Ein Lied des ersten Rabenflugs von HDG0chrysopras (TR x HP) ================================================================================ Prolog: † Den Tod bestehlen † ----------------------------- „Verraten Sie mir noch ein Letztes“, sagte Harry. „Ist das hier wirklich? Oder passiert es in meinem Kopf?“
 Dumbledore strahlte ihn an, und seine Stimme klang laut und stark in Harrys Ohren, obwohl der helle Nebel sich wieder herabsenkte und seine Gestalt verschwimmen ließ. „Natürlich passiert es in deinem Kopf, Harry, aber warum um alles in der Welt sollte das bedeuten, dass es nicht wirklich ist?“ (1) Unsicher richtete Harry seinen Blick wieder auf den fernen Stuhl. Er konnte sich nicht helfen. Eine Idee hatte sich in seinem Kopf hineingepflanzt und sie wollte blühen. „Was wenn...“, flüsterte er. „Du hast die Wahl.“ Dumbledore stand vor ihm, und gleichzeitig auch nicht mehr. Seine Stimme war wie eine Brise in Harrys Kopf. Ein trauriges Windspiel. „In deinen Gedanken besitzt du so viel Freiheit, wie du es dir selbst erlaubst. Sobald du etwas denkst, hast du die Wahl, ob du diesen Gedanken belässt... oder ihn Wirklichkeit werden lassen möchtest. Mit einer Priese Willensstärke, wird alles, was du dir vornehmen willst mit Sicherheit Früchte tragen, meinst du nicht auch? Und... von dieser Stärke besitzt du im Überfluss, mein Junge.“ Harry kniete sich vor dem Stuhl hin. Das Wesen darunter hatte die Augen geschlossen und atmete ungleichmäßig. Es hatte die Kraft verloren weitere Laute von sich zu geben. „Doch sei dir dessen bewusst, dass diese Seele längst dem Tod gehört... und diejenigen, die endgültig gefunden wurden, lässt der Tod nicht so einfach wieder los...“ „Volde... Tom Riddle hatte nie verstanden, wie es ist, das Leben zu... zu respektieren“, sagte Harry und berührte sanft die verwundete Wange des kleinen Geschöpfs. „Die ganze Zeit dachte er an die Unsterblichkeit und den Tod. Vielleicht wenn dieser Seelenteil zu verstehen beginnt und er dorthin zurückgeht, wo er hingehört...“ Würde Voldemort sich dann ändern? Würde er sich nicht mehr vom Hass blenden lassen und über seine Taten nachdenken, über all die Dinge, die er gedankenlos vernichtet hatte, all die Zeit, die er damit verschwendet hatte, seiner Angst zu entkommen, statt mit seinem magischen Talent sinnvoller umzugehen? Harry wusste nicht, ob er die richtige Entscheidung traf und ob es überhaupt möglich war, den Tod zu bestehlen, und ob er am Ende das Ganze nicht doch noch bereuen würde – aber die Idee war geboren und wuchs und biss sich in seinem Kopf fest. Mit vorsichtigen Händen hob er Voldemorts Seele auf. Die Umgebung verschwand. Ein Glucksen war zu vernehmen, das von überall herzukommen schien. „Dann viel Erfolg, Harry“, erklang Dumbledores Stimme, die mit einem Echo an Klarheit verlor, „und viel Glück...“ _____________________________ (1) aus 'Harry Potter und die Heiligtümer des Todes', Kapitel: 'King’s Cross' Kapitel 1: † Neujahr † ---------------------- Seine Gedanken erwachten aus einem langen Traum voller Dunkelheit. Etwas Warmes hob ihn hoch in die kalte Luft, die nach Medizin und Metall roch. Er war nackt, nass und klein. Er war schutzlos und schwach. Sollte das so sein? War er nicht immer schon so hilflos gewesen? „Es ist fast eine Stunde vergangen, aber er regt sich nicht. Bist du sicher, dass er noch atmet?“ Er erinnerte sich an einen einsamen Ort, einen Stuhl, grüne Augen und seine Unfähigkeit sich zu bewegen. „Ja. Was ist mit seiner Mutter?“ Nein. Das war ein Traum. Denn er erinnerte sich auch, dass er kurz vor dem Sterben lag – liegen sollte – aber das konnte nicht sein, denn er war am Leben. „Sie ist eingeschlafen. Ihre Atmung ist etwas unregelmäßig und ihr Puls ist schwach, trotzdem de –“ Jemand hustete, wand sich umher, versuchte nach Luft zu schnappen. Es waren sehr vertraute Geräusche, nur kamen sie diesmal nicht von ihm. Eine Weile hörte er fasziniert zu, bis schließlich Stille eintrat... „Ist sie...?“ ... und auch der Tod, welcher sein Innerstes kurz berührte, bevor dieser sich zurückzog und etwas anderes wegnahm. Wie seltsam, dachte er. „Ja...“ Als er zum ersten – oder zum zweiten, zum dritten, zum abertausendsten – mal die Augen öffnete, sah er drei Frauen. Die Erste hielt ihn mit blutigen Händen und untersuchte ihn kritisch, während die Zweite respektvoll ein weißes Tuch über den toten Körper der Dritten legte. „Tom Vorlost Riddle hat sie dich genannt“, sagte die Erste. „Vorlost – ein seltsamer Name, was dein Großvater da hat.“ „Sie sollten ihn lieber schnell waschen und warm halten, sonst wird er krank“, wurde die Erste von der Zweiten erinnert, die neben dem  Totenbett stand. „Das sollte ich. Geh du zu Mr Brenton und sage ihm, er solle sich um ihre Leiche kümmern.“ Die Zweite nickte und huschte aus dem Zimmer. Die Schritte hallten durch das Haus. Ein Seufzen erklang. „Dass du überlebt hast, ist ein Wunder“, murmelte die Erste. „Wärst du nur nicht so still, dann könnte ich deine Geburt als gutes Omen  deuten...