Die Begegnung von Nellas ================================================================================ Kapitel 1: Einbruch der Nacht ----------------------------- Heißer Atem im Nacken. Seisyll fuhr herum. Nichts. Hektisch zuckte sein Blick durch die Schatten des Unterholzes, doch der einzige heiße Atem in der Umgebung war sein eigener. Und doch spürte er eine Präsenz. Die Präsenz. Seit Tagen wurde dieses Gefühl immer stärker und stärker, doch abgesehen von den Albträumen war nichts gekommen. Es konnte nicht sein. Irgendetwas musste er übersehen. "Quin?" Seisyll zuckte vom plötzlichen Laut seiner eigenen Stimme zusammen. Etwas von der Spannung fiel von ihm ab, als er sich bemühte, nicht über sich selbst zu lachen. Er war so ein elender Feigling! "Quinten!", flüsterte er in den Wald hinein. Die Schatten regten sich, ein sanfter Wind raschelte in den Blättern, aber sonst tat sich nichts. Sein großer Bruder war nicht in der Nähe. Vielleicht wollte er ihn aber nur erschrecken... Würde ihm ähnlich sehen. Egal wie ernst die Lage war, Quin würde das ganze Heer verraten nur um Seisyll, dem sechsten der acht Brüder, ein bisschen Angst einzujagen... Er hoffte nur, dass es nicht einer seiner anderen Brüder war, die ihm aus dem Totenreich einen Besuch abstatteten. Seisyll vertrieb den Gedanken und drehte sich wieder um. Er musste weiter. Ein letzter Blick über die Schulter verriet ihm, dass auch keine Wesen anwesend waren, die man nur aus dem Augenwinkel sehen konnte. Was war das nur...? So leise wie möglich bahnte er sich seinen Weg durch Hecken und Dorngestrüpp. Will heißen: Es krachte und knackte bei jeder Bewegung. Seisyll war ein fähiger Späher, deswegen war er hier, deswegen war er immer noch am Leben, aber wenn das Gelände nicht bald leichter wurde musste er umkehren... Gerade als er sich fast dazu entschließen wollte, hörte er ein leises, zitterndes Hauchen: "Wo bist du, Seisyll...?" Stocksteif blieb Seisyll stehen und lauschte. Woher war das gekommen? "...Lass mich nicht allein, kleiner Bruder..." Quin! Seisyll hielt den Atem an und lauschte angestrengt, aber kein weiteres Geräusch war zu hören. Etwas in der Stimme seines Bruders hatte ihn noch mehr alamiert als seine Worte. Er war schwach. Er brauchte Hilfe. Aber was, wenn es eine Falle war? Die Schatten waren dicht hier im Wald. Zügig ließ er seinen Blick über das Gestrüpp zwischen ihm und der Stimme seines Bruders schweifen. Er plante ein paar Wege, dann gab er auf. Es war unmöglich, schnell und leise zu ihm zu gelangen. Nach kurzem Zögern entschied sich Seisyll für schnell. Er wusste, dass es ein Fehler war. Er wusste auch, dass es ihn das Leben kosten könnte, wenn es ein Fehler war. Aber etwas in der Stimme seines großen Bruders jagte es ihm kalt den Rücken runter. Eilig krachte er durchs Unterholz, duckte sich unter Zweigen weg und kletterte über einen umgestürzten Baumstamm, dann stand er am Rand einer Lichtung. Da war Quin. Sie sahen sich an. Seisyll seufzte erleichtert. Als die Anspannung von ihm abfiel, wurde er wütend. Während er sich durch den letzten Brombeerstrauch arbeitete, zischte er ihm leise zu: "Quin, lass den Blödsinn verdammt! Du hast mir eine wahnsinnige Angst eingejagt. Ich dachte schon, dir ist was passiert! Du kannst dich ruhig darüber lustig machen, ha ha, dummer übervorsichtiger kleiner Sei... Ja, komm, tu dir keinen Zwang an, du kannst aufstehen!" Seisyll zog die letzten Dornen einen anhänglichen Zweiges aus seinem Ärmel. Quin trieb es mal wieder viel zu weit. Zornig holte er Luft, um seinem Bruder die Meinung zu geigen. Da geronn ihm das Blut in den Adern. Quin lag immer noch in der Mitte der Lichtung, unbewegt. Der Kopf war zur Seite gerollt, die offenen Augen starrten zum Unterholz, durch das Seisyll sich gekämpft hatte. Hatte. Der Blick seines Bruders traf ihn nicht, sondern stierte knapp an ihm vorbei. "...Quin?" Ratschend riss ein Dornenzweig an seinem Hosenbein, als er panisch zu seinem Bruder sprintete. "QUINTEN!" Kein Blut, keine Verletzungen. Die Haut war warm. "Lass den Blödsinn!! DAS IST NICHT MEHR LUSTIG!!" Der Kopf rollte kraftlos hin und her, als er Quin schüttelte. Die toten Augen starrten blicklos geradeaus. "...Quinten!" Da war er wieder. Der heiße Atem. So nah, dass ihn die Nüstern hätten berühren müssen. Es war ihm egal. Das war ein Fehler. Seisyll spürte, wie die Präsenz in ihn schlüpfte. Anders konnte er dieses Gefühl nicht beschreiben. Etwas zog sich seinen Körper an wie ein Hemd. Immer häufiger hätte er in letzter Zeit schwören können, dass die Schatten seine Haut striffen. Jedes mal hatte er alamiert seine Wachsamkeit erhöht, jedes mal war das Gefühl verschwunden. Nun prickelte ein fremder Wille in seinen Muskeln und es war ihm egal. Wie im Traum erhob er sich. Er starrte auf den fremd wirkenden Körper hinab. Langsam drehte er den Kopf zur Seite und traf den Blick der Bäume. Ein humorloses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Natürlich. Sie