Der Aufstand von Sky- (Das Todesspiel geht zu Ende) ================================================================================ Kapitel 1: Trauer und Zorn -------------------------- Es war kalt… und dunkel. Eingeengt und auf dem kalten Boden liegend kauerten unzählige Kinder und weinten. Sie hatten sich zusammengekauert und kuschelten sich in ihre zerschlissenen Decken. Einige von ihnen schliefen und wälzten sich von Alpträumen geplagt umher, doch die meisten konnten nicht schlafen. Ein kleiner Junge, gerade mal fünf Jahre alt, weinte leise und musste von einem anderen Kind getröstet werden, das auf seinem Hinterkopf genauso wie alle anderen einen Strichcode tätowiert hatte. Nur mit dem Unterschied, dass er als erstes Zeichen ein Alpha hatte. „Keine Angst Lambda, Mama kommt sicher bald und dann wird sie uns wieder eine Geschichte erzählen.“ Doch der Kleine weinte nur noch mehr und so blieb Alpha nichts anderes übrig, als ihn tröstend in den Arm zu nehmen. Dabei wurde er von einem älteren Kind ausdruckslos angestarrt, dessen Blick gebrochen war. „Mama wird nicht kommen…sie kommt nie wieder!“ „Halt die Klappe Gamma, Mama kommt ganz bestimmt. Sie hat es versprochen!“ Ein lauter metallischer Knall unterbrach das Gestreite und alle fuhren erschrocken auf. Selbst jene, die zuvor geschlafen hatten, waren aufgeschreckt und umklammerten einander in Todesangst. „Die bösen Menschen! Die bösen Menschen“ riefen Eta und Theta und wichen verängstigt von der Tür zurück. „Sie kommen!“ Langsam öffnete sich die schwere Metalltür und grelles Licht fiel in die Zelle. Geblendet schlossen die Kinder die Augen oder nahmen ihre Hände als Sichtschutz zur Hilfe. Einige schrieen auf und flüchteten sich in die hinterste Ecke der Zelle, da sie glaubten, es seien Wärter, die sie wieder in die Labore bringen und an ihnen schmerzhafte Experimente durchführen würden. Oder noch schlimmer: Sie in die „Arena“ bringen, wenn sie nicht mehr von Nutzen waren und auf Leben und Tod gegen andere kämpfen mussten. Doch dann erklang eine sanfte und liebevolle Stimme, die sie wieder beruhigte. „Habt keine Angst, ich bin es. Tut mir Leid, dass ihr so lange warten musstet.“ Eine dünne Frau mit langen schwarzen Haaren, einem Laborkittel und einen Rosenkranz um den Hals betrat die Zelle und hatte eine Tüte bei sich. Sie kniete sich auf den Boden, legte die Tüte beiseite und breitete ihre Arme aus. „Na, wer möchte denn umarmt werden?“ „Mama!“ riefen die Kinder und all die traurigen und hoffnungslosen Augen leuchteten auf. „Mama!!!“ Sofort wurde die Frau stürmisch von mehreren Kindern umarmt, geküsst und gedrückt. Manche weinten sogar vor Freude und wollten sie gar nicht mehr loslassen. Von allen Kindern aber war es Alpha, der sich am meisten freute und sie gar nicht mehr loslassen wollte. Schließlich, als alle ihre Umarmung und Küsse bekommen hatten, holte die Frau Bonbons aus der Tüte und gab jedem Kind eine Hand voll. „So, möchte jemand von euch eine Geschichte hören?“ „Ja! JAAAA!!!“ riefen die Kinder laut und versammelten sich alle um die Wissenschaftlerin, die nun ein Buch hervorholte. Es war eine Kinderbibel, die ihr selbst als Kind gehört hatte. Sie hätte auch Märchen erzählt, aber diese armen Kinder konnten mit Märchen nichts anfangen. Sie hatten niemals das Tageslicht erblickt, geschweige denn jemals ein Tier gesehen. Und Geschichten über Tiere, Prinzen und Hexen konnten sie nicht über diese Zeit hinwegtrösten, die sie hier eingesperrt waren. Aus diesem Grund hatte Wednesday Weather angefangen, ihnen aus der Bibel vorzulesen. „Also, heute lese ich euch die Geschichte vom kranken Mann vor. Setzt euch gemütlich hin und wenn ihr auch still und brav seid, lese ich vielleicht noch eine zweite Geschichte vor.“ Und so begann sie die Geschichte vom armen kranken Mann vorzulesen, der von Geschwüren übersät war und furchtbare Schmerzen litt. Die Menschen ekelten sich vor ihm und er war gezwungen, immer „Aussätziger“ zu rufen, um die anderen zu warnen, damit sie einen großen Bogen um ihn machen konnten. „Ähm Mama“ meldete sich schließlich schüchtern der kleine Beta. „Was ist Aussatz?“ „Damals hatten manche Menschen schreckliche Geschwüre und die anderen glaubten, dass dies eine Strafe von Gott sei, weil sie böse Dinge getan haben. Weil sie Angst hatten, dass sie sich anstecken könnten, mussten sie einen Bogen um sie herum machen.“ „Waren die Aussätzigen böse?“ „Nein, sie waren nur schrecklich krank und niemand konnte ihnen helfen. Genauso wie dem armen kranken Mann. Doch dann hat er gehört, dass Jesus Leute heilte und er hat sich humpelnd auf den Weg gemacht, um sich von ihm heilen zu lassen. Die Leute mieden ihn und jagten ihn fort, aber Jesus hatte keine Angst und er ekelte sich nicht vor dem Mann. Der arme kranke Mann fiel auf die Knie, streckte seine schmerzenden Hände aus und sprach weinend „Oh Herr, willst du mich bitte wieder gesund machen? Du kannst es, wenn du nur willst.“ Und Jesus schickte ihn nicht fort, nein er hatte Erbarmen mit dem armen kranken Mann. Er ging auf ihn zu, legte die Hände sanft auf den wunden Kopf des Mannes und sprach „Ich will, dass du gesund wirst.“ Und siehe da, der Mann war geheilt. Er hatte keine Geschwüre und keine Schmerzen mehr. Er war überglücklich und er wusste nicht, wie er Jesus danken sollte. Doch Jesus ging bereits weiter, denn es gab so viele unglückliche Menschen, denen er helfen wollte. Also ging der Mann nach Hause. Die Menschen waren nie wieder böse zu ihm oder machten einen Bogen um ihn. Er war ein schwacher und kranker Mann gewesen, doch jetzt war er stark und fröhlich.“ Die Bonbon essenden Kinder sahen Wednesday begeistert an und tatsächlich schien diese Geschichte sie aufzumuntern. Eta, die diese Geschichten am meisten liebte, hob ihre Hand und fragte „Wird Jesus uns auch befreien?“ „Das weiß niemand. Wisst ihr, die Menschen waren böse zu Jesus und jetzt ist er wieder im Himmel bei Gott. Aber eines Tages wird er wieder zurückkehren und dann wird es überall schön werden und dieses Institut wird es dann nicht mehr geben.“ „Aber warum kommt er nicht jetzt?“ „Ach weißt du Delta, es gibt so viele Menschen auf der Welt, die genauso traurig und unglücklich sind wie ihr und deshalb kann er nicht allen helfen. Aber wenn ihr immer brav seid und nicht so böse werdet, wie die Wärter, dann wird ganz sicher der Tag kommen, an dem ihr befreit werdet. So, und da ihr so schön zugehört habt, erzähle ich euch noch eine Geschichte. Alpha, welche Geschichte möchtest du denn hören?“ „Die Geschichte von Lazarus!“ „Also gut, dann hört gut zu!“ Und wieder trat gespannte Stille ein und alle Kinderaugen ruhten auf Wednesday Weather, die eine weitere Tüte mit Milchbrötchen an die Kinder reichte. „Lazarus war der Bruder von Maria und Marta und sie waren sehr gute Freunde von Jesus. Die drei lebten in einem fernen Land namens Betanien und sie sorgten immer gut für ihre Freunde, wenn sie zu Besuch kamen. Doch eines Tages wurde Lazarus so krank dass es schien, als müsse er sterben. Maria und Marta waren sehr traurig darüber und sagten „Ach, wenn Jesus hier wäre, dann könnte er Lazarus wieder gesund machen“ Aber Jesus war nicht da, er war in einem anderen Teil des Landes und deshalb schickten Marta und Maria einen Boten zu ihm, der ihm sagen sollte, dass Lazarus krank sei. Der Mann lief den ganzen Tag, kam endlich zu Jesus und richtete ihm die Nachricht aus. Jesus erschrak nicht und er wurde auch nicht traurig. Er sagte ruhig „Die Krankheit ist nicht zum Tode“ Mit dieser Nachricht ging der Bote zu den Schwestern zurück. Doch er fand eine Menge trauernder Menschen vor, die ihm erzählten, dass Lazarus gestorben sei. Noch am selben Tag wurde er in einer dunklen Höhle begraben, mit einem großen Stein davor. Sie waren vor Kummer ganz verzweifelt und weinten. „Wäre Jesus doch nur hier gewesen“ schluchzte Marta. „Ja“ weinte Maria, „Dann wäre Lazarus nicht gestorben“.“ Sofort unterbrach Lambda und stellte die Frage, ob Lazarus wirklich tot war. Die Wissenschaftlerin nickte und streichelte ihm sanft den Kopf. „Ja, er ist wirklich gestorben, aber die Geschichte geht ja noch weiter: Als vier Tage vergangen waren, kehrte Jesus zurück und betrat das Haus von Marta und Maria. Marta weinte und sagte: „Herr, wenn du hier gewesen wärst, dann wäre Lazarus nicht gestorben!“ Doch Jesus sagte ihr, dass Lazarus wieder aus seinem Grabe aufstehen würde. Marta müsse nur daran glauben. Er ließ Maria rufen und als sie ihn erreichte, fiel sie auf die Knie und rief genauso wie Marta „Herr, wenn du nur hier gewesen wärst, dann wäre Lazarus nicht gestorben!“ Sie war so unendlich traurig, dass sogar Jesus weinte. Aber dann fragte er, wo Lazarus begraben läge. Er führte sie hin und sagte ihnen, dass alles gut werden würde. Ein paar Männer rollten die Steine beiseite und Jesus begann zum Himmel zu schauen und zu seinem Vater im Himmel zu reden. Dann schaute er ins Grab und rief „Lazarus, komm heraus!“ Es war still, aber plötzlich hörten die Menschen Schritte in dem dunklen Grab. Und dann kam Lazarus heraus. Marta und Maria waren so froh, ihren Bruder wiederzusehen. Sie nahmen ihn an der Hand und gingen mit ihm wieder nach Hause.“ Wednesday sang noch ein Schlaflied und gab jedem der Kinder einen Kuss. Sie würde Morgen zur selben Zeit wiederkommen, aber nicht um ihnen Geschichten zu erzählen. Nein, sie würde diese armen gequälten Seelen endlich befreien und mit ihnen aus diesem schrecklichen Institut fliehen. Dann würden sie nicht immer nur von der Freiheit träumen sondern sie auch am eigenen Leib spüren. Wednesday wusste, dass es gefährlich war und dass sie die Sache wahrscheinlich nicht überleben würde. Aber sie musste es tun. Es war ihre Pflicht, die Kinder mit ihrem Leben zu beschützen. Nachdem sie sichergegangen war, dass alle eingeschlafen waren, verließ sie die Zelle und ging in ihr eigenes Quartier. Sie war müde und erschöpft…. Andrews Brust schnürte sich zusammen, als er diese Szene vor seinem inneren Auge sah. Und dann brannte der blinde Hass in ihm auf. Er stand auf einer Empore und vor ihm standen versammelt die verlorenen Kinder. Sie waren so gut wie vollzählig, nur L, Beyond Birthday, Eta und Theta fehlten und Epsilon und Omega waren tot. Außerdem konnte Takuya nicht teilnehmen und Fear und Anne waren in Thailand und weigerten sich, an diesem Treffen teilzunehmen.„Meine lieben Brüder und Schwestern, zu lange haben wir still gehalten und schweigend unser Leben als Außenseiter gefristet, während die Mörder unserer Mutter immer noch auf freien Fuß sind. Sie haben uns alles genommen und jetzt ist es endlich an der Zeit, dass wir uns dafür rächen. Die Menschen haben uns wie Vieh behandelt, uns unsagbare Schmerzen zugemutet und uns gegeneinander kämpfen lassen. Jetzt, da wir frei sind, behandeln sie uns immer noch wie Aussätzige und wir sind gezwungen, uns vor den Männern aus dem Institut zu verstecken. Das muss endlich ein Ende haben!“ Ein gewaltiger Beifallsturm ertönte und manche riefen sogar „Tod den Menschen!“ Andrew hob die Arme, um die Menge zu beruhigen. „Doch das Schlimmste ist, dass unser Bruder Lambda uns alle verraten hat. Er trägt den Namen des Mannes, der unsere Mutter vor zwanzig Jahren ermordet hat: Henry Lawliet. Er hat sich gegen uns gestellt und steht nun auf der Seite der Menschen. L Lawliet ist ein Verräter! Er beschützt die Mörder unserer Mutter, die ihr Leben gegeben hat, damit wir in Freiheit leben können.“ „Bringt ihn um!