“ Er wurde gegen ihre warme Brust gedrückt und sie verließ mit ihm in den Armen nun ebenfalls das Zimmer. Der nächste Raum war eine langgestreckte Halle. Sie war spärlich beleuchtet und weitaus kälter, als der Raum mit der Toten. Am anderen Ende kam ein alter, buckliger Mann die Steintreppe hinunter und humpelte auf sie zu. Die müden Augen des anderen streiften seine eigenen. „Gerade jetzt, wenn es mit der Nahrungsversorgung heikel wird“, sagte der Mann zu sich selbst, dann sah er auf. „Das arme Mädchen ist also  gestorben?“ „Ja, Mr Brenton.“ „Kein Wunder. Wandert alleine bei diesem eisigen Wind durch den hohen  Schnee, hochschwanger – und nun sind wir ein Bewohner mehr. Gott  helfe uns, dass wir genug haben, um alle gierigen Mägen im Haus zu sättigen.“ Der Mann lief an sie vorbei und die Erste brachte Tom in das Badezimmer. Wärme, Wasser und Seifenschaum berührten seinen schutzlosen Körper. Er sah nur kurz auf die winzigen Seifenblasen, dann sah er hoch in das Gesicht der Frau, die neugierig zurückblickte. Ihr Gesicht war das einer Fremden, und doch war es ihm bekannt. Das war vorerst aber nicht so wichtig. Als die Erste ihn trocknete und in ein frisches, aber löchriges Tuch einwickelte, öffnete er seinen zahnlosen Mund, um nach Nahrung zu fragen, aber seine Stimme war noch nicht bereit, richtige Wörter zu formulieren, also schloss er seinen Mund wieder. Die Frau schien allerdings intelligent genug, ihn zu verstehen. „Du willst bestimmt Milch.“ Er wurde wieder hoch gehoben und warm umarmt. Sie verließen das Badezimmer, durchquerten die Halle und betraten eine Küche. Dort hing eine Wanduhr, deren Sekunden laut tickten, viel zu laut, um ihre Geräusche ignorieren zu können. „Halb zwei“, flüsterte die Frau. „Das neue Jahr hat schon längst begonnen. Nichts hat sich verändert.“  Tom gab ihr recht. Doch sie beide täuschten sich, denn bald würde ein fünfjähriger Junge mit rabenschwarzen Haaren und grünen Augen an der Tür klopfen. Die  Helferin von Mr Brenton, die sich um Tom kümmerte, würde einem gewissen Harry Potter Einlass gewähren, und nicht nur dessen Füße  würden über die Türschwelle treten sondern auch etwas, das nicht  sein sollte. Noch nicht. Kapitel 2: † Verbrannt † ------------------------ Dawbrook Junior School lag nicht weit vom Waisenhaus entfernt. Höchstens zehn Minuten Fußmarsch und drei Straßen, die zu überqueren waren. Lang und beschwerlich genug für die Erzieherinnen, die dafür sorgen mussten, dass alle Sieben- bis Elfjährigen heil in die Schule gebracht und auch vollständig wieder zurückgeholt wurden. „Lauf ein wenig schneller, Dennis!“, ermahnte Miss Glade den achtjährigen Jungen, der fasziniert einem Ehepaar mit Hund hinterher stierte. Der aufgeweckte Vierbeiner war klein und das weiße Fell wirkte unglaublich flauschig. „Wäre toll, wenn mich jemand adoptiert, der ein Haustier besitzt“, sagte Dennis, der sich nach weiteren Ermahnungen wieder der Gruppe anschloss und neben Amy und Edwin zum Stehen kam. „Tiere sind mir nicht so wichtig. Ich will nur, dass jemand Nettes mich abholen kommt“, kam es von Amy. „Die eine Frau, die gestern da war, die hätte ich gerne als Mutter. Die war nett! Und ihr Mann war auch in Ordnung.“ Edwin zuckte die Schultern und rückte seine dicke Hornbrille zurecht. „Meinst du? Was ist, wenn sie nur so getan haben? Ich habe zum Beispiel von Theresa gehört, dass Christina ihr mal einen Brief geschrieben hat. Der geht es gar nicht gut in ihrem neuen Zuhause.“ „Ist ihr was passiert?“, fragte Amy besorgt. „Ihr Adoptivvater schlägt sie manchmal, wenn er betrunken nach Hause kommt, glaube ich.“ „Dann möchte ich lieber im Waisenhaus bleiben“, entschied sich Amy missmutig. Tom, der vor ihnen lief und als Einziger nahe genug war, um ihr Gespräch belauschen zu können, schnaubte abfällig. Edwin und Amy sprachen jedoch weiter miteinander und hörten ihn nicht. Dennis aber funkelte diesen böse an. „Hast du was zu sagen, Tom?“, fragte Dennis genervt. Tom Riddle war ein Jahr jünger als er selbst und er konnte ihn überhaupt nicht leiden. Tom war oft still, spielte nie mit den anderen Waisen oder Mitschülern, und war meistens in irgendwelchen Büchern vertieft, die keine Bilder hatten. Wenn Tom sich draußen auf dem Vorhof des Waisenhaus doch einmal zeigte, dann nur um beim Zaun zu sitzen und sie alle aufs Genauste zu beobachten – und das war immer sehr unheimlich, denn seltsame Dinge passierten, sobald dessen Interesse geweckt wurde. Menschen wurden verletzt, Dinge verschwanden, Unmögliches geschah. Leider gab es keine Beweise, dass Tom der Schuldige für die vielen Vorfälle im Waisenhaus war. Dennis erinnerte sich, wie Helena, die im zweiten Stock wohnte, vor zwei Monaten angefangen hatte in Richtung der Steintreppe zu torkeln. Wie eine Betrunkene, nur war sie es nicht gewesen. Sie hatte hysterisch geschrien, dass ihre Beine sich von alleine bewegen würden, und als er versuchte sie von den Stufen wegzuzerren, rannte sie los. Er spähte zu dem Mädchen den mit rotblonden Haaren, die mit Krücken neben Theresa humpelte und über etwas lachte. Sie war eines der nettesten Mädchen überhaupt. Hilfsbereit, verständnisvoll und die Lieder, die sie auf ihrer Mundharmonika spielte, waren ziemlich gut, befand Dennis. Hübsch war