Wunsch von pandine ================================================================================ Kapitel 1: Entschluss --------------------- Ich stand auf, wie jeden Tag. Zog mich an und begab mich nach unten um in angespannter Atmosphäre mit meinen Eltern zu essen. Überall im Haus, in der Villa, merkte man protzigen Reichtum, es brachte mich immer wieder fast zum Erbrechen. Langsam ging ich die Schreittreppe hinunter und versuchte mit so wenig vom Haus in Berührung zu kommen. Unten angekommen verschlang ich unter tadelndem Blick schnell und hastig mein Frühstück, verbeugte mich kurz vor meinen Eltern, die immer noch bei ihrem ersten Brötchen waren, und schritt aus der Halle mit dem langem Tisch, unserem, nein, ihrem Esssaal. Ich schnappte mir die Tasche, die einer der Butler mir entgegenhielt und eilte aus diesem Haus, das mich fast erdrückte. Draußen verweilte ich ein wenig und atmete tief die Luft ein, so anders als die stickige Luft im Haus. Danach fing ich an zu rennen. Ich rannte den ganzen Schulweg und kam keuchend an. Kurz vor dem Schultor kam ich japsend zum Stehen. Ich atmete ein und aus, beruhigte meine Atmung. Ich legte eine ausdruckslose Miene auf mein Gesicht und betrat in würdevoller, fast arroganter Haltung die Schule. Meine Rolle als eine millionenschwere Erbin. Während ich mit durchgestrecktem Rücken durch den Hof ging, wichen die Leute vor mir und machten mir Platz. Hier wurde ich meinem Ruf als reiche, verwöhnte Tochter gerecht. Ich schaute verächtlich auf die Anderen hinab und ging meines Weges. Im Klassenzimmer angekommen hörten alle auf zu reden, als ich durch die Tür zu meinem Platz ging. Flüsternd setzte Getuschel ein, ich überhörte dies alles gekonnt und bedachte alle mit einem vernichtendem Blick. Der Unterricht verlief wie immer, die Zeit flog vorbei. Nach der Schule ging ich die vielen, belebten Straßen der Stadt entlang. Irgendwann bog ich in eine dunkle Gasse ab. Sie lag abgelegen von dem weitem Trubel der Stadt, sie roch ein wenig muffig. Einige streunende Katzen hatten Mülleimer umgeworfen, dessen Inhalt sich jetzt auf dem Gassenboden ergoss. Ein unangenehmer Geruch streifte durch die Luft, doch ich ging einfach weiter, über die Müllhaufen und den Dreck, über Unrat, der an meinen Schuhen hängen blieb. Ich fing an, durch die Gasse zu laufen, immer schneller. Ich rutschte fast aus, es hinderte mich jedoch nicht daran, mein Tempo zu mindern. Ich lief und rannte. Ich bemerkte noch nicht einmal, wie sich die Landschaft schlagartig veränderte und alles um mich herum die Form eines Gewirres annahm. Ich blieb erst stehen, als mich etwas an den Beinen streifte. Ich sah herunter und sah den schmutzigen Betonboden nicht mehr. Ich sah Rot, Orange und Gelb flimmern. Ich blickte auf. Der Raum, der um mich herum war, hatte keine Form. Er veränderte ständig sein Aussehen, es sah aus wie eine Kollage. Vorsichtig um mich blickend ging ich in all diesem Gewirr weiter und irrte durch diesen Irrgarten. Wo war ich hier? Was ist das hier eigentlich? Kleine Gestalten lösten sich von den Wänden, falls das Wände waren, und kamen mit einem undefinierbarem Gesichtsausdruck auf mich zu. Ihre kleinen Augen waren hastig mit Buntstift gemalte Kreise. Ihr Körper bestand nur aus mehreren Strichen, einem Dreieck und einem Vieleck. Es scheint egal wo es ist, manche am Kopf, manche an den Beinen. Es war beängstigend, ich wich vorsichtig vor den kleinen Wesen zurück. Alles in mir schrie und wollte wegrennen und fliehen. Dann hörte ich Schüsse. Es war leise, kaum hörbar, doch die Wesen nahmen es war. Sie krümmten sich und hielten sich ihre Augen mit ihren Drei- oder Vielecken. Panisch blickte ich um mich, jeder Faser meines Körpers zur Flucht bereit. Mein Blick wanderte hin und her, Schweiß rann mir über die Stirn. Ich merkte nicht die Fluchtgelegenheit, die sich mir bot, als die Wesen ihren Rückzug antraten. Ich blieb stocksteif erstarrt an Ort und Stelle, unfähig mich zu rühren. Wellen der Angst rückten durch meinen Körper, ich sah zu, wie die Wesen sich weiter entfernten und nur einen immer wiederkehrenden Chorus aufsagten. "Sie. Ist. Nicht. Wir. Nehmen. Sie. Bringen. Sie. Zu Ihr. Er. Erwartet. Uns." Immer und immer wieder sagten die Wesen diese Sätze, Wörter, ich hörte sie selbst dann noch im Hintergrund, als sie längst nicht mehr zu sehen waren, mit dem sich bewegendem Raum verschwunden waren. Zögerlich bewegte ich mich ein wenig, streckte meine Hand aus. Mein Körper war vor Schock immer noch wie gelähmt und ich kam nur Stück für Stück von meinem bisherigem Standpunkt weg. Alles in mir war angespannt und bereit, bei der kleinsten Gefahr die Flucht zu ergreifen. Jeden meiner Schritte wählte ich mit Bedacht und durchschritt diesen seltsamen Raum mit seinen sich bewegenden Mustern und Farben. Klaffende Löcher, die sich vor mir auftaten und wieder verschwanden. Nun hörte ich wieder einen Knall. Dann noch einen. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken, doch diesmal bewegte ich mich weiter, ging in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Ich entdeckte eine Tür in all dem Gewirr und wollte sie gerade öffnen, als die Wesen aus der Tür rauschten. Sie kreischten alle durcheinander und schienen vor etwas zu fliehen. Ein Schuss streifte eins der Wesen, es zerfiel zu Staub. Angsterfüllt drehte ich mich langsam zu der Tür und blickte hinein. Ein Mädchen, bestimmt nicht älter als ich, stand in der Mitte von Schmetterlingsflügeln, allesamt verzerrt und unheimlich bemalt. Sie hatte den Rücken zu mir gewandt und hielt ein Gewehr in der einen Hand. Ihre Kleidung war zerrissen und sie schoss immer weiter und weiter auf die Flügel, ununterbrochen. Ich konnte nur dastehen und ihr zusehen, war unfähig, etwas zu tun. Dann schien sie meine Anwesenheit zu bemerken, denn sie drehte sich zu mir um. Leere Augen streiften meinen Blick, bevor er weiterwanderte. Schüsse knallten und streiften mich gefährlich nahe. Vor Schreck erstarrt sank ich zu Boden, mein Herz raste. Ich hatte vergessen zu atmen, holte dies jetzt vorsichtig nach. Das Mädchen starrte mich an. Ihre Augen waren verschleiert, ich sah nur Verzweiflung und Selbsthass. Ihr Ausdruck war leicht wahnsinnig. Ich fragte mich, was es damit auf sich hatte. Angst überrollte mich, Angst, wie ich sie noch nie in meinem Leben verspürt habe. Auf einmal schoss ein schwarzer Strahl aus dem Körper des Mädchens, dann noch einer. Sie schossen zur scheinbaren Decke hoch und sammelten sich dort, das Mädchen selbst sackte zusammen. Der seltsame Raum um uns verschwand. Über uns leuchtete ein strahlend blauer Himmel. Die Gassen waren dunkel und grau, im Schatten lag das Mädchen. Es hatte überall Wunden und langsam, nach und nach kam wieder Leben in ihre Augen. Doch die Verzweiflung und die Angst blieb. Ich wollte mich ihr nähern und ihr helfen, sah dann aber ein Leuchten. Wieder klebte ich an ein und derselben Stelle fest und konnte mich nicht rühren. Diesmal jedoch war es nicht die Angst, die mich an meinem Standpunkt fesselte, sondern ein Licht. Ein Licht, es strahlte und leuchtete unglaublich hell und warm, einladend und doch wollte ich mich von ihm fernhalten, denn dieses Licht ist nicht für mich bestimmt. Ich sah wieder ein Mädchen, es hatte ein weißes Kleid an. Haare, in einem weichem Rosa gehalten, umflatterten ihr sanft blickendes Gesicht. Sie schien mich nicht zu bemerken, ihre Aufmerksamkeit war ganz dem anderem Mädchen gewidmet. Sie beugte sich leicht zu ihr hinunter, einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Ich bemerkte ihre zwei Zöpfe, die von weißen Bändern zusammengehalten wurden. Sachte glomm ein Leuchten auf, es kam von dem verletztem Mädchen. Ihre Augen lachten wieder, dann blendete erneut ein Licht meine Augen und ich schloss sie. Nach einigen wenigen Sekunden öffnete ich meine Lider wieder, doch beide Mädchen waren verschwunden. Immer noch halb erstarrt sah ich nach oben in den weiten Himmel. Hier in der Gasse schien er begrenzt zu sein. Ich ließ mich auf den Boden sinken und spürte den Schmutz, die feuchte Erde, die kaputten Pflastersteine. Versuchte das aufzunehmen, was sie wohl gespürt haben mochte. Ich stellte mir die Frage, wer sie war. Das Mädchen in dem bizarrem Raum hatte ein farbenfrohes Kleid mit vielen Rüschen getragen, welches jedoch während des Kampfes zerschlissen geworden war. Mit wem hatte sie gekämpft? Ich konnte es nicht erkennen, nicht von den sich wandelnden Wänden und Wesen unterscheiden. Wo war ich überhaupt gewesen? Immer mehr Fragen zerrissen meine Gedanken und hinterließen nichts als Unruhe in mir. Die Sonne zog friedlich weiter ihre Bahnen am Himmel, so, als ob nicht gewesen wäre. So, als hätte sie die Szene eben nicht bemerkt oder würde sie gar ignorieren. Ich mochte sie nicht. Plötzlich wurde ich mir der späten Uhrzeit bewusst. Hastig erhob ich mich, meine Sachen waren eingedreckt und stanken nach Mief und einer dunklen Gasse. Ich durchschritt die Gassen und als ich wieder in das Sonnenlicht, in die helle Wirklichkeit trat, nahm ich wieder die Rolle einer Erbin an. Durchgestreckter Rücken, erhobener Kopf und ein alles überschauender Blick. Die meisten Leute wichen mir mit einem Naserümpfen aus, ich ignorierte sie und schritt weiter durch die Stadt und auf zu der Villa meiner Eltern. Ich wich den Stellen aus, wo mein Butler mich wahrscheinlich mit der Limousine fahrend suchen würde. Ich machte große Umwege in die Natur, die noch in der Großstadt existierte und genoss das Gefühl, welches ich immer verspürte, wenn bald der Mond am Himmel stehen würde. Freudige Erwartung zuckte in meinen Fingerspitzen. Hüpfend setzte ich meinen Weg fort. Durch Büsche und Waldland, Wiesen und Felder. Durch den Trubel der Großstadt, Menschenmassen. Durch mein Leben. Nach vielen Umwegen und Kreuzungen kam die Villa in Sicht. Prächtig erhob sie sich von den weiten Wiesen und Wäldern, die sie umgaben, und leuchtete in einem strahlendem Weißglanz. Polierter Marmor blitzte auf den Außentreppen, blank geputzte Fenster luden ein. Die große Ebenholztür in der Mitte des mächtigen Gebäudes stellte den Eingang da. Stets warteten dort einer der zahlreichen Butler oder Dienstmädchen darauf, Gäste anzukündigen. Heute stand dort meine Dienerin Griselda. Sie lief vor der Tür hin und her. Besorgt blickte sie nach allen Seiten und wippte unruhig auf der Stelle, bevor sie ihr nervöses Hin-und-Her-Laufen fortsetzte. Dann hatte sie anscheinend mich entdeckt, denn sie stoppte augenblicklich und raste auf mich zu. Ich war erstaunt, was für ein Tempo sie vorlegen konnte, wenn sie wollte. Sie achtete nicht auf den Dreck auf meinen Kleidern, sondern gab mir eine dicke Umarmung. Ich spürte etwas Nasses auf meiner Schulter und hörte leises Weinen. "Griselda...?", fragte ich, leicht verwirrt. Behutsam legte ich einen Arm auf ihren Rücken, dann den anderen. "Ich... dachte...", fing sie schluchzend an, der Rest ging in ihren Tränen unter. Ich tat wieder nichts und stand unfähig da. Vorsichtig fing ich an, ihr über den Rücken zu streicheln. Einige Sekunden, vielleicht auch Minuten, später hatte sie sich wieder erholt und beendete ihren Satz. "Ich dachte Ihr kommt nie wieder zurück", sagte sie, während erneut eine Träne den Weg aus ihrem Auge und an ihrer Wange hinunter fand. Unbewusst fing ich an zu lächeln. Sie hatte sich Sorgen um mich gemacht. "Ich würde dich nicht verlassen", murmelte ich und drückte sie noch einmal ganz fest, "Ich würde immer zu dir zurückkehren..." Auf einmal übermannte mich die Müdigkeit und ich sackte zusammen. Ich sah nichts mehr, außer die Schwärze des Traumlandes, die mich jetzt umgab und in den Schlaf wiegte. Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, lag ich in meinem weichem Himmelbett in der Villa. Die Sonne lachte durch das Fenster hinein. Immer noch benommen vom Schlaf wischte ich mir über meine Augen und setzte mich aufrecht hin. Ich bemerkte eine Gestalt an meinem Bett, sie schlief. Den Kopf auf die Arme eingebettet hob und senkte sich ihr Brustkorb in regelmäßigen Abständen. Lange blonde Haare verdeckten ihr Gesicht. Es war Griselda. Ihr Anblick, wie sie so schlafend an meinem Bett wachte, erweckte Wärme in mir. Ich sah sie zärtlich an, doch wusste ich auch, dass ich sie bald verlassen würde. Verlassen um sie zu finden. Diesen Entschluss hatte ich irgendwann gefasst, vielleicht in meinen Träumen, vielleicht kurze Zeit nach der Begegnung mit ihr. Ich wusste es nicht mehr. Das Einzige, was sich ganz klar in meinen Gedanken bildete war, ich musste nach Japan gehen. Nach Tokyo. Wieso und weshalb, ich wusste es nicht. In meinen Träumen hatte ich ein schwarzhaariges Mädchen gesehen. Sie hatte mich nicht angeblickt, überhaupt hatte sie einfach nur dagestanden. Inmitten von den vielen schwarzen Schatten und Gestalten, die nach ihr zu greifen schienen. Es war ein faszinierender und abschreckender Anblick. Ihre violetten Augen hatten einen zielbewussten Ausdruck. Sie erhob sich zum Kampf gegen die Wesen der Nacht, diese Schatten, die nach ihr griffen und sie stürzen wollten. Eine kleine Bewegung im Augenwinkel riss mich aus meinen Gedanken heraus. Griselda wachte wieder auf. Müde rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und sah in meine Richtung. Ihr Gesicht sah wacher aus, nachdem sie gemerkt hatte, dass ich aufgestanden war. "Wie fühlen Sie sich? Geht es Ihnen gut?", fragte sie immer noch besorgt. "Mir geht es gut, danke", erwiderte ich und wollte aus dem Bett steigen, doch dann überkam mich ein Schwindelgefühl. Ich taumelte und setzte mich schnell wieder auf die Kante des Bettes. Griselda kam sofort näher und legte mir eine Hand auf meine Stirn, fühlte meine Temperatur. Ich spürte ihre Erleichterung, als sie merkte, dass meine Temperatur nicht sonderlich hoch war. Sie erhob sich wieder und sagte: "Ich gehe Ihnen schnell ein Frühstück zubereiten. Bitte warten Sie kurz, Miss." Sie eilte davon und ließ mich eine Weile allein. Wieder kehrten die Gedanken an die Mädchen zurück. Ich wollte so gerne zu ihnen gehen, doch wie sollte ich es Griselda mitteilen? Ich zerbrach mir den Kopf, nur um danach auf den Entschluss zu kommen, es ihr einfach zu sagen. Also wartete ich nun auf sie. Kurze Zeit später kam sie mit einem vollbeladenem Tablett wieder in das Zimmer. Sofort erfüllte ein heimeliger Duft den Raum nach Croissants, frischgebackenen Brötchen, frischer Marmelade und heißem Kakao. Sie stellte das Tablett mit den noch dampfenden Sachen auf den leeren Nachtisch und holte aus einem der vielen Schränke einen kleinen Klapptisch heraus, der extra für Frühstück am Bett gemacht worden ist. Das dunkle, glatte Holz war schwer und ich merkte, wie meine Matratze mindestens fünf Zentimeter an den Stellen, wo die Füße des Tisches die Matratze berührte, nach unten sank. Behutsam und langsam stellte Griselda das Tablett ab. Darauf standen ein leerer Teller, ein Korb mit verschiedenen Brötchen und Croissants, eine Tasse dampfender Kakao und eine schmale, weiße Vase mit einer kleinen Sonnenblume. Messer, Gabel und Löffel lagen dort, wo sie auch beim Abendessen lagen. Löffel über dem Teller, Messer rechts und Gabel links. Griselda nahm ein Brötchen und ein Messer in die Hand, schnitt es krümelfrei auf und bestrich es mit einer Mischung aus Himbeer- und Kirschmarmelade. Nach getaner Arbeit positionierte sie das bestrichene Brötchen auf meinem Teller. Ich nickte kurz und fing an zu essen. Ich versuchte, nicht allzu viel zu krümeln, doch das ging gründlich daneben. "Und genau dies ist der Grund, weshalb Sie normalerweise nicht am Bett essen dürfen", tadelte Griselda mich, während sie vorsichtig einige Krümel von meiner Bettdecke aufsammelte und auf ein kleines, leeres Schälchen tat, welches auch auf dem Tablett gewesen war. Anscheinend hatte sie das schon geahnt. Ich murrte nur mampfend. Um meinen Mund herum hingen auch Krümel, die bei jedem weiterem Bissen abfielen und auf die Bettdecke rieselten. Ich genoss noch kurz die morgendliche, freundliche Atmosphäre, wusste jedoch, dass es bald Zeit werden würde. "Griselda?" Ich räusperte mich und trank noch einen großen Schluck Kakao. "Ja?" Das kleine Schälchen, wo sie die Krümel ablagerte, war schon voll. "Ich möchte nach Japan gehen. Nach Tokyo." Sie erstarrte mitten in ihrer Bewegung. Sie wendete mir ihr Gesicht zu, es sprach von Ungläubigkeit. "Was? Aber wieso möchten Sie nach Tokyo? Gefällt es Ihnen hier etwa nicht?" "Nein, das ist es nicht... Nur...", ich zögerte und wusste nicht, ob ich ihr von ihnen erzählen sollte. Nein, ich konnte es nicht. Sie würde es nicht verstehen, dieses Undefinierbare, was mich zu ihnen zog. In meinem Herzen machte sich eine große Sehnsucht breit, ich konnte sie nicht kontrollieren, ihr Ausmaß nicht verringern. "Ich würde gerne nach Tokyo gehen. Alleine", fügte ich noch hinzu, auch wenn mir klar war, dass ich sie so auch schon genug verletzt hatte, konnte aber nicht anders. Ich musste dorthin, auch wenn sie es nicht verstehen würde. "Aber..." Ihre Ungläubigkeit wich blankem Entsetzen. "Sie haben mir doch gesagt, dass ..." "Ich komme auch wieder zurück, versprochen." Sie schluckte und sah auf den Boden. Es herrschte Schweigen, Totenstille. Ich hörte das leise Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Blätter und Schritte, die durch die großen Flure im Haus hallten. Und ich hörte Stille, die sich zwischen ihr und mir ausbreitete. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich, wenn ich zurückkomme, wahrscheinlich nicht mehr dieselbe sein werde. Die Vorstellung stieß sich wie ein Stich des Zweifels in mein Herz. Schnell schüttelte ich diesen nagenden Zweifel von mir ab. Griselda fing an, erneut zu sprechen. "Wenn es Euer Wunsch ist, kann ich Sie wohl nicht davon abhalten." Sie lächelte traurig und räumte ab. Nachdem sie alles verstaut hatte, nickte sie mir bekümmert zu und schloss die Tür lautlos hinter sich. Nun war ich wieder allein, am Rande nahm ich ihre sich entfernenden Schritte wahr. Kapitel 2: Aufbruch ------------------- Mit einem Kloß im Hals stieg ich die Treppen hinunter. Es war Abend geworden, und somit auch Zeit für das Abendessen im Saal mit meinen Eltern. Langsam ging ich die langen Flure entlang, um mich herum war blank geputzter Marmor, Kronleuchter erhellten elegant die langen Flure, die mir wie Marmortunnel vorkamen. Ich setzte einen Schritt vor den anderen, meine Bewegungen stockten immer wieder. Ich wusste, dass meine Eltern es mir wahrscheinlich nicht erlauben würden, alleine nach Japan zu fliegen, aber ich musste. Ich wollte sie sehen, unbedingt. Ein unbändiger Drang tobte in mir und nahm mir die Luft zum Atmen weg, ebenso wie sie mir Hoffnung gab. Das Haus kam mir noch einengender vor, als es normalerweise war. Ein Butler öffnete mir die Tür zum Esssaal, ich ging hinein. Meine Eltern saßen schon an der langen Tafel aus Buchenholz und warteten auf mich. Ich machte einen Knicks und setzte mich hin. Das Essen wurde aufgetragen. Der silberne Deckel, ich hatte seine Bezeichnung vergessen, wurde von einem der Butler von meinem Teller gehoben. Warmer Dampf stieg von der heißen, frisch gemachten Suppe auf, der den Geruch meiner Lieblingsgewürze mit sich trug. Als ich den Löffel nahm, um die Suppe zu essen, wurde mir fast schlecht. Immer noch steckte der Kloß in meinem Hals, ich konnte kaum noch atmen. Ich wusste nicht, was mir gerade so dermaßen die Luft abschnitt, dass es wehtat. Meine Eltern sahen mich erstaunt an. "Was ist denn, Schatz?", fragte meine Mutter mit ihrer freundlichen, hohen Frauenstimme. Ich konnte nicht antworten. Ich trank einen großen Schluck Wasser. Ich ahnte, dass dieser Kloß nicht verschwinden würde, ehe ich die Erlaubnis bekommen hatte. Ich atmete tief durch. "Ich will nach Tokyo gehen." Stille herrschte im Saal. Unendlich lang, so kam es mir vor. Endlich erhob Vater das Wort. "Warum?" Das war das einzige Wort, was er sagte, eine einzige Frage, die er mir stellte, und doch konnte ich sie nicht beantworten. Wieder Schweigen, nachdenklich hing es in der Luft. Fieberhast überlegte ich, wie ich es ihnen sagen konnte, mir fiel jedoch nichts ein, was ich ihnen sagen konnte. Dann hörte ich ein Seufzen, es kam von rechts, dort, wo Vater saß. Ich hob meinen Kopf und sah zu ihm. Er schaute mich direkt an, ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. Eine halbe Ewigkeit, jedenfalls fühlte es sich für mich so an, später blickte er zu meiner Mutter und nickte ergeben. "Na gut. Es ist schließlich auch die erste Bitte seit Langem, wenn ich mich nicht irre, sogar die erste", sagte er mit einem traurigem Unterton. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Der Kloß plumpste einfach ins Nirgendwo, ich atmete wieder frei. Ich fühlte mich auch frei und erleichtert, dass ich sie endlich treffen würde. Es war zwar nur einige Stunden, oder doch Tage, her, seit ich sie kenne, aber sie hatten bisher zuviel meiner Gedanken eingenommen. Sie zu vergessen wäre unmöglich für mich. "Danke." Es war das einzige Wort, was ich noch herausbrachte. Tränen der Freude rannen mir über das Gesicht. "Aber dafür musst du jetzt aufessen", meinte Mutter mit einem amüsiert strengem Ton. Ich nickte und löffelte meine Suppe, die ich jetzt in vollen Zügen genoss. Auch die nächsten Hauptgänge aß ich bis auf den letzten Krümel auf. Nach dem Essen verbeugte ich mich noch schnell vor meinen Eltern und ging dann flott die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Es ging auf einmal alles so leicht und jedes unangenehm beklemmende Gefühl war wie verflogen. Es war Glück. Hieß das, ich war die ganze Zeit, die ich hier gewohnt habe, unglücklich? Bilder der Vergangenheit schossen mir durch den Kopf, doch ich schob sie beiseite. Nein, jetzt nicht. Nicht in diesem glücklichem Moment. Ich ging in mein Zimmer und stopfte alles Überlebensnotwendige in meinen schwarzen Koffer, der bald gefüllt war mit T-Shirts, Pullovern, Hosen und so weiter. Ich rief einen Diener, er sollte mir Japanischbücher kaufen, damit ich es so schnell wie möglich lernen konnte. Nach einer Stunde brütete ich über meinem Schreibtisch, in meinem Kopf schwirrten japanische Schriftzeichen und dessen Aussprache und Grammatikregeln, Konjugation und Verhaltensregeln. Schnell hatte ich verstanden und nach einem weiterem Tag Lernen hatte mein Vater mir ein Flugzeug bereitgestellt. Der Wind blies an diesem Tag sehr stark durch die Straßen und wirbelte lose herumliegende Blätter auf, verstreute sie in die Weiten der Welt. Ich und meine Eltern