waren alle gekommen. Wer war gekommen? Seisyll konnte sich diese Frage nicht beantworten. Doch nur ein kleiner Teil von ihm fand das merkwürdig. Der Rest versuchte sich einzureden, dass das alles nur ein weiterer Albtraum war. So sicher wie er vorhin im Wald den Atem im Nacken gespürt hatte, meinte er nun ein Lachen zu hören. Gleichzeitig war er davon überzeugt, dass seine Ohren nichts dergleichen wahrnahmen. Ein Albtraum also. Nur wo war der Alb? Kapitel 2: Schatten im Lager ---------------------------- Ein junger Mann mit kurzgeschorenem dunklen Haar lag auf dem Boden des geräumigen Zeltes. Es war gerade groß genug, dass er aufrecht darin stehen könnte, würde er sich aufrichten. Er war nicht besonders groß und nicht besonders stark, aber ihn als klein und schmächtig zu bezeichnen würde ihm Unrecht tun. Die schlanken, sehnigen Arme waren durchaus harte Arbeit gewohnt, wie man an den dicken Fingern sehen konnte, auf die der kantige Kopf gebettet war. Die buschigen Augenbrauen und der struppige Dreitagebart wollten nicht so recht zum edlen Eindruck seiner ansonsten so zierlichen Gestalt passen. Diese flach hervortretende Stirn verlieh ihm vielmehr ein dümmliches Aussehen, als hätte man einen Teil seines Gehirns entfernt um seinen Kopf windschnittiger zu machen. Manche sagten auch, ihm wurde als Kind zu oft ins Gesicht geschlagen, und das hätte den Kopf eingedellt. Nichts als Gerede. Wer sich vom ersten Eindruck täuschen ließ und den Jungen für dumm und einfältig hielt, der beging einen tödlichen Fehler. Leider galt das nicht für jeden in der Familie. Quin wandte sich seufzend von seinem kleinen Bruder ab und hackte weiter durch die Schalen der restlichen Zwiebeln. Je schneller er fertig war, desto schneller war er diesen Geruch los. Er war so gut wie blind von den Trännen, und sogar Seisyll schniefte im Schlaf. Nicht dass dazu Zwiebeln nötig waren... Quin warf einen besorgten Blick auf seinen Bruder, doch er schien ruhig zu schlafen. Endlich. Seit die Kleinen nicht mehr da waren... Seisyll gab sich selbst die Schuld, dabei war Quinten der älteste von ihnen. Der älteste in der Nähe zumindest. Die Großen helfen den Kleinen... Aber das einzige, was er beitragen konnte, war, sich in Schwierigkeiten zu bringen aus denen ihn Seisyll wieder rausholen musste. Aber wenn er nicht seinen Spaß hatte, wer von ihnen hätte es sonst? Er wusste nicht mehr wann, aber Stück für Stück hatte er Seisyll die Zügel überlassen. Seine großen Brüder waren stärker als er, sie passten auf ihn auf wenn er mit den Soldaten unterwegs war. Sein kleiner Bruder war schlauer als er, er kümmerte sich um den Haushalt und die Ausbildung der Kleinen. Eine perfekte kleine Familie, in der jeder eine Aufgabe hatte. Jeder außer Quin, das fünfte Rad am Wagen. Die Tränen mit seinen Pranken wegwischen zu wollen war eine schlechte Idee, der Zwiebelsaft brannte in seinen Augen und er sah gar nichts mehr. Aber er hatte ihm doch versprochen, nach den Geistern Ausschau zu halten und ihn zu wecken, bevor sie ihn erreichten... Fluchend rieb sich Quin die Augen, aber es wurde immer noch schlimmer. Es schmerzte schließlich so sehr, dass ihm nichts anderes übrig blieb als nach draußen zu flüchten. Er blinzelte in die frische Luft. Wenn er nicht wüsste, dass die Tränen seinen Blick trübten... er hätte schwören können, dass blitzschnell Schatten an ihm vorbei ins Zelt huschten... Quin fuhr herum und riss das Tuch vom Eingang. Die kühle Vormittagssonne schickte ihre Strahlen hinein, doch Seisylls Decke war nun in umso tiefere Dunkelheit gehüllt. Aber sein Schlaf blieb ruhig. Quin war sich nicht sicher, ob er ihn wecken sollte oder nicht. Einerseits wollte er, dass er sich endlich mal so richtig ausschlafen konnte. Andererseits musste er um jeden Preis verhindern, dass ein Albtraum ihn weckte. Die Angst vor den Schatten hielt Sei schon seit Jahren wach. Die dunklen Ringe unter seinen Augen hatte er schon, seit er acht Jahre alt war. Es gab immer wieder bessere und schlechtere Zeiten, manchmal verschwanden die Schatten auf der Haut sogar fast vollständig. Doch momentan waren es definitiv wieder schlechtere Zeiten. Es spricht für sich, dass Quin - unschlüssig, was er tun sollte - die Augen seines Bruders eine ganze Weile beobachten musste, bis er bemerkte, dass sie offen waren. Schuldbewusst kam Quin näher. Es war ein gutes Zeichen, dass Seisyll nicht hochgeschreckt war. Aber auch wenn Quin dumm wie Brot war: Er kannte den Ausdruck in den Augen seines Bruders, wenn ein Alb seinen Geist entführt hatte. "Willst du's mir erzählen?", fragte er vorsichtig. Es war merkwürdig, dass er fragen musste. Normalerweise zwang Seisyll Quin nicht dazu, so feinfühlig daherzureden. Er setzte sich schweigend hin und Sei begann zu erzählen. So war es immer gewesen. Das war die Abmachung. Seisyll erzählte ihm seine Visionen und Quinten hörte zu, ohne sich darüber lustig zu machen. Aber diesmal schüttelte