sie auch, selbst mit den vielen Narben im Gesicht. Niemand wusste genau, wie dieser Unfall geschehen konnte, aber die Waisenkinder und langsam auch die Erzieherinnen, ahnten, dass bei solchen mysteriösen Dingen Tom seine Finger im Spiel haben musste. Vor allem Dennis war sich seitdem hundertprozentig sicher gewesen. Tom hatte schließlich am Fuße der Treppe gestanden und gegrinst. Gegrinst! Als die Erzieherinnen gekommen waren, hatte dieser ganz besorgt getan, doch Dennis würde die Schadenfreude des anderen nicht vergessen. In der Schule gab es zum Glück noch keine Zwischenfälle. Dort benahm sich der arme, unverstandene Waise wie ein wahrer Musterschüler. Er war beliebt bei den Lehrern und von den Schülern, mit denen er nicht unter demselben Dach lebte, wurde er angehimmelt. Ein Genie, sagten sie alle. Tom Riddle war ein Wunderkind. Von wegen Wunder! Dennis presste die Lippen zusammen, als er komplett ignoriert wurde. Er hätte es eigentlich wissen sollen. Der andere sprach nur, wenn dieser etwas wollte.Verwöhntes, eingebildetes Wunderkind! Wütend griff Dennis Toms Ärmel und wollte daran ziehen, um auf sich aufmerksam zu machen, aber mit einem Schmerzenslaut ließ er los. Es war, als hätte er sich verbrannt. Die Finger, die Toms Kleidung berührt hatten, waren voller Schwielen und taten höllisch weh. Amy und Edwin zogen erschrocken die Luft ein, als sie ihr Gespräch unterbrachen, um nachzusehen, was mit ihm los war. „Tom“, presste Dennis zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Miss Glade! Miss Glade“, schrien Amy und Edwin kurz danach und schoben den Verletzten nach vorne durch die Gruppe der plappernden Kinder, die nichts bemerkt hatten. Nachdem sie Dennis Hand erblickten, wurden sie sogleich ruhiger und traten eilig zur Seite. Einige fragten ihn, was geschehen war, oder flüsterten untereinander, um ihre Vermutungen auszutauschen. Dennis sah aus den Augenwinkeln, wie Helena nervös ihren Kopf zwischen ihre Schultern duckte und Tom hin und wieder verstohlene Blicke zuwarf. „Was ist denn nun schon wieder?“, fragte Miss Glade erschöpft und wandte sich zu den Sprechern. Amy hob Dennis Hand hoch. Miss Glade weitete die Augen. „Was um Himmels Willen –“ „Tom hat das gemacht!“, sagte Amy und zeigte auf den Übeltäter, der verwirrt zu ihnen nach vorne sah. „Er hat Dennis verbrannt!“ „Das habe ich nicht“, verteidigte sich der Angeklagte. „Tom!“, rief Miss Glade streng. „Komm her, Tom!“ Augenrollend tat der Junge, was verlangt wurde und ließ zu, dass seine Taschen – Jackentasche, Hosentasche, Schultasche – von der Frau durchsucht wurden. Aber da war nichts, das jemanden Verbrennungswunden erleiden lassen konnte. Sie gab Tom die Schultasche zurück, deren Inneres ein wenig durcheinander gebracht wurde, und sah zu Dennis. „Wie hat er dich verbrannt?“ „Mit seinem Ärmel!“ Einige Kinder prusteten und Dennis presste die Lippen zusammen. „Bist du dir sicher, dass es sein Ärmel war?“, fragte Miss Glade ungläubig. Sie sah zu Tom, der die Augenbrauen anhob und die Schultern zuckte. Dennis nickte wild, äußerst genervt, dass Tom so gut den Braven spielen konnte. „Ja! Ich habe ihn nur kurz angefasst und dann tat meine Hand weh.“ „Amy und ich, wir haben es auch gesehen“, versuchte Edwin seine Aussage zu bekräftigen. „G-Genau“, stimmte Amy mit ein. Ihre Stimmen klangen jedoch so unsicher, dass keiner ihnen recht glauben konnte, bemerkte Dennis enttäuscht. Wenigstens versuchen sie es und ließen sich nicht einfach täuschen. „Aber Tom hat nichts an sich, das so etwas machen kann“, sagte Miss Glade kopfschüttelnd. Dennis, Amy und Edwin protestierten. Die anderen Kinder murmelten untereinander. Manche zweifelten, denn es war für viele beinahe eine Tatsache, dass Tom kein Unschuldslamm war. Miss Glade versuchte alle zu beruhigen und wieder in Bewegung zu setzen. „Wir haben jetzt keine Zeit, um weiter darüber zu reden“, sagte sie scharf und die Kinder hielten gehorsam die Münder. „Mrs Cole wird sich sonst wundern, wo wir stecken und dann gibt es mächtigen Ärger!“ Für die fünfzehn Minuten Verspätung gab es wie erwartet eine Standpauke, bevor Mrs Cole, die seit dem Tod von Mr Brenton im Winter des vorherigen Jahres zur neuen Leiterin des Hauses ernannt worden war, Dennis zum Verarztungszimmer schickte und mit Miss Glade in ihr Büro huschte, um über den neusten Vorfall zu reden. Die restlichen Waisenkinder und Erwachsenen des Hauses, die nicht dabei gewesen waren, wurden von den Wissenden schnell eingeweiht. Wie immer gab es die einen, die kopfschüttelnd das Ganze als Zufall abschoben, während die anderen darüber nachdachten, welche Tricks Tom benutzt haben konnte, um Dennis zu verletzen, ohne diesen selbst zu berühren. „Wie konnte sein Ärmel dich verbrennen?“, fragte Harry, Dennis' zwölfjähriger Zimmergenosse. Neben Mrs Cole war Harry der Einzige, der es schaffte – und wagte –, mit Tom längere Gespräche zu führen. Meist einseitige Gespräche, in denen Harry darauf los quasselte, um über alles zu reden, was diesem gerade einfiel. Es war belustigend und gleichzeitig beängstigend mit anzusehen, wie Tom langsam aber stetig die Geduld verlor, bis dieser entweder widerwillig etwas zum Gespräch beitrug oder einfach wegging. Harry blieb nach solchen Situationen immer unbeschadet – und war das nicht genauso mysteriös, wie all die Unfälle? „Das – das weiß ich nicht“, antwortete Dennis zögerlich. „Ich weiß nur, dass Tom etwas damit zu tun hat.