Ein Traum aus Asche von Palmira (Denn Blut ist auch dicker als Lyrium [Fenders]) ================================================================================ Kapitel 2: Nächtliche Schrecken ------------------------------- Hätte Anders sich den Glauben an die Liebe bewahrt, wäre er gerührt gewesen. Hätte er es nicht, hätte er gekotzt. Da er prinzipiell wusste, dass es Liebe gab, sie aber nur für die bestimmt war, die dafür Zeit hatten, amüsierte es ihn eher. Fenris marschierte mit einem steten Seitenblick auf Shale und sagte kein Wort. Shales Blickrichtung war unbestimmbar, doch er hatte aufgehört, sich nach Möwen umzuschauen, seit der Elf die küstennahe Flanke schützte. Gegen Mittag wechselte Nathaniel mit Zevran die Position, ebenfalls ohne zu sprechen. Er veranschlagte auch keine Pause. Anders war sich nicht sicher, was das bedeutete – allerdings sicher nicht, dass sein Herr und Kommandant keine Eile hatte. Zevran kehrte zur Gruppe zurück, erfasste mit einem Blick die Situation, schiss kurzerhand auf den Begriff ‚Marschordnung‘ und pflanzte sich neben Fenris. Anders war nicht allzu bewandert in den Taktiken antivanischer Ballsäle, doch jede anständige Matrone verkündete damit: ‚So, ich spreche ihn jetzt für Euch an, Mädchen, und Ihr macht dann den Rest.‘ Das war übrigens auch die gängige Praxis von Puffmüttern. „Ich habe noch nie einen Elf mit einer derart riesigen Axt gesehen.“ Zevran zog respektvoll die Augenbrauen hoch und schaffte es dennoch, eher belustigt zu wirken. Fenris schaute an ihm vorbei. „Weil man sie Elfen nicht in die Hand gibt“, sagte er knapp. Der vermutlich abschreckend gemeinte Tonfall verfehlte seine Wirkung, um das zu wissen brauchte Anders sich nicht einmal umdrehen. „Man gibt sie niemandem in die Hand, weil sie niemand heben könnte, ich auch nicht“, gab Zevran fröhlich zu. „Natürlich besitze ich auch nicht Eure martialischen Muskeln, dennoch, denkt Ihr, es ist eine Sache der Einstellung?“ „Nein.“ Fenris‘ Reaktion kam so bald, dass er sich den Satz vermutlich nicht mal zuende angehört hatte. „Gut. Ich dachte fast, Ihr wärt ein Idealist, denn daran erinnert Ihr mich.“ Um das ernsthaft zu glauben, hätte man das Gottvertrauen des Prinzen von Starkhaven gebraucht, und das hielt Anders nicht für empfehlenswert. Zevran machte gar nicht erst eine Pause, in der Fenris wohl ausgedrückt hätte, dass ihm die Unterhaltung bereits jetzt auf die Nerven ging. „Woher kommt das nur? Ihr seid ungemein… urtümlich. Und gleichzeitig elegant.“ Zevrans Augen blitzten. „Roh und aristokratisch, so wie einst Shartan.“ Shale knirschte, was vermutlich ein ‚Pah!‘ bedeutete, und Anders prustete kurz und vielsagend. Offensichtlich fand auch Fenris die Schmeichelei zu dick aufgetragen – oder sie bereitete ihm Unbehagen, weil Zevran ihn mit einem Sklavenrebellen verglich. Es war unmöglich zu sagen, ob dieser Treffer Zufall oder Kalkül war. „Das ist lächerlich“, knurrte Fenris. Zevran lachte. „Damit enden die äußerlichen Ähnlichkeiten auch, er hatte nicht Euer Haar, und wenn ich mich recht erinnere, hat er mit einem Dreschflegel gekämpft. Ah, allein – wo ich weder Gast noch Eindringling bin, wo ich hingehöre und es mir auch gehört“, intonierte er leicht ironisch. „Das wäre Euch-“ „Das klingt wie der selbstverliebte schwülstige Quatsch, den mein Bruder in seiner Bibliothek sammelt“, murmelte Carver abfällig und meldete sich damit das erste Mal seit Stunden zu Wort. Zevran summte lobend, als sei er nicht gerade rüde unterbrochen worden, und Anders kämpfte mit seiner Neugier. Er ging immer noch ein Stück vor den anderen und folgte Nathaniels Silhouette. Der Kommandant war zu weit entfernt, um sein Gesicht zu erkennen, trotzdem fühlte Anders sich von ihm beobachtet wie von einem Lehrer, der einen trotzigen Zögling überwacht. Anders war lange genug ein trotziger Zögling gewesen, um das zu spüren. „Das mag daran liegen, dass man behaupten kann, Genitivi sei selbst ein selbstverliebter schwülstiger Quatschkopf. Das ist meine Meinung über die meisten Scholaren.“ Carvers Grunzen mochte Zustimmung oder Spott sein, oder er war einfach verlegen, weil Zevran ihn durchschaut hatte. „Und dann lest Ihr seine Gedichte über Shartan?“, erkundigte er sich, als bezweifelte er, dass Zevran mehr als ein Bilderbuch entziffern konnte. Der Junge war unsicher. Anders verstand das. Was er nicht verstand, war warum Carver glaubte, in Zevran einen geeigneten Gegner gefunden zu haben. „Es ist ein Rätsel, kein Gedicht. Nicht von Genitivi, sondern von Shartan.“ „Das tut man während Kreuzzügen – man denkt sich Rätsel aus und bewahrt sie für die Nachwelt auf“, brummte Carver. Er schien zu den anderen aufgeschlossen zu haben, zumindest war seine Stimme näher gekommen. „Wenn man tot ist, hat man Zeit dafür.“ Zevran klang ekelhaft zufrieden darüber, dass er seinen Gesprächspartner auf den Gipfel seines abenteuerlichen Gespinsts gelotst hatte, indem er ihn durch Andeutungen antrieb. „Als wir ihn sahen, war er ziemlich tot. Und ziemlich… vergeistigt.