Sei den Kopf. Er hatte ihn nicht nur dazu gezwungen nachzufragen, sondern brach nun auch die Vereinbarung! Nicht dass sie je etwas direkt vereinbart hätten, aber Quin fühlte sich trotzdem verraten. Wütend stützte er sich zum Aufstehen auf Seisylls Kopf. "Dann nicht, Idiot!" In düsterem Schweigen hackte Quin auf die Zwiebeln ein. Er hasste es, in einer Situation wie dieser schniefen und heulen zu müssen. Und Seisyll sagte immer noch kein Wort! Er lag unbewegt da und bekam das Maul nicht auf. So schlimm konnte es nicht sein, sonst wäre er aus dem Schlaf hochgeschreckt, verschwitzt und mit aufgerissenen Augen, keuchend wie eine zusammengebrochene Schindmäre. Es war ja nicht so, dass die Geschichten harmlos waren. Oft genug hatte sich Quin zwar zurückhalten müssen nicht zu lachen, aber meistens waren die Erlebnisse düster. Vorahnungen, seine Zweifel und Ängste, es machte Seisyll nicht einmal etwas aus in diesem Zustand von zutiefst privaten Angelegenheiten zu erzählen. Das war hin und wieder schon merkwürdig, doch Sei erzählte es ihm ja nicht. Er sprach mit sich selbst, und Quin war einfach zufällig in Hörweite. Normalerweise. Diesmal war es anders. Seisyll schwieg beharrlich. Das konnte Quin auch. Die Stille verdichtete sich immer mehr. Sie ballte sich zwischen ihnen zusammen, nur durchbrochen von den saftigen Schnitten der massiven Klinge seines treuen Messers. Wenn das noch lange so weiterging, dann hätte er große Lust es nach Sei zu werfen! Und wenn er nach etwas warf, dann traf er das auch!! Aber schließlich war die letzte Zwiebel kleingeschnitten und Quin konnte mit der hölzernen Schüssel aus dem Zelt stürmen, bevor das Schweigen ihn erdrückte. Quin war einer der Späher, die ausgesandt wurden um andere verstreute Kameraden zu finden und nach dem feindlichen Heer Ausschau zu halten, das die Hauptarmee zermalmt hatte. Er sah Seisyll erst wieder, als er nach Einbruch der Nacht zurückkehrte. Sein Bruder hatte Wachdienst. Aber er saß einfach nur da und starrte in die Flammen des viel zu großen Lagerfeuers. Der edle Theoderich wenn ihn so erwischte! Eigentlich war sein Zorn über den Tag hinweg verraucht, doch nun war alles wieder da. Von den Kräutern, die er unterwegs als Versöhnungsgeschenk gesammelt hatte, bekam er bestimmt nichts ab! Doch als er sich abwandte, zuckte ein Schatten an seinem Augenwinkel vorbei. Die Sorge war wieder da, aber am Ende war die Wut stärker. Sollte er sich doch so viel Ärger einhandeln wie er wollte, irgendwie kam er da schon wieder raus! Auch diesen Morgen und den Morgen darauf wurde Quin nicht von unruhigem Hin- und Herwälzen geweckt. Das Schweigen war noch immer ungebrochen. Es stand zwischen ihnen wie eine Felswand. Sie hatten beide ihre Aufgaben, wenn sie keinen Wert darauf legten liefen sie sich tagsüber nicht besonders oft über den Weg. Aber Quin entdeckte ihn immer wieder, wie er zwischen den Zelten herumschlich. Zumindest war es das, wovon er überzeugt war. Er sah immer nur einen Schatten am Rande seines Blickfeldes, der verschwunden war sobald er genauer hinsah. Quin konnte sich nicht einmal sicher sein, überhaupt etwas gesehen zu haben, also hielt er den Mund. Aber er war sich absolut sicher, dass Seisyll etwas damit zu tun hatte. Wenn er nur wüsste was... Irgendwann wurde es Quin dann zu dumm. Die Lage war schon düster genug, da brauchte er sich nicht auch noch die Laune von seinem kleinen Bruder verderben lassen! Er begann wieder, mit seinen Kameraden am Lagerfeuer zu scherzen und seine gute Laune im Lager zu verteilen, auch wenn sie angesichts der aussichtslosen Situation und der gedrückten Stimmung der letzten Tage niemand haben wollte. Aber Quin ließ sich nicht beirren: Wenn niemand hinsah, dann ließen sich auch die griesgrämigsten Miesepeter zu einem kopfschüttelnden Lachen hinreißen! Und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, eben jene Miesepeter so lange zu bearbeiten, bis sie sich wünschten netter zu ihnen gewesen zu sein, weil sie sich dann zum gute-Laune-Trupp hätten setzen dürfen. Wenn Quin auch sonst zu nichts taugte, Spaß haben konnte er immer und überall. Ganz im Gegensatz zu Seisyll. Der fand überhaupt nichts mehr komisch. Fast wünschte ihm Quin, dass die Albträume wieder schlimmer wurden. Dann würde er angekrochen kommen. Dann würde er darum winseln, dass Quin über ihn wachte bis er eingeschlafen war. Immer noch Angst vor der Dunkelheit, zeh... Aber seit er sich ständig bei Heinrich von Hohenwasser und dessen Gefolge herumtrieb waren die Träume verschwunden. Er schlief unruhig, aber er erwachte still und verließ das Zelt leise. Sie sprachen kein Wort miteinander, aber Quin hörte wie man begann sich über Seisyll zu unterhalten. Er war nicht unbedingt auf dem Laufenden, aber wenn Sei spät oder gar nicht zurückkam, dann konnte er sich vorstellen wo er steckte. Es beruhigte, zu wissen wo er suchen musste. Auch wenn es ihn nicht beruhigte, dass er aus Seis Verhalten einfach