“ rief einer aus der Menge hysterisch und erhob dabei eine Faust. Ein anderer hingegen forderte seine sofortige Festnahme. Sie alle waren wütend und aufgebracht. Nur einer blieb still und das war Delta. Er war mehr der Beobachter und verfolgte das Geschehen mit einem kühlen Interesse. „Brüder und Schwestern, es ist an der Zeit, endlich abzurechnen. Mit den Menschen, die uns das all die Jahre angetan haben, mit dem Mann, der unsere Mutter auf dem Gewissen hat und mit Lambda, der uns verraten hat. Setzen wir gemeinsam das Eta-Virus frei und löschen wir die Menschheit aus!!!“ Ein tosender Beifall brach aus und alle klatschten begeistert. Es war unfassbar, wie schnell die Stimmung umgeschlagen war und wie einfach es gewesen war, die Menge zu überzeugen. Im Grund brauchte es auch nicht viel. Es hatte sich einfach zu viel Wut angestaut, so viel Hass und Verbitterung hatte die Herzen dieser verlorenen Kinder ergriffen. Für sie war ein Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab. Kein Vorankommen, solange alles beim Alten blieb. „Als wir im Institut lebten, waren unsere Körper gefangen aber dank unserer Mutter war unser Geist frei. Nun sind unsere Körper frei, aber unser Geist ist es nicht, solange wir weiterhin in Angst leben müssen. Diese Zeiten sind jetzt vorbei. Holen wir uns die Freiheit, die uns zusteht. Wenn nötig mit Gewalt!!!“ Nachdem die Menge genug gefeiert hatte, verließ Andrew die Empore und gesellte sich zu Delta, der ein wenig abseits stand, einen Frauenkimono mit weitem Ausschnitt trug und seine langen Haare hochgesteckt hatte. Er trank ein Glas Champagner und hatte einen nichts sagenden Gesichtsausdruck. „Eine nette Rede mein Lieber. Du hast sie auf deine Seite gebracht.“ „Dich scheint meine Rede ja nicht beeindruckt zu haben.“ „Ich halte mich lieber im Abseits und behalte mir meine Meinung vor.“ „Auf welcher Seite bist du eigentlich?“ „Auf meiner eigenen, das wusstest du auch von Anfang an. Mir geht es nur um meine persönlichen Vorteile, das verstehst du ja. Solange auch was für mich dabei herausspringt, werde ich dir helfen. Sag mal, was ist das eigentlich mit Lambda? Stimmt das wirklich?“ „Was macht das für einen Unterschied, ob er ein Verräter ist oder nicht? Allein seine Existenz hätte uns damals allen das Leben gekostet, hätte Mutter uns nicht befreit und allein seinetwegen musste sie sterben. Das werde ich ihm niemals verzeihen. Ich will ihm alles nehmen, was ihm wichtig ist und alles zerstören, was er jemals aufgebaut hat. Er soll leiden, genauso wie Mutter leiden musste. Ich will ihn brechen wie ein Streichholz!“ Und mit einem mörderischen Funkeln in den Augen ging Andrew an Delta vorbei und verließ den Raum. In einem Nebenzimmer warteten Dr. Heian und Molly. Der kannibalische Chirurg klatschte mit einem listigen Lächeln Beifall, welches schon fast sarkastisch zu sein schien, während Molly auf dem Boden saß und immer wieder ein Teppichmesser in den Boden rammte. Sie sah gelangweilt und genervt aus. „Na endlich ist dieses scheiß Treffen vorbei. Ich dachte schon, ich würde vor Langeweile krepieren. Und Dr. Psycho ist auch kein unterhaltsamer Gesprächspartner.“ „Ich kann mich einfach nicht mit deinem vorlauten und vulgären Mundwerk anfreunden, meine Liebe“, antwortete der Chirurg mit einem Lächeln und wandte sich Andrew vor. „Wie gehen wir weiter vor?“ „Wie besprochen. Wir müssen unbedingt an das Eta-Virus rankommen, ohne das läuft gar nichts. Wenn die Krankheit erst einmal ausgebrochen ist, kommt ihr beide zum Einsatz. Ich brauche nämlich Geld und jemanden mit medizinischem Können. Steven Red war lediglich eine Marionette, die ich nicht länger brauchte. Wie ist sein Zustand?“ „Er ist vor knapp einer Stunde verstorben.“ „Der arme Kerl ist tot. Sein Zustand war ohnehin äußerst kritisch, weil Delta drei Male auf ihn eingeschossen hat.“ „Soll mir recht sein. Steven ist mir mit seinem Gejammer mit seiner Miki sowieso auf die Nerven gegangen.“ „Hast du schon ein neues Ziel im Visier?“ „Natürlich. Wir bereiten das nächste Feuerwerk vor. Europa soll ordentlich was zu feiern bekommen. Sag Anger Bescheid, dass er sich bereithalten soll. Ich habe noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen.“ Und damit verließ Andrew nun auch seine beiden Gefolgsleute. Diese sahen ihm schweigend nach und Molly hörte auf, mit dem Teppichmesser zu spielen. „Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie ist er anders als sonst. Er ist nicht mehr so ein eiskalter Dreckskerl wie sonst.“ „Ich muss dir ausnahmsweise Recht geben. Er beginnt, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Er ist von Rache getrieben. Aber eben das macht ihn so interessant. Denkst du etwa daran, zu deinen Eltern zurückzukehren?“ „Bist du bescheuert? Natürlich nicht. Ich dachte nur, mir fällt’s als Einzige auf.“ Die Aufmerksamkeit der beiden wurde schließlich auf Delta gerichtet, der gerade hereinkam und inzwischen sein Champagnerglas nachgefüllt hatte. Er sprach mit einer Frauenstimme, was darauf schließen ließ, dass seine weibliche Persönlichkeit wieder die Kontrolle übernommen hatte. Mit einem charmanten Lächeln machte es sich „Hainuelle“ auf dem Sofa bequem und nahm eine sehr verführerische Pose ein. Inzwischen hatte Delta Make-up aufgelegt und sah nun noch mehr wie eine Frau aus als vorher. „Na, worüber habt ihr gerade geredet?“ „Über Andrews Pläne. Aber sag mal Delta…“ und damit räusperte sich der Chirurg und ignorierte gekonnt die verführerischen Blicke, die auf ihn gerichtet waren. „Du weißt schon, dass, wenn der Obi vorne zugeschnürt ist, es heißt, du wärst eine Prostituierte?“ „Vielleicht…“ Und damit zwinkerte „Hainuelle“ ihm zu. Normalerweise, wenn „Dorian“ die Kontrolle hatte, war bei ihm der Knoten hinten, so wie er sein musste. Und er benahm sich auch nicht so aufreizend. „Ich sorge mich allerdings ein wenig um L. Ich frage mich, ob ihm überhaupt bewusst ist, was in Andrews Kopf vorgeht und was damals passiert ist, als Mutter starb. Die Sache dürfte unterhaltsam werden. Solange auch für mich was dabei herausspringt… warum folgt ihr ihm eigentlich?“ „Es ist unterhaltsam und man sollte wissen, wen man sich zum Feind macht und wen nicht. Und Andrew Asylum sollte man sich besser nicht zum Feind machen.“ „Wohl wahr, wohl wahr“ stimmte „Hainuelle“ zu und fuhr sich mit ihren grazilen Fingern durchs Haar. „Wie sagt man immer so schön? Die Mutter ist Gott in den Augen eines Kindes. Und es gibt Menschen, die ganze Völker für ihren Gott niedergemetzelt haben. Ist es nicht verrückt, dass Menschen ihresgleichen aus solch niederen Beweggründen so etwas tun? Man sagt, dass solche Menschen wie Tiere sind, dabei töten Tiere allein, wenn es um ihr Überleben geht. Im Grunde ist Andrew nur eine gekränkte und verzweifelte Seele. Fragt sich nur, was er wirklich vorhat. Ist es wirklich Rache? Oder kann es sein, dass er von einem anderen Ziel angetrieben wird? Jedenfalls… ihr zwei müsst mir nachher helfen. Andrew hat mir aufgetragen, ein neues Video zu drehen. Anscheinend hat er seine Pläne kurzfristig geändert. Ich bin wirklich gespannt, was er als Nächstes vorhat.“ Kapitel 2: Deltas Hinweis ------------------------- Naomi Misora und L fuhren gerade in einem Mercedes mit getönten Scheiben den Highway entlang während sie im Radio die Nachrichten verfolgten. Dort wurde von einem weiteren Bombenangriff auf den Vatikan berichtet, der auch in Rom enorme Zerstörungen angerichtet hatte. Da der Durchmesser der Zerstörung mehr als 60 Kilometer betrug, ging man vom selben Bombentyp aus wie der von Los Angeles: Eine russische Zarbombe. Außerdem hatte der Attentäter eine weitere Botschaft verkünden lassen, in der es hieß, dass man L unter allen Umständen LEBEND fassen sollte und dass noch viel Schlimmeres geschehen werde, wenn er getötet wird. Diese Entwicklung erstaunte L auf der einen Seite, denn normalerweise änderte Andrew seine Pläne niemals aber auf der anderen Seite konnte er gut nachvollziehen, woher dieser Sinneswandel kam: Andrew wollte ihn persönlich ins Jenseits befördern. Derzeit befanden sich er, Naomi und auch die Zwillingsschwestern Eta und Theta auf der Flucht und hatten falsche Identitäten angenommen, um sich vor der Öffentlichkeit versteckt zu halten. Zurzeit befanden sie sich auf den Weg zu Delta, einem Gehilfen von Andrew, der zugleich auch wie er und L ein verlorenes Kind war und somit auch aus dem Institut stammte. L hatte erzählt, dass Deltas Fähigkeit die perfekte Verkleidung war. Er konnte Leute so gut imitieren, auch ihre Stimmen. Doch aufgrund der Vorgeschichte im Institut war er schwer traumatisiert worden und hatte daraufhin eine gespaltene Persönlichkeit entwickelt. Die erste war der zurückhaltende und kühle Dorian Silver, der ein schweres Alkoholproblem hatte und unter Depressionen litt. Seine zweite Persönlichkeit war die einer Frau, nämlich Hainuelle Morgan, die einen direkten und sehr anzüglichen Charakter besaß und es liebte, Männern den Kopf zu verdrehen. Es war so, dass Dorian nur in der Lage war, in männliche Rollen zu schlüpfen, während Hainuelle immer Frauen imitierte. Delta hatte während seiner Jugendzeit mehrere Therapien gemacht, doch keine hatte wirklich gefruchtet. Er konnte auch niemandem sagen, was der Auslöser für diese Persönlichkeitsstörung war. Damit würde er seine Tarnung aufgeben, die Leute aus dem Institut würden ihn aufspüren und dann töten. Im schlimmsten Falle hätte er auch seine „Geschwister“ in Gefahr gebracht. Im Laufe der Jahre hatte sich Delta sowohl von den verlorenen Kindern als auch von anderen Menschen immer weiter emotional distanziert und vertraute niemandem, außer sich selbst. Er zog es vor, alleine zu sein und ging nur dann ein Bündnis mit anderen ein, wenn sich für ihn ein Vorteil bot. Kurzum, Delta verfolgte nur seine eigenen Interessen und kümmerte sich nicht im Geringsten um andere. Das klang nach einem ziemlich egoistischen Mistkerl, aber niemand konnte ihm so etwas verübeln. Das Leben hatte es sowieso nicht gut mit ihm gewollt. Nicht nur, dass er von Anfang an auf sich allein gestellt war und seit dem Tod seiner „Mutter“ keine Bezugsperson mehr hatte, er musste sich immer im Leben durchkämpfen. Sowohl im Institut als auch in dieser Welt. Um zu überleben hatte er betrogen, gestohlen, gemordet und Leute benutzt. Da war es verständlich, dass er niemandem einen selbstlosen Gefallen tat. „Müssen wir irgendetwas beachten, wenn wir auf Delta treffen?“ „Ich werde alleine gehen und Sie, Naomi, beschützen derweil die Zwillinge. Ich kann nicht sagen, ob Delta irgendeine Falle gestellt hat oder mich einfach so sprechen wird. Er ist in dieser Hinsicht sehr unberechenbar.“ „Und was erhoffen Sie sich von diesem Gespräch?“ „Andrews Aufenthaltsort und sein weiteres Vorgehen. Es reicht schon, wenn Delta nur einen Tipp gibt. Hat Takuya inzwischen noch mal Kontakt zu Ihnen aufgenommen?“ „Nein, er geht mir partout aus dem Weg. Offenbar hat er Angst, dass diese Typen von damals erneut versuchen könnten, mich zu entführen. Aber ich schätze, er wird sich von selbst wieder melden, sollte es etwas Neues geben.