“ Es war still, und Anders konnte hören, wie Carver mit sich rang. So phantastisch und albern Zevran auch klang, eine Geschichte war ewig verlockend. Gerade für einen jungen Mann, der unfreiwillig zu denen gestoßen war, die üblicherweise diese Legenden prägten. Shale erkaufte Carver – vermutlich unabsichtlich – eine Denkpause, indem er verächtlich vorausstampfte und sich somit weigerte, als Erzähler in Zevrans Geschichte hineingezogen zu werden. Da er dadurch näher zu Anders aufschloss, musste der Magier sich zwingen, nicht selbst schneller zu werden. „Ist das etwas Besonderes? Wenn es nicht mehr weich und matschig ist, redet es trotzdem ermüdend viel.“ „Ihr habt es Euch ausgedacht.“ Carver klang vage enttäuscht. Zevran seufzte bedauernd. „So wie ich mir den Held von Ferelden ausgedacht habe, mein junger Freund. Die Urne der Heiligen Asche. Ich bin mir sicher, selbst die Verderbnis ist ein Produkt meiner Fantasie.“ Carver schwieg verbissen dazu, sein Stolz verbot es ihm, darüber nachzuhaken. Und das, obwohl er zweifellos genauso begierig wie jeder Fereldener war, mehr über dieses Wunder zu erfahren. Der Wächter mochte verschwunden sein, aber seine Gefährten waren es nicht. Sie saßen auf einem Thron, intrigierten in der Politik und führten Armeen – oder sie trampelten sinnlos über diesen hässlichen Fleck Land, den der Erbauer wahrscheinlich in einem Niesanfall geschaffen hatte. Anders kam sich wenig glorreich vor. „Die Toten gehören nicht in diese Welt. Ihr habt nichts als verdorbene Magie erlebt.“ Fenris‘ Wortmeldung kam überraschend; er hatte sich Zevrans Gesprächsführung entzogen, scheinbar zufrieden, wenn die Sprache nicht mehr auf seine Herkunft kam. Sein endgültiger Tonfall reizte Anders. Man mochte die gesamte Legende der Urne der Heiligen Asche abtun, doch wo andere religiösen Fanatismus sahen, sah Fenris Magie. Zevran war nun im Besitz einer Steilvorlage über ‚verdorbene Dinge‘, aber ein unbestimmtes Gefühl von Gereiztheit hielt Anders davon ab, darauf zu warten. Die Toten gehören nicht in diese Welt. Es schien fast, als hätte Fenris einen empfindlichen Treffer bei Gerechtigkeit gelandet, und das nicht einmal bewusst. Früher hätte der Geist das problemlos verschmerzt. „Für einen Mann Eures Alters ist es offen gestanden peinlich, dass Ihr versucht, die Welt in Schwarz und Weiß zu teilen.“ In Anders‘ Stimme lag eine Schärfe, die er Fenris gegenüber schon lange nicht mehr an den Tag gelegt hatte. Wenn man mit jemandem eine saubere Feindschaft unterhielt, sparte man diese Energie irgendwann ein. Der Reiz des Neuen verflog, dem Abkühlen einer Affäre nicht unähnlich. Dass die Gefühle jetzt wieder aufblühten, war trotzdem nicht allzu erhebend. Wie ein Erdrutsch schienen ihm die Worte zu entgleiten, bevor er sie festhalten konnte. „Hättet Ihr einen Funken Ehre im Leib, würdet Ihr Euch schämen, Euch so zu geben – vor einem Mörder und einem törichten Jungen.“ Vielleicht war Anders von allen am meisten von seinem angewiderten Tonfall überrascht. Während Zevran sich nicht angegriffen zu fühlen schien und weiter mit Shale Schritt hielt, stolperte Carver geradezu über seine Worte. Für einen Moment schien er nicht zu wissen, ob er sein Schwert ziehen oder der Beleidigung begegnen sollte. Vielleicht nur unbewusst richtete er seinen Blick auf die einzige Person, der er vertraute – Fenris. Fenris, der Anders lauernd beobachtete, als überlegte er, ob ihm seine Genugtuung den Verlust seiner Bezahlung wert war. Anders grinste. „Erspart mir das Gekläff, das Ihr eh nur von hinter Eurem Wachhund aus abzugeben wagt.“ Carvers Schwert fuhr mit einem schabenden Geräusch aus der Scheide und schwang sirrend über seinen Kopf – und traf klirrend auf Stein. Shale verkantete die Klinge mühelos zwischen den harten Kristalldornen und nutzte seine Größe, um Carver das Schwert einfach aus der Hand zu winden. Mit einem leisen Klirren landete es im Sand. Der Golem seufzte, ein Geräusch wie raspelnder Bimsstein. „Jetzt hat es mich dazu gebracht“, stellte er ermattet fest. „Der bemalte Elf vergaß zu erwähnen, dass wir ein Kindermädchen brauchen.“ Zevran, der sich auf wundersame Weise näher an Anders befand, ohne dass er sich bewegt zu haben schien, hob entwaffnend die Hände. „Meine Herren, bitte. Ich-“ „- übernehme diese Aufgabe. Danke für Euer Eingreifen.