standen uns gegenüber, wir waren alle dick eingepackt, denn der Wind war keine angenehm warme Sommerbrise, sondern der Anfang eines Herbststurmes. "Ich danke euch", sagte ich und blickte den beiden in die Augen. Sie sahen zurück und lächelten. "Du kommst wieder, oder?", fragte meine Mutter ein wenig besorgt. "Ja", antwortete ich. Tränen schwammen in meinen Augen, doch ich blinzelte sie weg, als ich den festen Blick meines Vaters erwiderte. "Wir warten auf dich." Ich nickte und winkte ihnen noch einmal. Dann drehte ich mich um und ging auf das Flugzeug zu, versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die jeden Moment aus meinen Augen zu fallen drohten. Ich wischte sie energisch jedes Mal wieder weg, doch sie kamen erneut. Nein, jetzt nicht weinen. Es war meine freie Entscheidung, also wein jetzt nicht. Ich ging tapfer den weiteren Weg, den Kopf erhoben, so wie in meiner Rolle der Erbin. Jetzt wurde ich mir bewusst, dass ich noch keine neue Persönlichkeit für meine Zeit in Japan festgelegt habe. Die Treppe zum Flugzeug kam immer näher. Näher und näher. Er stellte die Endgültigkeit meiner Bitte dar und ich wich nicht zurück. Ich war ihnen mit jedem Schritt näher, mir war, als würde das rosahaarige Mädchen mich von hinten nach vorne schieben. Mich auf jedem meiner Schritte begleiten. Finde mich, schien sie zu flüstern, doch ich stempelte es als Einbildung ab. Ich stand auf der letzten Stufe der Treppe, nur wenige Schritte vom Innerem des Fliegers entfernt. Ich hatte nicht den Mut, meine Eltern ein letztes Mal anzusehen. Ich streckte meinen Rücken durch und erhob meinen Kopf noch einmal. Dann stolzierte ich entschlossen in die Maschine, die mich von ihnen trennen würde. Von all denen, die mir bisher mein verwöhntes Leben ermöglicht haben. Ich trennte mich von meinem Käfig. Ich würde sie treffen. Ich werde sie treffen. Sie endlich treffen. Diese Gedanken überschatteten alles, woran ich denken konnte mit einem kleinem Hauch von Sehnsucht und Freude. Das Flugzeug landete. Es rollte noch eine Weile über den Landeplatz und visierte seine Parkstelle an. Eine Durchsage ertönte. "Wir sind soeben gelandet, Miss Lilith. Bitte gedulden Sie sich noch eine Weile, es werden gleich Leute kommen, um Sie abzuholen." Ich war die einzige Person im Flugzeug. Meine Fingerspitzen kribbelten vor Aufregung. Die Stewardess, die den ganzen Flug für mein leibliches Wohl gesorgt hat, packte nun all meine Sachen wieder ordentlich ein. Ich wartete auf die Person, die mich hier abholen würde. Nach wenigen Minuten kam sie auch, meine Tante Yukiko Kizuhara. Sie sah so aus wie auf den Bildern, die ich von ihr gesehen hatte. Lang wallendes, schwarzes Haar und freundliche braune Augen. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock, ihr Gang war federnd und sie wirkte elegant und sanftmütig. "Lilith-chan!", begrüßte sie mich winkend, während sie den großen Bauch des Flugzeuges durchschritt, in dem sich 4 Sitze gegenüberstanden. "Immer noch so prunkvoll wie immer, was?" Sie sah sich staunend um, während ich mich aus meinem Sitz erhob und über den Teppichboden zu ihr ging. Meine Tasche hatte ich fest in der Hand. "Wohl wahr", meinte ich und blieb vor ihr stehen. Sie musterte mich von oben bis unten. "Was für ein tolles Mädchen doch aus dir geworden ist!", stieß sie begeistert aus und drückte mich. "Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch so klein!" Sie zeigte eine ungefähre Größe von einem Meter. Sie lachte und wir gingen gemeinsam aus der Maschine. Ich verneigte mich kurz vor dem Piloten, bevor ich schnell meiner Tante hinterher schritt, die währenddessen weitergegangen war und fröhlich plapperte und plapperte. Ich sah mir die Gegend um mich herum an. Es war ein typischer Flughafen, wie es ihn auch in Deutschland gab. Ich konnte die Schrift lesen und war nicht mehr auf die englischen Untertitel angewiesen, die zur Orientierung für Ausländische oder diejenigen, die die Sprache nicht beherrschten, diente. "Yukiko-san? Haben Sie mich auch auf der richtigen Schule angemeldet?", fragte ich meine Tante höflich und auf Japanisch. Sie verstand und wechselte auch um. "Aber natürlich, was denkst du denn? Du kannst mich übrigens duzen, Lilith-chan", sagte sie mit einem Lächeln. "Warum wolltest du eigentlich ausgerechnet auf diese Schule?" "Weil... Eben deshalb, etwas dagegen?", wich ich der Frage aus. "Nein." Sie sah mich erstaunt an, dann platzierte sich wieder ein Lächeln auf ihr Gesicht. "Na, wollen wir doch mal in das Auto und zu uns nach Hause fahren." Sie ging auf ein schwarzes Auto zu. Sie öffnete den Kofferraum und vermittelte mir mit einigen Zeichen, ich solle die in den Kofferraum legen. Das tat ich schnell und wir stiegen dann in das Auto ein. Ich saß auf dem Beifahrersitz und starrte aus dem Fenster. Überall war der Trubel der Großstadt zu sehen, es blinkten viel mehr Lichter und Straßenlaternen als in meiner Stadt. Gläserne Wände der Bürogebäude spiegelten die Lichter wieder. Autos hupten, Mofas drängten sich einen Weg durch den Verkehr und prompt saßen wir auch im Feierabendsverkehr fest. Entschuldigend sah mich Yukiko an. "Gewöhn dich lieber daran, es ist jeden Tag so." Sie konzentrierte sich wieder auf den schleppenden Verkehr. Ich sah weiter aus dem Fenster und beobachtete die verschiedenen Leute, Schüler und Studenten, Anzugsleute, die hin- und hereilen. Das Gewusel in Tokyo. Bäume blitzten mitten in der Stadt auf und verliehen etwas von dem Glanz der Natur an die Stadt. Gamecenter standen an jeder Ecke, lautes Gegrölle war bis hierhin aus den Karaokebars zu hören. Es war faszinierend zu beobachten. Nach einer halben oder sogar ganzen Stunde kamen wir endlich an. Es war ein Appartement mit einem Balkon und zwei Schlafzimmern, einem Bad, einer Küche, einem Wohnzimmer und einem Abstellraum. Es war die Wohnung eines normal verdienendem Pärchen in Japan, schätze ich. "Du kannst das alte Schlafzimmer von unserer Tochter haben, sie ist vor einem Jahr ausgezogen und seitdem ist es leer. Ich würde sagen, du ruhst dich aus und morgen geht es ab in die Schule! Die Uniform liegt auch schon bereit, Jun kannst du auch morgen kennenlernen, er ist zu dieser Zeit bestimmt noch nicht zu Haus." "Wer sagt das?", ertönte eine Männerstimme aus der Richtung des Eingangs. Ein großer Mann kam in die Wohnung und lächelte mich an. Er hatte ebenfalls schwarze Haare, wie Yukiko, und trug einen schwarzen Anzug und hatte eine Brille. "Das ist also die berühmt-berüchtigte Nichte von dir?" Er schein auch viel zu reden. "Warum bist du denn hier?", fragte sie, statt seine Frage zu beantworten, ungläubig. "Ich durfte heute früher gehen, weil es nichts mehr zu tun gab." Er kratzte sich den Kopf und begab sich in die Küche. "Was willst du heute essen?", rief er durch die Wohnung. Anscheinend hatte er selbst seine Frage vergessen, die er gestellt hatte. "Warte, ich helfe dir gleich. Fang noch nicht an, ich zeige Lilith-chan nur noch schnell ihr Zimmer!", rief sie zurück und wandte sich dann mir zu. "Komm, wir wollen mal das Zimmer bewundern. Ich und Jun haben es in den letzten Wochen wieder hergerichtet, da wir es eigentlich vermieten wollten, aber das kommt uns auch gelegen. Ich fand die Vorstellung nicht so berauschend, noch einen dritten Erwachsenen mit versorgen zu müssen, der zudem auch noch wildfremd ist." Sie erschauderte. Sie öffnete eine Holztür und trat in mein zukünftiges Zimmer ein. Sie schaltete das Licht an, welches von einer Lampe an der Decke kam.Auf dem Boden lagen Tatamimatten und sonst stand da nur eine Matratze. Das Fenster zeigte den Ausblick vom 15. Stockwerk auf Tokyo. Das Fenster verlief in der Mitte der Wand von links nach rechts durchgängig und nur oben und unten war wirklich Wand. Die Fensterbank aus einem gesprenkeltem Stein, vielleicht auch zusammengeschweißten Steinen, war sauber und leer. "Tschuldige, dass wir noch kein Bett haben, aber du kamst so unerwartet und...", sagte sie entschuldigend. "Schon gut, ich habe auch nicht mit meinem Traumzimmer gerechnet", winkte ich ab und fügte noch hinzu, "Ich mag das Fenster, es ist so schön weitläufig." "Das freut mich aber, das ist eine Sonderwunsch unserer Tochter gewesen, als wir eingezogen sind." "Yukiko?", schallte die Stimme von Jun zu uns herüber. "Komme!", antwortete sie und lächelte mir nochmal zu. "Wir sehen uns dann morgen, oder willst du noch mit uns essen?" Ich schüttelte den Kopf. "Gut, dann gute Nacht und bis morgen!" Sie drehte sich um und schloss die Tür. Ich hörte leise ihre Schritte. Erschöpft ließ ich mich auf die Matratze fallen, meine Tasche hatte ich auf den Boden neben der Matratze gelegt, und schlief sofort ein. Lautes Autohupen riss mich aus meinem Tiefschlaf. Noch lauteres Hupen von vielen weiteren Autos weckte mich endgültig. Leicht benommen setzte ich mich auf der Matratze auf und rieb mir über die Augen. Die Tür wurde geöffnet, ein Kopf lugte hinein. "Ah, du bist schon wach! Los, auf zur Schule!", rief Yukiko fröhlich. Ich nahm die Uniform, die sie mir reicht, von ihr an und zog mich schnell um. Ich nahm meine Zahnputzsachen und putzte mir schnell die Zähne, wusch mein Gesicht und ging dann in das Wohnzimmer, wo Jun bereits angefangen hatte, zu frühstücken. "Morgen!", sagte er und sah nicht von seiner Zeitung auf. Ich setzte mich an den Tisch und aß dann auch. Es gab Reis und ein wenig Gemüse zum Frühstück. Ich beschwerte mich nicht, warum denn auch? Andere Länder, andere Sitten. Als ich fast fertig gegessen hatte, hielt Yukiko mir eine Box vor die Nase. "Ich habe dir ein Bento gemacht!", rief sie freudestrahlend aus. Dann sah sie ernster auf die Wanduhr und scheuchte mich mit meinen Schulsachen aus dem Appartement. Sie kam hinterher und verabschiedete sich schnell von Jun. "Weil es deine erste Woche ist, werde ich dich erstmal begleiten. Und weil heute dein erster Tag ist, nehmen wir das Auto!" Wir fuhren den Aufzug in den Keller hinunter, wo sie gestern ihr Auto geparkt hatte und stiegen ein. Sie richtete noch kurz den Rückspiegel und dann fuhren wir auch schon los. Heute war nicht so viel los wie gestern, aber ein wenig Stau herrschte hier trotzdem schon. Nach 15 Minuten Fahrzeit kamen wir in der Schule an. "Viel Spaß!", verabschiedete sie sich von mir und winkte mir zu. Ich winkte zurück und drehte mich zum Schultor um, hörte das leise Brummen des Autos, als es wendete. "Ich komme dich dann nach Schulschluss abholen, ja?" Sie fuhr los. Ich atmete tief ein, dann streckte ich wieder meinen Rücken durch. Ich versuchte, nicht zu sehr meiner Rolle als Erbin zu entsprechen, aber Gewohnheiten bleiben wohl. Ich hatte die Hälfte des Hofes durchquert, als ich sie an der Schultür erblickte. Das schwarzhaarige Mädchen aus meinem Traum, ich hatte nicht gedacht, ihr so bald zu begegnen. Wie erstarrt blieb ich stehen, zwang mich aber, weiterzugehen. Auf sie zu. Kapitel 3: Treffen ------------------ Ich näherte mich ihr und gleichzeitig auch ihnen. Ein Kribbeln erfüllte meinen ganzen Körper. Ich setzte einen Schritt nach dem anderen und versuchte krampfhaft, mich zu entspannen. Ein und ausatmen, ein und aus. Ich beruhigte mich langsam, aber stetig. Das Mädchen schien mich zu bemerken, denn sie schaute zu mir auf. Als ihre violetten Augen den