Ein Lied des ersten Rabenflugs von HDG0chrysopras (TR x HP) ================================================================================ Kapitel 4: † Amy und Dennis † ----------------------------- „Mary, bleib stehen!“ Amy packte das zweieinhalb Jahre alte Mädchen bei den Schultern fest und entriss den Schuh aus den kleinen Händen. Anscheinend zu schnell und grob, denn die kleine Mary begann lauthals zu weinen an. Na toll, dachte Amy. „Jetzt hör auf zu weinen“, sagte sie so sanft wie möglich, obwohl sie gerade nicht bester Laune war. „Heute beginnt wieder die Schule, ich muss mich wirklich beeilen, verstehst du? Ich wollte dich nicht verletzen, ehrlich nicht!“ Mary drehte ihr den Rücken zu, das Schluchzen wurde heftiger, aber es klang diesmal eindeutig erzwungen. „Amy! Es ist Zeit zu gehen!“, erklang die Stimme von Tante Edith, eine der freundlichsten Erzieherin im Waisenhaus. Sie war natürlich nicht ihre Tante, aber Edith Clement wollte nicht andauernd mit Mrs Clement von den Kindern angesprochen werden. Das klang viel zu distanziert und ließ sie wie eine alte Dame fühlen, obwohl sie doch erst nur ein paar Jahre über dreißig war. Für Amy klang dreißig Jahre sehr alt, aber das behielt sie für sich, schließlich war das unhöflich und sie mochte Tante Edith. Amy rollte die Augen, als Mary, ganz erschrocken von der lauten Stimme, mit dem Weinen aufhörte, dann aufgeregt 'Tante!' rief und zum Eingangsbereich rannte. Ein Problem weniger. Amy beeilte sich den wiedererlangten Schuh anzuziehen, prüfte kurz, ob ihre Uniform ordentlich saß und ob das Innere ihrer Schultasche vollständig war, bevor sie sich hastig ebenfalls zum Eingangsbereich begab. „Meinst du, er wird sich noch an uns erinnern?“, murmelte Dennis zu ihr, als sie das Waisenhaus verließen und Harry zuwinkten, der mit Miss Mills' Gruppe aus älteren Waisen einen anderen Weg gehen musste. „Was meinst du damit“, fragte Amy, auch wenn sie schon genau wusste, wer gemeint war. Sie hatte keine Lust, über diese bestimmte Person zu reden. „Edwin“, nuschelte Dennis, wie wenn er sich auf einmal nicht mehr sicher war, ob er den Namen richtig ausgesprochen hatte. „Oh, Edwin...“ Auch Amy hatte ihre Schwierigkeiten, den Namen auszusprechen. Es waren nur ungefähr drei Wochen vergangen, seitdem Edwin adoptiert wurde, doch genug, um seinen Namen fremd erscheinen zu lassen. Womöglich lag es daran, dass sie und Dennis es vermieden hatten, über den anderen Jungen zu reden. Amys Grund war, dass sie sich schuldig fühlte, nachdem sie sich auf eine so unfreundliche Art und Weise von Edwin verabschiedet hatte. Wahrscheinlich war es das Schuldgefühl, welches auch Dennis so schweigsam gemacht hatte. „Was macht ihr denn für lange Gesichter, ihr zwei“, fragte Tante Edith besorgt. „In die vierte Klasse zu kommen ist doch nichts Beängstigendes.“ Amy sah sich um. Keiner der anderen Kinder beachtete das Schlusslicht der Gruppe, zu sehr waren sie mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt. Und Tom ignorierte alle gleichermaßen. Amy seufzte. „Ist wegen Edwin...“, sagte sie. Dennis blieb still und starrte auf den Boden. „Ah“, machte Tante Edith und lächelte. „Unser Edwin Tarry? Nein, warte – Oakwood heißt er jetzt, nicht?“ „Ja.“ Amy nickte und sah wie Tante Edith verwirrt die Stirn runzelte. „Aber was hat er mit eurer trüben Stimmung zu tun? Gab es etwa Streit, bevor er ging? Befürchtet ihr deshalb ihn zu sehen?