“ Nathaniel war aus dem Nichts aufgetaucht – oder vielmehr hatte Anders vergessen, auf seine Silhouette zu achten. Obwohl sein Gesicht unbewegt war, wusste Anders, dass Nathaniel ungehalten war. Und er wusste auch, wer in der Gruppe dafür ohne Abendessen ins Bett geschickt werden würde. Wenn er wenigstens zufrieden wäre. Stattdessen hatte Anders das Gefühl, sich wie ein zänkischer Idiot aufgeführt zu haben, ohne dass er dem zugestimmt hatte. Nathaniel trat auf das Schwert, als Carver sich bückte, die Finger um den Griff geschlungen, um es aufzuheben. Das Gesicht des Jungen war fleckig errötet, und Anders wusste, dass er zuvor einen Nerv getroffen hatte. Nur dass er sich nicht erinnern konnte, das beabsichtigt zu haben; von all den Dingen, die er nicht ruhen lassen konnte, war die Antipathie zwischen ihnen völlig unbedeutend und kleinlich. Anders war nicht größenwahnsinnig – Fenris als erklärten Feind im Rücken zu haben reichte. Carver kam dem Elf an Gefährlichkeit nicht gleich, dafür hatte er jedoch vor seinem Beitritt mit dem Gedanken gespielt, ein Templer zu werden. Und jetzt, über den Boden gebeugt und unbewaffnet, hatten seine Augen jene gefährliche Glut. „Ihr habt diese Waffe nicht erhalten, um sie gegen Eure Verbündeten zu richten. Es sterben genug von uns, ohne dass wir einander angreifen.“ Nathaniels Stimme war klirrend kalt. „Zieht dieses Schwert noch ein Mal gegen einen Wächter, und ich gebe Euch stattdessen eine Schaufel, mit der Ihr in den Schwarzmarschen Entwässerungsgräben ausheben werdet, Hawke.“ Carver biss bei dem Tadel die Zähne zusammen und starrte mit wildem Blick auf den Stiefel, den Nathaniel nun langsam von der Klinge zog. Mit dem Schwert in der Hand stürmte der jüngste Hawke wütend zum Strand hinab, und Zevran schlenderte gemächlich hinterher, als sei ihm diese Gemütsregung völlig entgangen. Fenris blieb; er hatte nichts übrig für Temperamentsausbrüche. Mit Ausnahme natürlich seiner eigenen. „Legen wir eine Rast ein.“ Nathaniel hatte zu seiner alten Ausdruckslosigkeit zurückgefunden. „Seewärts ist der Untergrund fest, und es ist windstill.“ Also wäre den Möwen der Flug zu anstrengend, und die Nähe von Reisenden würde sie abschrecken. Shale trottete unbeteiligt strandwärts, doch er hatte gehorcht, ohne dass Nathaniel ihm einen Befehl erteilt hatte. Geister und Golems lagen dem Kommandanten offenbar, stellte Anders ironisch fest. Fenris hatte sich nicht gerührt. Mit unbehaglicher Intensität starrte er Anders an, statt wie üblich durch ihn durchzusehen. Es sähe ihm ähnlich, die Auseinandersetzung jetzt fortzuführen, als wäre nichts geschehen, und Nathaniel mochte ihn bezahlen, doch er war nicht sein Befehlshaber. Für einen seltsamen Moment fragte Anders sich dennoch, ob Fenris ahnte, was in ihm vorging. Der Gedanke war besorgniserregender als der übliche Schlagabtausch zwischen ihnen. Doch Nathaniel versuchte nicht, ihn wegzuschicken. Stattdessen wandte er sich an Anders. „Ich habe mit dir zu reden“, verkündete er und bedeutete dem Heiler, ihm zu folgen. Sich zu weigern wäre dumm gewesen, und Anders war müde genug, um sich disziplinieren zu lassen, solange dies im Sitzen geschah. Nathaniel wählte eine Richtung weiter oberhalb des Wassers, wo selbst Elfenohren sie nicht hören würden. Als Anders über die Schulter blickte, stand Fenris immer noch regungslos. Ihre Augen begegneten sich kurz. Fenris spuckte in den Sand und marschierte zum Strand.   Anders war Standpauken gewohnt. Seine Lehrer hatten es immer zuerst damit versucht, bevor sie mit seiner Sturheit die Geduld verloren hatten oder die Templer sich einschalteten. Wenn man ein Grauer Wächter wurde, änderte sich daran nicht wirklich etwas, nur dass Anders zu sehr auf Stockschläge auf die Fingerkuppen und lichtlose Arrestzellen eingestellt war, um das ernst zu nehmen. Der alte Kommandant hatte das gewusst – aber entweder hatte er seinen Appell trotzdem gehalten, oder er hatte gehofft, seine Worte würden irgendwann zu Anders durchdringen. Jetzt hockte Anders schicksalsergeben auf einem Stück Treibholz und wartete darauf zu erfahren, wie Nathaniel mit denen verfuhr, die seine Rekruten ärgerten. Frei nach der Überzeugung ‚Was man hat, hat man‘ aß er währenddessen etwas von seinem Proviant. Lebensmittel neigten zu einem besseren Geschmack, wenn sie noch nicht bei Wind und Wetter herumgeschleppt worden waren, außerdem kam er hier regelmäßiger zum Essen als in Kirkwall. Nathaniel hatte ihn ein paar Minuten warten lassen. Jetzt setzte er sich Anders gegenüber und legte seinen Bogen quer über den Schoß, bevor er seine Handschuhe auszog. Gewissenhaft begann er, das Holz nachzufahren, mit den weicheren Hautpartien seiner Fingerzwischenräume zu überprüfen, wo der Bogen strapaziert war und Pflege brauchte. In Zeiten pausenloser Kämpfe waren seine Hände sonst durch Hornhaut abgestumpft, sodass er diese Überprüfung mit Wangen oder Lippen vornahm. Varric hätte ihn verstanden. Kirkwall war noch in Sichtweite, und Anders begann trotzdem, den Zwerg zu vermissen. „Du solltest dir auch einen Frauennamen für deinen Bogen überlegen, weißt du.“ Nathaniel sah nicht mal auf, während er nach Ausfransungen an der Sehne suchte. „Er gehört meiner Familie, nicht mir allein“, erwiderte er und zeigte sich blind für den eigentlichen Witz. Anders seufzte. „Wie wäre es mit Clarisse? Eugene? Odette? Fiadora? Lulu?“ „Du solltest es Carver nicht schwerer machen, als es ist.