Blick von meinen trafen überkam mich augenblicklich eine unerwartete Ruhe. Den restlichen Weg bis hin zum Klassenzimmer überbrückte ich ohne jedes weitere kribblige Gefühl der Aufregung, lediglich Ruhe beherrschte den eben noch wild tobenden Pool meiner Gefühle. Sie war schon weitergegangen und ich folgte ihr, mir war, als wäre ich schon tausende Male diesen Weg gegangen. Die gläsernen Wände der Klassenzimmer verwirrten mich ein wenig, ich konnte sehen, was die anderen in der Klasse machten. Mir fiel auf, dass es elektronische Tafeln gab und überhaupt alles modernisiert worden ist. Staunend über den Fortschritt schritt ich weiter durch die Gänge und Flure, die mit Glaswänden ausgestattet waren. Ich konnte an einigen Stellen sogar nach draußen blicken, ein wahrlicher Panoramablick. Ich vergaß für einige Momente den eigentlichen Grund, weshalb ich hergekommen war, auch wenn der Wunsch stets in mir pochte und mein Unterbewusstsein umklammerte. Ich kam am Klassenzimmer an. Das Mädchen saß schon und packte gerade ihre Schulsachen heraus, einige Jungs drängelten sich an mir vorbei, hastig trat ich zu Seite. Die Lehrerin kam und bemerkte mich. "Du bist die neue Schülerin, nicht wahr?", fragte sie mich freundlich auf Japanisch. Ich nickte und stellte meinen Sprachmodus innerlich auf Japanisch um. "Dann komm, nicht so schüchtern", lachte sie und ging in das Zimmer. Ich folgte ihr schnell und stellte mich neben sie. Sie klatschte in die Hände, alle eilten auf ihre Plätze und standen auf. Die Klasse beäugte mich neugierig, doch es machte mir nichts aus. Ich war es gewohnt, auch wenn nicht aus diesem Grund, weshalb ich jetzt angestarrt wurde. "Guten Morgen!", sagte sie Lehrerin und stellte ihre Sachen auf dem Pult ab, welcher vorne ein wenig neben der Tafel stand. "Guten Morgen!", ertönte es zurück und sie setzten sich wieder, die Lehrerin fing wieder an zu reden. "Wie ihr sicherlich schon bemerkt habt, haben wir eine neue Schülerin. Du kannst dich alleine vorstellen, oder?" Wieder ein Nicken, dann begann ich zu reden. "Hallo, ich bin Lilith Nauer und komme aus Deutschland", sprach ich auf Japanisch, "Ich bin 14 Jahre alt. Auf gute Zusammenarbeit!" Ich verbeugte mich kurz und richtete mich dann wieder auf. "Willkommen an unserer Schule! Ich bin übrigens Namida-sensei. Du kannst dich auf den freien Platz neben Kiko-kun setzen." Sie zeigte auf einen Jungen, der etwa in der dritten Reihe vom Pult aus saß. Mit flotten Schritten durchquerte ich den Raum und setzte mich. Neben mir saß ein Mädchen, vor und hinter Jungs. "Beginnen wir mit dem Unterricht!", verkündete Namida-sensei. Der restliche Unterricht verlief relativ reibungslos, auch wenn ich das ein oder andere Wort aus dem Kontext erschließen musste. In der Pause durften wir im Schulgebäude bleiben und einige Mädchen umringten mich schon. "Dürfen wir dich Lilith nennen? Oder Lil-chan?" "Wir wirst du eigentlich geschrieben?" "Wieso bist du denn nach Japan gewechselt?" "Die Uniform passt super zu deinen Haaren!" "Wie hast du vorher gelebt?" "Ich habe dich heute morgen schon gesehen! War die Frau bei dir deine Mutter?" Diese und viele andere Fragen prasselten unaufhörlich auf mich ein, ich kam mit den Antworten nicht mehr hinterher. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren erhob sich von ihrem Sitz und kam auf mich und die Menschentraube zu. "Ich glaube Nauer-san kommt mit den Antworten nicht hinterher." Ihre Stimme war ohne jegliche Hast und in normaler Lautstärke, trotzdem schien sie alles zu übertönen. Sofort stoppten sie ihr Geplappere und sahen mich entschuldigend an. "Entschuldige bitte, wir sind nur ein wenig aufgeregt, weil wir noch nie eine Schülerin aus Deutschland hatten." Ich schüttelte versöhnlich den Kopf und wandte mich an das schwarzhaarige Mädchen. "Dankeschön, äh... Wie heißt du?" "Akemi Homura", lautete ihre Antwort. Als ich ihre Worte hörte, spürte ich eine merkwürdige Vertrautheit. Es war, als würde ich sie schon sehr lange kennen. Ich bemerkte, dass ich nicht geantwortet hatte und fuhr eilig fort: "Also Akemi-san? Danke, Akemi-san." Sie nickte mir leicht zu und ging dann aus dem Raum heraus. Ich stand auf und folgte ihr. Die anderen Mädchen ließ ich kurzerhand zurück, achtete nicht auf ihre fragenden Blicke. "Akemi-san!", rief ich. Sie drehte sich um und wartete auf mich. Nach einigen Metern hatte ich sie eingeholt und erklärte ihr mein Anliegen. "Könnten wir kurz reden?" Sie blickte mich nachdenklich an, stimmte jedoch zu: "Gerne." "Könnten wir an einen nicht so belebten Ort gehen?", bat ich sie. "Okay, komm mit." Sie ging vor, ich versuchte, mir den Weg einzuprägen und zu merken. Mich faszinierten schon wieder das viele Glas um mich herum, die fast freie Sicht auf alles. Ich registrierte auch einige Überwachungskameras an den Wänden, die jede einzelne Bewegung der Schüler wahrnahm und abspeicherte. So auch wir. Jetzt wurde mir klar, warum man an dieser Schule in den Pausen nicht rausgehen musste, sondern auch drinnen bleiben durfte. Stetige Überwachung. Ich und Homura betraten nach einigen Treppen das Dach der Schule. Ich eilte sofort zur äußersten Grenze des Daches. Der Wind wehte mir durch die Haare und ich schloss meine Augen. Der frische Geruch von Freiheit, ich roch ihn ganz deutlich. Der Duft nach einer erfrischenden Brise. Als ich die Augen wieder öffnete, erstreckte sich Tokyo vor mir. Gebäude ragten in die Höhe und streiften die immer dahinziehenden Wolken. Gedränge auf den Straßen und Bürgersteigen. Mir fiel auch auf, dass hier oben keine Kameras waren, die uns beobachten konnten. "Worüber wolltest du mit mir reden?", durchschnitt Homura die Stille. Peinlich berührt wandte ich den Blick Homura zu. Ich atmete tief durch. "Erst noch eine kurze Frage, die nichts mit dem anderem zu tun hat. Darf ich dich Homura nennen?" "Wenn du willst. Sonst noch etwas?" "Ja. Ich... habe dich in meinem Traum gesehen. Du hattest ein Kleid an, es war lila, glaube ich. Ich konnte es nicht so erkennen, denn es war unglaublich dunkel. Nur du hast irgendwie gestrahlt, weißt du? Du hast gegen schwarze Schatten gekämpft, es war wirklich bizarr..." Ich redete und redete, ich hatte das Gefühl, mir die Seele vom Leib zu reden. Ich sah sie die ganze Zeit nicht an, nur flüchtige Blicke, die ich ihr zuwandte, sonst irrte mein Blick ruhelos von einem Punkt zum anderen. Die Erinnerungen kamen wieder hoch und ich schilderte ihr ebenfalls von den Ereignissen in der Gasse. Ich sprach ohne Hemmungen und setzte einen Schritt nach dem anderen mehr in die Geschehnisse der vergangenen Tage und verinnerlichte sie. Nachdem ich geendet hatte, wagte ich es wieder, Homura länger als einen Augenblick anzusehen. Sie starrte mich geschockt, verwundert, überrascht, ich hatte keinen wirklichen Ausdruck für dieses Perplexe in ihrem Blick. Konnte man es überrumpelt nennen? Schweigen breitete sich aus und nur der Wind pfiff, die Autos hupten und leises Gelächter und Gerede von den anderen Schülern unten auf dem Hof oder im Gebäude drang zu uns durch. Ich hatte ihr den Rücken zugewandt und starrte den endlos anmutenden, strahlend blauen Himmel an. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu, der Himmel färbte sich rotorange. Der Klang der Schulglocke zerriss die unangenehme Stille. "Wir sollten...", fing ich an zu reden, als Homura mir in das Wort fiel: "Können wir nach der Schule nochmal reden? Hast du Zeit?" Erleichtert, auf etwas eine Antwort geben zu können und nicht mehr diese Stille zu haben, antwortete ich immer noch ein wenig verlegen: "Ja, wartest du dann am Schultor auf mich?" Ich sah sie aus dem Augenwinkel nicken. Dann gingen wir beide zusammen wieder zum Unterricht, wobei ich bemerkte, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Ob es wohl an den Dingen lag, die ich ihr erzählt hatte? Waren die Tatsachen alle so verwirrend gewesen? So verstörend? Ich hatte einfach keine Antwort darauf und merkte nicht, wie meine eigenen Gedanken abschweiften und in Fragen herumwanderten. Bald darauf war der Unterricht zuende. Ich packte meine Sachen und wollte mich gerade Homura zuwenden, als sie auch schon durch die Tür verschwand. Ratlos blieb ich zurück. Wollte sie noch jemanden holen gehen? Ich seufzte kurz und erinnerte mich nochmal zurück. Achja, genau. Ich sollte vor dem Schultor auf sie warten. Also begab ich mich dorthin und wartete noch eine Weile, bevor ich sie sah. Die Sonne stand schon tief und tauchte die Welt in Abendrot. Hinter Homura sah ich noch eine andere Person, sie hatte blonde Haare, sie waren zu zwei Zöpfen gebunden, die wiederum gelockt waren. Sie sah mich freundlich an, und ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Sie hatte eine so warme Aura. "Können wir los gehen?", fragte Homura mich und stellte dann noch schnell das andere Mädchen vor: "Das hier ist Tomoe Mami." Sie schritt los und wir setzten uns alle in Bewegung. Ich holte zu ihr auf. "Wohin gehen wir denn?" "Zu mir", sagte Tomoe-san lächelnd, "Wir können nicht in der Öffentlichkeit darüber ungestört reden." Ich nickte nachdenklich und folgte den beiden als Schlusslicht. "Du darfst mich übrigens Mami nennen", sprach Mami an mich und ich erwiderte: "Und du mich Lilith." Danach setzte Schweigen wieder ein und hielt lange an. Die Schritte, unsere Schritte, auf dem Asphaltboden klangen leise. Ich hörte entferntes Kindergelächter und nahes Autohupen von der Straße neben uns. Es wirkte alles so ruhig und auch der Himmel schien der Träge des Sommers zu unterliegen, einige Wolken bewegten sich nicht klar erkennbar am Himmel. "Wir sind da!", rief Mami erfreut aus, als wir an einem Gebäudekomplex stehen blieben. Wir gingen hoch und sie schloss die Tür auf, bat uns herein. Schweigend schritten wir durch die Tür, sie klickte leise beim Schließen. Ich atmete den Geruch in der Wohnung ein. Ein wohliger Duft erfüllte meine Nase und holte ein seltsames Gefühl der Vertrautheit in mir hoch. "Setzen wir uns doch, bevor wir reden." Sie führte uns durch den Flur in ihr Wohnzimmer. Wir knieten uns um einen Glastisch nieder, während sie kurz Tee kochen ging. Mit dampfendem Jasmintee und Tassen kam sie wieder zurück. Wir tranken eine Weile ohne zu reden den Tee. "Es wird an der Zeit dich aufzuklären, Lilith-san", begann Homura nach ihrer ersten Tasse Tee, Mami schenkte ihr nach. "Wir", führte sie fort und zeigte auf sie selbst und auf Mami, "sind Magical Girls. Wir kämpfen gegen das Böse, diese Schatten, die du gesehen hast. Sie richten sonst Unheil an, lassen Menschen Selbstmord begehen und solche Sachen. Sie bringen die Verzweiflung." Sie sagte die Dinge so, wie sie sind. Ohne jegliche Beschönigung, auch wenn es mir so vorkam, als würde sie schon ein wenig vorsichtig sprechen. Ich schwieg und dachte nach. "Euch gibt es überall auf der Welt, oder?" "Ja." Erneut legte sich eine angespannte Stille über uns. Ein leises Rascheln ertönte. Es kam aus der Richtung, in der die Fenster waren. Die Gardinen bewegten sich und eine kleine, weiße Gestalt kam hervor. Sie sah aus wie eine Katze, oder doch ein Eichhörnchen? Es hatte ein pinkes Viereck auf seinem Rücken, das Innere des Vierecks war weiß. Es hatte ebenfalls unglaublich lange Ohren und sah knuffig aus. "Kyubei", sagte Mami mit einem