“ „Der is’ schon ziemlich seltsam“, nuschelte Aron, der bäuchlings auf Harrys Bett lag. Aron war im selben Alter wie Harry und aus Langeweile kam dieser öfters zu ihnen ins Zimmer, da dessen Zimmergenosse seit mehreren Tagen nicht mehr gefunden werden konnte. Abgehauen und umgekommen, munkelten manche. Dennis hatte vermutet, dass dieser womöglich ein Geheimnis von Tom entdeckt hatte und deshalb aus dem Weg geschafft wurde. Harry und vor allem Aron hatten dazu nichts sagen wollen, also wurde das Thema in Ruhe gelassen. „Was wenn es wirklich nur ein Zufall war? Vielleicht hast du deine Finger zu schnell weggezogen und die Reibung war schuld an allem“, schlug Harry vor, der auf einem Stuhl vor dem Fenster saß und nach draußen starrte. Dennis grummelte. „Kann sein, aber ich wette, Tom hat das gefreut! Der ist immer gut gelaunt, wenn andere verletzt werden.“ „Gut möglich“, sagte Harry abgelenkt, zu sehr war dieser auf die kleinen Vögel und den wolkenlosen Himmel konzentriert. Dennis seufzte und rollte sich in seinem Bett zur Seite, um ebenfalls raus zu schauen. Er schwor sich, dass er irgendwann einen Beweis finden würde. Tom konnte dann einpacken! Andere zu verletzen war böse, das wusste Dennis ganz genau. Die Polizei würde vielleicht kommen und den unheimlichen Jungen sogar in eine Zelle sperren, und dann würden sie Dennis eine Medaille geben, oder ähnliches. Ja, das wäre toll! Vor seinem geistigen Auge sah er alle Waisenkinder, die ihm bewundernde Blicke zuwarfen, während Mrs Cole und ihre Helferinnen in seinem Namen ein Fest veranstalteten. Die Kinder und Lehrer aus seiner Schule waren auch da und schüttelten begeistert seine Hände. Sie schämten sich, dass sie einem solchen Monster wie Tom je Vertrauen schenken konnten, und dankten ihm, dass er sie alle gerettet hatte... Eine laute Frauenstimme holte ihn aus seinen Wunschgedanken. Miss Glade verkündete, dass es Zeit war, um zu Abend zu essen. Dennis und Harry wurden von einem hungrigen Aron aus Zimmer gezogen. Kapitel 3: † Wie weißer Schnee † -------------------------------- Der Himmel war grau und mit weißen Punkten überseht. Der erste Schnee dieses Jahres. Harry lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe. Er dachte an schneeweiße Eulen, aber keine Eule, kein einziger Vogel ließ sich blicken. Warum dachte er so oft an Eulen? Seit seinem elften Geburtstag hörte er sie in seinen Träumen rufen. Flügelrauschen und... Menschen, die wütend darüber waren. Menschen, die nicht wollten, dass er die Eulen sah. Nein. Nicht die Eulen. Etwas anderes sollte er nicht sehen. Etwas, das mit Eulen zu tun hatte. Papier? Nein, warte... Briefe! Ja genau, Briefe. Harry rieb sich die Schläfe und seufzte schwer. Er hatte keine Zeit für solche Gedanken. Bald würde ein Ehepaar das Waisenhaus besuchen und jedes Kind sollte sich so gut es ging herausputzen und sich benehmen. Eine Adoption war der Traum von vielen Waisenkindern. Eine Familie und die Chance eine gute Zukunft aufbauen zu können. Mit seinem Gedächtnisverlust war Harry oft einer der Letzten, der von den möglichen Eltern begutachtet wurde. Er hatte keine Probleme in der Schule, wurde nie schwer krank, er benahm sich, war höflich und freundlich und hilfsbereit. Ein Wunschkind vieler – und dennoch bedachte man ihn mit Skepsis. Anscheinend war für die meisten ein Gedächtnisverlust so schlimm wie die schlimmste mentale Krankheit überhaupt, und sie befürchteten, er, eine beschädigte 'Ware', würde in naher Zukunft verdummen. Ein dummes, sabberndes Kind war peinlich. Harry war es egal, was sie dachten. Irgendwann würde er sowieso seine eigenen Wege gehen müssen. Er würde nicht aufgeben, er würde überleben. Das war schon immer das, was er getan hatte... soweit er sich jedenfalls erinnern konnte. Er zog eine Grimasse. Manchmal wünschte er sich etwas mehr über seine Vergangenheit zu wissen. Er vermutete jedoch stark, dass Eulen etwas mit ihr zu tun hatten. Er fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, um die wilde, schwarze Mähne ein wenig zu bändigen. Ohne Erfolg. Nun denn. Die Auswahl verlief relativ schnell. Edwin Tarry war der Glückliche und der Junge wurde sofort aufgefordert seine Sachen zu packen. Es gab eine Testwoche, in welcher er bei seinen zukünftigen Eltern leben durfte, damit sie sich näher kennen lernen konnten. Wenn alles gut ging, war die Adoption vollendet und er würde den Familiennamen Oakwood tragen. Seine besten Freunde Dennis und Amy freuten sich für ihn, aber so sehr sie sich bemühten, es nicht zu zeigen, ihr Neid war zu bemerken. Fast beschämt verabschiedete Edwin sich von allen, nachdem er die enttäuschten Gesichter der anderen, die weiterhin im Waisenhaus bleiben mussten, sah. Harry machte sich deshalb extra viel Mühe dem Jungen ein breites Lächeln zu schenken. „Ich bin mir sicher, dass du die Testwoche bestehst!