“ Tatsächlich hatte Naomi während der letzten beiden Nächte versucht, in ihrem Traum auf Takuya zu treffen, der seit einem brutalen Schlag auf dem Kopf im Koma lag und als verlorenes Kind die Fähigkeit besaß, sein noch intaktes Unterbewusstsein mit dem von anderen Menschen zu verbinden. Somit war es ihm damals möglich gewesen, Naomis Fantasiefreund zu werden und mit ihr in ihren Träumen zu spielen. Doch als die Leute aus dem Nova Institut davon Wind bekamen, versuchten sie Naomi zu entführen und daraufhin versuchte Takuya ihre Erinnerungen an ihn auszulöschen um sie und ihre Familie zu beschützen. Doch da Naomis Emotionen zu stark waren, konnte sie ihn nicht vergessen. Stattdessen manifestierte sich in ihrem Kopf die falsche Erinnerung, dass Takuya ihr Bruder war und dieser von einem unbekannten Stalker ermordet worden war. Erst vor wenigen Tagen hatte Takuya Naomi gewarnt, dass Andrew einen Bombenangriff auf Los Angeles durchführen würde und kurz darauf hatte er Lebewohl gesagt. Erst vor kurzem hatte Naomi erfahren, dass sie seit ihrer Kindheit schon Kontakt zu den verlorenen Kindern hatte, ohne es selbst zu wissen. „Ich hoffe nur, dass wir nicht auf ernsthafte Schwierigkeiten stoßen.“ Sie verließen schließlich den Highway und fuhren noch eine Zeit lang durch die Gegend, bis sie ein stattliches Anwesen im japanischen Stil erreichten. L legte Naomi nahe, sofort loszufahren, sollte er Schwierigkeiten bekommen und unter keinen Umständen sollte sie das Anwesen betreten oder die Zwillinge aus den Augen lassen. „Sobald das Eta-Virus Andrew in die Hände fällt, haben wir so gut wie verloren. Deshalb hat die Sicherheit der beiden Mädchen oberste Priorität.“ Naomi nickte und sah L nach, als er aus dem Wagen stieg. Hoffentlich lief alles glatt und er konnte diesen „Delta“ überzeugen, ihm die Informationen zu geben. Delta hatte in der Zwischenzeit wieder die Persönlichkeit von Dorian angenommen und auf dem Boden lagen diverse leere Bierflaschen. Offenbar hatte er sich kräftig abgeschossen. Er hatte sich in seinem Zimmer verschanzt und mit roter Farbe die sieben Todsünden „Habgier“, „Lust“, „Neid“, „Wollust“, „Völlerei“, „Hochmut“ und „Zorn“ an die Wände geschrieben. Aber an der Zimmerdecke war ein zentrales Wort geschrieben, das fast den gesamten Platz ausfüllte: „Schmerz“. Delta selbst lag auf dem Bett, war immer noch in einen Kimono gekleidet und trug nun die Haare offen. Er sah müde und erschöpft aus und empfing L mit einem kühlen Blick. „So trifft man sich wieder, Lambda. Na, was führt dich denn hierher? Warte, lass mich raten: Andrews kleine Aktion, nicht wahr?“ „Du hast es erraten. Ich möchte deswegen mit dir darüber sprechen.“ Delta lachte und nahm einen kräftigen Schluck aus einer Bierflasche. „Du weißt doch L, ich gebe normalerweise nur dann Informationen preis, wenn auch dementsprechend was für mich dabei herausspringt. Was willst du mir denn schon bieten?“ „Kommt drauf an, was du möchtest.“ Delta schwieg und sah L prüfend an. Er schien sich nicht ganz sicher zu sein, ob er L die Informationen geben sollte. Dann aber veränderte sich sein Blick und seine Stimme wandelte sich in die einer Frau. Nun war Hainuelle wieder die dominierende Persönlichkeit. „Nun dann mein lieber L, dann lass uns doch erst mal in den Garten gehen. Dort ist es wesentlich angenehmer als hier. Ich hab es doch gerne, wenn ich jemanden zum Plaudern habe.“ L wurde schließlich in den Garten geführt zu einem kleinen Pavillon, wo sie sich niederließen. Delta hatte an einem Tisch ein Shogi Brett aufgebaut und wollte offenbar gegen L spielen. Dieser ging auf das Angebot ein und nun begannen sie ihre Spielfiguren aufs Feld zu schicken. „Wie geht es Andrew?“ „Gesundheitlich gut, emotional ist er ziemlich angeknackst. Er hat sich ganz schön in seinen Hass auf dich hineingesteigert und ein Treffen abgehalten. Er hat die verlorenen Kinder zum Kampf gegen dich aufgerufen.“ L sah beinahe erschrocken auf und hätte fast seine Figur fallen gelassen, die er gerade spielen wollte. „Er hat was getan? Wer… wer war denn alles dabei?“ „Alle bis auf du, die Zwillinge, Beta, Zeta und Iota und natürlich Epsilon und Omega, unsere beiden Selbstmörder. Alpha macht dich nach wie vor für Mutters Tod verantwortlich und genau das ist sein Beweggrund, warum er dich am Boden sehen will.“ „Warum denkt er das denn?“ „Tja, warum wohl? Das soll er dir selbst verraten. Aber so viel sei gesagt: Er kann dir einfach nicht vergeben, dass du den Namen deines Vaters angenommen hast. Natürlich weiß ich, warum du das getan hast: Du hoffst auf diese Weise, deinen Vater eines Tages finden zu können und du trägst diesen Namen, um dich selbst zu strafen aber leider hast du Alpha ganz schön damit provoziert. Er hat den anderen eingeredet, dass du mit deinem Vater gemeinsame Sache machst.“ Mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck setzte Delta seine Figuren weiter und wartete auf L’s Zug. Dieser musste jedoch erst wieder seine Gedanken sortieren, bevor er weiterspielte. Die Tatsache, dass Andrew jetzt auch noch die verlorenen Kinder auf ihn hetzte, war unfassbar und damit war er endgültig zu weit gegangen. „Nun schau doch nicht so entsetzt drein Lambda. Es gibt doch weitaus Schlimmeres. Also erzähl mal, welche Informationen willst du haben?“ „Wo hält sich Alpha auf?“ „Sag ich dir nicht….“ „Was plant er als Nächstes?“ „Kannst du vergessen.“ „Gibt es irgendeine Information, die du mir geben könntest?“ In Deltas Augen funkelte plötzlich etwas auf. Er stand auf, ging auf L zu und warf ihn rücklings zu Boden. Dann beugte er sich über ihn, hielt ihn an den Handgelenken fest und ging ganz nah an sein Gesicht heran, sodass sich ihre Stirn beinahe berührten. Ein überlegenes und beinahe schon boshaftes Lächeln spielte sich auf „Hainuelles“ Lippen. „Was würdest du mir denn bieten für diese Information? Was wärst du bereit, mir dafür zu geben?“ „Alles was nötig ist, um diesen Wahnsinn zu beenden.“ „So gefällst du mir Lambda.“ Und damit ließ Delta wieder von ihm ab. „Deine Entschlossenheit ist wirklich beeindruckend. Tja, aber leider völlig umsonst. Selbst wenn ich dir helfen sollte, könntest du Alpha nicht aufhalten. Aber da ich dich ja schlecht einfach so gehen lassen kann, obwohl du für mich alles tun würdest, werde ich dir etwas verraten: Du weißt doch vielleicht, dass Watari die „26“ unter seine Fittiche genommen hat. Einer von ihnen ist Undercover in einem ähnlichen Institut tätig und hat Nachforschungen über die Experimente im Nova Institut betrieben und damit auch zu unserer Mutter. Ich spreche von Z alias Zion Freezer.“ „Wie bitte?“ „Das hättest du wohl nicht gedacht, oder? Aber es ist wahr und Zion lebt sogar noch. Zurzeit lebt sie in Moskau. Und die große Überraschung ist: Sie arbeitet unter der Leitung deines Vaters.“ Folglich wusste Zion auch, wo sich Henry Lawliet zurzeit aufhielt. Das hieß: Wenn L ihn aufspürte und zur Verantwortung zog, dann könnte er Andrew vielleicht davon überzeugen, dass er das gleiche Ziel wie er verfolgte. Nämlich die Mörder seiner Mutter zu finden. „Wenn Alpha es hauptsächlich darauf abgesehen hat, mir zu schaden, warum betreibt er diesen ganzen Aufwand?“ „Weil er dir alles nehmen will. Deinen Glauben, deine Hoffnung und deinen Lebenswillen. Er will dir alles nehmen, wofür du all die Jahre gekämpft und gearbeitet hast. Darin liegt seine Motivation. All die Jahre hast du dafür gekämpft, dass diese Welt ein sicherer Ort wird und dass wir in Freiheit leben können. Aber im Grunde ist dein Unterfangen ein Kampf gegen Windmühlen. Dir ist doch klar, dass die Leute, die dieses schreckliche Institut betrieben haben, mit Sicherheit noch viel schlimmere Dinge am Laufen haben und es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie uns finden. Immerhin hätten diese Leute beinahe deine süße kleine FBI Agentin geschnappt, als herauskam, dass sie mit Xi in Kontakt getreten war.“ „Woher weißt du davon?“ „Alpha macht eben seine Hausaufgaben, genauso wie ich. So, ich glaube damit wäre alles gesagt. Du solltest jetzt besser gehen, bevor ihr noch in Schwierigkeiten geratet.“ „Dann willst du mich nicht an Alpha ausliefern?“ „Dieses Mal nicht. Aber beim nächsten Mal wäre ich mir da nicht mehr so sicher. Tja, dann hoffen wir doch mal, dass wir unsere Partie irgendwann zu Ende spielen können. Entweder hier oder im Jenseits.“ Damit verabschiedete sich Delta von L und führte ihn nach draußen. Naomi hatte derweil schon den Motor gestartet und war bereit, jederzeit mit den Zwillingen abzuhauen, sollte die Situation eskalieren. Doch ein Zeichen von Delta zeigte, dass alles in Ordnung war. So öffnete Naomi die Tür und wartete bis L eingestiegen war. Dieser drehte sich noch mal zu Delta um und fragte „Warum lässt du uns einfach so entkommen?“ „Nun, ich möchte natürlich wissen, wer dieses letzte Spiel gewinnt. Es wäre außerdem unfair, wenn Alpha übervorteilt wird. Und jetzt macht schon, dass ihr verschwindet, bevor euch noch jemand sieht.“ Das ließ L sich nicht zwei Mal sagen und so stieg er in den Wagen. Als sie losfuhren, sah Delta ihnen noch eine Weile hinterher, dann ging er zurück ins Haus. „Und? Was haben Sie in Erfahrung bringen können?“ „Wir müssen einen Flug nach Moskau erwischen. Z, eine Undercover Spionin arbeitet in einem Institut, welches von meinem Vater geleitet wird. Sie hat viel über damals nachgeforscht und womöglich kann sie uns auch sagen, wo sich Henry Lawliet zurzeit aufhält.“ Das klang doch schon mal vielversprechend. Stellte sich nur die Frage, wie man innerhalb der nächsten zwei Tage nach Moskau kam, wo der Flugverkehr in Los Angeles komplett lahm gelegt war und auch sonst mehrere Flughäfen gesperrt waren. Aber sicher würde L schon etwas einfallen. Gerade wollte Naomi auf die Hauptstraße fahren, um von dort aus auf den Highway zu kommen, da sprang plötzlich jemand mitten auf die Straße und stellte sich vor den Wagen. Naomi trat sofort in die Bremsen und riss das Lenkrad herum. Es gab einen gewaltigen Ruck und der Wagen wurde von der Straße geschleudert. Zum Glück blieben alle unverletzt, nur L hatte eine leichte Verletzung an der Schläfe. „Verdammte Scheiße“ murmelte Naomi und sah nach hinten um sicherzugehen, ob die Zwillinge wohlbehalten waren. Zum Glück ging es ihnen gut, nur hatten sie einen großen Schreck gekriegt. Sofort stiegen Naomi und L aus um nachzusehen, was sie beinahe überfahren hätten. Auf der Straße stand eine dünne rothaarige Frau in einem hautengen schwarzen Lederanzug mit einem Waffengürtel an der Hüfte. Sie bewegte sich grazil und elegant und erinnerte von den Bewegungen her der Gestaltwandlerin Mystique aus den X-Men Filmen. Ihre Augen waren stechend gelb wie die eines Adlers und ihre Absichten konnte man ihr schon von den Gesichtszügen ablesen. „Hallo Lambda, lange nicht gesehen. Wie lebt es sich denn so als Verräter?“ „Ähm L, wer ist diese Frau?“ „Kappa alias Kathrin Kohlhaas. Sie ist professionelle Auftragsmörderin und Kopfgeldjägerin und von der selben Abstammung wie ich.“ „Von der selben Abstammung? Das ich nicht lache. Du bist der Bastard von einem Menschen, der uns in diesem Forschungslabor festhielt und unsere Mutter auf dem Gewissen hat. Und jetzt, da du sogar gemeinsame Sache mit diesem Monster machst, behauptest du sogar noch, wir wären vom gleichen Schlag? Das ist ja wohl die Höhe!!!“ Naomi zog sofort die Beretta und richtete sie auf Kappa. „Keinen Schritt weiter oder ich schieße.“ Doch die Auftragsmörderin ließ sich nicht beeindrucken. Mit Verachtung sah sie Naomi aus den Augenwinkeln an und verzog die Miene. „Alpha hat gesagt, wir sollen dich am Leben lassen, Lambda. Was diese Menschenfrau betrifft, so bleibt bei ihr alles unverändert. Die Zwillinge werde ich zusammen mit dir lebend ausliefern und die Belohnung kassieren. Und eine saftige Abreibung schadet dir sicherlich auch nicht, du mieser Verräter.