überraschten Unterton, "Was führt dich hierher?" "Was soll mich denn hierherführen? Natürlich dieses Mädchen da", sagte es und deutete mit seinem Schwanz auf mich. "Wegen mir? Homura, wer ist das?", fragte ich verwirrt. "Das ist Kyubei, er macht uns zu dem, was wir sind. Er erfüllt einen Wunsch von dir und im Gegenzug wirst du ein Magical Girl und kämpfst gegen die Schatten, das Böse der Welt." "Sei gegrüßt, Lilith Nauer. Ich bin hier, um dich zu fragen, ob du ein Magical Girl werden willst und was dein Wunsch ist, den ich dir erfüllen darf." Er sah mich an, legte den Kopf leicht schief. Ich starrte ihn an. Ich konnte nicht anderes, als dieses Wesen bis ins kleinste Detail zu mustern. Er wollte mir einen Wunsch erfüllen, Beschränkungen hat er mir nicht gegeben. Doch dafür musste ich zum Magical Girl werden und gegen diese Monster kämpfen. War mir ein Wunsch so viel Wert? Die Antwort kannte ich nicht. Ich brauchte Zeit. Ich merkte, dass sein Blick immer noch fragend auf mir ruhte. Ich beeilte mich, zu antworten: "Entschuldigung, aber ich kann noch keine Antwort geben." Er nickte langsam und gemächlich. "Aber natürlich." Er verschwand auf demselben Weg, wie er gekommen war. Homura stand ohne ein weiteres Wort auf und ging ebenfalls. Mami sah ihr wissend hinterher, dann konzentrierte sie sich wieder auf mich. "Was für eine unangenehme Situation", sagte sie lächelnd und ein wenig verlegen. Sie sah in Richtung Fenster, die Sonne war untergegangen und die Schwärze der Nacht breitete sich aus. "Es ist Zeit. Willst du, bevor du deine Entscheidung triffst, vielleicht sehen, wie wir kämpfen? Wie die Monster aussehen, die du vielleicht bekämpfen musst?" Ich nickte. Kapitel 4: Kampf ----------------  Nach meiner Zusage nahm Mami mich an die Hand und wir gingen raus. Ich hatte nur noch kurz Zeit, mich fertigzumachen. Mami wartete geduldig lächelnd auf mich, doch was sie wirklich dachte, wusste ich nicht. Nachdem ich fertig war, gingen wir los in die nun eisige Nacht.   Sie umschlang uns mit ihren frostigen Armen, ich zitterte, doch Mami schien es nichts auszumachen. Ob das auch eine Besonderheit von Magical Girls war? Wir schwiegen, Mami streckte ihre Hand aus und etwas blinkte an dieser auf. Es leuchtete und funkelte eine Weile, bevor Lichtstreifen sich in etwas verwandelten, das einem Tropfen glich. Es hatte im unterem Drittel eine goldene Halbkugelform, von der ebenfalls goldene Stränge nach oben gingen und sich dort trafen. In dem Hohlraum war ein glitzernder Stein.   "Ach, das habe ich dir noch gar nicht erzählt, richtig?", riss Mami mich aus meiner Faszination für das kleine Ding, welches auf ihrer Handfläche ruhte. Ich nickte schnell. "Das ist ein sogenannter 'Soul Gem', das Zeichen des Paktes mit Kyubei. Wenn man ihn nicht braucht, verwandelt er sich in einen Ring."   "Was kann es denn alles?", fragte ich neugierig das 'Soul Gem' musternd.   "Es kann zum Beispiel Böses aufspüren, es zeigt dir aber auch an, wieviel Zauberkraft du noch hast. Wenn er sich trübt musst du ihn dringend reinigen", erklärte sie und winkte mich weiter. Sie hielt den Soul Gem auf ihrer Handfläche, es schien fast so, als würde sie es balancieren. Wir gingen hier und dorthin, darauf wartend, dass das Soul Gem Alarm schlagen würde. Die Dunkelheit der Nacht begleitete uns immer.   Nachdem wir eine Weile gegangen waren, winkte Mami mich in eine Seitengasse.   "Warum biegen wir ab?", fragte ich, während ich ihr hinterhereilte.   "Die Monster lungern eher an dunklen Orten oder verlassenen Orten, wo man die Verzweiflung und die Trauer, den Hass am besten spüren kann und wo er am stärksten ist", antwortete sie ernst. Ihre Miene war angespannt. Ich starrte in die Finsternis vor uns, bekam jedoch keine Angst. Ich war, ehrlich gesagt, an Dunkelheit und dreckige Orte gewohnt. Und das, obwohl ich eigentlich eine verwöhnte Göre werden sollte, schlug ich eher den Weg einer ein, die an all das hier gewohnt war. Ich wusste nicht, wie es soweit gekommen war, und wollte es auch gar nicht wissen. Es machte mir kein Ort Angst, nur Weniges war dazu fähig, mich vor Angst zu lähmen. Wie die Wesen von letztem Mal.   Mich packte die Angst, die Furcht vor diesen Wesen.   Ich blieb ruckartig stehen, unfähig, einen weiteren Schritt weiterzugehen. Das Soul Gem blinkte auf, schlug Alarm. Mami war sofort in Licht gehüllt, sie verwandelte sich. Das Soul Gem in ihrer Hand wanderte in die Blumenspange an ihrem seitlich drapiertem, kleinerem und braunem Hut, der noch mit einem weißem Puschel verziert war. Sie trug ein Kleid, wobei der obere Teil weiß war und es so aussah, als wäre eine braune Korsage um ihre Taille gebunden. Das Kleid hatte Puffärmel in demselbem Weiß wie der oberer Teil und der Rock war Orangebeige mit einem braunem Saum. Sie hatte Strümpfe an, die etwas über das Knie gingen und in einem lilafarbenem Ton mit dünnen, weißen Streifen waren. Ihre Schuhe waren Stiefel, die dunkelbraun waren und oben am Saum beige waren. Der untere Teil ihrer Stiefel war ebenfalls orangebeigefarben.   Sie streckte ihre Hand zur Seite aus und wie aus dem Nichts erschien eine Muskete in ihrer Hand, doch gleichzeitig kamen auch die Monster in Sicht. Riesige Ungetüme, schattenhafte Schemen in Schwarz gehüllt. Es wirkte so, als würden sie mit der Nacht verschmelzen, die Personifizierung von den negativen Gedanken und Gefühlen der Menschen. Wir, das wurde mir soeben klar, brachten diese Wesen hervor. Wir machten, dass Mädchen wie Mami gegen solche Wesen kämpfen mussten. Wir und niemand anders.   Ich fühlte keine Schuld, denn jeder und absolut jede Welt hatte seine Schattenseiten. Wenn unsere dies hier war, so musste ich dies akzeptieren. Ich bewunderte Mami unglaublich, wie sie so tapfer und mit eiserner Miene in den Kampf schritt. Ob sie wohl jemanden hatte, den sie unbedingt beschützen wollte? Vielleicht, doch die Antwort darauf werde ich vielleicht nie bekommen.   Sie lief los, in ihrer eben noch freien Hand hatte sie noch eine Muskete herbeigezaubert. Sie schoss auf das Ungetüm, es wurden immer mehr und mehr. Sie schoss immer weiter, zauberte Musketen aus ihrem Hut, sie konnte scheinbar von überallher ihre Waffen holen. Sie umschlang manche mit gelben Schleifenbändern, die plötzlich statt der Patronen aus der Waffe kamen, und schleuderte die Monster beinahe mühelos durch die Gegend. Sie verkrochen sich mit ihren Fetzen in die Schatten.   Langsam verschwanden einer nach dem anderen die Monster und langsam kehrte Ruhe ein, doch immer noch fielen vereinzelte Musketenschüsse. Ich hatte die ganze Zeit nur unschlüssig dagestanden, unfähig, etwas zu tun. Ich war nur ein einfacher Mensch, ich hatte nichts, womit ich ihr behilflich sein könnte. Sie schoss auf die Monster, in scheinbar endloser Zahl kamen sie nach und nach. Ihre Schüsse hinterließen Löchern in ihren Körpern, aus denen etwas noch Schwärzeres floss und tropfte. Es sah eklig, widerlich und klebrig aus.   Einige Monster kamen ihr sehr nahe, streckten ihre schwarzen Tentakel nach ihr aus und fügten ihr Wunden zu, aus denen Blut tropfte.   Doch sie schoss und schoss, kämpfte und kämpfte. Es war schrecklich. Sie bekam Wunden durch die dünnen Tentakelfinger der Monster, die ihre Haut zerschnitten, Blut rann an ihrer Haut herunter. Langsam, aber doch stetig, verschwanden die Monster. Ob gleich wieder eine Flut kommen würde, wie eben gerade? Ich wusste es nicht.   Mami stützte sich auf eine ihrer Musketen. Ich sah mich ängstlich um und wagte es dann zu ihr hinzulaufen. "Mami-san!", rief ich, wollte sie gerade an der Schulter berühren, als sie sich abrupt aufrichtete. Mit fast leeren Augen sah sie mich an, es war so, als würde sie durch mich hindurchsehen. "Mami-san?", fragte ich mit zögerlichem Unterton. Da schien sie aus ihrem tranceartigem Zustand zu erwachen.   "Ah, Lilith-chan, dir ist nichts passiert, ein Glück", atmete sie erleichtert aus. Sie hustete Blut, ihr Körper bebte und verkrampfte sich schmerzhaft.   "Geht es dir gut?", fragte ich nach, obwohl es offensichtlich war, dass mit es ihr ganz und gar nicht gut ging. Sie antwortete, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern : "Mir geht es gut, danke." Sie leuchtete wieder auf, verwandelte sich wieder in das normale Mädchen von nebenan. Erschöpft und ausgelaugt lehnte sie sich an die Wand, die Augen geschlossen.   "Mami-san, geht es dir wirklich gut?", fragte ich und sah das Soul Gem in ihrer Hand, es hatte sich ein wenig getrübt.   "Ja, es geht gleich wieder", versicherte sie mir, doch ob ich ihren Worten Glauben schenken sollte, wusste ich nicht. Ich stand neben ihr und sah zum dunklem Himmel hinauf, er wurde langsam wieder heller und heller, Licht erfüllte diesen Himmel. Er war Zeuge davon, was heute Nacht hier geschehen ist, doch ich war mir sicher, dass er schweigen würde. Mami war still, gab kein einziges Wort von sich. Ich blickte sie wieder an, Blut sickerte in den Stoff ihrer Uniform. Die Ursprünge, die Kratzer und Wunden, waren jedoch verschwunden.   Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Hatte ihr Körper sich einfach so regeneriert? Ist das eine Fähigkeit von Magical Girls? Es war für mich immer noch ein Rätsel, was Magical Girls eigentlich waren.   Ich wandte mein Gesicht dem Morgengrauen am Himmel zu, dessen Licht die Dunkelheit und dessen Gestalten mit sich nahm.     "Wo warst du denn die ganze Zeit?", fragte mich Yukiko als allererstes, als ich durch die Tür kam. Sie wirkte sehr erschöpft und müde, denn sie hatte dunkle Augenringe. Hinter ihr stand Jun, er lehnte sich an die Wand und sah besorgt aus.   "Ich war noch bei Freundinnen", antwortete ich ausweichend.   "Geht es dir gut?", fragte sie, ihre Stirn runzelte sich voller Sorge.   "Keine Sorge, mir geht es gut." Ich zog meine Schuhe aus, Jun und Yukiko gingen in die Wohnung hinein und machten mir Platz. Sorgfältig verstaute ich meine Schuhe und blickte auf die Uhr, die auf der anderen Seite der Wohnung angebracht war. Es war Frühstückszeit.   Das Erste, was mir sonst noch auffiel, war, dass der Frühstückstisch gedeckt war. Dampfwolken erhoben sich von den Schüssel und kondensierten. "Oh, entschuldige bitte, dass wir schon das Frühstück zubereitet hatten, wir waren uns aber sicher, dass du wieder herkommen würdest", beeilte Yukiko sich mit der Entschuldigung.   "Das macht doch nichts", meinte ich, setzte mich zu Tisch. Beklemmendes Schweigen lag in der Luft, ich spürte förmlich die Fragen im Raum, dankte den beiden jedoch dafür, dass sie sie nicht stellten.   Nach einigen Löffeln Reissuppe, fragte Yukiko mich: "Fühlst du dich denn fit genug für die Schule?"   Ich nickte, obwohl dem nicht so war. Ich fühlte mich todmüde, ausgelaugt und unglaublich hilflos, durfte aber den zwei lieben Menschen, die mich, die hastig aus Europa nach Japan aufgrund eines Traumes geflogen ist, nicht noch mehr Sorgen bereiten.   Sie sah mich skeptisch an, sagte jedoch nichts. Sie setzte sich und fing an zu essen. Jun hatte sich ebenfalls gesetzt, wir aßen alle schweigend. Nervös warf er immer wieder einen Blick auf die Uhr, ich bemerkte es und fragte mich, was er wohl hatte. Yukiko sah meine fragende Miene und setzte zu einer Erklärung an, doch bevor sie etwas sagen konnte, unterbrach er sie.   "Ich erwarte heute etwas sehr Wichtiges, lass dich von meiner Nervosität nicht aus der Fassung bringen oder so", erklärte er in einem schnellem Tonfall, der in mir eher weitere Fragen aufwarf als welche beantwortete. Ich beließ es bei dieser Erklärung.   Die letzten Happen der Reissuppe landeten in meinem Bauch und ich zog mich mit einem kurzem Nicken in mein Zimmer zurück. Ich packte die Sachen für heute ein. Mathe, Japanisch und... Sport. Das waren die Fächer für den Vormittag. Ehe ich das Zimmer verließ, riskierte ich noch einen kurzen Blick aus dem Panoramafenster. Es war wirklich wunderschön. Die Sonne stand am Himmel, leuchtete auf die hin und her huschenden Menschen hinab und weckte alle aus ihrem Schlaf. Die Stadt erwachte wieder zu neuem Leben, aber die Spuren der Nacht hingen immer noch an mir wie wabernde Schatten.  Kapitel 5: Instinkt ------------------- „Ich gehe dann mal!“, rief ich Yukiko und Jun zu, als ich meine Schuhe anzog und nach draußen ging. Ich hörte ein kurzes: "Wiedersehen!", dann hatte ich auch schon die Tür hinter mir geschlossen. Die Tür des Aufzuges sirrte einen leisen Ton beim Aufmachen, der mich immer wieder verwunderte. Obwohl ich schon in allerlei öffentlichen Gebäuden war und auch schon oft Aufzug gefahren bin, musste ich mich daran gewöhnen, dass nicht alles still und leise wie bei mir zu Hause war. Zu Hause... Ein kleiner Schmerzensstich durchzuckte mich. Ich bekam leises Heimweh, stellte es jedoch so weit es ging ab. Ich bin aus freien Stücken hier, ich habe mich dazu entschieden. Ich ganz allein. Dies war mein egoistischer Wunsch. Der Aufzug fuhr in einem gemächlichem Tempo nach unten, hielt hier und dort mal an, um neue Fahrgäste hineinzulassen. Als ich auf die Straße hinaustrat, war ich sofort mitten in einem riesigem Menschentrubel. Kurzer Schock, dann war alles wieder in Ordnung. Selbst in diesen frühen Morgenstunden war es schon sehr voll, der Lärm hallte in meinen Ohren wieder. Ich konnte mich nur schwer orientieren, fand aber relativ schnell den Weg zur Bahn, da alle scheinbar dorthin mussten. Um mich herum waren eilende Menschen, Schulkinder, die von ihren Müttern begleitet wurden, und Studenten. Es war ein bunter Mix aus fast allem, im Hintergrund schallte eine Werbung auf einem Bildschirm an einem Hochhaus. Ich blieb kurz stehen, ehe ich den Weg nach unten, zur Untergrundbahn, betrat, um die Werbung näher anzusehen. Sofort wurde ich jedoch vom Strom wieder mitgezogen, die Uhr drängelte und ich hatte keine andere Wahl als mich mit der Stadt, dem Raum, und der Uhr, die Zeit, fortzubewegen. In der Bahn war es voll. Ziemlich voll. Zu voll. Diese Verhältnisse war ich nicht gewohnt, es war mir unangenehm, den Atem von so vielen Menschen zu hören, den Schweiß von so vielen Menschen zu riechen und einfach nicht ausweichen zu können. Still betete ich, dass man mich in Ruhe lassen würde. Heute schienen meine Gebete erhört worden zu sein, denn ich konnte ohne weitere Probleme wieder aus dem Zug heraus. Erleichtert atmete ich die frischere Luft ein, doch lange Zeit zum Verweilen blieb mir nicht, ich musste weiter. Der Fußmarsch zur Schule war angenehm, da die Schule weiter abseits liegt. Es roch nach einem frischem Morgen, der Tau war bereits geschmolzen und benetzte die Wiesen, Bäume, Blätter und spendete ihnen Feuchtigkeit. Es war sehr ruhig, doch hörte ich Schritte von mehreren Personen hinter mir. Ich drehte mich um, denn ich wollte wissen, wer das war. Es stellte sich heraus, dass es eine Mädchengruppe meiner Klasse war. Sie hatte mich gleich am ersten Tag mit Fragen gelöchert, die für mich im Nachhinein keinen Sinn ergaben. Wieso wollten sie wissen, welchen Sänger ich am coolsten fand? „Ah, Lil-chan!“, rief plötzlich eines der Mädchen. Sofort umringten sie mich und plapperten ohne Punkt und Komma auf mich ein. „Hast du gestern ferngesehen? Es lief eine neue Serie!“ „Er hat wieder eine neue Single herausgebracht!“ „Habt ihr schon gehört?“ Ich kam nicht mehr mit, es liefen zu viele Informationen, die ich, ehrlicherweise, nicht wissen wollte, und nickte schließlich nur noch lächelnd. Erleichtert sah ich Mami am Schultor stehen, sie schien auf mich zu warten. Ich entschuldigte mich knapp bei den Mädchen und lief dann erleichtert zu ihr. „Meine Rettung!“, stieß ich leise aus. Mami lächelte nur wohl wissend und wir begaben uns ins Schulgebäude. Sie hatte immer dieses wohlwollende Lächeln im Gesicht, wie immer fühlte ich mich sofort geborgen. „Wie geht es dir nach letzter Nacht?“, fragte sie mich. Ich streckte mich und erwiderte: „Gut, erstaunlicherweise. Aber die Ereignisse von gestern hängen immer noch an mir.“ Mami nickte mit einem Ausdruck von Verstehen im Gesicht. Wir gingen eine Weile stillschweigend vor uns hin, der Schule immer näher. „Ähm... Mami-san?“, fragte ich sie schlussendlich, ich hatte eine Frage, die nur sie beantworten konnte. „Ja?“ „Was war eigentlich dein Wunsch, als du ein Magical Girl wurdest?“ Daraufhin schwieg Mami, ihr schien die Frage unangenehm zu sein. Als sie eine Weile lang nicht antwortete und es nur schien, als würde sie fieberhaft eine Ausrede suchen, winkte ich ab. „Wenn du es mir nicht sagen willst, ist es auch okay.“ Ihr entglitt ein erleichterter Seufzer. „Würdest du mir aber vielleicht verraten, wieso du Magical Girl geworden bist?“ „Sagen wir, dass es eine Notsituation gewesen ist“, meinte sie nach einigen Schritten. Ich gab mich fürs Erste mit der Antwort zufrieden, da wir ohnehin schon das Schultor passiert hatten. Ich winkte Mami noch einmal zu, als wir uns in die Richtung unserer Klassen trennten. Nun schritt ich alleine den Weg zwischen die Glaskästen, die hier Klassenzimmer waren, entlang. Auf meinem Weg grüßten mich ein paar Klassenkameraden, die ich jedoch nicht näher kannte. Schnell hatten sie sich wieder ihren eigentlichen Freunden zugewandt. Neugierig warf ich immer wieder einen Blick in die Klassenzimmer der anderen, auch wenn es fast immer dasselbe Bild war, das sich mir bot. Ich fand es dennoch schön zu sehen, wie sie in einer Gemeinschaft agierten. Ich hatte eigentlich nie solch eine besessen, weil ich es einfach für unzulässig und in meinem Fall wahrscheinlich auch falsch ansah. Freundschaften unter Gleichgesinnten mit dem selben Pensum an Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, fand ich toll, wenn sie denn hielten. „Guten Morgen!“, begrüßte ich Homura, als ich in das Klassenzimmer kam. Viele missverstanden es wohl, denn alle, die gerade anwesend waren, grüßten mich zurück. Ich winkte ihnen lächelnd zurück und ignorierte einfach das Missverständnis. „Morgen.“ Sie sah mich mit einem nachdenklichem Gesichtsausdruck an. „Hast du in den nächsten Wochen vielleicht Zeit? Ich möchte dir etwas erzählen, kann die folgenden Wochen nicht.“ „Gerne. Ich habe eigentlich immer Zeit, sag mir einfach Bescheid, okay?“ Sie nickte, dann kam auch schon wieder die Lehrerin hinein. Ich konnte mich jedoch nicht ganz so gut auf den Unterricht konzentrieren, da ich mich ständig fragte, was sie mir wohl zu erzählen hatte. „Lilith-chan! Hier her!“ Nach dem Unterricht fing mich Mami gleich ab, sodass ich meinen Nachmittag für heute wohl wieder nicht alleine verbringen musste. „Mami, schönen Nachmittag. Was ist los?“ „Ich möchte dir doch nähere Hintergründe zu meinem Anfang als Magical Girl sagen. Zu meinem Wunsch.“ Sie lächelte ein wenig traurig. „Am besten gehen wir wieder zu mir, da kann uns niemand stören.“ Ich nickte, als wir uns dann auch gleich wieder in Bewegung setzten. Ob Homura mir auch so etwas in der Art erzählen will? Mami sah unentwegt nach vorne, während wir den Weg zu ihrer Wohnung bewältigten. Ihr Blick schaute scheinbar unbeirrbar in die Zukunft, sie schien schon sehr Vieles durchgemacht zu haben. Vielleicht sogar so viel, dass sie gar nicht mehr zurückschauen möchte oder könnte? Ich wusste es nicht. Ich war erst seit ein paar Tagen hier, dennoch war in der kurzen Zeit eine Menge passiert. Man hatte mir erzählt, was Magical Girls sind. Dass ich vielleicht eines werden könnte. Dass ich einen Wunsch hätte, im Gegenzug dazu, auf ewig zu kämpfen. Bis zum Tod. Mit einem ruhigem, entspanntem Lächeln auf den Lippen goss sie ihr und mir Tee ein. Ich hingegen war mit keiner Faser meines Körpers entspannt, zu sehr wollte ich wissen, was sie mir sagen wollte. Aber ich musste warten. Mit nicht vorhandener, aber halbwegs gespielter Geduld schlürfte ich meinen Tee, als sie dann endlich zu reden anfing. „Weißt du, der Grund, weshalb ich ein Magical Girl geworden bin, ist einfach. Ich wollte überleben. Das war mein Beweggrund.“ Sie schwieg erneut, während der Himmel sich hinter ihr orange färbte. Ihr Grund war wirklich simpel und leicht nachvollziehbar. Aber wieso erzählte sie es mir nochmal? Sie hatte es mir doch schon in verschleierter Form erzählt. Meine Neugier wich der Verwirrung, den Fragen. „Und deswegen...“, begann sie nochmal, „möchte ich, dass du ganz genau über deinen Wunsch nachdenkst. Wenn du deinen Wunsch für eine andere Person verwenden möchtest, bitte ich dich, wirklich nochmal nachzudenken. Dir es gut zu überlegen.“ Ich nickte. Sie hatte mich zum Nachdenken gebracht. Was war mein Wunsch eigentlich? Ich wusste es nicht. „Das war auch wieder alles, was ich dir sagen wollte.“ Sie nahm einen Schluck Tee und sah mich mit einem durchbohrendem Blick an. „Ich... werde mir deine Worte zu Herzen nehmen. Danke, Mami.“ Ich legte die Teetasse behutsam auf die zugehörige Untertasse und erhob mich wieder. Ich ahnte, dass jetzt der Zeitpunkt war, um zu gehen. „Bis morgen!“, rief ich ihr zu, als ich die Tür mit einem Klicken wieder schloss. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in ein rotes Licht. Es leuchtete und strahlte, schien noch heller zu sein als das Blau des Mittags. Ich schlenderte über einen Landweg, den ich in der Nähe von Mamis Wohnung entdeckt hatte. Mein Kopf war gefüllt von den unterschiedlichsten Gedanken, doch keiner beantwortete die Frage, die ich dringend beantwortet wissen wollte. Was wünschte ich mir? Ich hatte alles, was ich an materiellen Gütern haben wollte, alles, was ich niemals haben wollte. Ich lebte im Überfluss. Aber das war früher. Doch ich konnte jederzeit zurückkehren. Ja, an materiellen Werten besaß ich genug. Woran es mir mangelte, wollte ein Teil von mir nicht wahrhaben. Wahre Freundschaften. Mein wahrer Charakter, den ich nicht zeigte. Gemeinschaft. Ein Leben, wofür es sich zu leben lohnt. Ein Ziel, wofür ich eben dieses Leben opfern würde. Es war ein schier endloser Weg, der mich mitten in das Nirgendwo führte. Vielleicht brauchte ich diese verlassene Einsamkeit aber auch gerade für mich. Der Wind blies mir ins Gesicht, wehte durch meine Haare. Ein schöner Tag, der auch von den alltäglichen und besonderen Schatten verdunkelt wurde. Mami... Sie hatte keine Zeit, sich alles genau zu überlegen. Es ging alles so schnell. Zu schnell. Ich sollte mir viel Zeit nehmen, mir einen Wunsch zu überlegen. Aber egal was ich auch dachte, es war, als würde mit nichts einfallen. Als ob ich kein Magical Girl werden sollte, wollte. Stimmte das? Ich hatte nie darüber nachgedacht? Mit dem Auf und Ab des grasbewachsenen Weges purzelten auch meine Gedanken hoch und runter. Auf und Ab. Ein ewiges Hin und Her. Und inmitten dieses Sturmes sah ich eine Gestalt in weiter Ferne, dessen vom Wind getriebenen Haare im Licht der abendlichen Sonne zu glühen schienen. Ein Mädchen, das mir zwei Geschichten erzählen konnte. Kapitel 6: Glaube -----------------  „Dich habe ich hier noch nie gesehen. Wer bist du?