“ Amy warf einen Seitenblick zu Dennis, der weiterhin stur den Kopf gesenkt hielt. „Ja“, begann Amy, dann schüttelte sie den Kopf. „Kein richtiger Streit – nun ja –“, sie senkte ihre Stimme, damit wirklich nur Tante Amy und Dennis sie hören konnten, „– ich glaube, ich war etwas wütend, dass Edwin adoptiert wurde und uns verlassen musste, und ich glaube, dass er das bemerkt hat und – und bestimmt ist er wütend und ich habe Angst, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will – und Dennis hat das selbe Problem.“ Amy sah den besagten Jungen durchdringend an, um ihm klar zu machen, dass er auch etwas sagen sollte. „Äh, genau“, war alles, was aus Dennis Mund kam. „So ist das also“, sagte Tante Edith und lächelte. „Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Redet mit Edwin, sagt ihm, dass ihr euch für euer Benehmen immer noch schlecht fühlt. Entschuldigt euch.“ Klang einfach, dachte Amy. Doch was, wenn Edwin die Entschuldigung nicht annahm? Was, wenn er wirklich böse auf sie (und Dennis) war? Mit jemand zur Schule zu gehen, der sie nicht mochte, fand sie nicht so motivierend. Toms Anwesenheit war schon schlimm genug. Bevor sie weiter ihren schlechten Gedanken nachhängen konnte, spürte sie einen nassen Tropfen auf ihrer Oberlippe. Dann zwei weitere auf ihrer Stirn und ihrer rechten Wange. In wenigen Sekunden regnete es in strömen, sodass sie alle die wenigen Meter bis zur Schule rennen mussten. Was für ein mieser Tag. Sie beide sahen Edwin wieder, sie sagten sich hallo, dann taten sie wie Fremde, die nichts miteinander am Hut hatten. Amy hätte gerne das getan, was Tante Edith vorgeschlagen hatte, aber der Mut verließ sie, nachdem sie Edwin mit einem der Nicht-Waisenkinder lachen sah, mit denen sie normalerweise nie sprachen. „Er hat Ersatz gefunden“, sagte Dennis mit einem finsteren Blick, als Edwin sich einen Platz neben seinem neuen Freund suchte. Amy gab jedoch nicht so schnell auf. Immer wieder versuchte sie in den Pausen, Edwin auf sich aufmerksam zu machen, aber nie war dieser allein. Mit all den Nicht-Waisenkindern in der Nähe traute sie sich einfach nicht mit ihm zu reden. Der erste Schultag endete und Amy fühlte sich so müde wie noch nie zuvor. Mehrere Tage vergingen, alles wurde schlimmer, sowohl im Waisenhaus als auch in der Schule. Dennis hatte Edwin ganz aufgegeben und hielt sich immer mehr von Amy fern, um ein Gespräch zu vermeiden. Mit den anderen Mädchen zu sprechen traute sie sich nicht, denn diese hatten ihre eigenen kleinen Gruppen und Amy würde sie vielleicht nur stören. Sie dachte an Harry, aber der ältere Junge war Dennis' Freund. Tante Edith war ihre einzige Rettung aus dieser einsamen Lage. Jedesmal, wenn Tante Edith im Haus war, nahm diese sich die Zeit sich Amys Sorgen anzuhören. Solche Dinge geschahen im Leben immer wieder, hatte Tante Edith gesagt. Freundschaften formten sich und zerbrachen. „Vielleicht wird es zwischen euch dreien wieder besser. Lass dich aber nicht von deiner Trauer und Wut davon abhalten auch mit den anderen Kindern zu reden.