“ Na also, dazu hatte es kommen müssen. „Er hat angefangen.“ Nur für einen Moment fragte Anders sich, ob er mit ‚er‘ wirklich Carver meinte. Natürlich war ihm klar, worauf Nathaniel anspielte. Carver war nicht freiwillig ein Grauer Wächter geworden, und nun musste er den schwierigen Balanceakt zwischen zwei Welten meistern. Auf der einen Seite seine Waffenbrüder, deren Bestimmung er teilte und an deren Hierarchie er sich anpassen musste. Auf der anderen Seite diejenigen, die ihn bereits kannten, als Hawkes verstockten kleinen Bruder, der mit zum Spielen kam, weil Mama das ihrem Ältesten aufgetragen hatte. Es half nicht gerade, dass Anders zu beiden Gruppen gehörte. Vernünftigerweise ignorierte Nathaniel die Bemerkung. „Ich habe ihn jemanden rekrutieren lassen, dem er vertraut.“ Hieß: Würdest du dir bitte nicht sofort neue Feinde anlächeln, wo wir noch nicht mal einen Tag unterwegs sind? Vergebene Liebesmüh. „Carver und ich mögen uns nicht. Wie sehr überrascht es dich, dass er jemanden rekrutiert, der mich auch nicht mag?“ Anders schob sich eine Brotkruste in die Wange. „Mal ganz davon ab, dass man sehr geschmacklos sein muss, um meinen Charme zu schmähen.“ Nathaniel fette seine Bogensehne ein. „Dein Geschwätz würde die Geduld eines Steins auf die Probe stellen.“ „Danke. Ich arbeite bereits an Shale.“ Nathaniel maß ihn mit einem durchdringenden Blick. So sehr man sich im Kampf auf seine Rückendeckung verlassen konnte, sein Mangel an Humor frustrierte Anders bisweilen. „Shale hat keine guten Erfahrungen mit Magiern“, warnte er. „Wenn du ihn provozierst, kann ich für nichts garantieren.“ „Dir ist klar, dass man exakt dasselbe über Fenris sagen kann, oder?“ Nathaniel schwieg. Es war unmöglich zu erkennen, ob ihm diese Information neu war oder ob er sie lediglich keiner Antwort würdigte. Man musste ihm lassen, dass er gut über seine Rekruten informiert war – mehr als üblich. „Der Hauptmann der Stadtwache hatte wegen Carver so erhebliche Bedenken, dass sie seinen Beitritt verhindert hat. Was sich die Stadt derzeit kaum leisten kann, und Hauptmann Vallen ist nicht von der hysterischen Sorte“, fügte Anders hinzu, ein wenig Kasernenklatsch einbeziehend. Nathaniel reinigte seine Hände vom Fett und begann seine eigene Mahlzeit. „Carver sieht in dir, was seine Zwillingsschwester hätte erreichen können, wenn sie Kirkwall lebendig gesehen hätte“, erwiderte er gemessen und ließ seine Worte einen Moment einwirken, bevor er schloss: „Du bist zu hart mit ihm.“ Anders hatte eine zornige Antwort auf der Zunge, aber diesmal hielt er sie selbst zurück. Was hatte er erreicht? Zumindest ein gewisses Maß an Freiheit. Es war gefährlich, allerdings war es das dieser Tage immer. Nach allem, was Hawke erwähnte (also fast gar nichts) war Bethany ein gutes Mädchen gewesen. Selby hätte sie in den Untergrund bringen können, vielleicht hätte sie sogar den Kontakt zu ihrer Familie erhalten. Jetzt, wo ihr Bruder mächtiger zu werden begann, hätte sie mehr Schutz gehabt als die meisten. Nur dass sie die Chance nicht bekommen hatte. Anders seufzte, ein mürrischer Laut von Kapitulation. „Möglich“, räumte er ein. „Dann kann ich später behaupten, ich hätte es dir gleich gesagt. Er ist jetzt dein Rekrut, also…“ Anders hob eine Augenbraue. „Wie schlimm sind seine Fressattacken?“ Der Schatten eines Grinsens huschte über Nathaniels Miene. „Intensiv, aber in der Häufigkeit abnehmend.“ „Mahlzeit.“ Anders klopfte Krümel von seiner Kleidung und schmunzelte, eine Regung, die sich fast ungewohnt anfühlte. Gerechtigkeit teilte seine Belustigung nicht – aber dazu musste man die Veränderungen ohnehin selbst erlebt haben. „Du hättest Oghren mitbringen sollen, dann hätte ich in Gegenwart eines käuflichen Meuchelmörders wenigstens Spaß.“ „Er war nicht abkömmlich. Und er hat sich für Zevran verbürgt.“ Wenn ein Howe log, tat er es nicht so dreist. Anders zögerte, ob er überhaupt wissen wollte, wie so etwas möglich war, und entschied, dass er die Antwort auf diese Frage lieber von der Krähe persönlich haben wollte. „Ist das alles? Ich brenne nicht gerade auf die Gesellschaft deiner Jungs“, er nickte gen Strand, „aber je länger wir hier bleiben, desto länger denkt Carver, du würdest mich über’s Knie legen.“ Nathaniel hörte auf zu kauen und spülte seine Ration mit Wasser herunter. Sein Tonfall war fast… entschuldigend. „Ich muss mit Gerechtigkeit sprechen. Allein.“ Wie konnte er davon wissen? Anders wollte leugnen, dass es tatsächlich möglich war, doch seine Kehle war trocken. Nathaniel musterte ihn ernst. „Es ist wichtig.“ „Sicher.“ Anders spürte einen wachsenden Druck hinter den Augäpfeln und blinzelte. „Deswegen hast du Delilah und deinen Neffen mitgebracht, anstatt sie in Amaranthine zurückzulassen.