscheinige Anzüglichkeiten zu reißen. Und bessere. Shale seufzte mit leichter Frustration. “Für mich sehen sie ohnehin alle gleich aus.” Anders wandte den Kopf, um einen der Körper zu mustern, dabei stellte er fest, dass er nicht widersprechen konnte. Die Gesichter waren unerbittlich und verschlossen, selbst das Blut konnte man mit der roten Kriegsbemalung der Qunari verwechseln. Aber über alldem lag Tod, und das glich alles aus. Anders hatte genug davon gesehen, um zu wissen, dass was auch immer manche darüber sagten, wie leicht Tod und Schlaf miteinander zu verwechseln waren, es war nicht wahr. Nichts konnte mit dieser Leblosigkeit verwechselt werden. „Bald werden sich hier Aasfresser versammeln“, stellte Carver mit einem Blick in den Himmel fest. „Die Möwen könnten-“ „Wir gehen“, unterbrach Shale ihn mit einiger Entschiedenheit und löste seine Aufmerksamkeit sofort von den Gefallenen. Anders sah keinen Grund, etwas einzuwenden – beim Atem des Erbauers, sie plauderten hier inmitten von Leichen. Dunkelstadt hatte ihn gegen den Geruch abgehärtet, doch das subtile Gefühl von Gleichgültigkeit war nicht dort geboren worden. Gerechtigkeit hingegen zollte diesen Dingen wenig Beachtung. „Wartet.“ Fenris war als Einziger geblieben, wo er war. Er hatte seine Augen nicht von einem Tal-Vashoth genommen, seine Finger berührten behutsam den Stumpf eines Horns. „Es wurde abgesägt“, murmelte er. „Und?“ Nathaniel war zu diplomatisch, um ungeduldig zu klingen, allerdings war sein Tonfall auch nicht ermutigend. „Kein Tal-Vashoth würde das tun.“ Fenris‘ Lippen spannten sich leicht, als er mit dem Handballen erneut über die kleine Hornplatte strich, bevor er sich elegant erhob. „Sie hacken sie ab. Die Hörner wachsen niemals nach, je näher das Horn daher am Schädel abgeschlagen wird, desto bedrohlicher und furchtloser erscheint der Träger.“ Nathaniel antwortete nicht, trotzdem konnte Anders sehen, wie seine Ruhe sich verflüchtigte. Zevran beäugte die Körper mit neuem Interesse, aber bevor er vorschlagen konnte, das genauer zu untersuchen, hob der Kommandant eine Hand. „Wir müssen weitergehen.“ Seine Worte ließen keinen Raum für Diskussionen, und er wandte den Seitenblicken, die in der Gruppe ausgetauscht wurden, den Rücken zu. Anders spürte, wie Fenris‘ stechendes Augenmerk sich mindestens durch seine oberste Hautschicht bohrte. Der Elf gesellte sich kein weiteres Mal zu ihm, noch sprach irgendjemand. Nathaniel hatte ein fordernderes Tempo angesetzt, das sowohl Energie als auch Konzentration verlangte. Etwas geht hier vor sich. Fenris könnte Recht damit haben, dass uns etwas bevorsteht, und wenn die Forschung des Architekten daran beteiligt ist, tut Nate falsch daran, es geheim zu halten. Du tust falsch daran, es geheim zu halten. Gerechtigkeit antwortete ihm nicht. Sein Schweigen war so tief, dass Anders begann, die langsame Berührung von Angst in seinem Unterbewusstsein zu spüren.   