nicht schlau wurde. Er war ein sturer dummer Esel, ja, aber auch abgesehen davon war er merkwürdig. Er spielte den unwissenden Bauerntölpel. Ließ sich herumschubsen, grinste dümmlich wenn sie ihn beleidigten... und wenn niemand hinsah, dann hatte er diesen Blick. Quin war der einzige, der es bemerkte. Er war auch der einzige, der seinen kleinen Bruder wirklich kannte. Und wenn es eins gab, dessen er sich sicher war, dann das: Die Dunkelheit machte Sei immer noch zu schaffen, aber er kam damit nicht mehr zu Quin. Und das bedeutete, dass es nichts mehr gab, das sie zusammenhielt. Kapitel 3: Späher im Lager -------------------------- Theo hielt sich bei den Besprechungen im Hintergrund. Ihr kleiner Haufen mochte nur noch aus Deserteuren bestehen, aber seit es keine Hauptarmee mehr gab war immer häufiger von geordnetem Rückzug die Rede. Dass er nicht lachte. Aus den verschiedensten Teilen des Heeres zusammengewürfelt, wahlweise auch in alle Winde zerstreut... hier war nichts geordnet, selbst wenn sie eine reguläre Armee mit richtigen Befehlen wären. Es war natürlich gut, vor den Männern von Rückzug zu sprechen, sicher, aber immer mehr gewann Theo den Eindruck, dass sie es sich gegenseitig immer wieder versicherten. Und das konnte ein böses Erwachen geben. Der große Heinrich war schon wieder ganz der Alte. Vergessen war die Schande der Flucht vor der Entscheidungsschlacht. Gerade sprach er von einem glorreichen Vergeltungsschlag, sobald sie sich gesammelt hatten. Er lullte sie alle ein, wie es schien. Sein neuer Kammerdiener stand wie ein Aushängeschild neben ihm. Als ob man unter Umständen wie diesen an die eigene Bequemlichkeit denken sollte. Aber Theo dachte nicht schlecht über den Jungen. Er war einer der Acht. Die größten beiden waren für ihn, ihren Herren Theoderich von Asch, in den Tod gegangen. Eine Woche nur war er mit den beiden unterwegs, aber er würde es ihnen nicht vergessen. Theos Blick schweifte von Seisyll zum neuen Heerführer. Er beobachtete Gilbert aufmerksam und versuchte abzuschätzen, ob er diesem selbstmörderischen Gewäsch auf den Leim ging oder nicht. Das Hauptheer war schon sehenden Auges in eine Todesfalle gelaufen, das brauchten sie kein zweites Mal. Warum sah er so viele nickenden Köpfe? Sie waren alle hier, weil sie Gefahren gut genug einschätzen konnten um zu wissen, dass desertieren die einzige Möglichkeit war zu überleben. Gil, wie er immer häufiger genannt wurde, war der erste, der von Sammeln und Rückzug gesprochen hatte. Ob er wirklich daran glaubte? Je länger er ihm zusah, desto mehr zweifelte Theo daran. Nein, der Graf verbreitete diesen Unsinn aus den richtigen Gründen. Er tat es, um den Männern Mut zu machen. Um ihnen allen zumindest eine winzige Chance zu geben, lebend nach Hause zurückzukehren. Und wer weiß, wenn sie es geordnet genug taten, dann wurden sie vielleicht nicht als Deserteure... oh fing er auch schon an! Theo versuchte den Gedanken abzuschütteln. Seine Entscheidung war gefallen: Ein Leben in Schande statt dem aufrechten Tod in der Schlacht. Er brauchte sich nicht einzureden, dass die Schande verhandelbar war. Doch je länger Heinrich von seiner ruhmvollen Rückkehr in sein Anwesen zu Hohenwassern sprach, desto schwieriger wurde es wegzuhören. Irgendwann hielt er es nicht länger aus und verließ das Zelt. Sein Verschwinden unterbrach den Wortschwall und ließ Geflüster aufbranden. Allzu viel getuschelt wurde nicht, die große Versammlung aller die Rang und Namen hatten belief sich auf keine zwanzig Männer. Heinrich hatte sich schon wieder Gehör verschafft, da war das Zelttuch noch nicht einmal hinter ihm zugefallen. Und auch wenn er es nicht Wort für Wort verstehen konnte war Theo sich sicher, dass das Gelächter die Reaktion auf einen dummen Witz über Asche war. Es war doch nicht zu fassen... Theoderich hatte aber kaum Zeit, richtig wütend zu werden. Ein Schatten entfernte sich zu hastig vom Zelt, als dass man ihm die Beiläufigkeit abnahm, die er zur Schau stellte. Mit wenigen großen Schritten hatte er den Mann erreicht und riss ihn an der Schulter herum - um in die aufgerissenen Augen des fünften Bruders zu sehen. "...Quintus?" Theo hielt es für schändlich, seine eigenen Nachkommen einfach durchzunummerieren, doch in Sachen Namen merken kam es ihm sehr entgegen. Der Junge sah ertappt zu Boden. Die dreckigen dunkelblonden Strähnen fielen ihm vor das urtümlich geformte Gesicht, das die acht Brüder alle gemeinsam hatten. Er murmelte etwas, das Theo nicht verstehen konnte. "Wie war das?", fragte er forscher als gewollt. "...Quinten, Edler von Asch. ...mein Name.", brachte der großgewachsene Junge schließlich heraus. Er hörte sich elend an. Theo ließ ihn noch ein wenig in seinem Saft schmoren. "Warum hast du gelauscht?" Bei jedem anderen würde er sich Sorgen machen, für wen er spionierte oder was er gehört hatte, aber nicht bei den Acht. Sie konnten arbeiten, sie konnten spähen, sie konnten kämpfen. Aber