“, sagte er, klopfte Edwin bestärkend auf den Rücken und machte eine Kopfbewegung zu dem Ehepaar, die noch ein wenig mit Mrs Cole plauderten. „Scheinen ziemlich freundlich zu sein.“ „Das finde ich auch“, sagte Edwin kleinlaut, jedoch war die Freude in seinen Augen abzulesen. „Danke Harry.“ –––––––––––– ‹†› –––––––––––– „Du bist ja so ein netter Junge“, war Toms spöttischer Gruß, nachdem Harry sein Zimmer betrat. „Bin froh, dass du das so siehst“, meinte Harry fröhlich. Tom rollte die Augen und nahm ohne nach Erlaubnis zu fragen das kleine Buch, das Harry in den Händen hielt. „Goethes Faust?“ „Aron und ich müssen das gerade in der Schule lesen, aber die Bücher dort können wir nicht mitnehmen. Zum Glück hat Mrs Cole mir ihres ausgeliehen“, antwortete Harry, der sich auf Toms Bett breit gemacht hatte. Der andere Junge verzog den Mund, als hätte er etwas Grässliches gehört. „Die Vorteile eines Lieblingskindes“, sagte Tom spröde und setzte sich auf den einzigen Stuhl, den er besaß, hin. „Neidisch?“, fragte Harry frech grinsend. „Rede keinen Unsinn.“ Tom fuhr mit dem rechten Zeigefinger über den Titel des Buches. „Kommt diese Lektüre nicht etwas zu früh?“ „Keine Ahnung. Der Lehrer mag 'Faust' und hat keine Lust zu warten, glaube ich“, antwortete Harry schulterzuckend. „Du kannst es gerne auch lesen, aber heimlich“, bot Harry an. „Mrs Cole, Martha und Miss Glade trauen dir nicht, seitdem sie letztes Jahr dein Diebesversteck gefunden haben.“ Tom schnaubte. „Erst letztes Jahr?“ „Sei einfach vorsichtig, dass Mrs Cole dich nicht damit sieht“, warnte Harry. „Vergiss nur nicht, dass ich es auch brauche, bevor die Ferien zu Ende sind, ja?“ „Du denkst also, dass 'Faust' mich interessiert?“ „Ich denke, du langweilst dich so oft, dass jedes Buch dich interessieren wird. Auch Bilderbücher für Kleinkinder!“ Harry unterdrückte ein Kichern, als dunkle Augen ihn wütend anfunkelten. „Ach, sei doch nicht so! Ich weiß noch, als du gerade ein Jahr alt wurdest, da hast du mich beinahe gezwungen, mit dir eines der alten Kinderbücher anzuschauen –“ „Pass auf, dass du nicht gleich eine 'Faust' ins Gesicht bekommst“, grummelte Tom und Harry vergrub sein Gesicht in das Kissen, um einen Lachanfall abzuwürgen. Er wollte den Siebenjährigen nicht noch mehr reizen, auch wenn es ihm unheimlich viel Spaß bereitete. Das war der Grund, warum Harry von den meisten Waisenkinder als verrückt abstempelt wurde. Durch die Tür hörten sie Fußgetrappel und mehrere ihrer Hausmitbewohner, die unbeschwert lachten. Die Stimme von Miss Glade folgte, aus der Puste und mahnend, dass niemand im Haus herumrennen sollte. „Ich gebe es dir morgen wieder“, sagte Tom schließlich und begann ein paar Seiten zu lesen. Dann noch eine Seite und noch eine und noch eine und Harry seufzte. „Willst du etwa jetzt alles durchlesen?“ Tom sah nicht auf. „Was meinst du, was ich gerade mache?“ „Das Buch rennt nicht weg. Lies später weiter“, forderte Harry ihn auf. „Ich möchte mich mit dir unterhalten.“ „Du rennst genauso wenig weg, also kann unsere Unterhaltung ebenfalls auf später verschoben werden. Alles was aus deinem Mund kommt ist eh meist sinnloses Zeug. Warum gehst du jetzt nicht einfach aus meinem Zimmer und lässt mich in Ruhe?“ Harry schmollte und ignorierte Tom für eine Weile. Seine Gedanken wanderte zu den Eulen. Eine von ihnen, schneeweiß und stolz, blieb in seinem Kopf hängen. Sie fühlte sich wie... Familie an. Die Schneeeule und das Wort 'Familie' passten perfekt zusammen, so befand er, auch wenn der genaue Grund ihm schleierhaft erschien. Harry rollte im Bett ein paar mal umher, bis er schließlich quer und bäuchlings dalag, mit dem Kopf auf seine verschränkten Arme positioniert und den Blick auf Tom gerichtet. „Als ich elf wurde, habe ich von Eulen geträumt“, redete Harry darauf los. Der andere Junge hob die Augenbrauen, den Mund genervt zusammengepresst. Wenigstens hörte er zu, dachte Harry. „Ich glaube, ich habe mal irgendwo gelebt, wo ich viele Eulen sehen konnte, selbst bei Tag. Manche von denen trugen etwas mit ihren Beinen.“ Harry beobachtete den stetig fallenden Schnee, den er durch das Fenster sah. „Ich bin mir nicht sicher, aber oft war es ein Brief.“ „Ich habe von Brieftauben gehört, aber eine Briefeule?“ Tom schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich hast du mal eine Eule gesehen, die dich so beeindruckt haben muss, dass du von ihr geträumt hast.“ „Es war nicht nur einmal“, sagte Harry hartnäckig. „Dennoch viel zu ungenau, finde ich. Es kann eine Erinnerung sein, gut möglich, oder es ist ein Gespinst deiner viel zu lebhaften Einbildungskraft.