Nathaniel ließ sie bis tief in die Nacht marschieren. Als sie endlich das Lager aufschlugen, hatte selbst Zevran keine Lust zum Reden mehr, und Carver wirkte, als sei er bereit, in das nächste sich bewegende Objekt zu beißen, das auch nur entfernt essbar aussah. Es würde eine kurze Nacht werden, und Anders zog eine Grimasse bei dem Gedanken, sie noch mehr zu verkürzen, indem er Nathaniel konfrontierte. Seine Müdigkeit war nicht das Einzige, das ihn widerwillig machte; ein Teil von ihm schien dagegen zu sein, das Thema anzusprechen. Mittlerweile war klarer geworden, was diese Tendenzen verursachte. Sie hatten kein Feuer angezündet, und der scharfe Wind empfahl, sich irgendwo in den Windschatten zu kauern. Das Wetter veränderte sich zum Schlechten, je weiter sie nach Westen kamen; nicht mehr lange, und sie würden auf die ersten Ausläufer des Planasene-Waldes stoßen. Nathaniel hob eine Hand, als Anders an ihn herantrat. Im spärlichen bisschen Mondlicht war seine Miene nicht zu lesen, und der Kommandant hatte jegliches Licht außer ein paar Leuchtsteinen verboten. Unnötig zu sagen, dass all diese schwachen Spuren von Lyrium Gerechtigkeit – und somit auch Anders – allmählich schwindlig machten. Er konnte sich nicht erinnern, dass es jemals so schlimm gewesen war, andererseits konnte er sich auch nicht erinnern, seit wann Gerechtigkeit so überaus… aufmerksam auf seine Umwelt war. „Wir reden morgen“, schnitt Nathaniel ihm das Wort ab, bevor Anders überhaupt den Mund geöffnet hatte. „Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du deine Schlafmatte mit mir teilen willst, aber Howdy, du denkst wie immer schon voraus“, schnurrte er stattdessen und fing sich dafür sofort einen eisigen Blick. „Die Antwort ist Nein.“ „Ja, das sagst du zuerst immer.“ „Wir kampieren also zusammen? Das gefällt mir, wirklich sehr geschickt.“ Zevran warf Fenris ein Lächeln zu, das im fahlen Licht geradezu strahlte. „Ihr seht aus, als könnte Euch morgens kalt sein“, bemerkte er mit einem koketten Unterton, der kaum zu überhören war. „Ich schlafe in meiner Rüstung“, parierte Fenris barsch, und seine Stimme implizierte: Und zwar in der Ganzen. Er hatte nicht bestritten, frieren zu können, und doch – der Erbauer musste demjenigen beistehen, der sich dessen annehmen wollte. Der kurze Schlagabtausch hatte Nathaniel genügt, um seine Fassung wiederzugewinnen. Der Blick, den er auf Anders richtete, war ernst und ohne jeglichen Hohn. Na gut… Es war anzunehmen, dass es nicht so unentschuldbar war, die dringend benötigte Erklärung für all das ein paar Stunden nach hinten zu verschieben. Sie würden morgen alle ruhiger sein und weniger anfällig für Überreaktionen, was wahrscheinlich der Grund war, warum Nathaniel diesen Zeitpunkt ausgewählt hatte. Selbst Fenris schien die Verzögerung zu akzeptieren, also warum sollte er darauf beharren? Anders zog es vor, zu denken, dass das seine Entscheidung war. Er ließ sich auf dem harten Boden nieder und arrangierte seine Matte so bequem, wie es ihm eben möglich war. Bis er schließlich an so etwas wie Abendessen gekommen war und zumindest aufgehört hatte zu zittern, war Nathaniel schon für seine erste Wache verschwunden. In dieser Nacht schlief Anders ruhig, weder Dunkle Brut noch das Nichts infiltrierten seine Träume. Daher erschienen diese Stunden aus verständlichen Gründen viel zu kurz, und als eine Hand ihn beharrlich wachrüttelte, war er versucht, sich einfach zu wehren. Der verdammte Elf gibt einfach nicht auf, schläft er denn nie?! In diesem Moment begriff Anders, dass es Tag war. Der Wind war nicht schwächer geworden, und das Meer war aufgewühlt, doch der Morgen kündigte sich sonnig und mit einem nahezu blauen Himmel an. Nathaniel war verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)