Auf dem Weg ins Horrorland von LucyCameronWeasley (Die Suche nach mir selbst) ================================================================================ Kapitel 8: Kapitel 8 - Pläne ---------------------------- Eine Woche war seit dieser  katastrophalen Party vergangen. Natürlich hatte sich mein Auftritt in der ganzen Schule herumgesprochen und jetzt trug ich den Spitznamen "Bierfass". Haha. Diese Ironie. Mira war überhaupt nicht sauer auf mich, weil ihr Tshirt etwas abbekommen hatte. Allerdings konnte selbst sie es sich nicht verkneifen, mir unter die Nase zu reiben, dass sie mich vorgewarnt hatte. Und ganz ehrlich? Ich hatte es auch verdient. Denn insgeheim habe sogar ich gewusst, dass eine Katastrophe passieren würde. Weil ich einfach eine wandelnde Katastrophe war.  Grimmig zog ich die Ärmel meines Pullis über die Hände, es war ziemlich kalt geworden. Fast kalt genug für Schnee. Doch statt nach drin zu gehen, entfernte ich mich immer weiter vom Schulgebäude. Ich wollte nicht auf Andere treffen. Am allerwenigsten auf Kristin und Co verstand sich. Es ging immer weiter bergab mit mir, ich zog mich zurück, noch viel mehr als sonst. Aber es war besser für mich, dachte ich jedenfalls. Ich lernte, die Einsamkeit zu schätzen. Nein, sie sogar zu lieben.  Prüfend warf ich einen Blick über die Schulter, aber niemand war zu sehen, also schob ich mich durchs Geländetor. Raus aus dieser Hölle, los ins Dorf. Das war so eine Ironie. Ich floh aus dem Kaff, in dem ich aufgewachsen war, nur um in einem noch kleineren Dorf zu landen. Aber immerhin hatte ich die Hoffnung gehabt, dass das Internat gut war. Das hatte sich zwar als Fehler herausgestellt, aber ich wollte mich durchbeißen. Wenigstens dieses eine Jahr. Um meiner Mutter zu beweisen, dass ich sehr wohl etwas durchziehen konnte, wenn ich wollte.  Denn sie hatte zu mir gesagt, ich würde es ohnehin nicht schaffen. Dieses unglaubliche Vertrauen in mich war schon immer so dermaßen großartig gewesen, was hätte ich nur ohne es getan? Achtung, Sarkasmus vorhanden. Es war wohl Schicksal als ältestes Kind, dass man irgendwie auch das Schlechteste war. Während ich die Straße runterging, versank ich immer mehr in Gedanken. Zurück an den Tag, an dem ich zuhause rausgeflogen war. Schon seit längerem bekam wir uns ständig in die Haare. Ein wenig verstand ich das auch. Ich war in der Pubertät und bestimmt nicht so einfach, obwohl ich mich zum Großteil in meinem Zimmer verkroch. Wir waren außerdem sechs Leute in einer kleinen Wohnung und dass der Knoten da regelmäßig platzte, war irgendwie auch klar.  Und ich war schon immer ein ziemlicher Chaot, während meine Mutter ein Putzteufel war. Das konnte einfach nicht gut gehen. Wir stritten uns jeden Tag. Manchmal mehrmals. Als mein Bruder geboren wurde, musste ich oft auf ihn und meinen Schwester aufpassen, damit sie feiern gehen konnte. War für mich okay, wenn auch anstrengend. Nach und nach zeigte sich, was für ein Arsch ihr Freund - zu der Zeit Ehemann - war. Er hasste meine Schwester und mich. Und wir hassten ihn. Wenn meine Mutter nicht da war, flogen die Fetzen zwischen uns. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als es angefangen hatte.  Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt. Kam von der Schule nach Hause und hatte in einem Test - oder war es eine Schularbeit - eine vier geschrieben. Mathe. Ich war in Mathe noch nie gut, ich verstand es einfach nicht und mir fehlte das logische Denken dafür. Meine Mutter war arbeiten, er war zuhause. Ich schlich also in die Küche und fing an, meine Schulsachen auszupacken, um Hausaufgaben zu machen, aber zuerst wollte ich essen, weil ich nie frühstückte und in der Schule auch selten etwas runterbekam. Ich machte mir die Reste vom Vortag warm, als er auf einmal anfing, herumzuschreien. Was ich mir erlauben würde, eine Vier nach Hause zu bringen und dass ich gar nichts zu essen verdiene. Er verpasste mir eine Ohrfeige, ich brach in Tränen aus, heulte, dass ich tagelang gelernt hatte, sogar mit Mama zusammen. Er zog mich am Ohr ins Zimmer und warf meine Sachen hinter mir her. Das Federmäppchen traf mich am Kopf und verpasste mir eine Beule. Ich knallte die Tür wütend hinter mir zu. Daraufhin hängte er sie aus. Ein weiterer Tag, an den ich mich sehr gut erinnere..wir hatten uns wieder mal in den Haaren, meine Schwester und ich gegen ihn. Mama war unseren Bruder aus dem Kindergarten abholen. Eigentlich weiß ich bis heute nicht mehr, worum es ging. Ich weiß  nur noch, dass er meine Schwester und mich angeschrien und geprügelt hat. Und er war betrunken. Wir packten ein paar Sachen in den Rucksack und liefen davon. In den Wald. Blieben da, bis es dunkel war, eigentlich wollten wir die Nacht auch bleiben, aber wir bekamen Angst und gingen nach Hause. Als die beiden sich scheiden hatten lassen, entführte er meinen Bruder eines Tages aus dem Hof. Ich kann mich nicht erinnern, wie es damals war und wie lange, aber dafür kam er ins Gefängnis. Mama lernte einen neuen Mann kennen, der einen Sohn in meinem Alter hatte. Wir wurden..sowas wie eine Familie. Aber auch mit ihm kam ich nicht besonders gut aus, so schaukelte sicha auch dieses Mal alles wieder auf. Ich werde nie vergessen, was ich gesagt habe. Ich werde nie vergessen, was sie gesagt hat. "Ich bin es leid, deine Tochter zu sein!", schrie ich ihr ins Gesicht. "Und ich wollte dich nie, du warst ein Unfall, mehr nicht!", kam es von ihr zurück. Die Worte tun heute noch weh. An dem Tag zogen mein Stiefbruder und ich aus. Angefangen hatte alles nur damit, dass ich nicht ordentlich war und mit ihrem Freund nicht so gut auskam.  Rückblickend konnte ich sagen, dass ich nicht wusste, ob es nun gut war oder nicht. Seitdem hatten wir nicht viel Kontakt miteinander. Und ich hatte vor jedem Kontakt mit ihnen Angst, weil ich wusste, wie enttäuscht man von mir war. Weil ich wusste, dass ich einfach nicht hinein passte und nie hinein passen würde. In diese Familie. In diese Welt. Ich war wohl in jedem Zusammenhang ein Unfall. Das Hupen eines Autos riss mich aus meinen Gedanken und ich zuckte erschrocken zusammen, ehe ich rasch und mit einem entschuldigenden Handheben den Zebrastreifen überquerte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich angefangen hatte zu weinen. Verärgert rieb ich mir übers Gesicht, das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Dämliche Heulsuse. Ich drehte die Musik lauter und setzte meinen Weg fort. War entschlossen, etwas zu ändern. Schnitte brannten unter dem Stoff meines Pullovers. Es hatte sich so schnell zu einer Lösung entwickelt. Wann immer es mir scheiße ging oder ich mich leer fühlte, malte ich neue rote Linien auf meinem Körper. Was so ziemlich jeden Tag vor kam. In nur einer Woche war mein ehemals unversehrter Arm, der lediglich ein paar Brandmale aufwies, übersät von zarten Linien, nicht tief, aber immer so, dass Blut hervortrat. Es gab mir irgendwie ein Gefühl von Sicherheit und Leben. Eine Zuflucht. Hinterher schämte ich mich dafür zwar immer, dennoch tat ich es wieder.  