“ Auch wenn Tom ihm überhaupt keine Hilfe war – typisch! –, war er dennoch froh, über seinen Traum geredet zu haben. Die Erzieherinnen schienen immer ein wenig besorgt über seinen psychischen Zustand zu sein, wenn er seine seltsamen Gedanken mit ihnen teilte, und mit den anderen Kindern wollte er nicht über seine Probleme reden. Als Waisenkinder hatten sie alle ihre Last zu tragen und er wollte sie nicht mit seiner eigenen belästigen. Tom war anders. Harry konnte ihm seine Sorgen und Ideen an den Kopf schmeißen, ohne dass der andere ihn bemitleidend ansah oder voller Mitgefühl in Tränen ausbrach. Tom war zwar jung, jünger als Harry, aber er machte nicht den Anschein, dass er je zusammenbrechen konnte. All das Unglück, das im Waisenhaus passierte, betrachtete Tom mit einem klaren Blick. Nie verunsichert oder verängstigt. Vielleicht lag es auch daran, dass der Junge derjenige war, der das eine oder andere Unglück heraufbeschworen hatte – eine Vermutung, die viele teilten und zugegeben, selbst Harry zweifelte im Geheimen an Toms Unschuld was mancheUnfälle betraf. Dennoch, es gab keinen festen Beweis und Harry hatte sich, seitdem er im Waisenhaus lebte, immer gerne um Tom gekümmert. Tom war nicht wie die schneeweiße Eule. Es war nicht das Wort 'Familie', das durch Harrys Kopf geschossen war, als er den anderen zum ersten mal gesehen hatte, sondern 'Tod'. Harry runzelte die Stirn. Über dieses kleine Detail wollte er lieber nicht denken. Zurück zur Eule! „Ich glaube fest daran, dass es eine größere Bedeutung haben muss“, verkündete Harry. Tom schnaubte, aber Harry blieb standhaft. „Nein, wirklich! Und du kannst es mir nicht ausreden!“ „Mach was du willst“, sagte Tom. „Das werde ich!“ Dieses warme, freundliche Gefühl, das die schneeweiße Eule Harry vermittelte, wollte er nicht einfach wie Dreck wegfegen und vergessen. Vielleicht fand er diese Eule irgendwann wieder, aber jetzt fiel der Schnee und bald war draußen alles weiß. Das erschwerte die Suche. Eine schneeweiße Eule im weißen Schnee war wie die Nadel im Heuhaufen, oder so ähnlich. Weiß, weiß, weiß. Weiß wie ein Bart und das blendende Licht in einem Bahnhof. Harry stutzte. Bart und Bahnhof? Das machte überhaupt keinen Sinn. „Vielleicht verliere ich doch ein wenig den Verstand“, murmelte er. „Das ist nichts Neues“, stimmte Tom mit einem kleinen Lächeln zu. Kapitel 4: † Amy und Dennis † ----------------------------- „Mary, bleib stehen!“ Amy packte das zweieinhalb Jahre alte Mädchen bei den Schultern fest und entriss den Schuh aus den kleinen Händen. Anscheinend zu schnell und grob, denn die kleine Mary begann lauthals zu weinen an. Na toll, dachte Amy. „Jetzt hör auf zu weinen“, sagte sie so sanft wie möglich, obwohl sie gerade nicht bester Laune war. „Heute beginnt wieder die Schule, ich muss mich wirklich beeilen, verstehst du? Ich wollte dich nicht verletzen, ehrlich nicht!“ Mary drehte ihr den Rücken zu, das Schluchzen wurde heftiger, aber es klang diesmal eindeutig erzwungen. „Amy! Es ist Zeit zu gehen!“, erklang die Stimme von Tante Edith, eine der freundlichsten Erzieherin im Waisenhaus. Sie war natürlich nicht ihre Tante, aber Edith Clement wollte nicht andauernd mit Mrs Clement von den Kindern angesprochen werden. Das klang viel zu distanziert und ließ sie wie eine alte Dame fühlen, obwohl sie doch erst nur ein paar Jahre über dreißig war. Für Amy klang dreißig Jahre sehr alt, aber das behielt sie für sich, schließlich war das unhöflich und sie mochte Tante Edith. Amy rollte die Augen, als Mary, ganz erschrocken von der lauten Stimme, mit dem Weinen aufhörte, dann aufgeregt 'Tante!' rief und zum Eingangsbereich rannte. Ein Problem weniger. Amy beeilte sich den wiedererlangten Schuh anzuziehen, prüfte kurz, ob ihre Uniform ordentlich saß und ob das Innere ihrer Schultasche vollständig war, bevor sie sich hastig ebenfalls zum Eingangsbereich begab. „Meinst du, er wird sich noch an uns erinnern?“, murmelte Dennis zu ihr, als sie das Waisenhaus verließen und Harry zuwinkten, der mit Miss Mills' Gruppe aus älteren Waisen einen anderen Weg gehen musste. „Was meinst du damit“, fragte Amy, auch wenn sie schon genau wusste, wer gemeint war. Sie hatte keine Lust, über diese bestimmte Person zu reden. „Edwin“, nuschelte Dennis, wie wenn er sich auf einmal nicht mehr sicher war, ob er den Namen richtig ausgesprochen hatte. „Oh, Edwin...“ Auch Amy hatte ihre Schwierigkeiten, den Namen auszusprechen. Es waren nur ungefähr drei Wochen vergangen, seitdem Edwin adoptiert wurde, doch genug, um seinen Namen fremd erscheinen zu lassen. Womöglich lag es daran, dass sie und Dennis es vermieden hatten, über den anderen Jungen zu reden. Amys Grund war, dass sie sich schuldig fühlte, nachdem sie sich auf eine so unfreundliche Art und Weise von Edwin verabschiedet hatte. Wahrscheinlich war es das Schuldgefühl, welches auch Dennis so schweigsam gemacht hatte. „Was macht ihr denn für lange Gesichter, ihr zwei“, fragte Tante Edith besorgt. „In die vierte Klasse zu kommen ist doch nichts Beängstigendes.“ Amy sah sich um. Keiner der anderen Kinder beachtete das Schlusslicht der Gruppe, zu sehr waren sie mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt. Und Tom ignorierte alle gleichermaßen. Amy seufzte. „Ist wegen Edwin...“, sagte sie. Dennis blieb still und starrte auf den Boden. „Ah“, machte Tante Edith und lächelte. „Unser Edwin Tarry? Nein, warte – Oakwood heißt er jetzt, nicht?“ „Ja.“ Amy nickte und sah wie Tante Edith verwirrt die Stirn runzelte. „Aber was hat er mit eurer trüben Stimmung zu tun? Gab es etwa Streit, bevor er ging? Befürchtet ihr deshalb ihn zu sehen?