Ein Lied des ersten Rabenflugs von HDG0chrysopras (TR x HP) ================================================================================ Kapitel 3: † Wie weißer Schnee † -------------------------------- Der Himmel war grau und mit weißen Punkten überseht. Der erste Schnee dieses Jahres. Harry lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe. Er dachte an schneeweiße Eulen, aber keine Eule, kein einziger Vogel ließ sich blicken. Warum dachte er so oft an Eulen? Seit seinem elften Geburtstag hörte er sie in seinen Träumen rufen. Flügelrauschen und... Menschen, die wütend darüber waren. Menschen, die nicht wollten, dass er die Eulen sah. Nein. Nicht die Eulen. Etwas anderes sollte er nicht sehen. Etwas, das mit Eulen zu tun hatte. Papier? Nein, warte... Briefe! Ja genau, Briefe. Harry rieb sich die Schläfe und seufzte schwer. Er hatte keine Zeit für solche Gedanken. Bald würde ein Ehepaar das Waisenhaus besuchen und jedes Kind sollte sich so gut es ging herausputzen und sich benehmen. Eine Adoption war der Traum von vielen Waisenkindern. Eine Familie und die Chance eine gute Zukunft aufbauen zu können. Mit seinem Gedächtnisverlust war Harry oft einer der Letzten, der von den möglichen Eltern begutachtet wurde. Er hatte keine Probleme in der Schule, wurde nie schwer krank, er benahm sich, war höflich und freundlich und hilfsbereit. Ein Wunschkind vieler – und dennoch bedachte man ihn mit Skepsis. Anscheinend war für die meisten ein Gedächtnisverlust so schlimm wie die schlimmste mentale Krankheit überhaupt, und sie befürchteten, er, eine beschädigte 'Ware', würde in naher Zukunft verdummen. Ein dummes, sabberndes Kind war peinlich. Harry war es egal, was sie dachten. Irgendwann würde er sowieso seine eigenen Wege gehen müssen. Er würde nicht aufgeben, er würde überleben. Das war schon immer das, was er getan hatte... soweit er sich jedenfalls erinnern konnte. Er zog eine Grimasse. Manchmal wünschte er sich etwas mehr über seine Vergangenheit zu wissen. Er vermutete jedoch stark, dass Eulen etwas mit ihr zu tun hatten. Er fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, um die wilde, schwarze Mähne ein wenig zu bändigen. Ohne Erfolg. Nun denn. Die Auswahl verlief relativ schnell. Edwin Tarry war der Glückliche und der Junge wurde sofort aufgefordert seine Sachen zu packen. Es gab eine Testwoche, in welcher er bei seinen zukünftigen Eltern leben durfte, damit sie sich näher kennen lernen konnten. Wenn alles gut ging, war die Adoption vollendet und er würde den Familiennamen Oakwood tragen. Seine besten Freunde Dennis und Amy freuten sich für ihn, aber so sehr sie sich bemühten, es nicht zu zeigen, ihr Neid war zu bemerken. Fast beschämt verabschiedete Edwin sich von allen, nachdem er die enttäuschten Gesichter der anderen, die weiterhin im Waisenhaus bleiben mussten, sah. Harry machte sich deshalb extra viel Mühe dem Jungen ein breites Lächeln zu schenken. „Ich bin mir sicher, dass du die Testwoche bestehst!“, sagte er, klopfte Edwin bestärkend auf den Rücken und machte eine Kopfbewegung zu dem Ehepaar, die noch ein wenig mit Mrs Cole plauderten. „Scheinen ziemlich freundlich zu sein.“ „Das finde ich auch“, sagte Edwin kleinlaut, jedoch war die Freude in seinen Augen abzulesen. „Danke Harry.