sich lange Reden merken und Details weitererzählen? Nein. "I-ich hab' nich'... Nich' wie d-... wie Ihr meinst. ...Meint." Theo sah ihn abwartend an. Der Junge beugte seinen Rücken wahrscheinlich so gut er konnte, aber nicht genug. Theo musste noch immer nach oben sehen. Bei Hof und selbst in einer richtigen Armee auf dem Feld wäre das undenkbar. Aber unter Deserteuren wollte er mal nicht so sein. "...hab' mir Sorg'n g'macht..." Auch wenn sich der Fünfte sichtlich Mühe gab, deutlich zu sprechen, war es manchmal schwer ihn zu verstehen. Theo runzelte die Stirn. "Alle dort drin machen sich Sorgen, deswegen besprechen wir die Lage. Wir machen uns Sorgen, damit ihr keine haben braucht. Das verstehst du doch, oder?" Das eifrige Nicken ging in ein Kopfschütteln über. "Wollt' ni't sag'n, dass... Nu' mein Bruder." Ach daher wehte der Wind. Die Anspannung löste sich, als Theo ein plötzliches Lachen unterdrücken musste. Sie waren hier mitten im Feindesland, ein winziges Häufchen. Die Armee, die den Hauptteil des Heeres scheinbar mühelos zerschlagen hatte, war ihnen dicht auf den Fersen. Und der Fünfte der Acht machte sich Sorgen um den Sechsten, weil eine Zeltwand sie trennte. Theo wollte schon etwas beruhigendes sagen und seiner Wege gehen, aber der Fünfte hatte wohl noch etwas zu sagen. Das einzige, das Theo aus dem Gedruckse heraushörte, war das Wort für "Schatten". Die Bauern nannten sie Schoon oder d'Schoon, harmlose Bezeichnungen für die gefürchteten Nachtalben und ihre Sippe. Ein Zeichen, dass die meisten dieser Schoon tatsächlich nichts weiter als gewöhnliche Schatten waren. Gut möglich, dass sich der Fünfte von dummem Gerede verrückt machen ließ. "Schatten? Ja ich werfe einen Schatten. Und du auch, siehst du", versuchte Theo zu scherzen. So manch ein Vertreter des Adels würde ihm eine solch erniedrigende Unterhaltung mit einem Mann aus der untersten Schicht der Gesellschaft als Schwäche auslegen. Aber alle, die auf so etwas Wert legten, waren jetzt tot oder saßen außer Hörweite im Zelt bei der Besprechung. "M-m! Seisyll sei' Schoon. Mein Bruder." Das Kopfschütteln war eine Spur zu sicher und der Blick zu ernst, um es als Aberglaube und Leichtgläubigkeit abzutun. Es gehörte einiges dazu, um einen der Acht dazu zu bringen, jemandem von Theos Stand direkt in die Augen zu sehen. "Du meinst d'Schoon?", fragte Theo. Er wusste, dass er den Dialekt des einfachen Volkes nicht ganz getroffen hatte. Aber der Fünfte nickte eifrig. Gleichzeitig legte er einen Finger auf die Lippen. "Sei tut horch'n." Sie tun horchen? Das klang nun wirklich nach Aberglaube. Wie sollten die Schatten auch hier ins Lager gekommen sein? Sie hatten überall Wachfeuer. "Mach dir darüber keine Gedanken, das Zelt ist gut ausgeleuchtet." Der Fünfte schüttelte nachdrücklich den Kopf. "Sei. Seisyll. Mein Bruder." Wollte ihm der Junge etwa sagen, dass...? Theo sah sich um und schob das massive Häufchen Elend weiter vom Versammlungszelt weg. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern: "Soll das heißen, dein Bruder ist ein Spion?" Die Augen des Jungen weiteten sich und er richtete sich auf, als hätte Theo gerade auf das Grab seiner Eltern gespuckt. "Nein!!" Aus dem sollte man schlau werden! Beschwichtigend deutete Theo ihm, leiser zu sprechen. Langsam verlor er die Geduld. "Dann nochmal. Was hat dein Bruder mit den Schatten zu tun?", fragte er nachdrücklich. Jetzt war dem Jungen eindeutig wieder elend zumute. Er setzte mehrmals an, brach wieder ab und rang nach Worten. Schließlich entschied er sich für einen deutlichen vollständigen Satz: "Da is' ein Albtraum in ihm." Diemal war es Theo, dem die Gesichtszüge entgleisten. "Bin nich' schnell, aber 'n guter Späher.", meinte der Fünfte stolz, während er sich an die Schläfe tippte. Der Sechste war besessen?! Unter Theos abschätzendem Blick beugte sich Quintens Rücken wieder zu einer unterwürfigeren Haltung. Er wagte es nicht mehr, das Wort zu ergreifen. Nach allem was Theo gehört hatte, musste der Fünfte tatsächlich ein guter Späher sein. Denn er hatte nichts gehört. Jeder beschwerte sich über jeden, aber die Acht waren außen vor. Vielleicht tat er gut daran, auf den Rat eines Spähers zu hören, der Schatten ausfindig gemacht zu haben glaubte. Theo hatte genug gesehen um Albträume zu fürchten und sich vor den Schatten zu schützen, aber selbst er tat es nicht offen. Jeder hatte sich diesen einen Satz angewohnt, der fast schon zum Reflex geworden war: Die Männer glauben nun mal daran. Was wenn wirklich ein Alb unter ihnen war? Was wenn es nicht nur einer war...? Auch wenn sie alles taten, um hier im Lager sicher zu sein. Aber so drunter und drüber es hier ging wäre es nicht verwunderlich... Sie waren noch dabei sich zu organisieren und die Männer in Gruppen aufzuteilen, da gab es regelmäßig Missverständnisse in Sachen Wachablösung... "Zur Kenntnis genommen.", beschloss Theo schließlich. Auf den unsicheren Blick des Fünften legte er