“ Aber Amy hatte Angst abgewiesen zu werden. Sie kannte alle Waisenkinder, manche mehr, manche weniger. Doch keiner von ihnen war wie Dennis und Edwin, ihre besten Freunde.Sie waren meine besten Freunde, dachte sie niedergeschlagen. Als ob es nicht noch schlimmer hätte kommen können, war Tante Edith immer weniger im Haus. Eine Erkältung, so sagten die anderen Erwachsenen. Kurz darauf wurde eine Neue gefunden, die Tante Ediths Fehlzeiten übernehmen sollte. Niemand mochte die Neue, auch wenn diese eigentlich ganz in Ordnung war. Jedoch waren sich die Waisenkinder einig, dass Tante Edith nicht ersetzt werden kann. Tante Edith war die Beste. (Tom hatte wahrscheinlich eine ganz andere Meinung). Amy stand beim Fenster ihres Zimmers und seufzte. Das tat sie in letzter Zeit häufiger. Ihre Zimmerkollegin war wieder einmal nicht da. Diese hielt sich bei ihren besten Freunden auf und würde erst zurück kommen, wenn Schlafenszeit war. Draußen taute der Schnee und die ersten Knospen mancher Blumen zeigten sich. Amy wandte sich ab und nahm sich vor, ihre Hausaufgaben zu machen. Gerade als sie über ein paar Rechenübungen grübelte, klopfte es an der Tür. War das eine der Erzieherinnen? Sie krabbelte von ihrem Bett und öffnete die Tür. „Oh“, kam es aus ihrem Mund. „Äh, hallo“, sagte Dennis, der sie kurz ansah, bevor sein Blick in alle möglichen anderen Richtungen ging. Er murmelte etwas Unverständliches. „Was?“, fragte Amy verwirrt, während sie darüber nachdachte, ob das wirklich Dennis war. „Harry will mich nicht in unser Zimmer lassen, wenn – wenn ich nicht mit dir rede“, grummelte Dennis, er sah sich mehrere male im Gang um. „Kann ich rein kommen?“ „Ich weiß nicht“, sagte Amy. „Ich will nur kurz reden“, grummelte Dennis. „Willst du das? Wahrscheinlich nur, weil Harry das gesagt hat.“ Amy wollte ihn ins Zimmer lassen, sie wollte reden, sie wollte, dass alles wieder so war wie früher, aber dass Dennis nicht freiwillig gekommen war, verletzte sie. „Bitte“, presste Dennis hervor. Es klang wie ein Flehen und ein Schimpfwort zu gleich. Amy zögerte, dann trat sie zur Seite. „Du kannst eine Entschuldigung annehmen oder nicht. Sie erst einmal anzuhören löst meist viele Probleme“, hatte mal Tante Edith gemeint. Als Amy die Tür schloss, sah sie zu Dennis, der mit verschränkten Armen das Zimmer anstarrte, als hätte er es noch nie zuvor gesehen. Dabei sahen fast alle Schlafräume der Waisenkinder identisch aus. „Du übst?“, kam es nach einer stillen Ewigkeit von Dennis, der den Behälter für die Kreide und daneben die Schreibtafel sah, auf der ein paar Zahlen standen. „Ja.“ „Das ist doch nur freiwillig. Warum machst du das?“ „Der Lehrer stellt einem gerne Fragen. Ich will nur vorbereitet sein.“ Amy wurde ungeduldig. „Was willst du mit mir bereden, Dennis?“ Wie bei Edwin, klang auch Dennis' Name sehr merkwürdig, wenn sie ihn aussprach. „Ähm, ja. Ich –“ Dennis stockte und schluckte, dann holte er Luft. „Ich wollte mich entschuldigen, es war nicht fair von mir, dich einfach alleine zu lassen, nur weil ich auf E-Edwin sauer bin. Ich hatte Angst, dass du mich hassen würdest, weil ich ihn nicht mehr als Freund haben will, aber dann habe ich dich ignoriert und als ich gemerkt habe, was ich da mache, habe ich mich nicht mehr getraut, dich anzusprechen, schließlich musst du ja sauer sein deswegen – das kann ich verstehen, wirklich! Wäre selbst sauer, wenn du das mit mir getan hättest ohne irgendetwas zu sagen und ich – ich wollte das wirklich nicht! Ich habe mit Harry geredet, aber er wollte nicht andauernd dasselbe hören und – und –“ Dennis ah zu Boden und flüsterte: „Es tut mir wirklich, wirklich leid...“ Sie beide bliebe still. Amys Hals tat weh, auch ihr Kopf, ihre Brust, ihre Augen, also weinte sie. Sie konnte nicht anders. All diese schlechten Gefühle wollten raus. Als sie schluchzte sah Dennis alarmiert auf. „Oh nein! Tut mir leid!