“ –––––––––––– ‹†› –––––––––––– „Du bist ja so ein netter Junge“, war Toms spöttischer Gruß, nachdem Harry sein Zimmer betrat. „Bin froh, dass du das so siehst“, meinte Harry fröhlich. Tom rollte die Augen und nahm ohne nach Erlaubnis zu fragen das kleine Buch, das Harry in den Händen hielt. „Goethes Faust?“ „Aron und ich müssen das gerade in der Schule lesen, aber die Bücher dort können wir nicht mitnehmen. Zum Glück hat Mrs Cole mir ihres ausgeliehen“, antwortete Harry, der sich auf Toms Bett breit gemacht hatte. Der andere Junge verzog den Mund, als hätte er etwas Grässliches gehört. „Die Vorteile eines Lieblingskindes“, sagte Tom spröde und setzte sich auf den einzigen Stuhl, den er besaß, hin. „Neidisch?“, fragte Harry frech grinsend. „Rede keinen Unsinn.“ Tom fuhr mit dem rechten Zeigefinger über den Titel des Buches. „Kommt diese Lektüre nicht etwas zu früh?“ „Keine Ahnung. Der Lehrer mag 'Faust' und hat keine Lust zu warten, glaube ich“, antwortete Harry schulterzuckend. „Du kannst es gerne auch lesen, aber heimlich“, bot Harry an. „Mrs Cole, Martha und Miss Glade trauen dir nicht, seitdem sie letztes Jahr dein Diebesversteck gefunden haben.“ Tom schnaubte. „Erst letztes Jahr?“ „Sei einfach vorsichtig, dass Mrs Cole dich nicht damit sieht“, warnte Harry. „Vergiss nur nicht, dass ich es auch brauche, bevor die Ferien zu Ende sind, ja?“ „Du denkst also, dass 'Faust' mich interessiert?“ „Ich denke, du langweilst dich so oft, dass jedes Buch dich interessieren wird. Auch Bilderbücher für Kleinkinder!“ Harry unterdrückte ein Kichern, als dunkle Augen ihn wütend anfunkelten. „Ach, sei doch nicht so! Ich weiß noch, als du gerade ein Jahr alt wurdest, da hast du mich beinahe gezwungen, mit dir eines der alten Kinderbücher anzuschauen –“ „Pass auf, dass du nicht gleich eine 'Faust' ins Gesicht bekommst“, grummelte Tom und Harry vergrub sein Gesicht in das Kissen, um einen Lachanfall abzuwürgen. Er wollte den Siebenjährigen nicht noch mehr reizen, auch wenn es ihm unheimlich viel Spaß bereitete. Das war der Grund, warum Harry von den meisten Waisenkinder als verrückt abstempelt wurde. Durch die Tür hörten sie Fußgetrappel und mehrere ihrer Hausmitbewohner, die unbeschwert lachten. Die Stimme von Miss Glade folgte, aus der Puste und mahnend, dass niemand im Haus herumrennen sollte. „Ich gebe es dir morgen wieder“, sagte Tom schließlich und begann ein paar Seiten zu lesen. Dann noch eine Seite und noch eine und noch eine und Harry seufzte. „Willst du etwa jetzt alles durchlesen?“ Tom sah nicht auf. „Was meinst du, was ich gerade mache?“ „Das Buch rennt nicht weg. Lies später weiter“, forderte Harry ihn auf. „Ich möchte mich mit dir unterhalten.“ „Du rennst genauso wenig weg, also kann unsere Unterhaltung ebenfalls auf später verschoben werden. Alles was aus deinem Mund kommt ist eh meist sinnloses Zeug. Warum gehst du jetzt nicht einfach aus meinem Zimmer und lässt mich in Ruhe?“ Harry schmollte und ignorierte Tom für eine Weile. Seine Gedanken wanderte zu den Eulen. Eine von ihnen, schneeweiß und stolz, blieb in seinem Kopf hängen. Sie fühlte sich wie... Familie an. Die Schneeeule und das Wort 'Familie' passten perfekt zusammen, so befand er, auch wenn der genaue Grund ihm schleierhaft erschien. Harry rollte im Bett ein paar mal umher, bis er schließlich quer und bäuchlings dalag, mit dem Kopf auf seine verschränkten Arme positioniert und den Blick auf Tom gerichtet. „Als ich elf wurde, habe ich von Eulen geträumt“, redete Harry darauf los. Der andere Junge hob die Augenbrauen, den Mund genervt zusammengepresst. Wenigstens hörte er zu, dachte Harry. „Ich glaube, ich habe mal irgendwo gelebt, wo ich viele Eulen sehen konnte, selbst bei Tag. Manche von denen trugen etwas mit ihren Beinen.