“, fragte sie, während sie gleichzeitig auf einem Mikadostäbchen herumkaute oder es zumindest im Mund behielt. „Ä-ähm. Du sprichst mit mir, oder?“ Eine wirklich dumme Frage. Weit und breit war niemand Anderes zu sehen, ich hätte mir auf die Zunge beißen können. „Siehst du sonst jemanden? Wer bist du?“, wiederholte sie ihr Frage nochmal. Ihr leuchtend rotes Haar wehte im auffrischendem Wind, es war zu einem Pferdeschwanz gebunden worden. „Ich bin Lilith Nauer, ich bin neu hier.“ „Li-lith? Ich glaube, ich kenne deinen Namen. Kyuubei hat schonmal von dir erzählt.“ Sie aß ihr Stäbchen zu Ende und hatte sofort ein neues zur Hand. „Wirklich?“ Ich war erstaunt. „Ja. Du bist also ein angehendes Magical Girl?“ „Naja, ich weiß nicht so recht“, druckste ich herum. Ich wusste nicht, ob ich eines werden wollte und wieso ich dies alles eigentlich erlebte. Was mein Wunsch war. „Ich möchte dir einen guten Rat geben: Fasse keinen Wunsch aus dem, woran du glaubst. Nutze deinen Wunsch für dich.“ Sie blickte mich kurz mit ernstem Blick an, aus dem Schmerz der Vergangenheit sprach. Dann sah sie weg, ich konnte nur noch ihren Hinterkopf sehen, ehe sie abbog und mit wehendem Zopf wieder verschwand. Ich war zu perplex, um eine klare Handlung wie ihr nachlaufen ausführen zu können. Ihre Worte hallten noch in meinem Kopf. Ich sollte keinen Wunsch aus dem fassen, woran ich glaube? Ich verstand es nicht. Was meinte sie damit? Aber halt. Sie hatte noch etwas gesagt. Ich sollte den Wunsch für mich nutzen. Dasselbe hatte Mami auch gesagt. War es so schlimm, wenn man anderen Menschen den Wunsch widmete? Was war daran so schlimm? Ich hatte keine Ahnung. Ich fragte mich, ob ich sie noch einmal treffen konnte. Ob sie mir dann wohl näher erläutern würde, was sie damit gemeint hatte? Ich würde sie gerne treffen, vielleicht erzählt sie mir dann mehr über sich und ihren Wunsch. Die nächste Begegnung mit ihr ließ nicht lange auf sich warten. Direkt am nächsten Tag sah ich sie auf der anderen Straßenseite. Es war schon spät, die Sonne schon längst hinter dem Horizont verschwunden. Ich war eigentlich auf dem Weg zu Mami, doch kurzerhand änderte ich meinen Entschluss. Still wie ein Schatten folgte ich dem rothaarigem Mädchen. Sie ging immerzu dem rotem Glühen in ihrer Hand nach, ihr Soul Gem. Sie bog in eine dunkle Gasse ein und ich ahnte schon, was mich in der schützenden Dunkelheit erwarten würde. Die Monster, gegen die diese Mädchen tagtäglich kämpften. Knacks. Sie drehte sich blitzschnell mit funkelden Augen zu mir um, sah mich zornig an. Mich, die aus Versehen auf einen trockenen Ast getreten war, der hier herumlag. „Ähm... Hallo“, sagte ich verlegen. „Was machst du hier?“, fauchte sie mich an, als aus derselben Richtung ein viel lauteres Gebrüll ertönte. Die Monster waren da. „Verzieh dich!“ Dann war ihr Körper auch schon in ein rotes Glühen getaucht, sie verwandelte sich. Aus dem rotem Glühen sprang ein Magical Girl auf die schwarzen, gestaltlosen Monster zu. Ein Speer diente ihr dabei als Waffe. Scheinbar mühelos durchtrennte er die schemenhaften Umrisse der Monster, verwandelte sie in Staub und Asche. Ich dachte nicht wirklich daran, wegzugehen. Ich tastete mich rückwärtsgehend wieder zurück, während ich versuchte, das Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren. Ich kannte ihren Namen immer noch nicht, ich wusste überhaupt nicht wer sie war, aber ich machte mir Sorgen. Sorgen, weil sie das war, was ich vielleicht auch werden würde. Sorgen, weil sie etwas zu verlieren hatte. Ehrlich gesagt, ich wusste nicht, ob das wirklich meine Beweggründe waren. Ich wusste nur, dass ich mir Sorgen um dieses inmitten der schwarzen Schattengestalten wütende Mädchen, das nicht kannte, machte. Und ich fing an, zu beten. Ich verschränkte meiner Hände vor meiner Brust und betete innigst für sie, in der Hoffnung, dass sie überleben würde. Dass sie überleben wird. Der Kampf schien endlos anzudauern. Endlos zog er sich in die Länge, jedenfalls kam es mir so vor. Sie zog sich einen Kratzer nach dem anderen zu, doch niemals schien es ernst zu sein. Die Monster wollten auch nicht aufhören, immer und immer wieder aus den hintersten Ecken hervorzukriechen. Waren die Menschen so schlecht? „Wieso bist du immer noch da?“, schnauzte mich das Mädchen an. Es war schon früher Morgen. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht gleich wieder loszuweinen. Ich dankte Gott, dass meine Gebete erhört worden waren, obwohl ich doch eigentlich nicht gläubisch war. „Was starrst du mich so an?“ Ich merkte peinlich berührt, dass ich sie die ganze Zeit mit großen Augen angestarrt hatte. „Oh, entschuldige, aber...“ Ich zögerte. Sollte ich ihr von meinen Sorgen um sie erzählen? „Das ist mir jetzt auch egal, nerv mich nur nicht wieder.“ Sie drehte mir ihren Rücken zu und machte sich daran, wieder auf die offene Straße zu treten. „Warte!“, hielt ich sie auf, indem ich nach ihrer Hand griff. Ich wollte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Damit sie sich nicht losreißen konnte, ohne meine Frage gehört zu haben, stellte ich sie direkt: „Was meinst du mit deinem Rat an mich? Wieso sollte ich das nicht tun?“ Sie sah mich nur schweigend an. Hatte ich vielleicht eine offene Wunde getroffen? „Das muss dich nicht interessieren. Es ist nur ein gutgemeinter Ratschlag“, sagte sie. Sie hatte ihren Blick wieder abgewandt, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Stimme zitterte leicht. „Sonst noch etwas?“ „Bitte, erklär es mir doch.“ Ich ahnte, dass ich diese Tür nicht öffnen durfte, doch wieso tat ich es dennoch? War es so wichtig für mich, für meinen Wunsch? War ich schon immer so unsensibel gewesen? „Nein, hör endlich auf zu fragen.“ Sie riss sich los und ging, ohne mich noch einmal anzusehen, weg. Würde ich ihre Geschichte noch erfahren? Ich war wieder einmal über Nacht weggeblieben, wieder einmal waren es die Kämpfe der Magical Girls, die mich vom Schlafen abhielten. Und vielleicht würde ich auch eines werden, aber wollte ich das eigentlich wirklich? Als Magical Girl gegen die Monster zu kämpfen. Vielleicht sollte ich mir mal bewusst werden, was ich eigentlich wollte. Wieso ich dafür sogar bis nach Japan geflogen war. Es war mir ein Rätsel und doch so klar, dass ich es beinahe greifen konnte. Aber in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung. Am nächsten Tag in der Schule war ich die ganze Zeit irgendwie abwesend. Mit den Gedanken woanders. Nicht da. Unkonzentriert. Die ganze Zeit dachte ich an das rothaarige Mädchen. Sie musste etwas wirklich Schmerzhaftes erfahren haben. Warum war ich so unsensibel gewesen und hatte es aus ihr herausquetschen wollen? Ich bin doch wirklich bescheuert. Während ich so nachdachte, kritzelte ich gedankenlos Zeichnungen in mein Heft und grübelte. In Momenten wie diesen erschien mir das Erreichen meines Wunsches noch viel ferner als alles Andere. Die Schulglocke läutete das Ende des heutigen Unterrichts herbei. Erleichternd seufzend packte die Klasse ein, einschließlich mir. Ich hatte wieder etwas zu mir zurück gefunden, vielleicht war ich damit auch meinem Wunsch etwas näher gerückt. Ich hoffte, wieder dieses Mädchen treffen zu können. Ich wollte mich nur entschuldigen und nicht weiter nachbohren, es war unhöflich. Insgeheim wünschte ich mir aber auch, dass sie mir ihre Geschichte erzählte. Ich wollte unbedingt verstehen, was sie gemeint hatte. Und auch, was ihr Wunsch gewesen war. Nach Schulschluss traf ich mich wieder mit Mami. Sie schimpfte ein wenig, weil ich nicht gekommen war, aber es war nicht weiter schlimm, weil ich ja noch da war. Heute wollte sie in ein Gebiet gehen, das nicht weit von dem entfernt war, wo ich das andere Magical Girl gestern getroffen hatte. Ob ich sie heute nochmal sehen würde? „Lilith-chan? Hast du mir zugehört?“, rief Mami mich aus meinen Gedanken. „Äh, wie? Nein, entschuldige, bitte“, antwortete ich verlegend meinen Hinterkopf kratzend. „Ist nicht so schlimm, es war nicht so wichtig. Nur bitte lauf auch weg, wenn ich dir das sage, hast du verstanden?“ Ich nickte zwar, wusste aber genau, dass ich es wahrscheinlich nicht über das Herz bringen würde. „Gut, dann würde ich sagen: Auf in den Kampf!“ Mit geübten Fingergriffen oder auch Magiestößen, ich wusste es nicht genau, verwandelte sie den Ring an ihrem Finger in ihr Soul Gem, das uns den Weg zu den Monstern weisen würde. „Monster lieben abgelegene Gassen, aber das ist dir sicherlich schon aufgefallen?“, begann sie mit ihrem Exkurs in die Welt der kämpfenden und mit magischen Kräften versehene Mädchen. Sie redete viel über die Magical Girls und es war ohne Zweifel interessant für mich, doch war ich heute ein wenig unruhig. Ständig schaute ich mich verstohlen um, ob ich sie nicht sehen würde. Glücklicherweise merkte Mami nichts davon, jedenfalls ließ sie sich nichts anmerken. Es dauerte nicht lange, bis wir an ein abrissfertiges Gebäude kamen, bei dem das Soul Gem heftigst Alarm schlug. Ohne irgendwelche Hemmungen hüpfte Mami über die Absperrung. Sie wartete noch ein wenig auf mich, die ein wenig zögerte. Durfte man das? Letzendlich überwand ich mich aber, schließlich war das ein Sonderfall. Mami hatte sich währenddessen verwandelt, in ihrem Dress stand sie vor dem Eingang des Gebäudes. Einige Fensterscheiben fehlten oder waren beschädigt, nur vereinzelt war hier und da eine ganze zu sehen. Rost hatte sich an den ehemals blanken Eisenrohren des Gebäudes zu schaffen gemacht. Pflanzen hatten beschlossen, hier erneut einen Ort für sich zu finden. Und in eben diesem Gebäude lauerten sie schon wieder. Die schemenhaften Gestalten aus Alpträumen, die an den verlassensten und einsamsten Orten lauerten, die Personifikationen der Bosheit in Menschen. „Bleib du hier und komm ja nicht näher!“, wies Mami mich an einen vermeintlich sicheren Ort. Natürlich wussten wir beide, dass es keinen Ort gab, an dem man vor ihnen wirklich sicher war. Dann war sie auch schon inmitten von Schwarz und aufglühenden Schüssen ihrer Musketen. Angstvoll bangte ich wieder um ihr Leben. Wie gerne ich ihr helfen würde! Aber gegen was? Für welchen Wunsch würde ich dieses sichere Leben aufgeben wollen? „Du schon wieder“, kam es geringschätzig von meiner Linken. Ich drehte mich überrascht hinter meinem Versteck aus eingestürzten Dachbalken um. Das rothaarige Mädchen hatte sich auch verwandelt. „Mami scheint hier wohl schon aufzuräumen, dann bin ich woanders.“ Sie wandte sich zum Gehen um. „Warte!“ „Was denn noch?“ Ihre genervte Stimme passte nicht zu dem Rücken, der zu mir zeigte. „Ich möchte mich entschuldigen. Entschuldige bitte.“ „War das alles?“ „Ja.“ „Dann geh ich jetzt.“ Leichtfüßig sprang sie aus dem drittem Stock, in dem wir uns befanden, und verschwand. Ich konzentrierte mich wieder auf Mami, die immer noch kämpfte und kämpfte, aber so richtig gelingen wollte es mir nicht. „Lass uns reden.