“ Damit stürmte Kappa auf L los und sofort schoss Naomi. Sie feuerte zwei Male ab, aber Kappa wich so geschickt aus, dass keine der Kugeln sie traf und mit einer unglaublichen Akrobatik konnte sie sich an Naomi vorbeibewegen und ergriff schließlich L. Mit einem kräftigen Tritt in die Brust beförderte sie ihn zu Boden und trat ihm direkt zwischen die Beine. Der Detektiv schrie vor Schmerzen auf und krümmte sich stöhnend, da bekam er auch schon den nächsten Tritt in die Magengrube. „Du dreckiger Bastard! Wie konntest du nur gemeinsame Sache mit diesem Schwein machen, das unsere Mutter getötet und uns all die Jahre eingesperrt hat!!“ Naomi erkannte die brenzlige Situation und zielte erneut, doch da Kappa und L zu nahe beieinander waren, war das Risiko zu groß, dass sie aus Versehen ihn treffen würde. Also steckte sie die Waffe wieder ein und eilte zu den beiden um die gewalttätige Irre von ihm herunterzuziehen. „Hör sofort auf damit!“ rief sie und wollte Kappa an den Haaren fassen, doch diese reagierte sofort und ergriff Naomis Arm, verdrehte ihn mit brachialer Gewalt und schleuderte sie zu Boden. Hätte L nicht in dem Moment geistesgegenwärtig reagiert und sie nicht beiseite gestoßen, dann hätte Kappas Messer Naomis Herz durchbohrt. Naomi trat mit aller Kraft gegen Kappas Beine, wollte wieder die Pistole ergreifen und damit auf Kappa schießen, doch ihr Arm schmerzte und sie konnte ihn kaum noch bewegen. Schlimmstenfalls war der Arm gebrochen. Kappa verpasste ihr einen kräftigen Tritt ins Gesicht und Naomi wurde durch die Wucht schwarz vor Augen. In der Ferne hörte sie nur schwach, wie jemand ihren Namen rief. War es L? Nein… es war Takuya. Er rief aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins zu ihr. „Takuya? Bist… bist du es?“ „Schnell, du musst aufwachen Naomi! Sie wird dich töten!“ „Ich… ich kann nicht. Ich kann sie nicht besiegen… sie ist zu stark.“ „Keine Sorge, Hilfe ist bereits unterwegs. Halte durch Naomi!“ Die Dunkelheit verschwand und Naomi öffnete die Augen. Über ihr stand Kappa und sie zielte mit der Beretta auf sie. Das war es, dachte Naomi und sah in die mordlustigen und hasserfüllten Augen der Killerin, die sie gleich erschießen würde. Jetzt wird mich niemand mehr retten…. Naomi drehte den Kopf und sah zu L. Dieser lag zusammengekrümmt auf dem Boden und stöhnte vor Schmerz. Aus seinem Mund floss ein kleines Blutrinnsal und er sah ziemlich mitgenommen aus. Was würde aus ihm werden, wenn sie tot war? Würde Andrew ihn töten oder ihn als Letzten aufsparen, nachdem er genug Menschen auf dieser Welt getötet hatte? Was würde aus Eta und Theta werden? Gerade, als Naomi dachte, dass jetzt ihr letztes Stündlein geschlagen hatte, tauchte plötzlich ein schwarzer Schatten hinter Kappa auf. Ein schwarzer Schatten mit blutroten todbringenden Augen, der sich auf sie stürzte und mit sich zu Boden riss. Für einen Moment glaubte sie, einen Menschen in diesem schwarzen Schatten zu erkennen, doch schon schwand ihr Bewusstsein erneut. Kapitel 3: Ein alter Verbündeter -------------------------------- Naomi kam wieder zu Bewusstsein, als ein rasender Schmerz durch ihren lädierten Arm fuhr und sie mit einem lauten Schrei erwachte. Sie befand sich in einer Art alten Bunker oder etwas ähnlichem und jemand schiente gerade provisorisch ihren Arm. Das Licht im Bunker war schwach, sehr schwach und sie sah zuerst wieder nur einen schwarzen Schatten mit blutroten Augen. Doch als er sagte „Meine Güte, schreien Sie mal nicht so rum! Davon kriegt man ja Kopfschmerzen!“ erkannte sie die Stimme als Beyond Birthdays Stimme wieder. Und tatsächlich war er es. Beyond Birthday, gekleidet in einer schwarzen Jacke und mit einigen Kratzern im Gesicht. Er schien ein wenig schlecht gelaunt zu sein und er fasste Naomis Arm nicht gerade auf die sanfteste Art an. „Tja, so wie es aussieht, können Sie den Arm für längere Zeit nicht nutzen. Ich hab zwar den Arm wieder gerichtet, aber trotzdem sollten Sie besser aufpassen. Diese Kampffurie in Lederaufzug hat Sie und L ganz schön in die Mangel genommen.“ „Wie… wie geht es L?“ „Der Kerl wird schon wieder. Die Zwillingsschwestern sind auch hier. Sie pflegen den Herrn Meisterdetektiven.“ „Und wieso sind Sie hier?“ „Ihr lieber Freund „Takuya“ hat mich hierherzitiert. Er hat mich so lange genervt, bis ich endgültig die Schnauze voll hatte und mich auf den langen weiten Weg gemacht habe. Ich hätte ja schlecht meine schwangere Schwester oder ihren Ehemann schicken können.“ Naomi setzte sich auf und sah sich ihren geschienten Arm an. Er war fest verschnürt, trotzdem sah sie, dass er angeschwollen war. Diese Kappa hatte ihr echt übel zugesetzt. „Woher wussten Sie, dass wir hier sind?“ „Takuya hat’s erzählt.“ „Und was ist… mit Kappa? Was ist mit ihr? Ist sie etwa… tot?“ „Nein sie ist putzmunter und macht ein Späßchen nach dem anderen. Natürlich ist sie tot, Mann! Diese Furie hat mir ja kaum eine andere Wahl gelassen. Es war aber auch verdammt schwer, sie zu töten. Ihr Blut hat die Wunden ja sofort verschlossen und ich bin stets und ständig mit dem Messer stecken geblieben. Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.“ Er zeigte die Leiche der getöteten Auftragsmörderin und öffnete ihren Anzug. Dabei entblößte er die unzähligen Stichwunden, der er ihr zugefügt hatte. Beyond ging mit dem Finger in eine der Wunden herein und zog ihn wieder heraus. Dabei kam eine dickflüssige dunkelrote Masse zum Vorschein. Naomi gefror das Blut in den Adern, als sie das sah. „Was zum Teufel ist das?“ „Kappa gehörte zum Blood Freezing Project. Ziel war es, das Blut zu einer dickflüssigen Masse zu machen, welches dann in der Lage war, schwerste Verletzungen sofort zu verschließen. Das machte es umso schwerer, sie zu töten. Selbst mit einem Skalpell würde man stecken bleiben. Eine erhebliche Nebenwirkung war jedoch, dass dadurch die Aggressivität enorm stieg und es sogar Versuchsobjekte gab, die daraufhin dem Kannibalismus verfielen. Kappa war die Einzige, bei der das Experiment erfolgreich war und deshalb hat man sie am Leben gelassen. Allerdings war sie seitdem eine cholerische Hexe.“ Damit machte Beyond den Reißverschluss ihres Anzugs wieder zu und legte eine Plane über die Leiche. „Nachher müssen wir ihre Leiche verbrennen.“ „Warum?“ „Na weil es doch sehr verdächtig ist, wenn eine Frauenleiche gefunden wird, deren Blut so dick ist wie Sirup und einen Strichcode auf dem Hinterkopf hat. Manchmal stellen Sie echt dumme Fragen, Frau Misora.“ Ganz offenbar war Beyond ziemlich schlecht gelaunt, das merkte man ihm sofort an. Kein Wunder, denn er hatte sich ein normales und ruhiges Leben auf dem Land bei seiner Familie vorgestellt und er hatte sich schon mit dem Gedanken angefreundet, bald Onkel zu werden. Und jetzt machte Andrew wieder Stress und aus war es mit der Ruhe. Nicht, dass er L aus eigenen Stücken helfen wollte. Nein, er wollte seine Familie beschützen, auch wenn es hieß, dass er wieder in alte Muster zurückfallen musste. Genau diese Tatsache machte ihn so rasend. Er wollte nicht mehr töten, er wollte nie wieder etwas von den verlorenen Kindern wissen, geschweige denn von jemandem aus Wammys House. Doch kaum hatte er von den Bombenanschlägen und Andrews Forderungen erfahren, kam auch schon Xi alias Takuya in seinen Kopf und bat ihn, Naomi zu beschützen. Nun ja, es war nicht so, dass Takuya ihn großartig zwingen musste. Auch Beyond machte sich Sorgen um Naomi, auch wenn er es lieber nicht zugeben wollte. Es war ihm nicht wirklich leicht gefallen, sein neues Zuhause zurückzulassen, ebenso wie Rumiko, Faith oder die kleine Madeline. Aber er wollte nicht, dass ihnen etwas passierte. Allein schon die Tatsache, dass er L zum Verwechseln ähnlich sah, machte die Sache gefährlich. Was, wenn jemand ihn irrtümlich für L hielt und seiner Familie etwas antat? Das galt es um jeden Preis zu verhindern. Also musste er ein letztes Mal in den Ring steigen und wenn nötig Andrew töten. „Ich hätte nicht gedacht, dich jemals wiederzusehen“ kam es von der anderen Seite des Bunkers, wo L lag und von den Zwillingen gepflegt wurde. „Nachdem du von einer Sekunde auf die andere spurlos verschwunden bist, dachte ich, dass…“ „Lass mich mal eines klarstellen L: Ich tue dies allein, weil ich meine Familie beschützen will, aus keinen anderen Grund sonst. Du brauchst also nicht zu erwarten, dass ich jemals wieder zurückkehren oder mich zu irgendetwas verpflichten werde. Wenn die Sache vorbei ist, hau ich wieder ab und dann auch endgültig.“ „Verstehe…“ murmelte L mit schwacher Stimme. „Also dann, würde mich jemand aufklären, was bis jetzt alles so gelaufen ist?“ L erzählte von seinem Besuch bei Delta, der ihm erzählt hatte, dass Andrew die anderen verlorenen Kinder aufgehetzt hatte, um einen Krieg gegen die Menschen zu führen. Und dann kam er auf Z zu sprechen, die auf Wataris Anweisungen hin Nachforschungen zum Nova Institut betrieb und sich in Henry Lawliets Forschungsteam eingeschlichen hatte. „Unser Ziel ist es jetzt, nach Moskau zu fliegen und meinen Vater zu finden.“ „Soso. Dann will ich jetzt mal Folgendes sagen: Habt ihr allen Ernstes vor, zu viert nach Moskau zu fliegen? Du L kannst keinen Menschen töten noch hast du großartig Kampferfahrung. Frau Misora, die da besser mit einer Schusswaffe umgehen kann, hat einen gebrochenen Arm und unsere beiden Gottesanbeterinnen sind genauso nützlich im Kampf wie ein Messer bei einer Schießerei. Das ist also das Problem: Keiner außer meiner Wenigkeit kann großartig etwas gegen einen kampferprobten Gegner ausrichten. Und wenn ich vier von euch am Bein habe, wird das nur zum Problem.“ „Und was schlägst du vor?“ „Ich kenne eine Kirche in der Nähe. Die Pfaffen haben ja die Pflicht, Flüchtlinge in ihrem Gotteshaus aufzunehmen und da sind Eta und Theta erst einmal in Sicherheit. Was Frau Misora betrifft, kann sie sich selbst entscheiden, ob sie mit uns mitkommt oder sonst wohin geht.“ Und damit schaute der BB-Mörder zu Naomi und wartete auf eine Antwort. Diese schien fest entschlossen zu sein, L bis zum bitteren Ende zu folgen. Eine andere Wahl hatte sie ja offensichtlich nicht. Alles war auf der Suche nach ihr und zum FBI konnte sie auch nicht zurück. Und mit ihrem gebrochenen Arm war sie relativ wehrlos gegen die verlorenen Kinder. Das erkannte auch Beyond und nickte. „Damit hätte sich diese Frage auch geklärt. Haben Sie noch Ihr Handy?“ Naomi reichte es ihm ohne großartig nachzudenken und sofort zerbrach Beyond es in zwei Teile. „L, du musst auf so etwas schon achten. Wir können von Glück reden, wenn das FBI das Signal noch nicht geortet hat. Habt ihr wenigstens neue Pässe?“ „Ja. L ist ab jetzt Dathan Penpal und ich Susan Long.“ „Aha, gut dann bin ich ab jetzt Rue Ryuzaki, also wie gehabt. Wir machen noch eine Stunde Pause, dann machen wir uns sofort auf den Weg.“ „Entschuldigen Sie die Frage, aber ich dachte, Sie hassen L. Warum helfen Sie uns dann?“ Beyond steckte mit einem leisen Seufzer seine Hände in die Taschen und sah zu L herüber. Dieser ließ sich von den Zwillingen verarzten und schien noch deutlich Schmerzen zu haben. „Ich hasse L nicht, zumindest nicht mehr. Andrew war damals auf unsere Freundschaft eifersüchtig und hat mich gegen ihn aufgehetzt. Er hat mich dazu gebracht, auch Watari zu hassen und erst vor ein paar Monaten habe ich die Wahrheit erfahren und jetzt kommt mir die Gelegenheit ganz recht, um diesem Mistkerl das Fell über die Ohren zu ziehen. Und von den verlorenen Kindern will ich nicht das Geringste wissen. Ich kann mich sowieso gar nicht mehr an diese Zeit erinnern und ich bin auch froh drum. Es reicht schon, wenn meine Familie der reinste Alptraum war. Ich habe nun eine neue Familie und ich lasse nicht zu, dass sie von verlorenen Kindern bedroht oder von Bomben getötet wird. Wenn es irgendjemand wagen sollte, meiner Familie Schaden zuzufügen, den bringe ich höchstpersönlich um.