“ Harry beobachtete den stetig fallenden Schnee, den er durch das Fenster sah. „Ich bin mir nicht sicher, aber oft war es ein Brief.“ „Ich habe von Brieftauben gehört, aber eine Briefeule?“ Tom schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich hast du mal eine Eule gesehen, die dich so beeindruckt haben muss, dass du von ihr geträumt hast.“ „Es war nicht nur einmal“, sagte Harry hartnäckig. „Dennoch viel zu ungenau, finde ich. Es kann eine Erinnerung sein, gut möglich, oder es ist ein Gespinst deiner viel zu lebhaften Einbildungskraft.“ Auch wenn Tom ihm überhaupt keine Hilfe war – typisch! –, war er dennoch froh, über seinen Traum geredet zu haben. Die Erzieherinnen schienen immer ein wenig besorgt über seinen psychischen Zustand zu sein, wenn er seine seltsamen Gedanken mit ihnen teilte, und mit den anderen Kindern wollte er nicht über seine Probleme reden. Als Waisenkinder hatten sie alle ihre Last zu tragen und er wollte sie nicht mit seiner eigenen belästigen. Tom war anders. Harry konnte ihm seine Sorgen und Ideen an den Kopf schmeißen, ohne dass der andere ihn bemitleidend ansah oder voller Mitgefühl in Tränen ausbrach. Tom war zwar jung, jünger als Harry, aber er machte nicht den Anschein, dass er je zusammenbrechen konnte. All das Unglück, das im Waisenhaus passierte, betrachtete Tom mit einem klaren Blick. Nie verunsichert oder verängstigt. Vielleicht lag es auch daran, dass der Junge derjenige war, der das eine oder andere Unglück heraufbeschworen hatte – eine Vermutung, die viele teilten und zugegeben, selbst Harry zweifelte im Geheimen an Toms Unschuld was mancheUnfälle betraf. Dennoch, es gab keinen festen Beweis und Harry hatte sich, seitdem er im Waisenhaus lebte, immer gerne um Tom gekümmert. Tom war nicht wie die schneeweiße Eule. Es war nicht das Wort 'Familie', das durch Harrys Kopf geschossen war, als er den anderen zum ersten mal gesehen hatte, sondern 'Tod'. Harry runzelte die Stirn. Über dieses kleine Detail wollte er lieber nicht denken. Zurück zur Eule! „Ich glaube fest daran, dass es eine größere Bedeutung haben muss“, verkündete Harry. Tom schnaubte, aber Harry blieb standhaft. „Nein, wirklich! Und du kannst es mir nicht ausreden!“ „Mach was du willst“, sagte Tom. „Das werde ich!“ Dieses warme, freundliche Gefühl, das die schneeweiße Eule Harry vermittelte, wollte er nicht einfach wie Dreck wegfegen und vergessen. Vielleicht fand er diese Eule irgendwann wieder, aber jetzt fiel der Schnee und bald war draußen alles weiß. Das erschwerte die Suche. Eine schneeweiße Eule im weißen Schnee war wie die Nadel im Heuhaufen, oder so ähnlich. Weiß, weiß, weiß. Weiß wie ein Bart und das blendende Licht in einem Bahnhof. Harry stutzte. Bart und Bahnhof? Das machte überhaupt keinen Sinn. „Vielleicht verliere ich doch ein wenig den Verstand“, murmelte er. „Das ist nichts Neues“, stimmte Tom mit einem kleinen Lächeln zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)