“ Nathaniel schien ein winziges bisschen zurückzuzucken. „Ihr Mann hat Geschäfte in Kirkwall“, wehrte er ab, auch wenn er diesmal offenkundig log. „Du bist erst zu mir gekommen, nachdem du deine Mannschaft in den Tiefen Wegen verloren hast“, fuhr Anders fort und kniff die Augen zusammen. Gerechtigkeits Summen fühlte sich an wie ein heftiger Schwindel. „Du brauchst jemanden aus Vigils Wacht, weil nicht mehr Wächter wissen sollen, was dort im Kerker-“ Anders. Seine Welt explodierte in Weiß.   „… auf seine Socken. Wirklich! Ich würde es nicht als kunstvoll bezeichnen, aber es waren definitiv Monogramme.“ „Ja, sicher!“ „Nun ja, mittlerweile hat er dafür Personal und muss seine Socken vermutlich nicht mehr selbst besticken.“ „Ihr glaubt das ernsthaft?“ „Ich glaube gar nichts, mein junger Freund, ich weiß es.“ Anders kam langsam zu sich. Über ihm spannte sich ein gewaltiger Sternenhimmel von solcher Klarheit, dass er mehrere Sekunden einfach hinaufstarrte. In den Tiefen von Dunkelstadt hatte er beinahe vergessen, wie das Firmament aussah. Es war… wunderschön. Anders hatte sich nie für poetisch oder romantisch gehalten (das eine war die Begleitkrankheit des anderen), aber das Flattern in seiner Brust war sein eigenes. „Es ist wach.“ Shales knirschende Stimme ließ Anders in die Höhe fahren. Ihm bot sich ein ungewöhnlich anheimelndes Bild: die Gruppe hatte sich um ein Lagerfeuer verteilt, nur Nathaniel war abwesend und hatte ein Gepäckbündel und eine Lücke hinterlassen. Zevran hatte Carver ein Gespräch aufgenötigt, an dem der junge Mann mit widerwilligem Interesse teilnahm. Fenris hatte sich so weit vom Feuer zurückgezogen, dass der Widerschein sich mühevoll nach ihm ausstrecken musste und er fast im Dunkeln verschwand. Fast, als schrecke ihn der Anstrich von Kameradschaft ab. Shale hatte sich ähnlich fernab niedergelassen, ob nun aus Solidarität oder weil der Golem das sensorische Wärmeempfinden eines, nun ja, Steins hatte, ließ sich davon nicht ableiten. Und neben Shale lag Anders wie ein ganz besonders sperriges Gepäckstück. Ihm war kalt, und er hatte einen tauben Geschmack im Mund. Und absolut keine Ahnung, was in den letzten Stunden passiert war. Gerechtigkeit hatte ihn kontrolliert, das war ihm nicht fremd. Anders erinnerte sich daran. Der Geist teilte seine Emotionen, reagierte auf sie und wurde dadurch in seiner Präsenz bestärkt. Aber noch nie zuvor hatte er Anders‘ Denken willentlich ausgelöscht wie eine Kerze, und scheinbar mit derselben Mühelosigkeit. Jetzt war Gerechtigkeit kaum noch spürbar, aber Anders hätte nicht sagen können, ob er sich aus eigenem Antrieb oder aus Erschöpfung zurückgezogen hatte. Seine Magie war intakt, seine Muskeln steif und ausgekühlt. War er mit den anderen in den Abend hinein marschiert, oder hatte Shale ihn über die Schulter geworfen? Er hatte keine Ahnung. Doch etwas daran, wie Fenris‘ Augen ihn lauernd aus der Dunkelheit beobachteten, warnte ihn davor, sich das anmerken zu lassen. „Ah, es geht Euch besser.“ Zevran schenkte ihm die Art hübsch-unverbindlichen Lächelns, die ihn Anders so suspekt machte. Man konnte jemanden problemlos so anlächeln und gleichzeitig seinen Becher mit Herbstzeitlosen vergiften. Nathaniel musste sich geirrt haben. Oghren traute keinem Elf, und erst recht keinem Meuchelmörder. Vermutlich hätte sogar Zevrans Vorliebe, sich in anschmiegsames Leder zu kleiden, einen Garanten für ewiges Misstrauen gestellt. War es ihm zuvor nicht gut gegangen? Anders wusste nicht einmal, ob er geschlafen hatte. Funkensprühend blaue Augen waren kaum zu übersehen, außer wenn er sein Gesicht abgewandt hielt. Nur tendierte Gerechtigkeit nicht zu so unauffälligem Verhalten, erst recht nicht über Stunden hinweg. Allerdings tendierte er auch nicht dazu, Geheimnisse vor Anders zu haben. Schließlich tat er, was ihm am sichersten erschien: er zuckte mit den Schultern und rückte dezent ein wenig von Shale ab. „Ja.“ Seine Stimme klang leidlich normal, sodass er hinzufügte: „Wo ist Nate?“ Carver musterte ihn kühl, oder so kühl, wie es jemand konnte, der noch feucht hinter den Ohren war und an dessen Kinn sich bislang kein einziges Barthaar verirrt hatte. Nathaniel hatte Recht, Anders war heftig gegen ihn eingenommen – und das war nicht leichter zu beheben, wenn ihn neuerdings nicht nur eine, sondern gleich zwei Personen dafür kritisierten. „Kommandant Howe ist auf Patrouille.“ Anders schnaubte. „So nennt man das jetzt, ja?“ „Er hat sich für die erste Wache gemeldet, auch wenn er mich nicht vorher informiert hat, was er nebenbei noch so alles macht“, mischte Zevran sich glattzüngig ein, bevor Carver zurückschnappen konnte. „Kommt schon, lasst uns doch nicht so entsetzlich unfreundlich zueinander sein, ja?“ Anders beobachtete den Elf durch die Flammen des Lagerfeuers und versuchte sich zu entschließen, ob er sich die Reste eines verschmitzten Grinsend bloß einbildete. „Er hat Euch angewiesen, die ganze Herde zu hüten, richtig?“ Zevrans strahlendes Lächeln war diesmal besonders charmant. „Falsch. Ich liebe es einfach, meine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken… Und ich glaube nicht, dass wir einander schon vorgestellt wurden.