“ Amy warf einen Seitenblick zu Dennis, der weiterhin stur den Kopf gesenkt hielt. „Ja“, begann Amy, dann schüttelte sie den Kopf. „Kein richtiger Streit – nun ja –“, sie senkte ihre Stimme, damit wirklich nur Tante Amy und Dennis sie hören konnten, „– ich glaube, ich war etwas wütend, dass Edwin adoptiert wurde und uns verlassen musste, und ich glaube, dass er das bemerkt hat und – und bestimmt ist er wütend und ich habe Angst, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will – und Dennis hat das selbe Problem.“ Amy sah den besagten Jungen durchdringend an, um ihm klar zu machen, dass er auch etwas sagen sollte. „Äh, genau“, war alles, was aus Dennis Mund kam. „So ist das also“, sagte Tante Edith und lächelte. „Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Redet mit Edwin, sagt ihm, dass ihr euch für euer Benehmen immer noch schlecht fühlt. Entschuldigt euch.“ Klang einfach, dachte Amy. Doch was, wenn Edwin die Entschuldigung nicht annahm? Was, wenn er wirklich böse auf sie (und Dennis) war? Mit jemand zur Schule zu gehen, der sie nicht mochte, fand sie nicht so motivierend. Toms Anwesenheit war schon schlimm genug. Bevor sie weiter ihren schlechten Gedanken nachhängen konnte, spürte sie einen nassen Tropfen auf ihrer Oberlippe. Dann zwei weitere auf ihrer Stirn und ihrer rechten Wange. In wenigen Sekunden regnete es in strömen, sodass sie alle die wenigen Meter bis zur Schule rennen mussten. Was für ein mieser Tag. Sie beide sahen Edwin wieder, sie sagten sich hallo, dann taten sie wie Fremde, die nichts miteinander am Hut hatten. Amy hätte gerne das getan, was Tante Edith vorgeschlagen hatte, aber der Mut verließ sie, nachdem sie Edwin mit einem der Nicht-Waisenkinder lachen sah, mit denen sie normalerweise nie sprachen. „Er hat Ersatz gefunden“, sagte Dennis mit einem finsteren Blick, als Edwin sich einen Platz neben seinem neuen Freund suchte. Amy gab jedoch nicht so schnell auf. Immer wieder versuchte sie in den Pausen, Edwin auf sich aufmerksam zu machen, aber nie war dieser allein. Mit all den Nicht-Waisenkindern in der Nähe traute sie sich einfach nicht mit ihm zu reden. Der erste Schultag endete und Amy fühlte sich so müde wie noch nie zuvor. Mehrere Tage vergingen, alles wurde schlimmer, sowohl im Waisenhaus als auch in der Schule. Dennis hatte Edwin ganz aufgegeben und hielt sich immer mehr von Amy fern, um ein Gespräch zu vermeiden. Mit den anderen Mädchen zu sprechen traute sie sich nicht, denn diese hatten ihre eigenen kleinen Gruppen und Amy würde sie vielleicht nur stören. Sie dachte an Harry, aber der ältere Junge war Dennis' Freund. Tante Edith war ihre einzige Rettung aus dieser einsamen Lage. Jedesmal, wenn Tante Edith im Haus war, nahm diese sich die Zeit sich Amys Sorgen anzuhören. Solche Dinge geschahen im Leben immer wieder, hatte Tante Edith gesagt. Freundschaften formten sich und zerbrachen. „Vielleicht wird es zwischen euch dreien wieder besser. Lass dich aber nicht von deiner Trauer und Wut davon abhalten auch mit den anderen Kindern zu reden.“ Aber Amy hatte Angst abgewiesen zu werden. Sie kannte alle Waisenkinder, manche mehr, manche weniger. Doch keiner von ihnen war wie Dennis und Edwin, ihre besten Freunde.Sie waren meine besten Freunde, dachte sie niedergeschlagen. Als ob es nicht noch schlimmer hätte kommen können, war Tante Edith immer weniger im Haus. Eine Erkältung, so sagten die anderen Erwachsenen. Kurz darauf wurde eine Neue gefunden, die Tante Ediths Fehlzeiten übernehmen sollte. Niemand mochte die Neue, auch wenn diese eigentlich ganz in Ordnung war. Jedoch waren sich die Waisenkinder einig, dass Tante Edith nicht ersetzt werden kann. Tante Edith war die Beste. (Tom hatte wahrscheinlich eine ganz andere Meinung). Amy stand beim Fenster ihres Zimmers und seufzte. Das tat sie in letzter Zeit häufiger. Ihre Zimmerkollegin war wieder einmal nicht da. Diese hielt sich bei ihren besten Freunden auf und würde erst zurück kommen, wenn Schlafenszeit war. Draußen taute der Schnee und die ersten Knospen mancher Blumen zeigten sich. Amy wandte sich ab und nahm sich vor, ihre Hausaufgaben zu machen. Gerade als sie über ein paar Rechenübungen grübelte, klopfte es an der Tür. War das eine der Erzieherinnen? Sie krabbelte von ihrem Bett und öffnete die Tür. „Oh“, kam es aus ihrem Mund. „Äh, hallo“, sagte Dennis, der sie kurz ansah, bevor sein Blick in alle möglichen anderen Richtungen ging. Er murmelte etwas Unverständliches. „Was?“, fragte Amy verwirrt, während sie darüber nachdachte, ob das wirklich Dennis war. „Harry will mich nicht in unser Zimmer lassen, wenn – wenn ich nicht mit dir rede“, grummelte Dennis, er sah sich mehrere male im Gang um. „Kann ich rein kommen?“ „Ich weiß nicht“, sagte Amy. „Ich will nur kurz reden“, grummelte Dennis. „Willst du das? Wahrscheinlich nur, weil Harry das gesagt hat.