die Hand auf seine Schulter und fügte hinzu: "Danke. Wenn du noch einmal oder noch mehr Schoon siehst, dann berichte es mir. Und nur mir, ist das klar? Niemand sonst erfährt davon." Das unsichere Nicken wurde nachdrücklicher, dann ließ Theo den jungen Mann los. Er gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er sich entfernen durfte, doch so schnell wie der Bursche verschwand glaubte er kaum dass er auf die Geste gewartet hatte. Den beiden ältesten der Acht zu Ehren ließ er auch das durchgehen, wo doch ohnehin niemand zugesehen hatte. Welches Trauma die Acht auch zu bewältigen hatten, der Fünfte schien ganz gut zurecht zu kommen. Theo beschloss, sie von nun an öfter zusammen als Späher loszuschicken. Wenn Quinten Recht hatte, dann war der Sechste außerhalb des Lagers gut aufgehoben - unter den wachsamen Augen seines Bruders. Und falls er sich täuschte... Wenn schon so wenig von der Familie übrig war, sollte Theo seinen Teil tun um den Rest zusammenzuhalten. In den nächsten Tagen erhielt er immer wieder sogenannte Berichte von Quinten. Die Lage wurde ernster, Heinrich war drauf und dran alle zu überzeugen, dass sie siegreich wie Helden heimkehren würden. Durch seinen Abgang war Theo schnell zum ewigen Neinsager abgestempelt worden, der die Gegenseite repräsentierte. Er war überrascht, wie schnell dadurch sein Einfluss wuchs. Immer wieder kamen Einzelne zu ihm, die ihm ihre Unterstützung zusicherten, obwohl sie von höherem Rang waren als er. Was prinzipiell ja auch nicht schwer war. Gilbert, der inoffizielle neue Heerführer, gab sich nicht damit ab. Er hatte die Rettung ihrer aller Leben zu organisieren, da konnte er nicht seine Zeit damit verschwenden Hoffnungen zu zerstören, wodurch sich womöglich noch einzelne Herren samt Gefolge abspalten würden. Wenn sie überleben wollten, dann mussten sie zusammenbleiben. Wenn jedes verstreute Grüppchen für sich niedergeritten wurde, dann half das niemandem. Zumindest war es das, was Theoderich annahm. Er hoffte, dass Gil sich nicht der Illusion hingab, als freier Mann nach Hause zurückkehren zu können. Denn das war ebenso gefährlich wie die Armee in ihrem Rücken. Und die Schatten in ihrer Mitte... Theo war sich inzwischen sicher, dass Quinten keine Gespenster sah. Er glaubte selbst den Albdruck gesehen zu haben, der sich im Schein des Wachfeuers um den Sechsten der Acht gewunden hatte. Seisyll. Je mehr er dem Jungen seine Aufmerksamkeit schenkte, desto unheimlicher wurde er ihm. Mittlerweile hegte er keine Zweifel mehr daran, dass er es mit einem verschlagenen Spieler zu tun hatte. Er führte alle um ihn herum hinters Licht. Auch andere im Lager wurden von Schatten befallen, still und heimlich. Theo hatte es einmal angesprochen, vage und rein hypothetisch, halb im Scherz. Sie hatten es als Aberglaube abgetan, und Theoderichs Ansehen war durch die Aktion nicht gestiegen. Sicher musste er einsehen, dass schlechte Träume in einer Situation wie der diesen nicht ungewöhnlich waren... Dazu bedurfte es nicht der Anwesenheit eines Alben. Kapitel 4: Das Ende ------------------- Heute war er wieder mit Quin unterwegs. Der Edle von Asch schickte sie nicht mehr so häufig zusammen los wie zwischendurch mal, als sein Interesse für ihn und Quin erwacht war. Bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben, ihn zu töten. Seisyll schauderte am Rande seines Bewusstseins. Jedes mal stand er Todesängste um seinen Bruder aus. Immer wenn sie sich trennten erwartete er fast schon, dass sich sein Traum erfüllen würde. Dieser verfluchte Traum. Er hatte sich so lange erfolgreich gegen den Einfluss der Schatten gewehrt, doch dieser Traum... der hatte ihn in die Knie gezwungen... Seisyll war sich sicher, dass Aeron in diesem Moment schon wieder einen Hinterhalt auf Quin plante. Er hatte höllische Angst, dass dieser Dämon ihn zwingen würde, Quin mit seinen eigenen Händen zu ermorden... Das könnte er nicht. Das würde er nicht aushalten. Niemals. Lieber würde er sterben. Doch nicht einmal das würde ihm gelingen... Es war eigentlich gar nicht so, dass Aeron Seisyll zwingen würde, etwas zu tun. Er tat es einfach. Mit Seisylls Körper. Aeron... Fast kam Stolz auf, dass er diesen Namen aus dem Geist des Eindringlings erbeuten konnte. Aber die einzelnen Brocken wirkten wie achtlos weggeworfene Brotkrumen, die nichts über das Große Ganze verrieten. Wer war Aeron? Wo kam er her? Was war sein Ziel? Würde er diesen Körper je wieder verlassen? Könnte er es überhaupt, wenn er es wollte? Und wer waren die Schatten? War ein Alb nichts weiter als ein mächtiger Schatten? Seisyll versuchte schon seit Wochen, die Geheimnisse dieser Wesen zu ergründen. Doch immer wieder geriet er in diesen mächtigen Strudel, diesen erbarmungslosen Gegenwind, dem er nichts entgegenzusetzen hatte... Seine einzige Chance war, unbemerkt zu bleiben. Ihn in Sicherheit zu wiegen. Denn diese Schwäche hatte er schnell herausgefunden: Vielleicht galt das nicht