“ „Sie sind ganz schön offenherzig, obwohl ich doch beim FBI bin.“ „Soweit ich weiß, sind Sie suspendiert und gelten als verrückt. Nichts für ungut, aber im Moment sind Sie keine FBI Agentin. Das hindert mich aber trotzdem nicht daran, Sie zu unterstützen.“ Naomi wusste nicht so wirklich, was sie davon halten sollte, aber offenbar wollte Beyond Birthday ihr auf diese Weise wohl seine Sympathie für sie ausdrücken. „Sag mal Bruder Beta“ sagten die Zwillinge wie immer unisono „was wirst du als nächstes tun?“ „Nach Russland, L’s Vater suchen und ihn in die Mangel nehmen. Das kann ich gut. Wenn wir den haben, werden wir Andrew zu uns locken. Er wird es sich sicher nicht entgehen lassen wollen, den Mörder seiner geliebten Mutter leiden zu sehen. Wie heißt es so schön? Wenn der Prophet nicht zum Berg gehen will, dann muss der Berg eben zum Propheten kommen. Und so wie ich diesen Bastard Andrew einschätze, hat er so etwas auch schon geplant gehabt und wenn wir bedenken, dass Delta uns lediglich auf den Aufenthaltsort zu L’s Vater hingewiesen hat, könnte dies sogar eine Falle von Andrew sein. Zuerst hat er die ermittelnden FBI Agenten aus dem Weg geräumt und sowohl O als auch Watari getötet, um L zu provozieren. Wenn wir die versteckten Hinweise bedenken, die O an dich weitergereicht hat, vermute ich mal, dass er auch Agent Kazan eine Nachricht zukommen ließ. Da er aber nicht wollte, dass ihr auf Eta und Theta aufmerksam werdet, musste er sterben. Dich konnte er nicht töten, L, weil er dich leiden sehen will. Er weiß, wo er dich am meisten treffen kann und jetzt hat er dich in die Ecke gedrängt. Aber eines verstehe ich noch nicht so ganz: Warum zum Teufel ist er dermaßen fixiert auf das Eta-Virus? Normalerweise hat er doch mehr Freude daran, irgendwo ein paar Häuser anzuzünden oder Bomben hochgehen zu lassen. Er liebt die Action und nicht die schleichende Nummer. Irgendwie lässt mich dieses verdammte Gefühl nicht los, dass er noch einen Plan im Hinterkopf hat. Einen, von den nicht mal die verlorenen Kinder etwas wissen. In meinen Augen ist dieses ganze Chaos nichts Weiteres als eine Ablenkung, eine Scharade.“ „Irgendwie hatte ich da auch so ein Gefühl, zuzutrauen wäre es ihm alle Male“, stimmte L zu und schrie auf, als Eta eine blutende Wunde am Hinterkopf desinfizierte und daraufhin nähte. „Und wahrscheinlich hat es etwas mit meinem Vater zu tun.“ „Was wissen Sie über Ihren Vater?“ „So gut wie nichts. Ich weiß nur, dass meine Mutter Japanerin war. Sie hatte meinen Vater in Deutschland an der Uni kennen gelernt und als sie erfahren hat, was er für ein Mensch war, ist sie mit mir untergetaucht. Mein Vater hat sie aufgespürt und mich dann ins Institut verschleppt.“ „Warum ausgerechnet seinen eigenen Sohn?“ „Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er ein intelligenter aber absolut grausamer und eiskalter Mensch ist. Warum er unbedingt mich für seine Forschungen ausgewählt hat, kann ich nicht sagen. Ehrlich gesagt möchte ich es auch nicht so gerne wissen.“ Wer würde denn so etwas überhaupt gerne wissen, dachte Naomi und nahm dankend ein belegtes Sandwich an, welches Beyond ihr reichte. L musste es sicher nicht leicht gehabt haben in seinem Leben. Vom eigenen Vater für Experimente missbraucht, von den Leidensgenossen verachtet und gemieden und sein bester Freund gegen ihn aufgehetzt. Kein Wunder, dass sein Rücken aufgrund dieser Last immer weiter nachgab. Eine halbe Stunde verging und L war nun vollständig verarztet. Dank der Schmerzmittel ging es ihm wieder einigermaßen besser und er konnte auch wieder aufstehen. Beyond erklärte ihm den Umgang mit einer Schusswaffe und ermahnte ihn, auch sofort zu schießen. Naomi konnte zwar mit dem anderen Arm noch schießen, aber trotzdem war sie aufgrund ihres gebrochenen Handgelenks nicht ganz so agil wie zuvor. Folglich musste L auch mal seine Prinzipien über Bord werfen und notfalls auch töten. Nachdem die halbe Stunde vorüber war, gingen sie zum Auto. Sie ließen den Wagen, den Naomi „geborgt“ hatte, stehen und fuhren stattdessen mit Beyonds Wagen weiter. Sie steuerten auf direktem Wege zu der Kirche, von der Beyond gesprochen hatte und wurden direkt von Pater Karras empfangen, einen relativ jungen Jesuiten mit südländischer Herkunft. Er sah aus wie ein Boxer und hatte eine Narbe an der linken Augenbraue. „Guten Tag Pater Karras, wir kommen in einer ernsten Angelegenheit vorbei.“ „Haben Sie etwas zu beichten?“ „Nein, aber haben Sie die Nachrichten über den Bombenleger gesehen?“ „Ja. Jetzt wo Sie es sagen, sehen Sie den steckbrieflich gesuchten Personen ähnlich. Brauchen Sie den Schutz der Kirche?“ „Nicht wir aber diese beiden Frauen hier. Das sind Schwester Mary Elizabeth und Schwester Mary John, sie gehören dem Kloster von St. Michael an. Sie sind in Lebensgefahr und wir möchten sie in Sicherheit wissen. Können Sie uns da helfen, Pater?“ Der Priester sah die beiden Rothaarigen mit einem musternden Blick an und fuhr sich über seinen Dreitagebart. „Natürlich werde ich sie hier verstecken, wenn sie in großer Gefahr sind. Aber was ist mit Ihnen?“ „Wir werden den wahnsinnigen Bombenleger stoppen und dafür sorgen, dass er seine gerechte Strafe bekommt. Deswegen können wir die beiden nicht mitnehmen.“ Beyond nickte den beiden noch mal kurz zu und sie folgten ihm in eine ruhige Ecke. Dort schärfte er ihnen ein, dass sie sofort weglaufen sollten, wenn der Pfarrer eine linke Tour abziehen sollte. Das mussten sie ihm versprechen und so verabschiedeten sie sich von den Zwillingen. „Wenn die Sache vorbei ist, dann kommen wir euch beide abholen und dann könnt ihr ins Kloster zurück. Versprochen!“ Die Zwillinge, die eigentlich versprochen hatten, stark zu sein, konnten die Tränen nicht zurückhalten und weinten leise. Abschied nehmen fiel ihnen wirklich schwer und sie hatten Angst. Aber Beyond und L waren sich sicher, dass sie an einem Ort wie diesen besser geschützt waren als irgendwo anders sonst und wenigstens hatten sie noch ihren christlichen Glauben, an den sie sich festhalten konnten. Doch als sie gerade gehen wollten, da eilten Eta und Theta zu L und hielten ihn am Arm zurück. „Warte Bruder Lambda. Bevor du gehst, möchte ich, dass du das hier mitnimmst.“ Und damit überreichten sie ihm einen Umschlag. Er trug Wataris Siegel. „Den hier hat Watari uns gegeben. Er ist für Alpha bestimmt und wir möchten, dass du ihm diesen hier überreichst, falls du ihn triffst. Es war Wataris letzter Wunsch.“ L nahm den Umschlag entgegen und steckte ihn ein. „Gut, ich werde seinen letzten Wunsch erfüllen. Ihr passt gut auf euch auf und denkt daran, was Beyond gesagt hat. Wir müssen jetzt weiter.“ Zum Abschied umarmten die Zwillinge L und Beyond. Sie stiegen sofort ins Auto ein und fuhren weiter. L und Naomi kümmerten sich derweil um die Flugtickets. Dazu gebrauchten sie einfach den Laptop von Beyond. Bei ihrer Suche stießen sie dabei aus Versehen auf ein Foto, das sich auf dem Desktop befand und das Naomi zufällig angeklickt hatte. Es war ein Ultraschallbild. Das musste also das Baby von Beyonds Adoptivschwester sein. „Hat das Kind schon einen Namen?“ „Sollte es ein Junge werden, nennen wir ihn Lumis Faith. Der Name wird in der Familie des Vaters vererbt. Wenn es ein Mädchen wird, soll sie Hope heißen.“ „Hope… ein wirklich schöner Name.“ „Er steht für unsere gemeinsame Hoffnung auf ein glückliches Leben als Familie und dass alles besser wird. Den Namen habe ich ausgewählt.“ Der Himmel verdüsterte sich allmählich und es dauerte nicht mehr lange, da begann es zu regnen. Es goss in Strömen und da sie sowieso schon zwei Stunden gefahren waren, machten sie an einer kleinen Raststätte Pause. Naomi tankte den Wagen auf, Beyond setzte sich auf einen Stein und hob den Kopf in Richtung Himmel. Er schloss die Augen und genoss jeden einzelnen Regentropfen auf seiner Haut. „Schon immer habe ich Regen und Unwetter geliebt. Ich hatte dann immer das Gefühl, dass das Chaos in meinem Inneren nach Außen tritt und gleichzeitig all der Schmutz fortgespült wird. Und ich liebe den Geruch, den der Regen hinterlässt.“ L sah ihn mit seinen Pandaaugen schweigend an und setzte sich zu ihm. Er selbst liebte eher den Schnee, allerdings aus einem ganz anderen Grund: Der Schnee erinnerte ihn immer an seine Mutter. Als sie für immer von ihm Abschied genommen hatte, da hatte es auch geschneit. Mutter… warum musste er dann immer an Blut denken, wenn er an sie dachte? Immer, wenn er glaubte, dass eine ganz bestimmte Erinnerung in ihm hochkam, da sah er überall Blut und er hörte, wie sie mit gebrochener Stimme zu ihm sprach. „Es wird alles gut mein Schatz… du brauchst keine Angst haben.“ „Mama, es tut mir Leid! Ich wollte das nicht. Bitte bleib bei mir Mama!!!“ Sofort verdrängte etwas in L diese Szene wieder und er versuchte diese Stimmen zu vergessen. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Wahrscheinlich, weil etwas in ihm Angst vor dieser Erinnerung hatte. Kapitel 4: Das verzweifelte Kind und der grausame Vater ------------------------------------------------------- Das Unwetter hatte sich allmählich gelegt und es war erheblich schwül geworden. Da Beyond noch schnell einen Kaffee für unterwegs holen gehen wollte, warteten Naomi und L am Wagen und hörten Musik. Noch immer war es düster und sie beide hatten das Gefühl, dass sie von irgendwo her beobachtet wurden. „L, sind alle verlorenen Kinder gefährlich?“ „Jeder auf seine Weise. Es kommt ganz auf die Mentalität desjenigen an. Damals wurden wir in verschiedene Sicherheitsstufen eingeteilt. Stufe 1 war am harmlosesten und 5 dementsprechend am gefährlichsten. Ich hatte damals Stufe 1 und Beyond Stufe 3.“ „Darf ich raten? Andrew war natürlich Stufe 5.“ „Ganz recht, zusammen mit Eta und Theta, eben wegen ihrer Fähigkeiten. Es gab auch andere Stufe 5 Kandidaten, wie zum Beispiel Fear Illusion und Anne Hartmann, aber diese beiden lebten damals in Einzelzellen. Takuya hatte ebenfalls Stufe 5. Als er allerdings in die Arena geschickt wurde und durch die Schläge auf dem Kopf ins Koma fiel, galt er offiziell als tot. Mutter hatte ihn aus dem Forschungslabor herausgeschmuggelt, zusammen mit ein paar anderen. Beyond, Andrew, Fear, Anne und ich waren mitunter die letzten, die sie aus dem Institut gerettet hat. Es wäre auch gar nicht möglich gewesen, so viele Kinder auf einem Schlag zu retten.“ Ein lautes Krächzen von Raben unterbrach ihr Gespräch und dann, als sie nach oben sahen, entdeckten sie einen riesigen Schwarm von schwarzen Vögeln, die am Himmel kreisten. Und dann, direkt aus einem Gewirr von Raben, fiel jemand herunter und machte eine perfekte Dreipunktlandung vor Naomis und L’s Füße. Es war ein Junge, vielleicht 16 Jahre vom Erscheinen her mit langem schwarzen Haar, das ihm größtenteils ins Gesicht fiel und seine großen Augen bedeckte. Sein linkes Auge war pechschwarz und matt, das rechte dagegen rot. Eine gewisse Ähnlichkeit mit L und Beyond war nicht abzustreiten, nur sah er unendlich traurig aus. Er sah so traurig aus, dass sich Naomis Brust zuschnürte. Eine schwarze Träne rann aus seinem linken Auge. „Lambda…“ murmelte er mit gebrochener Stimme und senkte ein wenig den Blick. „Warum nur hast du das getan?“ „Wer ist dieser Junge?“ „Das ist Rho alias Rebirth Hollow. Er ist eine veränderte Version von Beyond und ziemlich gefährlich. Sie sollten besser auf Abstand bleiben.