Wie in Trance trat ich in den Schreibwarenladen ein und sah mich kurz um. Nahm mir einen kleinen Spitzer und ein paar Stifte. Zahlte und ging wieder nach draußen. Als nächstes steuerte ich auch schon die Drogerie an. Bisher hatte ich das meiste von meinem Geld für Essen ausgegeben und für Bücher, aber jetzt würde es anders laufen. Ich war fett und hässlich. Am hässlich konnte ich nichts ändern, aber am fett schon. Jahrelang hatte ich versucht, Gewicht zu verlieren, das wie aus heiterem Himmel plötzlich da gewesen war. Als Kind war ich so dünn gewesen, dass alle gedacht hatten, dass ich nichts aß. Dann kam die Pubertät und innerhalb von, ich glaube, zwei Monaten hatte ich bestimmt zwanzig Kilo mehr. Mit zehn Jahren bekam ich zudem meine Periode, ich hatte mich dafür so geschämt, dass meine Mutter zwei Jahre lang nichts davon wusste. Wie ich es gehasst hatte, was mit meinem Körper passiert war! Und ich hasse es immer noch. Selbst jetzt, wo ich dieses Buch schreibe, fast fünfzehn Jahre später, hasse ich es noch. Ich begab mich zum Regal mit den ganzen Tabletten und Kapseln, griff, was ich greifen konnte. Fettbinder, Kohlenhydratbinder, Appetitzügler und in der Apotheke holte ich mir noch Abführmittel. Das war eins der peinlichsten Gespräche, die ich je geführt hatte. Ich brauche bitte Abführmittel. - Wie lange hatten Sie keinen Stuhlgang mehr? Starke oder eher milde? - Eh..seit vier Tagen? Sie drückte mir Dulcolax in die Hände. Ich war glücklich. Jetzt musste nur noch meine Disziplin her, aber die Motivation hatte ich ja schon. Ich verstaute alles in meinem Rucksack und kehrte zurück zur Schule.  Mira war noch nicht da, also konnte ich in Ruhe meine Sachen auspacken. Die Tablettenpackungen steckte ich zwischen Matratze und Lattenrost, musste ja nicht gleich jeder sehen. Die Stifte landeten bei den anderen, eigentlich brauchte ich sie gar nicht. Aber ich wäre mir komisch dabei vorgekommen, nur den Spitzer zu kaufen. Obwohl ich die Einzige war, die wusste, was ich damit vor hatte. Sicher nicht meine Stifte anspitzen. Mit der Ecke des Lineals drehte ich die Klingen raus und warf das Gehäuse weg. Dann setzte ich mich aufs Bett und griff mir einen unbeschriebenen Notizblock, den ich fortan als Essensplan benutzen wollte. Stundenlang war ich damit beschäftigt, das Essen der nächsten Wochen zu planen, Kalorien auszurechnen und zusammen zu schreiben. Ich musste mich dran halten. Ich musste es schaffen. Ich wollte nicht  mehr die Fette sein. Weder in der Schule, noch in der Familie. Unglaublich, dass mir das erst jetzt alles so klar geworden war.  Als Mira zurück ins Zimmer kam, war es bereits dunkel: "Freya, wo warst du heute? Ich hab dich schon gesucht." "Tut mir leid, mir ging's heute nicht so gut und ich war ein wenig spazieren", antwortete  ich mit der Halbwahrheit und klappte das Notizheft zu, schob es unter mein Kissen und setzte mich auf, "hab ich viel verpasst?" "Nein, ich gebe dir meine Mitschriften, aber du kriegst sicher Ärger von der Schulleitung", sie legte mir ihre Mappe aufs Bett und setzte sich zu mir, "du siehst wirklich nicht gut aus. Ist dir schlecht?" Ja, von meinem Anblick. "Nein, geht schon wieder. Ich bin nur müde." Und um das noch zu unterstreichen, verkroch ich mich unter die Decke, zumal mir mit einem Mal wirklich eiskalt geworden war. Das hatte ich manchmal, daran war ich also schon gewöhnt. "Willst du nicht zum Abendessen kommen?", fragte Mira besorgt, "soll ich dir was davon hoch bringen?" Ich schüttelte den Kopf: "Nein, danke..ich werde jetzt schlafen." Sie musterte mich noch einmal kurz, dann stand sie seufzend aus und ging zum Essen. Ich war stolz auf mich. Denn ich hatte nicht mehr als einen Apfel unterwegs gegessen und war den ganzen Tag gelaufen. Und ich wollte wirklich schlafen, war aber wegen meiner Pläne so aufgeregt, dass es eine halbe Ewigkeit dauerte, bis ich wirklich schlief.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)