“, sagte er hektisch und etwas bleich im Gesicht. Er machte einen Schritt zu ihr, aber blieb dann verängstigt stehen. „Ich kann gehen, wenn du willst! Ich wollte dich nicht traurig machen, also... ja, ich gehe dann mal.“ Bevor er an ihr vorbei gehen konnte, öffnete sich die Tür und Helena, Amys Zimmergenossin kam herein. „Huch“, sagte sie, dann sprach sie mit besorgter Stimme weiter: „Amy? Ist alles in Ordung?“ „J-Ja“, schaffte es Amy zu antworten. „Aber du weinst...“ Helena sah Dennis urteilend an, welcher schuldbewusst zur Seite blickte und rot um die Nase wurde. Amy wusste, wie sehr er Helena mochte. Er musste sich nun doppelt so schlecht fühlen, jetzt da er für das andere Mädchen in einem schlechte Licht stand. „Bist du dir sicher, dass es dir gut geht? Hat Dennis –“ Amy schüttelte den Kopf, ihr Schluchzen hatte aufgehört und sie wischte sich die Tränen von den Wangen. „Mir geht es besser“, sagte Amy. Viel besser, dachte sie, als sich ihr Kopf und ihre Brust wie befreit fühlten. „Dennis und ich hatten ein Missverständnis, aber jetzt ist alles wieder gut.“ „Wirklich“, kam es von Helena erleichtert und von Dennis hoffnungsvoll. „Ja“, sagte sie und lächelte beide an. Dann nickte sie zu Dennis, um ihm zu vermitteln, dass sie die Entschuldigung angenommen hatte. „Ich bin ja so froh, dass ihr euch wieder vertragen habt“, kam es seufzend von Helena. „Du warst so oft im Zimmer und hast so traurig ausgesehen, Amy. Ich war wirklich besorgt. Ich wollte mit dir reden, aber irgendwie hast du so gewirkt, als wolltest du deine Ruhe haben. Ich fühle mich schuldig, dass ich dir nicht helfen konnte...“ „Ist schon in Ordnung“, war alles, was Amy dazu sagen konnte. Helenas Sorge verwirrte sie, denn sie dachte nicht, dass irgendeine andere Person, mit der sie wenig zu tun hatte, es kümmerte, was sie tat. Irgendwie machte sie das glücklich. „Ich werde mich in Zukunft bessern“, versprach Helena. „Ach ja! Ich bin eigentlich gekommen, um dir zu sagen, dass es Abendessen gibt. Ich hab dich am Tisch nicht gesehen, also habe ich Mrs Cole gesagt, dass ich dich hole. Dennis war auch nicht da, aber Harry meinte, er würde schon noch kommen. Jetzt weiß ich ja, warum ihr beide gefehlt habt!“ „Dann... dann gehen wir besser runter“, sagte Dennis immer noch nervös. „Ja, lasst uns essen“, sagte Amy. Sie fühlte sich seit Ewigkeiten nicht mehr so hungrig wie in diesem Augenblick. In den nächsten Tagen war Dennis wieder häufiger mit Amy unterwegs. Es war nicht ganz wie früher, denn er unternahm auch viel mit den anderen Waisenjungen zusammen, aber das war nicht mehr so schlimm. Amy hatte in Helena eine gute Gesprächspartnerin gefunden und weil Helena mit Theresa befreundet war, fing auch zwischen Theresa und Amy eine engere Freundschaft an zu wachsen. Als sie Harry über dem Weg lief, bedankte sie sich bei ihm und ignorierte Tom, welcher in der Nähe gewesen war und irgendwelche Beleidigungen vor sich hin murmelte. „Gut, dass ihr euch wieder vertragen habt!“, sagte Harry. „Auf die Sommerferien müssen wir zwar noch lange warten, aber wäre schade, wenn ihr bis dahin immer noch schlecht gelaunt seid.“ Amy stimmte zu. Für diesen Sommer stand das Meer auf dem Plan und sie liebte es, am Meer zu sein. „Ich freue mich schon!“, sagte sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)