“ Naomi wich einen halben Schritt zurück und zugleich kam der Junge einen ganzen Schritt auf sie zu. Inzwischen hatten sich die Raben auf den Dächern, Stromleitungen und auf den Ästen der Bäume gesetzt und beobachteten das Geschehen mit ihren dunklen Augen. Irgendetwas an diesen Raben war unheimlich. In Naomis Augen waren das keine gewöhnlichen Raben sondern jene wie aus Edgar Allan Poes Gedicht. Und der Junge, der so gefährlich sein sollte, wirkte so zerbrechlich und hilflos, dass er Naomi schon Leid tat. Er begann zu weinen, nun flossen Bluttränen aus seinen Augen, die jetzt nun beide rot waren. „Mutter…“ schluchzte er und sah in den Himmel „Mir ist so kalt… ich kann nicht mehr weitergehen…“ „Laufen Sie weg Naomi, sofort!!!“ Die suspendierte FBI Agentin verstand nicht, was das zu bedeuten hatte und was mit dem Jungen passierte, darum zerrte L sie an ihrem gesunden Arm weg und lief mit ihr davon. Während sie zurücksah, sah sie, wie die Augen des Jungen sich immer weiter veränderten. Sie sahen aus wie leuchtende rote Höhlen von schwarzen Schatten umrandet. Die Haut verlor an Farbe und wurde vollständig weiß. Dann plötzlich wurde er von einer schwarzen Rauchwolke umhüllt und verschwand völlig in ihr. „L, was hat das zu bedeuten? Was ist hier los?“ „Rebirth besitzt ähnlich wie Delta so etwas wie eine gespaltene Persönlichkeit. Wenn sich seine beiden Augen rot färben, tritt diese zum Vorschein und sie ist verdammt gefährlich, da sie zur Hälfte ein Shinigami ist. Normale Waffen können kaum etwas gegen ihn ausrichten.“ Plötzlich tauchte die schwarze Rauchwolke vor ihnen auf und langsam löste sie sich auf. Und jetzt erkannte Naomi, was L eigentlich gemeint hatte. Sein rechter Arm war von einer knochen- oder kalkartigen Schicht überzogen, der sich dennoch durch ihren schuppenartigen Aufbau gut bewegen ließ. Seine Brust als auch die Hälfte seines Gesichts sah aus wie die eines Monsters, näher gesagt wie die eines Shinigami. Rebirths trauriger Gesichtsausdruck war gewichen und böse grinste er Naomi an. „Hast du Angst?“ Sie antwortete nicht, aber L, der sich schützend vor sie stellte, sah Rebirth finster an und sagte mit ruhiger und zugleich bedrohlicher Stimme „Lass sie in Ruhe. Sie hat nichts damit zu tun.“ „Du wagst es uns Befehle zu geben? Du warst es doch, der den Tod unserer Mutter zu verschulden hat. Mutter hat nie etwas Böses getan, sie war alles für uns und du wagst es, den Namen ihres Mörders zu tragen. Dafür sollst du büßen!“ L richtete die Pistole auf Rebirth, doch Naomi spürte, dass es ihm widerstrebte, sie zu benutzen. Und das schien auch Rebirth zu bemerken. „Warum zögerst du? Tu ich dir etwa Leid oder hast du zu viel Angst?“ „Ich will niemanden töten, das solltest du eigentlich wissen, Rebirth.“ Rebirth lachte nicht, er sah L mit seinen unheimlichen roten Augen an und wieder war da dieser unendlich traurige und herzzerreißende Blick. Er sah zu Naomi und offenbar schien er sie für seine Mutter zu halten. Diese Chance nutzte diese und versuchte, den Hybriden zu beruhigen. „Rebirth, wir wollen dir nichts tun. Im Gegenteil: L will seinen Vater zur Rechenschaft ziehen und er hat eure Mutter genauso geliebt wie du. Andrew… ich meine Alpha… hat gemeine Lügen verbreitet weil er wütend auf L ist.“ Die Augen des Jungen weiteten sich und er wich einen Schritt zurück. Sein Atem wurde immer lauter und schneller und dann verzerrte er plötzlich sein Gesicht und er schrie laut auf. Er sank auf die Knie, krümmte seinen Rücken und Naomi sah, wie sich etwas aus seinem Rücken drückte. Was zum Teufel passierte da bloß mit ihm? Es sah aus, als würde das gleich irgendetwas aus seinem Körper ausbrechen. Und es schien ihm höllische Schmerzen zu bereiten. Instinktiv wich sie ein paar Schritte zurück und auch L brachte sich auf sicheren Abstand. Das Hemd des Jungen riss aus, Blut spritzte kurz auf und riesige dürre und vor allem spitze Knochen bahnten sich ihren Weg ins Freie. Sie sahen aus wie Flügelknochen und waren mit einer durchsichtigen blutverschmierten Hautschicht überzogen. Nach und nach verwandelte er sich in einen Shinigami und es schien ihm körperlich unerträgliche Schmerzen zu bereiten. Nun begann sich auch über seinen menschlichen Arm eine dünne weiße Knochenschicht zu bilden und während der Prozess noch andauerte, schoss Rebirth nach vorne und schlug mit seiner Shinigamifaust nach L, der noch im letzten Moment ausweichen konnte. Ein weiterer Schlag erfolgte und L rollte sich zur Seite und versuchte dann seine Waffe auf Rebirth zu richten. Doch dieser schlug sie weg und mit einem wütenden Aufschrei ergriff er mit seiner Shinigamiklaue den am Boden liegenden Detektiven und schleuderte ihn gegen ein Auto. „Mir egal was Alpha sagt, ich werde dich auseinandernehmen du elender Mörder!!“ Und damit ballte Rebirth seine Shinigamihand zur Faust und wollte auf L’s Gesicht einschlagen, da fiel ein Schuss und die Kugel traf Rebirths linken Flügel und bohrte sich in seinen Rücken. Er schrie und bäumte sich auf, dann wandte er seinen Kopf in die Richtung, aus der geschossen wurde. Es war Beyond und er hatte plötzlich ein unheimliches Funkeln in seinen Augen, die nun nicht mehr leuchtend rot sondern dunkel waren und die Farbe von Blut besaßen. Irgendwie kam er Naomi wie eine völlig andere Person vor. Beyond holte eine zweite Pistole hervor und richtete diese ebenfalls auf Rebirth. Dann feuerte er mehrere Schüsse ab. Die meisten jedoch prallten an der harten Panzerung ab. Beyonds Miene verfinsterte sich und er senkte die Waffe in seiner linken. „Kaum lässt man euch eine Minute allein, schon fangt ihr euch den nächsten Ärger ein. Und du Rebirth, ich gebe dir zehn Sekunden um zu verschwinden. Ich habe keine Lust, mich mit einem weinerlichen Hybriden herumzuschlagen.“ „Du hältst dich da raus“ rief Rebirth und krümmte seinen Rücken ein wenig, wodurch er wieder an Größe verlor. „Das geht dich nichts an.“ „Und ob mich das was angeht. Ich habe noch eine Rechnung mit Alpha zu begleichen und ich lass mir von niemanden in die Parade fahren. Und eines versichere ich dir: In Zukunft werde ich nicht mehr so schnell daneben schießen.“ Doch der aufgebrachte Hybrid schien ihn gar nicht ernst zu nehmen und funkelte Beyond bösartig an. „Das hättest du nicht tun dürfen…“ Und damit packte er Naomi und zerrte sie zu sich. Gerade wollte Beyond schießen, da flogen die Raben wieder auf und wirbelten so zahlreich herum, dass er nicht zielen konnte. Und kaum, dass die Raben wieder davonflogen, waren Rebirth und Naomi verschwunden. „Verdammt“, murmelte Beyond und steckte die Pistolen weg. „Und weg ist er.“ „Er… er hat Naomi entführt.“ „So sieht’s aus. Anscheinend hält er sie für seine Mutter. Zumindest können wir uns sicher sein, dass er ihr nichts tun wird. Oder aber er will sie zu Andrew bringen, dann könnte es ein wenig problematisch werden.“ L erkannte Beyond gar nicht mehr wieder. Er hatte einen so düsteren Blick und eine gefühlskalte Stimme, als wäre ihm das Leben der FBI Agentin vollkommen egal. Er schien sich ja gar nicht Sorgen zu machen, obwohl er Sympathien für sie hegte. Was war nur mit ihm? „Beyond, was ist…“ „Das hat keinerlei tiefere Bedeutung. Wir werden uns auf dem schnellsten Weg nach Moskau machen und nach deinem Vater suchen. Ich bin mir sicher, dass Andrew bereits weiß, was wir vorhaben und dass er sich dort ebenfalls aufhält, damit er euch beide zusammen kaltmachen kann. Komm, wir fahren jetzt weiter. Je weniger wir an Zeit verlieren, desto höher sind Frau Misoras Überlebenschancen.“ Mit einem unguten Gefühl stieg L in den Wagen und er fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, Rebirths Spur zu verfolgen, bevor Naomi noch etwas geschah. Andererseits hatte Beyond auch wieder Recht und da Rebirth sie für seine Mutter hielt, würde er ihr auch so schnell nichts tun. Hoffentlich… Außerdem lief ihnen die Zeit davon und wenn sie Andrew nicht schnellstens aufhielten, dann würde er die nächste Bombe hochgehen lassen. Auch wenn es ihm persönlich nicht behagte, er konnte ein einziges Leben nicht über das von hunderttausenden stellen. Sie erwischten noch rechtzeitig den Flug und einige Stunden später erreichten sie Moskau. Es war kalt und obwohl es bereits Frühling war, schneite es ein wenig. Da sie alles andere als passend für dieses kalte Klima angezogen waren, gingen sie sich erst einmal Winterjacken kaufen und nun galt es in Erfahrung zu bringen, wo Zion Freezer lebte. Viele Anhaltspunkte gab es ja nicht und da sie beide nicht gerade die Sprachgenies waren was Russisch betraf, erwies sich ihre Suche als etwas schwierig. Hinzu kam auch das Problem, dass es bereits später Nachmittag war und der Tag sich sowieso langsam dem Ende zuneigte. „Das Glück scheint echt nicht auf unserer Seite zu stehen“, murmelte Beyond und steckte seine kalten Hände in die wärmenden Jackentaschen. „Und? Wo sollen wir zuerst suchen?“ „Zion arbeitet im Saarne Institut. Die Adresse war leider nirgendwo verzeichnet und ich vermute mal, wir müssten uns durchfragen.“ „Ihr sucht das Saarne Institut?“ Ein gewaltiger Hüne mit Sonnenbrille und zurückgekämmten aschblondem Haar schritt auf sie zu und sah auf sie herab. Noch nie in seinem Leben hatte L eine dermaßen imposante Erscheinung gesehen und allein schon die Hände dieses Kerls waren wie Baggerschaufeln. Er maß über zwei Meter und hatte fast dieselbe Stimme wie der Synchronsprecher Tilo Schmitz. Der Kerl war ein wandelndes Muskelpaket und trug Marken um seinen Hals, als wäre er beim Militär. Er sprach fließend Englisch. „Ja ganz Recht. Wissen Sie, wo wir das Institut finden können?“ „Es liegt weit außerhalb der Stadt und der Zutritt ist für Unbefugte strengstens verboten. Was wollt ihr dort?“ „Wir möchten die Institutsleiterin in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“ „So? Na dann kommt mit, ich arbeite ebenfalls im Institut. Mein Name ist übrigens Thomas Gauss, kommt ihr aus den USA?“ Beide nickten und der Mann mit der Sonnenbrille lächelte. „Dann sind wir Landsleute. Ich komme aus Texas, bin vor knapp zwanzig Jahren nach Russland gekommen.“ Mit schwerfälligen Schritten ging der Riese in Richtung eines schwarzen Wagens mit getönten Scheiben und wartete, dass L und Beyond ihnen folgten. Doch sie zögerten, denn sie waren misstrauisch. Das hier konnte genauso gut eine Falle sein und der Typ würde sie an Andrew ausliefern. Thomas, der dieses Misstrauen zu bemerken schien, lächelte und sagte „Keine Sorge, ich habe keine bösen Absichten. Zion Freezer erwartet euch schon.“ Dass er von Zion Bescheid wusste, sprach eigentlich dafür, dass er kein Feind oder Kopfgeldjäger war. Trotzdem behielt Beyond seine Pistolen griffbereit und er würde diesem Hünen sofort den Schädel wegpusten, wenn er auch nur eine falsche Bewegung machte. Sie stiegen in den Wagen und Thomas fuhr in Richtung der Autobahn. „Es kommt nicht oft vor, dass welche wie ihr den Institutsleiter sprechen wollt. Ich war offen gesagt sehr überrascht.“ „Was meinen Sie mit Welche wie ihr?“ „Na ihr seid doch Wataris Schützlinge, oder etwa nicht? Zion hat mir einiges von euch erzählt. Wir sind gute Freunde.“ Thomas fuhr raus aus der Stadt in Richtung eines trostlosen und leeren Geländes. Das Einzige, was neben einzelnen Sträuchern diese Gegend zierte, waren Strommasten und abgerissene oder verlassene Hütten. Dann bog Thomas ab und in der Ferne sahen Beyond und L ein riesiges Gebäude mit einer Mauer und Maschendrahtzaun, das wie ein Gefängnis aussah. Den beiden stand der Schreck ins Gesicht geschrieben als sie dieses Gebäude als das Nova Institut wiedererkannten, in dem sie damals gelebt hatten. „Das… das ist nicht das Saarne Institut…“ „Tut mir Leid, aber wenn ich euch zum Saarne Institut bringe, wird das nur Komplikationen geben.