für alle Alben, doch Aeron war sehr von sich selbst überzeugt. Es fiel Seisyll immer leichter, beschwichtigende Gedanken in Aerons Geist einzuschleusen. Als würde er trockenes Herbstlaub in die Luft werfen - einige wurden fast sicher vom Wind erfasst und in die Welt getragen, wo sie niederfallen und gefunden werden konnten. Der Junge ist nur ein dummer Mensch, ein Bauerntrampel. Hat es der große Aeron wirklich nötig, ihn stets und ständig zu überwachen? Doch auch wenn er mehr Übung hatte als am Anfang, wurde es immer schwerer den Kontakt mit der Außenwelt zu halten. Quin hatte sich von ihm abgewandt, das wusste er. Das war gut so. Je weniger er sah, desto größer war die Angst. Und die Dunkelheit wuchs stetig. Seine eigenen Augen berichteten nicht mehr nur ihm, sondern auch Aeron. Er musste sein Recht zu sehen mühsam einfordern. Seine Ohren ließen ihn nur das hören, was Aeron ihn hören lassen wollte. Einzig tasten konnte er, seine Haut und Hände blieben ihm treu. Wenn sie auch so leichtgläubig waren und die Befehle, die Aeron ihnen gab, für die von Seisyll hielten. Wahrscheinlich hatten sie gar nicht gemerkt, dass sich jemand zwischengeschaltet hatte... Vielleicht waren ihre Sinne zu einfach gestrickt, um das begreifen zu können - und solange das der Fall war, konnte sich Seisyll auf sein Empfinden von Hitze, Kälte und Berührung verlassen. Sogar Schmerz gab ihm inzwischen das gute Gefühl, noch nicht tot zu sein... Er war wahrlich verzweifelt. Ein Gefangener in seinem eigenen Körper. Ohne die Möglichkeit, an Aeron vorbei selbst zu bestimmen, was er tat oder sagte. Wenn die Geschichten stimmten, dann konnte man einen Schatten loswerden, indem man über ein Feuer sprang. Je größer das Feuer und je zentraler der Sprung, desto besser. Doch wie sollte er das machen, wenn seine Beine ihn nicht hören konnten? Seisyll war schon oft so weit gewesen, Aeron bewegungsunfähig zu machen. Ihn zu zwingen, in die Flammen zu starren. Aber da hörte es auf... sobald er das Gefühl hatte, endlich wieder einen Muskel erreicht zu haben, hatte Aeron ihn im Handumdrehen unterdrückt. Seisyll wusste auch, woran das lag. Er konzentrierte sich so sehr auf seine Botschaften an seine Füße, dass er ganz vergaß, Aeron in Schach zu halten. Aber wie sollte er sich auf das eine konzentrieren, ohne das andere zu vernachlässigen? Heute war ein kühler Tag, aber die steigende Sonne hatte bereits große Kraft. Wenn sie Seisyll erreichte, war es ihr ein Leichtes, die nasse Kälte der Tau- und Regentropfen zu trocknen, die er von dornigem Laub und Unterholz striff. Seisyll wagte sich vor und riskierte einen Blick. Quin war noch bei ihm. Für einen kurzen Moment sah er seinen Rücken ganz dicht vor ihm. Viel zu dicht. Panisch brach Seisyll in Aerons Geist ein, der den seinen besetzt hielt. Er musste seine Absichten lesen, koste es was es wolle! Mit dem festen Vorsatz, diesmal unter keinen Umständen nachzugeben, drang Seisyll immer weiter vor. Das Leben seines Bruders hing vielleicht davon ab. Das Leben seines einzig verbleibenden Bruders. Sicher waren sie auch vor Aerons Übernahme so weit davon entfernt die besten Freunde zu sein wie die Sterne vom Erdboden, aber sie waren trotzdem Brüder. Brüder, die zusammen aufwuchsen... Ehe es sich Seisyll versah, fand er sich in seinen Erinnerungen wieder. In den Tiefen seines eigenen Geistes. Wie hatte Aeron das nur angestellt?! Verzweifelt bäumte sich Seisyll ein weiteres mal auf. Er musste einfach wissen, ob er gerade kurz davor stand, seinen eigenen Bruder umzubringen! Seisyll hörte Aeron lachen. Dann sah er den Wald. Ungläubig sah Seisyll sich um. War das echt? Nein, sicher war es eine Illusion. Aeron ließ ihn sehen und hören, was er wollte. Und riechen. Und... fühlen. Er fühlte den Wind, der durch die Äste drang. Als er mit der Hand über sein Gesicht strich, da spürte er die Berührung. Es war echt. Mit Sicherheit und eindeutig echt. Seisyll horchte in sich hinein. Keine Spur von Aeron. Das konnte nicht sein. Hatte er ihn verlassen? Einfach so? Das konnte nicht sein. Nicht so. Die Schatten des Waldes tanzten im Wind. Er wusste selbst nicht wie er sich so sicher sein konnte, aber er wusste, dass keiner davon Aeron war oder unter seinem Einfluss stand. Bei seinem Versuch, ein Tier zu entdecken, das ein Opfer des Alben geworden war, fiel sein Blick auf das Messer in seiner Hand. Es war blutig. "QUINTEEEEEEEEEEEEN!!" Blind stürzte Seisyll in die erstbeste Richtung los. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Von verborgenen Ritzen und Fugen seines Geistes aus, die nicht einmal er selbst kannte, fühlte er Aerons Spott. Er war noch da. Natürlich war er noch da. Das wäre ja auch zu schön gewesen um wahr zu sein. Er wollte ihm zeigen, was er getan hatte. Deswegen hatte er Sei die Kontrolle gegeben. Abrupt bremste Seisyll ab und stürzte sich in die Tiefen seines Geistes. Wie ein Falke im Sturzflug machte er Jagd auf den Eindringling, der sich zurückgezogen hatte. Sein Körper fiel wie ein Sack Mehl zu Boden. Aerons Lachen stockte. Schmerz durchzuckte Seisyll, als sein Kopf auf einer Wurzel aufschlug. Doch das durfte ihn nicht ablenken. Diesmal nicht. Aeron hatte immer noch nicht begriffen, was passierte. Die Überraschung war immer noch auf Seisylls Seite. Aeron floh, spät aber doch. Wie ein Windhund heftete sich Seisyll an seine Fersen, immer mit dem Eindruck ihn fast erreicht zu haben, aber nicht ganz. Bis er es einfach beschloss: HAB' ICH DICH. Wie mit den Fängen eines Wolfes grub er sich in Aerons Präsenz, zerriss sie mit den schärfsten Krallen die er sich vorstellen konnte, zermalmte sie unter den schwersten Mühlsteinen, die er in seiner Erinnerung finden konnte. Er hatte Aeron. Und er ließ ihn bezahlen. Nun endlich offenbarten sich die Geheimnisse dieser finsteren Persönlichkeit. Eins nach dem anderen zog, riss und zerrte Seisyll aus Aeron heraus. Er war ein Nachtalb, ein Dunkelelf, wie manche sagten. Aeron Cúchulainn. Ein Späher des Königs der Schatten in den Drachenbergen. Vorbei an den Drachen streckten sie ihre finsteren Finger nach den Ländern der Menschen aus. Der Krieg machte es ihnen leicht, schnell zu reisen und sich zu vermehren. Die Schatten waren körperlos, sie konnten die Gedanken überschatten, aber nicht beherrschen. Ein Alb dagegen hatte einen Körper. Der Aerons ruhte zwischen den Leichen des Gemetzels, das die Hauptarmee zerschlagen hatte. Seisyll versuchte nicht daran zu denken, dass irgendwo unter ihnen auch die Zwillinge lagen... Er grub weiter. Je länger die Toten einfach achtlos verwesend herumlagen und nicht bestattet wurden, desto stärker wurde die Quelle der Macht. Der Abdruck der schrecklichen Ereignisse prägte sich tief in diesen Ort und nährte die Schatten. Die wiederum hegten und pflegten Aerons Körper, solange sich sein Geist als Albdruck auf Wanderschaft befand. So konnte er die Form eines Schattens annehmen, doch anders als diese konnte er einen Körper wirklich beherrschen. Ein Schatten musste das erst lernen, indem er in ein Neugeborenes schlüpfte, bevor sich dessen Seele darin festgesetzt hatte. Nur wenige schafften das ohne die Unterstützung eines Alben, der zuerst den Willen brach und die Seele schwächte, bevor der Schatten sein Glück versuchte. Seisyll schauderte und fuhr mit neuer Kraft fort, Aeron in Stücke zu zerfetzen. Nicht alle Dunkelelfen waren Alben. Sie waren Menschen wie jeder andere auch, die erst von einem Schatten besessen werden mussten. Wenn die ursprüngliche Seele des Körpers ganz verloren oder im Schatten aufgegangen war, dann durfte er sich einen Alben nennen. Das ging am leichtesten, wenn die Seele noch nicht entwickelt war, wie bei einem Kind. Aeron war einer der wenigen Schatten, die sich einen bereits herangewachsenen Menschen vereinnahmt hatten. Cúchulainn war in Aeron aufgegangen. Sein düsteres Wesen, das immer nur das Schlechteste in der Welt gesehen hatte, überließ Aeron aus freien Stücken das Kommando und griff immer seltener ein, weil er immer mehr wie Aeron zu denken begann. Bis sie eines Tages zu einer Person verschmolzen waren. Aeron Cúchulainn war geboren. Seisyll würde sich hüten, er würde er selbst bleiben. Koste es, was es wolle. Bei Quin würde das niemals funktionieren. Der war viel zu gutmütig, viel zu optimistisch. Ihn könnte man nie dazu bringen mitzuhelfen, die Menschenwelt in einen Teil des Schattenreiches zu verwandeln. Wo Menschen von Alben regiert wurden und Schatten ihnen keine Ruhe ließen... Die Späher sähten Neid, Misstrauen und Streit, um den Weg zu bereiten. Sie nisteten sich auf Schlachtfeldern und intriganten Königshäusern ein, immer darauf bedacht, dunkle Zeiten heraufzubeschwören, in denen die Schatten im Überfluss und in Frieden leben konnten. Und der einzige Lichtblick in diesem Feldzug war das Häufchen Deserteure, die unter Gilbert von Buchenwald zu neuer Stärke fanden und Tag für Tag dem Feind entkamen und sich der Heimat näherten... Es verriet viel über Aerons Zustand, dass er diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit nicht nutzte. Seisyll ließ von den Tiefen ab und suchte in den äußeren Hüllen nach Erinnerungen an die letzten Minuten. Hier drin musste man sich anstrengen, um das Zeitgefühl nicht zu verlieren. Eine Stunde musste er zurückgehen, um den Ursprung des Blutes an seinem Messer zu finden. Seisyll ließ alles stehen und liegen. Aeron entschlüpfte ihm und übernahm wieder die Kontrolle. Doch die Erinnerung, die Sei gefunden hatte, hatte er festhalten können. Es war ganz schnell gegangen. Er hatte nicht leiden müssen. Aber er hatte lange genug gelebt, dass Aeron ihm mit Seisylls Stimme hatte erklären können, wie überfällig das war. Dass er fast schon zugelassen hätte, dass etwas wie brüderliche Zuneigung ihn aufhielt. Dass nun nichts mehr zwischen ihm und seinem Ziel stand: Heerführer Gilbert von Buchenwald. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)