“ Anders beantwortete das mit einem eigenen reizenden Lächeln, auch wenn er befürchtete, dass sein Geschick darin, jeden Zoll den verwegenen Abtrünnigen zu geben, ein wenig eingerostet war. Bloß dass Zevran wahrscheinlich zu professionell war, um unhöflich zu sein. „Ihr wurdet noch nicht gewarnt?“ Zevran lachte leise. „Warnungen führen erst zu den großen Verlockungen des Lebens, nicht wahr?“ “Ich glaube, ich muss kotzen”, stöhnte Carver, doch Anders war zu froh, dass es ihm noch gelungen war, sein eigenes merkwürdiges Zögern von vorher zu kaschieren, um sich davon provozieren zu lassen. Ohne Gerechtigkeits stetigen Sog in seinen Gedanken schien es leichter, sich zu entspannen, die hartnäckigen Falten zwischen seinen Brauen zu glätten. Er richtete ein gönnerhaftes Nicken an Carver (wohl wissend, dass er ihm damit auf die Nerven ging) und neigte grüßend den Kopf. „Ich bin Anders.“ Wenn Zevran sich über seinen Namen wunderte, ließ er sich das nicht anmerken. Stattdessen rieb er sich das Kinn (was insgeheim ein amüsanter Anblick war, da Elfen bekanntermaßen keinen Bartwuchs hatten) und beäugte Anders über das Feuer hinweg. „Habt Ihr zwei Muttermale zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand?“ Falls er mit der Idee gespielt hatte, sich in Zevrans Gegenwart etwas zu entspannen, verwarf Anders das jetzt schnell wieder. Er ballte seine Faust, obwohl er wusste, dass der Elf es durch das Feuer nicht sehen können sollte. „Warum?“ Zevran lächelte leicht. Er schien immer zu lächeln. „Eure Hände sind überaus spektakulär.“ „Ihr werdet Euch den Rest Eures Lebens lang fragen, ob das nicht nur eine belanglose Beobachtung war“, erklang Fenris‘ tiefe Stimme. Während die Nacht sein Gesicht überschattete, malte das Feuer zuckende Linien darauf als er sprach. Neben Shale sitzend, in seiner dunklen Kleidung und dem Schopf von silberweißem Haar wirkte er jedes bisschen wie ein bösartig brennendes Irrlicht. Was nicht bloß poetisch war, sondern auch ein halber Zungenbrecher. Deswegen mochte Anders Gedichte nicht. Und deswegen mochte er Fenris nicht, unter Anderem. „Höchstunwahrscheinlich, aber es gibt schlimmere Arten zu sterben als in Gedanken an meine eigene Genialität.“ Anders legte den Kopf schief. „Was Ihr selbstverständlich meintet.“ “Eure Genialität sollte mehr als genug Platz lassen, um Euch zu merken, wann Ihr mit der Wache dran seid.“ Der Widerschein des Feuers enthärtete die Schärfe von Fenris‘ kantigem Gesicht, wenn schon nicht seine Stimme. „Und wie könnte ich auch nicht friedlich schlafen, wenn ein Goldstück wie Ihr aufpasst? Das muss sicherer sein als im Schoß des Erbauers selbst.“ Shale wandte ihm den grob geformten Kopf zu, wobei so etwas wie Belustigung von dem unbewegten Steinkonstrukt ausstrahlte. „Es vergisst, dass ich kein so absurd großes Bedürfnis nach Erholung habe wie die weichen Kreaturen.“ Das klang zumindest nett – so sehr Fenris auch das Gefühl von Unbehaglichkeit vermitteln konnte, die Nacht durchzuschlafen war eindeutig besser, als wieder aufzustehen und die Müdigkeit für endlose Stunden zu bekämpfen. Besonders, da sie noch in relativ sicherem Territorium waren und der Wachposten niemals schläfrig wurde. „Ihr schlaft nie?“, hakte Anders nach, zur Sicherheit. „Nie.“ „Ihr könntet die ganze Nacht Wache halten?“ „Das könnte ich.“ Shale klang verdächtig friedlich. “Aber ich werde es nicht tun.” Fenris schien diese Aussage zu gefallen. Zevran grinste, falls das bei jemandem, der seine Mimik so gut kontrollieren konnte, überhaupt irgendetwas zu bedeuten hatte. Carver, Andraste segne ihn, bekannte sich wenigstens zu seiner Vorliebe für ununterbrochenen Schlaf und runzelte die Stirn. „Warum nicht?“ „Warum sollte ich?“ Obwohl Shales Stimme sich nicht veränderte, fühlte sich das Diskutieren jetzt schon an, als würde man seinen Kopf wortwörtlich gegen eine Steinmauer schlagen. Anders fragte sich, ob man den Golem bezirzen konnte. „Weil wir Eure Reisegefährten sind und Euch unsere fleischlichen Hüllen anvertrauen?“ „Das zu tun wäre grenzenlos dumm.“ Das war also gleich noch etwas, das ihm den Schlaf versüßen würde. Und es half nicht, dass Anders nicht unterscheiden konnte, ob der Golem die Lebenden einfach gern verspottete oder tatsächlich die Verantwortung für ihre Sicherheit ablehnte. Ein Seitenblick auf Carver verriet ihm, dass dieser die Unterscheidung genauso wenig machen konnte. „Wie sollen wir Euch dann vertrauen?“ Der junge Wächter schien eher befremdet als ärgerlich. „Das sollte es nicht.“ „Wenn ich so unhöflich sein darf, das zu unterbrechen…“, meldete Zevran sich und drehte eine Strähne honigfarbenen Haars um seinen Finger. Bei jemand anders mochte die Geste unschuldig wirken. „Kommandant Howe war so zuvorkommend, uns zu versichern, dass jeder in seiner Truppe dasselbe Maß an Gerechtigkeit und Gleichheit erfahren würde. Falls ich das so sagen darf, ist das für einen Anführer eine überaus weise Haltung, vor allem da wir so höchst herausragende Persönlichkeiten hier versammelt haben.