“ Ich war überrascht, nach der Schule von dem rothaarigem Mädchen abgefangen zu werden und dann auch noch mit so einem Angebot. Dennoch willigte ich ein, in der Hoffnung, ihre Geschichte erfahren zu dürfen. Sie führte mich in einen abgelegenen Teil der Stadt, der jedoch kein bisschen finster wirkte. Das golden anmutende Abendlicht verströmte einen warmen Schein auf die Natur, die sich hier wieder niedergelassen hatte. Ich vermutete wegen den bunten Glasscheiben, dass es sich um eine ehemalige Kirche handelte. Aber wieso hatte sie mich hierher mitgenommen? „Mein Vater war Priester“, fing sie ihre Geschichte an, „aber niemand wollte ihm zuhören. Es stimmte alles, was er sagte, aber niemand glaubte ihm. Ich habe meinen Wunsch für ihn benutzt. Ich habe mir gewünscht, dass die Leute ihm zuhören, denn ich wusste, wenn sie ihm auch nur einmal richtig anhören würden, würden sie verstehen, dass er keinen Unsinn redet. Eine Weile lang ging das auch ganz gut so, wir waren glücklich.“ Irrte ich mich, oder stockte ihre Stimme leicht? „Er predigte und wendete die Welt so zum Besseren, während ich im Verborgenem agierte. Doch dann kam er hinter meine Kräfte. Er beschimpfte mich, seine eigene Tochter, als Hexe. Kannst du dir das vorstellen?“ Ein trockenes Lachen entweichte ihrer Kehle. „Und dann hat er sich und meine restliche Familie umgebracht und mich allein gelassen.“ Sie schwieg. Ich war betroffen. Deswegen wollte sie also nicht, dass ich meinen Wunsch für andere auf opferte. Innerlich schlich sich aber bei mir der Gedanke ein, dass es doch nicht bei jedem so verlaufen würde, oder? „Meine...“ Sie machte eine nachdenkliche Pause. „Meine...“, begann sie noch einmal, doch erneut zögerte sie, „meine... Fr-freundin...“ Es schien mir, als würde sie immer noch unsicher sein. „Sayaka hatte ihren Wunsch auch für jemand anderen gebraucht und ist wahnsinnig geworden.“ Ich konnte ahnen, dass sie ihr Gesicht in diesen Momenten schmerzvoll verzog. „Oh.“ Etwas Anderes als dieses einfallslose Wort des Bedauerns fiel mir nicht ein. „Jetzt weißt du alles, also geh.“ Sie sah mich nicht an, sie stand aufrecht in den Trümmern des einstigen Ortes des Glaubens, doch ich konnte ahnen, wie viel Überwindung es sie gekostet hatte. „Danke.“ Ich traute mich nicht zu fragen, was mit dem Mädchen Sayaka geworden ist, also verließ ich einfach nur still den Ort und ließ das Mädchen, dessen Namen ich immer noch nicht kannte, allein. Kapitel 7: Hoffnung -------------------  Jedes Magical Girl hatte seine eigene Geschichte... Mami, das rothaarige Mädchen, Sayaka... Was war wohl mit Homura? Mir wurde bewusst, dass ich mich viel zu sehr in deren Leben einmischte, aber ich konnte nicht anders. Ich wollte unbedingt ihre Geschichten hören. Vielleicht würde ich dadurch auf meinen Wunsch kommen, der mir immer noch verborgen war. Es war, als würde ich durch dichten Nebel laufen und die Hand nicht vor Augen sehen. Vielleicht war es auch kein Nebel, sondern tiefe Dunkelheit. „Hey.“ Ich merkte erst Sekunden später, dass Homura mich angesprochen hatte. Wir waren in der Schule und als ich mich umsah, waren alle anderen, einschließlich der Lehrerin, außer uns beiden schon weg. „Uoah, so spät schon?“ Peinlich berührt schmiss ich meine Sachen in meine Tasche. Homura sah mir dabei nur schweigend zu. „Du hast Kyoko getroffen?“, fragte sie mich dann. „Kyoko? Wer ist das?“ Ich ahnte zwar, dass es sich um das Mädchen mit den roten Haaren handeln musste, wollte aber sicher gehen. „Sie ist auch ein Magical Girl wie Mami und ich. Sie hat rote, lange Haare und benutzt einen Speer als Waffe“, erklärte Homura mir. „Ja, ja, ich denke, ich weiß von wem du sprichst. Aber wieso fragst du mich das?“ „Nur so. Hat sie dir ihre Geschichte erzählt?“ Ich bejahte erneut und Homura verfiel in nachdenkliches Schweigen. „Ähm... Ich gehe dann jetzt, okay?“ Ich machte Anstalten, aufzustehen. „Huh? Äh, ja, klar. Oder, warte! Ich möchte dir auch noch etwas sagen.“ Verwundert sah ich sie an, ging dann aber mit ihr auf das Dach der Schule. Würde sie mir jetzt auch ihre Geschichte erzählen? Ich würde es mir wünschen. Und vielleicht wusste sie auch, was es mit dem rosahaarigem Mädchen auf sich hatte? Schweigend trotteten wir die Stufen auf das Dach hinauf, dort begrüßte uns dann ein angenehm kühler Wind. „Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagen würde, dass ich die Zeit beherrsche?“ Homuras Frage kam scheinbar aus dem Nichts. Zögerlich überlegte ich. Würde ich das? Ja. Ja, das würde ich. Ich habe in den letzten Tagen und Wochen so viel Wunderliches gesehen, da wäre das auch nur ein kleiner Tropfen. „Ja“, antwortete ich mit fester Stimme. „Wirklich? Nun gut. Die Geschichte, die ich dir gleich erzähle, musst du mir aber nicht glauben. Es ist deine Sache.“ Sie wartete meine Reaktion ab. Ich sah sie einfach nur erwartungsvoll an, darauf wartend, dass sie begann. „Ich habe diese letzten Jahre schon sehr, sehr oft erlebt“, fing sie ihre Raum und Zeit übergreifende Erzählung an, der ich schon ein wenig skeptisch gegenüber stand, „doch es war etwas anders. Es gab noch ein Mädchen, sie hieß Madoka. Sie war ein unglaublich fröhliches, hilfsbereites Mädchen. Sie ist meine allerbeste Freundin.“ Sie hatte den letzten Satz sehr bestimmt im Präsens gesagt. „Sie war auch meine erste Freundin“, fuhr sie dann im Präteritum fort, „als ich noch schwächlich war. Sie führte mich in diese Welt der Magical Girls ein. Doch sie starb bei einem Kampf gegen eine Hexe.“ Sie machte eine Pause, fasste sich noch einmal neu. „Hexen gibt es heute nicht mehr. Hexen waren ehemalige Magical Girls, die dem Wahnsinn und der Verzweiflung verfallen waren.“ Sie schweig erneut eine Weile, wusste scheinbar nicht, wie sie fortfahren sollte. „Als Madoka das erste Mal starb, war es schrecklich. Es war so schrecklich wie jedes Mal danach, aber es war der Anstoß für die Wiederholungen der Geschichte. Und deren Ende. Ich begegnete Madoka immer und immer wieder, indem ich die Zeit zurückdrehte. Ich wollte sie um jeden Preis retten, sie, meine erste und beste Freundin.“ Sie klang verbissen. „Aber ich hatte es nie geschafft. Ich drehte die Zeit zurück und zurück, doch jedes Mal war es dasselbe. Es war dasselbe, Madoka verwandelte sich entweder in eine Hexe oder ich brachte sie selbst um, damit sie keine wurde. Aber ich konnte sie nicht retten!“ Homura schien den Tränen nahe, sie hatte sich auf eine Bank hingesetzt, während ich immer noch stand. Sie sagte eine Weile lang gar nichts, sammelte sich innerlich. Mit ruhiger, aber noch ein wenig zittriger Stimme fuhr sie dann wieder fort: „Aber beim letzten Mal war alles anders. Madoka erfuhr alles und wünschte sich für kein Magical Girl das Dasein als Hexe. Sie verhinderte die Geburt jeder Hexe. Sie wurde zur... Göttin der Hoffnung. Aber damit verschwand sie auch aus der Welt als die Madoka, die alle kannten. Nur ich scheine mich noch an sie zu erinnern, doch auch ihr kleiner Bruder kann sie spüren.“ Wieder legte sie eine Pause ein. „Sie ist immer da.“ Nun lächelte Homura leicht, als würde sie an eine wirklich gute Freundin denken. „Sie ist meine allerbeste Freundin“, wiederholte sie noch einmal. Jetzt hatte ich Zeit, die Geschichte zu verdauen. Das klang alles so... surreal. Ich wusste nicht, ob ich das glauben sollte oder nicht. Aber um Homura nicht lange warten zu lassen, bedankte ich mich bei ihr, dass sie mir das erzählt hatte: „Danke. Das bedeutet mir sehr viel, aber ich... muss das alles erst einmal verdauen. Wir sehen uns morgen in der Schule.“ Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, schon war ich die Treppen hinunter und dann aus dem Schulgebäude raus. Homura... Und Madoka. Diese Geschichte... sie klang einfach nur so unwirklich, aber ich wusste, dass sie wahr war. Aber glauben... ich wusste es einfach nicht. Ich konnte sie aber auch nicht hinnehmen, wie ich es vielleicht früher getan hätte. Ich musste mich damit auseinander setzen, musste mich mit all den Geschichten von den fünf Mädchen beschäftigen, von denen zwei nun nicht mehr waren. Nun fing ich an zu zweifeln. Würde ich dadurch wirklich meinen Wunsch finden? Sie alle verband ein starkes Band, ich sah Verbindungen, die ich mir aber nicht erklären konnte. Wer war es, der mir diese Verbindungen zeigte? „Und, Lilith Nauer, hast du dich entschieden?“ Die Stimme kam mir vertraut vor. Kyuubei kroch aus einem Busch am Wegesrand hervor. Sein buschiger Schwanz bewegte sich ruhig und rhythmisch hin und her. „Kyuubei...“, murmelte ich nur, ging dann aber schnell weiter. „Hey, das ist nicht nett!“, kam er hinterher mit seinem ewig gleichem Gesichtsausdruck. „Lass mich allein!“, fauchte ich. Ich wusste nicht wieso ich gerade so feindlich ihm gegenüber war. „Okay.“ Er hatte sich so schnell zurückgezogen wie er gekommen war. Seufzend setzte ich meinen Weg fort und verstrickte mich erneut in meine Gedanken. Ich hatte bei Homura sehr viel Hoffnung heraus hören können und ich bewunderte Homura und Madoka für ihr starkes Band der Freundschaft. Unwillkürlich musste ich an Griselda denken. Was sie wohl gerade machte? Ob sie mich noch kannte? Ich lachte in mich hinein. So lange war es auch nicht her, seit ich nach Tokyo geflogen war. Ja, wie lange eigentlich schon? Ein paar Wochen? Die Tage vergingen so ereignisreich, dass sie locker in ein Jahr passen würden. Und dennoch wusste ich nicht, was ich mir aus tiefstem Herzen wünschte. Kapitel 8: Wunsch -----------------  Mein Wunsch... Ich wünschte mir, dass ich ihn endlich sehen konnte. Wieso war er nur so weit entfernt? Sie alle wussten schnell, was sie sich wünschten. Sei es nun eine Notlage, für andere Menschen oder für alle, sie alle hatten einen Wunsch, nur ich nicht. Natürlich konnte ich mir auch etwas total Banales wünschen, aber würde ich das wirklich wollen? Vielleicht ja schon. Ich wusste nicht mehr weiter. Egal wie sehr ich darüber nachdachte und egal wie viele Pläne ich entwarf und verwarf, es kam nicht Gescheites dabei raus. Ich war immer noch wunschlos, obwohl ich genau wusste, dass er da war. Vielleicht war er ja auch nur zu offensichtlich. Die anderen Mädchen kämpften um ihr Leben, um das Leben von anderen, für das Leben. Vielleicht war gerade das, was ich an ihnen so beneidete. Je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es mir. Das war mein Wunsch. „Kyuubei“, rief ich ihn aus dem Schatten meines Zimmers hervor. Ich hatte mich entschieden. „Zu ihren Diensten.“ Flink hatte er sich auf einen Pfosten meines Bettes gesetzt. „Ich weiß, was mein Wunsch ist. Erfüll ihn mir.“ Epilog: Magiemädchen -------------------- Wenn ich jetzt wieder daran zurückdachte, erschien mir diese Zeit wie ein Fierberwahntraum. Nachdem mir Kyuubei meinen Wunsch erfüllt hatte, war ich zu einem Magical Girl geworden. Ich war wieder, sehr zu Bedauern von Yukiko und ihrem Mann, zurück nach Deutschland gereist und kämpfte dort gegen die Monster. Mittlerweile war mir klar geworden, dass Madoka mich niemals dazu angestiftet haben konnte, ein Magical Girl zu werden. Aber wer oder was diese Illusion von Madoka und dem anderem Magical Girl dort in dieser Gasse hinterlassen hatte, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich meinen Wunsch bisher noch nicht bereut hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)