“ „Du hast uns hinters Licht geführt!“ rief Beyond wütend und richtete die Pistole auf Thomas’ Hinterkopf. Doch der Riese blieb ruhig. „Nein, ich möchte nur verhindern, dass euch etwas passiert. Im Saarne Institut wimmelt es vor lauter Monster, Hybriden und anderen Kampfmaschinen, die euch sofort in Stücke reißen werden. Ihr würdet da drin keine Sekunde überleben und außerdem gibt es noch andere wichtige Dinge, die ihr wissen solltet. Das Nova Institut ist aber nicht mehr im Betrieb. Zumindest nicht für jene Leute.“ Als sie das Haupttor erreichten, öffnete sich dieses automatisch und Thomas fuhr durch. Im Innenhof wurden sie von einer Reihe Leute empfangen, die zum Teil Waffen trugen. Schließlich blieb der Wagen stehen und Thomas stieg aus. Eine junge schwarzhaarige Frau mit kühler Miene, die Elisa Rahel Petrowa hieß und mit einem Samuraischwert bewaffnet war, empfing ihn. „Du hast jemanden mitgebracht, Thomas?“ „Ja, es sind die zwei.“ „Verstehe, Zion und die anderen warten schon. Wir müssen dringend die nächste Mission vorbereiten.“ „Sag den anderen, sie sollen noch mal die Schritte der Mission durchgehen. Wir wollen keine unnötigen Opfer bringen und immerhin stehen dutzende von Leben auf dem Spiel.“ Die Frau nickte und ging. Thomas wandte sich seinen Begleitern zu. „Ihr werdet gleich die ganze Geschichte erfahren. Kommt mit, hier draußen ist es ein wenig zu kalt.“ Sie folgten Thomas mit deutlichem Widerwillen in das Gebäude. Es kam ihnen vor, als würden sie wieder in die Hölle zurückkehren, aus der sie damals gerettet worden waren. In ihrem Geiste hörten sie die Schreie der Kinder, die Todesqualen der Versuchsobjekte und das Weinen der Geplagten. Doch hier war es anders. Alles wirkte wie eine gewöhnliche Einrichtung und es liefen keine schwer bewaffneten Soldaten durch die Gänge sondern ganz normale Menschen, die sich über verschiedene Dinge unterhielten. Viele von ihnen grüßten Thomas und er grüßte zurück. Schließlich erreichten sie einen großen Raum, der ein wenig an eine Kapelle erinnerte. Eine Frau mit aschblondem Haar, schneeweißer Haut und einem marineblauen Anzug begrüßte die Ankömmlinge. Es war Zion und sie sah sichtlich froh aus, L zu sehen. „Gute Arbeit Thomas. L, B, ich möchte euch in unserem geheimen Stützpunkt Willkommen heißen. Entschuldigt bitte die Geheimniskrämerei, aber wir müssen uns jederzeit vor Spionen in Acht nehmen. Setzt euch doch.“ Zion führte sie an einen Tisch, wo bereits Kaffee und Tee serviert stand. Thomas setzte sich zu ihnen und legte seine Sonnenbrille ab. „Was genau ist das hier eigentlich?“ fragte Beyond unruhig und seine Hand spielte mit der Pistole. „Wir führen das Erbe von Wednesday Weather fort. Im Grunde gehöre ich ja auch zum gleichen Schlag wie ihr beide.“ „Damals wurdest du noch Psi genannt.“ „Ja und es ist schon ein seltsames Gefühl, bei meinem Gefangenennamen genannt zu werden.“ Zion kicherte verlegen und kratzte sich hinterm Ohr. „Und ich weiß, dass die Lage im Moment kompliziert ist. Trotzdem möchte ich, dass ihr euch wenigstens die Zeit nehmt, um mir zuzuhören. Es gibt nämlich wichtige Dinge, die ich euch über die Experimente von Henry Lawliet erzählen will.“ Mit einer Handbewegung bot sie den drei an, sich an den Getränken zu bedienen. L nahm das Angebot gerne an, doch Beyond traute dem Braten nicht und so lehnte er ab. „Wie ihr wisst, sind wir insgesamt 26 Geschwister und wir alle gehörten verschiedenen Projekten an. Ich gehörte zum Nostradamus Projekt und bin befähigt dazu, verschiedene Zukunftsszenarien vorherzusehen. Du Beyond bist ein Hybrid und L genau wie Andrew ein Stratege. Aber es steckt noch einiges mehr dahinter. Ich habe während meiner diversen Nachforschungen Mutters Aufzeichnungen gefunden und in ihnen steht, dass wir Träger sind.“ „Träger?“ „Wir sind Fragmente, die ein bestimmtes Bruchstück in sich tragen. Ich bin die Trägerin der Zukunft, Andrew ist der Träger der Zwietracht und du Beyond bist der Halter des Zweifels während L der Träger des Glaubens. Eta ist die Trägerin des Todes und Theta die des Lebens. Und sollten alle diese Fragmente jemals an einem Punkt vereinigt werden, dann wird die größte aller Waffen reaktiviert.“ „Moment mal… was redest du da von Trägern?“ „Mutter wurde mit der Aufgabe betraut, das Armageddon Projekt durchzuführen. Sie sollte die perfekte Tötungsmaschine erschaffen um das Ende der Menschheit einzuläuten. Allerdings wollte Mutter diesen Mistkerlen so eine gefährliche Macht nicht überlassen und hat eine Art genetische Sperre installiert.“ Zion schüttete sich ein wenig Milch in den Kaffee und nahm einen Schluck, bevor sie fortfuhr. „Mutter hat es irgendwie geschafft, diese Sperre so zu „programmieren“, dass sich die Kraft dieses Wesens erst freisetzt, wenn alle verlorenen Kinder zusammentreffen.“ „Aber Epsilon, Omega und Kappa sind tot. Das heißt, die ultimative Waffe kann nicht reaktiviert werden.“ „Zumindest nicht, wenn Henry Lawliet an die Waffe kommt und selbst diese Sperre löst. Die Folgen wären verheerend und darüber war sich auch Watari im Klaren. Deswegen hat er uns alle an verschiedenen Orten versteckt, damit die Waffe nicht reaktiviert wird.“ „Und was müssten wir im schlimmsten Falle befürchten? Wie gefährlich ist diese Waffe?“ „Sie ist mit der Fähigkeit der 26 verlorenen Kinder ausgestattet und somit so gut wie unbesiegbar. Solange diese Sperre aber noch aktiv ist, kann sie nicht auf diese Fähigkeiten zugreifen. Das Problem ist nur, dass Mutter nirgendwo aufgezeichnet hat, wie wir diese Waffe finden können. Ich für meinen Teil bin mir sicher, dass es einer von uns ist. Die Waffe ist also ein verlorenes Kind.“ „Und was genau hat das mit Andrew zu tun?“ „Ich bin mir noch nicht hundertprozentig sicher. Aber mir scheint es, als würde er gemeinsame Sache mit deinem Vater machen.“ „Was? Das kann nicht sein“, rief L und stand so plötzlich auf, dass fast die Tassen umfielen. Er hätte ja mit allem gerechnet, aber er konnte einfach nicht glauben, dass Andrew ausgerechnet mit dem Mann gemeinsame Sache machte, der seine Mutter getötet hatte. Da musste ein gewaltiger Irrtum vorliegen. Zion schien sich bei ihrer Theorie ziemlich sicher zu sein. „Bedenke doch mal, wie sehr Andrew unter diesem Verlust leidet. Er leidet so sehr, dass es ihn verwundbar macht. Ich befürchte, dass er selbst benutzt wird. Henry ist ein grausamer Mensch. Er nutzt die Schwächen der anderen zu seinem Vorteil ein und mich würde es nicht wundern, wenn er Andrew irgendetwas in der Richtung versprochen hat, dass er Mutter zurückholt, wenn er ihm gehorcht.“ „Das sieht diesem Dreckskerl ähnlich“ murmelte Beyond mit deutlichem Ärger und sein Blick wurde noch finsterer, als es eh schon war. „Dein Vater ist wirklich der mieseste Dreckskerl.“ „Ja“, stimmte L zu und senkte dabei den Kopf. In seinen Augen war etwas unendlich Trauriges zu sehen und er fühlte sich schlecht. Andrew selbst war nur eine Spielfigur… sein Vater war für all das Leid hier verantwortlich. Er nutzte Andrews Gefühle um ihn zu manipulieren. Das war einfach nur grausam. Dann sah er wieder zu Zion und fragte „Und was spielst du für eine Rolle in diesem schrecklichen Spiel?“ „Ich führe an Mutters Stelle den Kampf weiter. Ich will diese Serie von Experimenten beenden und habe daraufhin zusammen mit Thomas eine Art Widerstandsgruppe ins Leben gerufen. Wir schleichen uns in die Forschungseinrichtungen ein, sabotieren sie und retten die Versuchsobjekte. Wir planen einen Angriff auf das Saarne Institut, wo sich höchstwahrscheinlich auch Andrew aufhält. Thomas war übrigens auch vor 20 Jahren im Nova Institut tätig. Er und unsere Mutter hatten damals zusammen die Generatorexplosion herbeigeführt, um uns zu befreien.“ „Eure Mutter hat mich damals ebenfalls gerettet. Sie hat mir die Hoffnung und den Glauben zurückgegeben, dass es sich lohnt, zu kämpfen.“ Thomas hatte ein Foto hervorgeholt, auf der eine junge Frau abgebildet war, die fröhlich in die Kamera winkte und sehr lebensfroh aussah. Äußerlich bestanden da wirklich einige Ähnlichkeiten mit Naomi. Dabei fiel ihm ein ziemlich merkwürdiges Detail auf, das ihn ein wenig stutzig machte. „Was zum Henker macht Watari da auf dem Bild?“ „Oh, das wisst ihr nicht? Eure Mutter hieß eigentlich nicht Wednesday Weather. Das war nur ihr Deckname, den sie von Henry Lawliet bekam. Ihr richtiger Name lautete Alice Wammy. Sie war Quillish Wammys Tochter.“ Kapitel 5: L's schwere Bürde ---------------------------- L und Beyond fielen aus allen Wolken, als sie das hörten. Ihre Mutter war Wataris Tochter? Das war doch nicht möglich, das konnte nur ein mieser Scherz sein. Aber Zion sah nicht danach aus, als würde sie Scherze machen. „Watari hat es mir damals erzählt, als ich ihm meinen Entschluss mitgeteilt habe, Mutters Erbe weiterzuführen.“ „Warum hat Watari niemals etwas davon erzählt?“ „Er musste es tun. Er hat ihr versprochen, ihre komplette Identität auszulöschen und niemandem etwas davon zu sagen. Mutter war sich bewusst, dass sie ihre Familie in Gefahr brachte, wenn sie das Institut verlassen würde. Deshalb musste Watari das tun. Ansonsten hätte dein Vater uns alle irgendwann aufgespürt. Ihm blieb deshalb keine andere Wahl.“ Zion senkte traurig den Blick und seufzte. „Ich habe ihn noch nie so traurig gesehen, als er mir das erzählte. Bis zu seinem Tode hat er sich schreckliche Vorwürfe gemacht, dass er sie nicht retten konnte.“ „Eins verstehe ich bei der ganzen Sache nicht so ganz“, warf Beyond ein und verschränkte die Arme. „Wenn du doch die Gabe der Vorhersehung besitzt, warum hast du Andrew nicht schon früher aufgehalten oder Watari gerettet?“ „Ich kann sie nicht kontrollieren. Sie kommt in verschiedenen Momenten und ich wusste nicht, was passieren würde, hätte ich Andrew in der Anstalt getötet. Außerdem ist meine Gabe so gut wie nutzlos.“ „Warum?“ „Weil sich das Schicksal immer zum viel Schlimmeren wendet, wenn ich eingreife. Folglich wäre es also noch schlimmer gekommen, hätte ich Andrew damals aufgehalten.“ „Viel schlimmer kann es eigentlich nicht mehr kommen.“ „Doch, ich habe nämlich kurz bevor ihr gekommen seid, eine Vision gehabt und in der könnt ihr die Reaktivierung der Waffe verhindern. Ob allerdings der Eta-Virus ausbricht, das kann ich nicht sagen.“ „Beruhigend zu wissen…“ murmelte Beyond missmutig und wandte sich an Thomas. „Und was habt ihr mit uns vor?“ „Wir wollen euch für unseren Plan gewinnen. Wenn wir nämlich das Institut stürmen, werdet ihr euch auf die Suche nach Henry Lawliet machen. Im Alleingang würdet ihr das niemals schaffen, deshalb bieten wir euch unsere Unterstützung an. Im Grunde gehören wir doch alle zur selben Familie.“ Eine Familie, die aus völlig verschiedenen Welten kommt und sich im Grunde niemals im normalen Leben über den Weg gelaufen wäre. Sie alle waren so unterschiedlich in ihren Ansichten, Berufen, Zielen und Charakterzügen und doch verband sie alle etwas: Ihre Vergangenheit mit Alice Wammy. Manchmal schrieb das Leben doch die verrücktesten Geschichten. L schien ernsthaft über dieses Angebot nachzudenken und stellte seine nächste Frage an Zion. „Was weißt du alles über meinen Vater?