Die Begegnung von Nellas ================================================================================ Kapitel 1: Einbruch der Nacht ----------------------------- Heißer Atem im Nacken. Seisyll fuhr herum. Nichts. Hektisch zuckte sein Blick durch die Schatten des Unterholzes, doch der einzige heiße Atem in der Umgebung war sein eigener. Und doch spürte er eine Präsenz. Die Präsenz. Seit Tagen wurde dieses Gefühl immer stärker und stärker, doch abgesehen von den Albträumen war nichts gekommen. Es konnte nicht sein. Irgendetwas musste er übersehen. "Quin?" Seisyll zuckte vom plötzlichen Laut seiner eigenen Stimme zusammen. Etwas von der Spannung fiel von ihm ab, als er sich bemühte, nicht über sich selbst zu lachen. Er war so ein elender Feigling! "Quinten!", flüsterte er in den Wald hinein. Die Schatten regten sich, ein sanfter Wind raschelte in den Blättern, aber sonst tat sich nichts. Sein großer Bruder war nicht in der Nähe. Vielleicht wollte er ihn aber nur erschrecken... Würde ihm ähnlich sehen. Egal wie ernst die Lage war, Quin würde das ganze Heer verraten nur um Seisyll, dem sechsten der acht Brüder, ein bisschen Angst einzujagen... Er hoffte nur, dass es nicht einer seiner anderen Brüder war, die ihm aus dem Totenreich einen Besuch abstatteten. Seisyll vertrieb den Gedanken und drehte sich wieder um. Er musste weiter. Ein letzter Blick über die Schulter verriet ihm, dass auch keine Wesen anwesend waren, die man nur aus dem Augenwinkel sehen konnte. Was war das nur...? So leise wie möglich bahnte er sich seinen Weg durch Hecken und Dorngestrüpp. Will heißen: Es krachte und knackte bei jeder Bewegung. Seisyll war ein fähiger Späher, deswegen war er hier, deswegen war er immer noch am Leben, aber wenn das Gelände nicht bald leichter wurde musste er umkehren... Gerade als er sich fast dazu entschließen wollte, hörte er ein leises, zitterndes Hauchen: "Wo bist du, Seisyll...?" Stocksteif blieb Seisyll stehen und lauschte. Woher war das gekommen? "...Lass mich nicht allein, kleiner Bruder..." Quin! Seisyll hielt den Atem an und lauschte angestrengt, aber kein weiteres Geräusch war zu hören. Etwas in der Stimme seines Bruders hatte ihn noch mehr alamiert als seine Worte. Er war schwach. Er brauchte Hilfe. Aber was, wenn es eine Falle war? Die Schatten waren dicht hier im Wald. Zügig ließ er seinen Blick über das Gestrüpp zwischen ihm und der Stimme seines Bruders schweifen. Er plante ein paar Wege, dann gab er auf. Es war unmöglich, schnell und leise zu ihm zu gelangen. Nach kurzem Zögern entschied sich Seisyll für schnell. Er wusste, dass es ein Fehler war. Er wusste auch, dass es ihn das Leben kosten könnte, wenn es ein Fehler war. Aber etwas in der Stimme seines großen Bruders jagte es ihm kalt den Rücken runter. Eilig krachte er durchs Unterholz, duckte sich unter Zweigen weg und kletterte über einen umgestürzten Baumstamm, dann stand er am Rand einer Lichtung. Da war Quin. Sie sahen sich an. Seisyll seufzte erleichtert. Als die Anspannung von ihm abfiel, wurde er wütend. Während er sich durch den letzten Brombeerstrauch arbeitete, zischte er ihm leise zu: "Quin, lass den Blödsinn verdammt! Du hast mir eine wahnsinnige Angst eingejagt. Ich dachte schon, dir ist was passiert! Du kannst dich ruhig darüber lustig machen, ha ha, dummer übervorsichtiger kleiner Sei... Ja, komm, tu dir keinen Zwang an, du kannst aufstehen!" Seisyll zog die letzten Dornen einen anhänglichen Zweiges aus seinem Ärmel. Quin trieb es mal wieder viel zu weit. Zornig holte er Luft, um seinem Bruder die Meinung zu geigen. Da geronn ihm das Blut in den Adern. Quin lag immer noch in der Mitte der Lichtung, unbewegt. Der Kopf war zur Seite gerollt, die offenen Augen starrten zum Unterholz, durch das Seisyll sich gekämpft hatte. Hatte. Der Blick seines Bruders traf ihn nicht, sondern stierte knapp an ihm vorbei. "...Quin?" Ratschend riss ein Dornenzweig an seinem Hosenbein, als er panisch zu seinem Bruder sprintete. "QUINTEN!" Kein Blut, keine Verletzungen. Die Haut war warm. "Lass den Blödsinn!! DAS IST NICHT MEHR LUSTIG!!" Der Kopf rollte kraftlos hin und her, als er Quin schüttelte. Die toten Augen starrten blicklos geradeaus. "...Quinten!" Da war er wieder. Der heiße Atem. So nah, dass ihn die Nüstern hätten berühren müssen. Es war ihm egal. Das war ein Fehler. Seisyll spürte, wie die Präsenz in ihn schlüpfte. Anders konnte er dieses Gefühl nicht beschreiben. Etwas zog sich seinen Körper an wie ein Hemd. Immer häufiger hätte er in letzter Zeit schwören können, dass die Schatten seine Haut striffen. Jedes mal hatte er alamiert seine Wachsamkeit erhöht, jedes mal war das Gefühl verschwunden. Nun prickelte ein fremder Wille in seinen Muskeln und es war ihm egal. Wie im Traum erhob er sich. Er starrte auf den fremd wirkenden Körper hinab. Langsam drehte er den Kopf zur Seite und traf den Blick der Bäume. Ein humorloses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Natürlich. Sie waren alle gekommen. Wer war gekommen? Seisyll konnte sich diese Frage nicht beantworten. Doch nur ein kleiner Teil von ihm fand das merkwürdig. Der Rest versuchte sich einzureden, dass das alles nur ein weiterer Albtraum war. So sicher wie er vorhin im Wald den Atem im Nacken gespürt hatte, meinte er nun ein Lachen zu hören. Gleichzeitig war er davon überzeugt, dass seine Ohren nichts dergleichen wahrnahmen. Ein Albtraum also. Nur wo war der Alb? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)