“ Licht blitzte auf seinen weißen Zähnen auf, als er erneut lächelte. „Andernfalls wäre unsere Zusammenstellung wohl erheblich anders ausgefallen.“ Das war eine subtile Art, sie daran zu erinnern, dass sie auf mehr oder weniger deutliche Weise alle als Kriminelle betrachtet werden konnten, oder zumindest als Individuen, deren Tod für die Gesellschaft erträglich war. Anders konnte sich nicht entsinnen, dass Nathaniel irgendetwas annähernd so Illusteres zu ihm gesagt hätte, und Fenris war jemand, der schlichtweg dafür sorgte, dass man ihm den Respekt entgegenbrachte, den er wollte (und das mit den Maßnahmen, die er wollte). „Warum haben wir dann überhaupt einen Anführer?“, erkundigte Anders sich mit einer Andeutung von Heiterkeit, woraufhin Carvers Gesicht sich anspannte. „Jemand muss es tun.“ Zweifellos dachte er an seinen Bruder. Die schwache Note von Verbitterung verlangte nach etwas väterlichem Beistand, möglichst von jemandem, der an der Situation beteiligt war, etwas Kitschiges über die Grauen Wächter, die jetzt der Ersatz für die Familie waren und für lästige ältere Brüder, der immer einen Schritt voraus war. Aber Nathaniel schien nie da aus dem Nichts aufzutauchen, wo man ihn brauchte. Anders ließ den Moment verstreichen. „Nachdem all dieser wundervolle Sand uns davon abhält, hier Zelte aufzustellen, und es angeblich eh nicht kalt ist, kann man sicherlich nicht ohne Weiteres von Zurückziehen sprechen… Doch wir sollten uns alle etwas Ruhe gönnen.“ Wieder war es Zevran, der die Situation sanft unter seine Kontrolle brachte und die Richtung vorgab, womit er Anders bewies, dass er durchaus irgendeine Art von Beaufsichtigungsfunktion hatte, wenn Nathaniel abwesend war. Was eigenartig war; Anders glaubte nicht, dass sein Vergleich mit Isabela so falsch gewesen war, und sie vermittelte oder steuerte nicht, wenn sie nicht auf einem Schiff war. Oder in einem Schlafzimmer. Und das hier war keins von beidem, selbst mit Schlafmatten. Und dennoch sah Zevran es als notwendig an, sich um die dürftige Harmonie unter ihnen zu kümmern. Carver zuckte zusammen, als er sich an etwa zu erinnern schien. „Ah… Ja. Ich löse den Kommandanten ab, sobald er von seiner Patrouille zurückkommt. Der Beobachtungsposten ist dort drüben“, er deutete auf etwas in der Dunkelheit, das Anders grob als einen steinigen Hügel identifizierte. Als Bogenschütze wählte Nathaniel üblicherweise erhöhte Posten aus, von denen aus er die Umgebung einfacher überwachen konnte und dabei gleichzeitig selbst weit genug vom Licht fernblieb, dass seine Pupillen sich nicht zusammenzogen und seine Nachtsicht blendeten. In der Finsternis ringsum konnte er kaum gesehen werden und war daher ein sehr schwieriges Ziel. Das war eine gute Strategie, wenn man nach Dunkler Brut Ausschau hielt, da diese sich äußerst selten die Mühe machte, sich anzuschleichen. Aber während Nathaniel einen nahezu perfekten Ausblick auf das Lager hatte, hatte er keinen auf sich selbst. Wer auch immer ihn ausschaltete, machte den Rest somit praktisch wehrlos. Beim Erbauer, wieso musste er jetzt schon darüber grübeln?! Anders zog über sich selbst die Stirn kraus. Weder Sklavenhändler noch Banditen würden sich einem Golem nähern. Und Tal-Vashoth griffen nachts kaum jemals an, man ging davon aus, dass das ein Überbleibsel ihrer nicht ganz abgelegten Kultur war. In jedem Fall war Panik nicht angemessen. Und Gerechtigkeit sorgte sich wegen dieser Dinge nicht. Richtig? Mit einem Mal fühlte sich Anders sehr müde. „Und, wann bin ich dran?“ Oh, er konnte es ja gar nicht erwarten, sich auf diesen windigen Hügel zu hocken, weit weg vom Feuer und seiner Decke, um seine Magie dort greifbar zu halten. Carvers mürrischer Gesichtsausdruck erhellte sich – es gab Gelegenheiten, wo das kein gutes Zeichen war. „Ihr seid der Vierte in der Reihenfolge. Fenris wird Euch wecken.“ Andrastes kratziger Unterfummel. Das hatte man davon, die Verteilung der Wachablösung zu versäumen – das war mitten in der Nacht, also dann, wenn er gerade erst eingeschlafen war. Außerdem hatte jede Ablösung ihre individuelle Art, den Nächsten zu wecken, der den Dienst aufnehmen sollte. Anders war nicht allzu begierig darauf, herauszufinden, was Fenris tat, wenn er individuell war. Besagter Elf funkelte ihn finster an, als ahnte er etwas von Anders‘ langer Tradition von Tritten gegen den Kopf als Morgengruß. „Wir sollten morgen unsere Geschichten miteinander teilen, ja?“ Zevran erhob sich und strahlte in die Runde, was ihm prompt das Recht eintrug, auch von Fenris angefunkelt zu werden. „Ihr redet jetzt schon zu viel. Märchen helfen da nicht.