“ Amy wollte ihn ins Zimmer lassen, sie wollte reden, sie wollte, dass alles wieder so war wie früher, aber dass Dennis nicht freiwillig gekommen war, verletzte sie. „Bitte“, presste Dennis hervor. Es klang wie ein Flehen und ein Schimpfwort zu gleich. Amy zögerte, dann trat sie zur Seite. „Du kannst eine Entschuldigung annehmen oder nicht. Sie erst einmal anzuhören löst meist viele Probleme“, hatte mal Tante Edith gemeint. Als Amy die Tür schloss, sah sie zu Dennis, der mit verschränkten Armen das Zimmer anstarrte, als hätte er es noch nie zuvor gesehen. Dabei sahen fast alle Schlafräume der Waisenkinder identisch aus. „Du übst?“, kam es nach einer stillen Ewigkeit von Dennis, der den Behälter für die Kreide und daneben die Schreibtafel sah, auf der ein paar Zahlen standen. „Ja.“ „Das ist doch nur freiwillig. Warum machst du das?“ „Der Lehrer stellt einem gerne Fragen. Ich will nur vorbereitet sein.“ Amy wurde ungeduldig. „Was willst du mit mir bereden, Dennis?“ Wie bei Edwin, klang auch Dennis' Name sehr merkwürdig, wenn sie ihn aussprach. „Ähm, ja. Ich –“ Dennis stockte und schluckte, dann holte er Luft. „Ich wollte mich entschuldigen, es war nicht fair von mir, dich einfach alleine zu lassen, nur weil ich auf E-Edwin sauer bin. Ich hatte Angst, dass du mich hassen würdest, weil ich ihn nicht mehr als Freund haben will, aber dann habe ich dich ignoriert und als ich gemerkt habe, was ich da mache, habe ich mich nicht mehr getraut, dich anzusprechen, schließlich musst du ja sauer sein deswegen – das kann ich verstehen, wirklich! Wäre selbst sauer, wenn du das mit mir getan hättest ohne irgendetwas zu sagen und ich – ich wollte das wirklich nicht! Ich habe mit Harry geredet, aber er wollte nicht andauernd dasselbe hören und – und –“ Dennis ah zu Boden und flüsterte: „Es tut mir wirklich, wirklich leid...“ Sie beide bliebe still. Amys Hals tat weh, auch ihr Kopf, ihre Brust, ihre Augen, also weinte sie. Sie konnte nicht anders. All diese schlechten Gefühle wollten raus. Als sie schluchzte sah Dennis alarmiert auf. „Oh nein! Tut mir leid!“, sagte er hektisch und etwas bleich im Gesicht. Er machte einen Schritt zu ihr, aber blieb dann verängstigt stehen. „Ich kann gehen, wenn du willst! Ich wollte dich nicht traurig machen, also... ja, ich gehe dann mal.“ Bevor er an ihr vorbei gehen konnte, öffnete sich die Tür und Helena, Amys Zimmergenossin kam herein. „Huch“, sagte sie, dann sprach sie mit besorgter Stimme weiter: „Amy? Ist alles in Ordung?“ „J-Ja“, schaffte es Amy zu antworten. „Aber du weinst...“ Helena sah Dennis urteilend an, welcher schuldbewusst zur Seite blickte und rot um die Nase wurde. Amy wusste, wie sehr er Helena mochte. Er musste sich nun doppelt so schlecht fühlen, jetzt da er für das andere Mädchen in einem schlechte Licht stand. „Bist du dir sicher, dass es dir gut geht? Hat Dennis –“ Amy schüttelte den Kopf, ihr Schluchzen hatte aufgehört und sie wischte sich die Tränen von den Wangen. „Mir geht es besser“, sagte Amy. Viel besser, dachte sie, als sich ihr Kopf und ihre Brust wie befreit fühlten. „Dennis und ich hatten ein Missverständnis, aber jetzt ist alles wieder gut.“ „Wirklich“, kam es von Helena erleichtert und von Dennis hoffnungsvoll. „Ja“, sagte sie und lächelte beide an. Dann nickte sie zu Dennis, um ihm zu vermitteln, dass sie die Entschuldigung angenommen hatte. „Ich bin ja so froh, dass ihr euch wieder vertragen habt“, kam es seufzend von Helena. „Du warst so oft im Zimmer und hast so traurig ausgesehen, Amy. Ich war wirklich besorgt. Ich wollte mit dir reden, aber irgendwie hast du so gewirkt, als wolltest du deine Ruhe haben. Ich fühle mich schuldig, dass ich dir nicht helfen konnte...“ „Ist schon in Ordnung“, war alles, was Amy dazu sagen konnte. Helenas Sorge verwirrte sie, denn sie dachte nicht, dass irgendeine andere Person, mit der sie wenig zu tun hatte, es kümmerte, was sie tat. Irgendwie machte sie das glücklich. „Ich werde mich in Zukunft bessern“, versprach Helena. „Ach ja! Ich bin eigentlich gekommen, um dir zu sagen, dass es Abendessen gibt. Ich hab dich am Tisch nicht gesehen, also habe ich Mrs Cole gesagt, dass ich dich hole. Dennis war auch nicht da, aber Harry meinte, er würde schon noch kommen. Jetzt weiß ich ja, warum ihr beide gefehlt habt!“ „Dann... dann gehen wir besser runter“, sagte Dennis immer noch nervös. „Ja, lasst uns essen“, sagte Amy. Sie fühlte sich seit Ewigkeiten nicht mehr so hungrig wie in diesem Augenblick. In den nächsten Tagen war Dennis wieder häufiger mit Amy unterwegs. Es war nicht ganz wie früher, denn er unternahm auch viel mit den anderen Waisenjungen zusammen, aber das war nicht mehr so schlimm. Amy hatte in Helena eine gute Gesprächspartnerin gefunden und weil Helena mit Theresa befreundet war, fing auch zwischen Theresa und Amy eine engere Freundschaft an zu wachsen. Als sie Harry über dem Weg lief, bedankte sie sich bei ihm und ignorierte Tom, welcher in der Nähe gewesen war und irgendwelche Beleidigungen vor sich hin murmelte. „Gut, dass ihr euch wieder vertragen habt!“, sagte Harry. „Auf die Sommerferien müssen wir zwar noch lange warten, aber wäre schade, wenn ihr bis dahin immer noch schlecht gelaunt seid.“ Amy stimmte zu. Für diesen Sommer stand das Meer auf dem Plan und sie liebte es, am Meer zu sein. „Ich freue mich schon!“, sagte sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)