“ Als könnte irgendjemand so viel reden wie Varric, allerdings behielt Anders diese Bemerkung umsichtig für sich, wenigstens bis die Wachen gewechselt hatten. Wie üblich war Zevran sowieso nicht kleinzukriegen. „Es muss nicht um Märchen gehen“, schnurrte er, und Carver schnaubte abrupt. „Dann geht es um den Held von Ferelden – davon handeln heutzutage doch alle Geschichten. Also, wann kommt er wieder und tut mal wieder irgendetwas Heldenhaftes?“ Anders entging nicht, dass er das nur halb im Scherz sagte. Der Held war Fereldens bevorzugte Lösung für jede Art von Krise, sogar für verregnete Sommer und zahnende Säuglinge. Es könnte schlimmer sein; es könnte sich zu einer Religion entwickeln. Und trotzdem erfüllte es Anders mit Unbehagen, das immense Vertrauen zu erleben, mit dem die Fereldener an ihn glaubten. Zevran sah nicht von seinem Gepäckbündel auf, in dem er nach etwas kramte. Shale schien gar nicht zuzuhören. „Das scheint mir nicht allzu schwer zu bestimmen“, erwiderte die Krähe. „Weil er tot ist.“   Anders hatte auf Nathaniels Rückkehr warten wollen; so sehr er es auch versuchte, er fand in seinem Verstand nichts als bohrende Fragen vor. Gerechtigkeit blieb ausweichend, fast als wäre er gleichgültig. Er antwortete nicht. Zudem hatte Anders erwartet, Shales wache Präsenz als unangenehm wahrzunehmen, aber der Golem ließ sich lediglich auf dem sandigen Boden nieder und schien in eine Art Trance zu verfallen. Vielleicht meditierte er – bei Shale schien nichts unmöglich. Besonders, da er einst von der heiligen Gegenwart des Helden höchstselbst beehrt worden war. Es gab keine richtige Entscheidung, wiederholte Nathaniels Stimme geduldig in seinem Hinterkopf. Anders schlief mit einem Gefühl von Gereiztheit ein. Bis etwas Schweres auf seine Brust und seinen Mund drückte und ihn unvermittelt weckte. Für einen schrecklichen Moment fühlte es sich an, als würde sein Körper nicht mehr reagieren. Dann kehrte seine Geistesgegenwart mit der Schnelligkeit von Wächtersinnen zurück. Keine Dunkle Brut. Das Gewicht auf ihm lebte, und etwas Kaltes und Scharfes schwebte über seiner Kehle. Seine Arme wurden von Knien an seine Seiten gepresst, sein Stab war außer Reichweite, obwohl Anders ihn zum Schlafen nie ablegte. Der wilde Gedanke stieg in ihm auf, dass Zevran die Nächte hier tatsächlich kühler fand als in Antiva und daher beschlossen hatte, sich etwas Gesellschaft zu suchen. Wenn das so war, war er erheblich fordernder, als Anders geglaubt hatte. „Still“, zischte eine Stimme. Anders erkannte den harschen Bariton sofort, den Geruch von Leder, Harz und Staub. Die bestialischen Panzerhandschuhe ähnelten Krallen, einer von ihnen presste sich auf seinen Mund, der andere auf seinen Kehlkopf mit der stummen Drohung, diesen zu zerdrücken. Ein normaler Mensch würde bei dieser Verletzung einen qualvollen Erstickungstod sterben, der sich über grausame Minuten hinzog. Anders konnte sich ohne diese ziemlich endgültige Folge heilen, aber das bedeutete nicht, dass die ganze Angelegenheit für ihn sonderlich angenehm war, und das wussten sie beide. Die Warnung war deutlich genug. Fenris war offensichtlich sehr individuell bei seinem Weckritual. Jeder Templer könnte noch etwas von dem Bastard lernen. Anders blinzelte gegen den Sand in seinen Augen an. Das Feuer war zu ein paar schwachen Glutbrocken heruntergebrannt, was ihn bloß ein paar Silhouetten ringsum erkennen ließ. Fenris war demnach derjenige, der momentan Wache hielt, und nichtsdestotrotz machte der Elf keine Anstalten, Anders loszulassen. Stattdessen blickte er mit kühlem Misstrauen auf ihn hinab. „Auf ein Wort, Magier.“ Seine Hand auf Anders’ Mund hob sich leicht; die andere nicht. Der Heiler konnte den Kopf weit genug drehen, um einen kurzen Blick auf das Lager zu erhaschen: es war unmöglich festzustellen, ob Shale aufmerksam war. Carver schlief den ruhelosen Schlaf eines Rekruten, der von Alpträumen der Verderbnis in seinem Körper gequält wurde. Zevran war still, doch sein ganzes Leben hatte man versucht, ihn umzubringen, und das vorzugsweise im Schlaf. Nathaniel war der Sohn eines mächtigen Adligen, was genug über die Tiefe seines Schlafs aussagte. Jeder von ihnen war geradezu prädestiniert dazu, beim Klang von Stimmen in der Nähe jederzeit aufzuwachen. Das war also nicht nur die schlechteste Position zum Reden, es war auch der schlechteste Ort. Vorsichtig, um Fenris nicht zu irgendetwas aufzuschrecken, das für ihn überstürzt und schmerzhaft enden würde, wandte Anders seine Augen bedeutungsvoll zu der Dunkelheit ringsum. „runter von mir.“ Er war zufrieden, dass seine Stimme viel selbstbewusster klang, als er sich eigentlich fühlte. Dennoch schickte er ein Stoßgebet zum Erbauer. Es gab nur eins, über das Fenris mit ihm im Geheimen reden wollen konnte. Und wenn er herausfand, dass Anders praktisch ahnungslos war, weil er heute nicht allzu viel Kontrolle über seinen Körper gehabt hatte, war es unmöglich zu wissen, was er tun würde. Doch es würde auf keinen Fall harmlos sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)