“ „Henry Lawliet lebte bei seinen Eltern in Cornwall, bis er 16 Jahre alt war. Er wurde wegen seiner radikalen Ansichten von der Schule geschmissen und hatte wenige Freunde. Während seines Auslandstudiums in Deutschland schloss er sich der rechtsextremistischen Szene an und lernte auf der Universität deine Mutter Kaede kennen, die gebürtige Japanerin war. Sie verliebten sich, allerdings hatte Kaede Angst vor den Leuten, mit denen dein Vater zu tun hatte und als er sich auch noch einer sehr dubiosen Organisation anschloss, verließ sie ihn. Da war sie schon hochschwanger. Sie flüchtete nach England und fand Hilfe und Unterstützung bei einem Freund ihrer Familie, nämlich Quillish Wammy, dem sie den Spitznamen Watari gab. Kurz, nachdem sie entbunden hatte, spürte Henry sie auf und ließ sie von seinen Leuten töten. Dann entführte er das Kind und brachte es ins Institut. Ich weiß nicht, wie es zu dieser Zusammenarbeit mit der Organisation kam, allerdings kann man schon an der Vergangenheit deines Vaters sehen, dass sein soziales Verständnis nicht zum Besten stand.“ „Du sprichst von einer Organisation. Was weißt du über sie?“ „Ich weiß, dass sich die Organisation „Dragonfly“ nennt und jedes Mitglied eine Libellenbrosche trägt. Vermutlich existiert sie schon seit über 400 Jahren und konzentriert ihre Forschung auf die Entwicklung von Biowaffen, Hybriden und Mutationen. Die Organisation nennt sich aber auch intern das Heilmittel der Welt.“ „Wieso Heilmittel?“ „In den Augen von Dragonfly sind die Menschen Parasiten, die den Planeten krank machen. Und da der Mensch als einziges Lebewesen keinen natürlichen Feind hat, will Dragonfly eine Waffe entwickeln, um die gesamte Menschheit auszurotten. Nur so, glauben sie, können sie diesen Planeten vor dem Untergang bewahren. Sie entwickeln Viren und andere Krankheiten und setzen Hybride als Kampfmaschinen ein. Henry geht es mehr um die Macht, als um die Rettung des Planeten.“ „Das heißt, wir haben es hier mit absolut radikalen wie skrupellosen Baumkuschlern zu tun.“ Zion schenkte Beyond für diesen Kommentar einen strafenden Blick und sagte dazu erst mal nichts. „Wo sind eigentlich die Zwillinge?“ „Bei einem Pfaffen in Kalifornien. Dort sollten sie in Sicherheit sein.“ „Das ist mir nicht genug. Ich werde eine Einheit damit beauftragen, ein Auge auf die beiden zu werfen. Also gut, wenn keine Fragen mehr offen sind, dann möchte ich euch ein wenig herumführen.“ Das ehemalige Institut entpuppte sich als ein geheimer Unterschlupf, der beinahe einem Militärstützpunkt gleich kam. Es gab Hallen, in dem der Umgang mit Waffen geübt wurde, ein Trainingslager als auch eine Krankenstation. Sie hatten sogar ihr eigenes Ärzteteam und konnten sogar Operationen durchführen. „Wir haben in der Nähe auch ein Heim eingerichtet, in denen wir die geretteten Kinder so lange unterbringen, bis wir sie an Familien oder andere Einrichtungen vermittelt haben. Die meisten von ihnen sind gesundheitlich schwer angeschlagen und zum Teil durch Mutationen oder Experimente entstellt. Zuletzt hatten wir ein kleines Mädchen, dem riesige Spinnenbeine aus dem Rücken gewachsen waren. Es hat lange gebraucht, bis wir ihr diese vollständig entfernen konnten. Wir haben auch ein Psychologenteam, das sich um die besonders schweren Fälle kümmert.“ „Und was passiert mit denen, die nicht vermittelt werden können?“ „Diese leben hier und führen möglichst menschengerechtes Leben. Es gibt aber auch welche, die uns bei unserer Mission unterstützen wollen.“ Zion führte sie in eine Art großes Spielzimmer, in denen ein paar Kinder gerade mit Bauklötzen oder Puppen spielten. Die meisten von ihnen hatten kahl rasierte Köpfe, manche schon einen kurzen Haaransatz und es gab auch zwei, die deutliche Unterschiede aufzeigten. Ein kleines Mädchen von ungefähr vier Jahren hatte nämlich vier Augen und der Junge hatte auf seinen Armen reptilienähnliche Schuppen. Sie beide spielten gerade am Klavier und übten gerade Bachs „Badinerie“. Ein junger Asiate betreute die Kinder und war gerade dabei, ihnen Geschichten zu erzählen oder ihnen neue Spiele beizubringen. Er hatte brünettes Haar, das sein linkes Auge verdeckte und das freundlichste und warmherzigste Lächeln, das L jemals gesehen hatte. „Das ist Seimei Kamino, er und sein Zwillingsbruder unterstützen unsere Tätigkeiten. Seimei betreut die Kinder und ist eine wichtige Bezugsperson für sie.“ Seimei sah auf und grüßte die Ankömmlinge. Er trug einen schwarzen Anzug mit ebenso schwarzer Krawatte, nur sah das an ihm befremdlich aus. Vom Charakter her passte er einfach nicht in diese steifen und formellen Anzüge, so viel stand fest. „Ihr beiden müsst L und Beyond sein, richtig? Zion hat mir so einiges von euch erzählt. Freut mich sehr, eure Bekanntschaft zu machen.“ Er gab jeden einen Händedruck und kaum hatte er Beyonds Hand ergriffen, da schwand dieses Kalte und Gefühllose aus seinem Blick und es schien so, als würde sein altes Selbst wieder zurückkehren. Er strahlte etwas aus, das ihnen das Gefühl von Wärme und Geborgenheit gab und das hatte zuletzt nur ihre Mutter bei ihnen ausgelöst. Was L aber noch auffiel war, dass von Seimei ein leichter Duft ausging, der an Kirschblüten erinnerte. „Ach Zion, ich soll dir von meinem Bruder ausrichten, dass er dich nachher sprechen will. Er müsste jetzt im Lager sein.“ Ein Kind, das sich offenbar an einem Stück Papier geschnitten hatte, lief weinend auf den Asiaten zu und schluchzte laut und herzzerreißend. Seimei streichelte dem Jungen den Kopf und sprach beruhigend auf ihn ein. Als Beyond und L diese Szene sahen, waren sie überzeugt davon, dass die Kinder hier gut aufgehoben waren. Zion verabschiedete sich und damit setzte sie die Führung fort. „Sag mal Zion, wo hast du den eigentlich gefunden?“ „Er war es eher, der uns gefunden hat. Eines Tages stand er mit seinem Bruder und seiner Assistentin vor der Tür und bot uns seine Hilfe an. Viel wissen wir jedenfalls nicht über sie. Seimei sagte, dass er vorher viel mit Geburten zu tun hatte, was ich so verstanden habe, dass er im Krankenhaus tätig war und Shin sein Bruder, arbeitet offenbar als Leichenbestatter. Jedenfalls sagte er mir, dass er viel mit Toten zu tun hat. Sakurako die Assistentin ist eine ausgebildete Schwertkämpferin und offenbar so etwas wie eine Leibwächterin. Aber ehrlich gesagt, ist es auch nicht so wichtig. Sie machen ihre Arbeit hervorragend uns sind uns eine wirklich große Hilfe. Shin und Sakurako werdet ihr gleich auch noch kennen lernen.“ Als nächstes zeigte Zion ihnen eine große Halle, die Beyond und L nur zu gut kannten. Es war die „Arena“. Als Kinder hatten sie immer Angst davor gehabt, eines Tages dort zu landen, denn dieser Ort bedeutete gleichsam das Todesurteil. Xi alias Takuya war hier ins Koma geprügelt worden und unzählige Geschwister hatten hier ihr Ende gefunden. Wer in die Arena geschickt wurde, kämpfte ums nackte Überleben. Doch die Arena war inzwischen nicht mehr die Todeshalle, wie man sie in Erinnerung hatte. Sie war zu einer Art riesigem Gewächshaus umfunktioniert worden und überall blühten Kirschbäume. Eine junge Asiatin, höchstens 19 Jahre alt, schnitt gerade die welken Blüten ab und sammelte diese in einem Korb. Sie trug einen rosafarbenen Kimono mit weißem Blütenmuster und hatte ihr Haar hochgesteckt. „Das ist Seimeis Assistentin Sakurako. Sie kümmert sich um die Gedenkstätte hier und ist auch für die medizinische Betreuung zuständig.“ Die junge Asiatin verneigte sich zur Begrüßung und Beyond fiel auf, dass sie an ihrem Gürtel zwei Schwerter trug. Sie führte die drei zum größten Baum und L und Beyond sahen, dass in der Wurzel des Baumes eine Marmorplatte eingearbeitet war, in der den unzähligen Verstorbenen gedacht wurde, die in der Arena ihr Leben lassen mussten. L kniete sich vor der Platte nieder und strich vorsichtig mit der Hand darüber. Seine Brust schnürte sich zusammen und er fühlte sich in diesem Moment vollkommen allein und hilflos… genauso wie damals. Nur hatte er damals Wataris Tochter gehabt, die ihn und die anderen getröstet hat. Doch jetzt war sie nicht mehr da und in diesem Moment spürte er diese Leere in seinem Inneren. So musste es auch Andrew gehen. Nein, ihm ging es noch viel schlimmer. Denn er hatte niemanden. Damals war er so auf seine „Mutter“ fixiert und hatte sich so verzweifelt an sie geklammert, weil er für die anderen da sein musste. Ja. In der Zelle, wo sie alle wie Tiere hausten, hatte Andrew sich in Mutters Abwesenheit um seine Geschwister gekümmert und versucht, für sie da zu sein und ihnen Hoffnung zu machen. Und jetzt war er ein verbitterter Mörder, der einen unbändigen Hass auf alle hatte. Er hasste Watari, weil er nichts unternommen hatte, um seine Tochter zu schützen und er hasste die Menschen. Um die Leere in seinem Herzen zu füllen, hatte er sich vollständig dem Hass ergeben, um seine Trauer zu überwinden. „Ich habe schon viel in meinem relativ kurzen Leben erlebt“, sagte L schließlich und betrachtete mit unsagbar traurigem Blick den Grabstein „aber ich werde niemals verstehen, wie Menschen so grausam sein können. Ich verstehe es einfach nicht, ich will es auch nicht verstehen. Menschen, die so etwas tun, können doch keine Menschen sein….“ „Glaub mir L, es wird immer solche Leute geben. Es gab sie damals und es gibt sie heute.“ Beyond blieb auf Abstand und schien sich nicht ganz wohl zu fühlen. Er hatte nicht vor, sich mit diesem düsteren Kapitel seiner Vergangenheit zu beschäftigen und sich an diese unsagbaren Schrecken zu erinnern. „Solange es Frieden, Wohlstand und Harmonie gibt, wird es auch immer Krieg, Armut und Elend geben. Das ist die grausame Realität. Die Frage ist nur, wie man aus diesem Sumpf entkommt. Im Grunde genommen sind wir nichts Weiteres als Schmetterlinge in einem Sturm. Wenn es uns die Flügel zerfetzt, fallen wir zu Boden und sterben.“ Mit einer sehr bedrückten Stimmung verließen sie die Gedenkstätte und machten sich auf zum Waffenlager, wo sie ihre gesamte Ausrüstung aufbewahrten. Es stellte sich schnell heraus, dass die Widerstandsgruppe „SEED“ besser ausgerüstet war, als das amerikanische Militär. Hier gab es wirklich alles, was man brauchte und noch mehr. Raketenwerfer, Granaten, Pistolen, Revolver, Sturmgewehre und sogar vier Panzer. Dann gab es auch Schwerter, Wurfmesser, Giftnadelgeschosse, Rauchbomben, Gas- und Blendgranaten. Es gab sogar technische Spielereien, von denen L noch nie etwas gehört hatte. Beyond war beeindruckt. „Ihr habt hier ja genug Waffen, um einen Krieg zu starten.“ „Das schon, aber wir setzen diese Waffen nur im äußersten Notfall ein. Immerhin geht es in erster Linie darum, Leben zu retten und nicht auszulöschen. In erster Linie dienen diese Waffen und Panzer dazu, um unsere Gegner einzuschüchtern. Viele ergeben sich allein schon, wenn sie sehen, dass sie waffentechnisch im Nachteil sind. Das macht schon viel aus. Aber natürlich haben wir nicht bloß Waffen, sondern auch kugelsichere Westen, Nachtsichtgeräte, Funkgeräte, Wanzen und Kameras und sonstigen technischen Schnickschnack.“ „Und woher habt ihr das alles?“ „Teils vom Markt, teils Beute unserer Befreiungsaktionen und teils „Spenden“ unserer Sponsoren. Es sind nicht wirklich Sponsoren, da wir vollkommen unabhängig arbeiten, aber wir sind immer dankbar für zusätzliche Unterstützung. Sei es finanziell oder eben halt Versorgungsgüter oder Personal. Besonders groß ist unser Mangel an Ärzten und es ist oft schwierig, gute Chirurgen zu bekommen. So, da ich noch einiges zu tun habe, muss ich mich leider von euch verabschieden. Ihr könnt euch gerne noch in Ruhe hier umsehen. Falls ihr Fragen habt, wendet euch an Thomas. Entschuldigt mich.“ Damit verabschiedete sich Zion und verließ das Waffenlager. Thomas, der muskulöse Riese, widmete sich seinerseits einem Maschinengewehr, das noch dicker war als sein Arm und aussah, als hätte er es von einem Helikopter abmontiert. Allein schon, als er das Ding auf den Tisch wuchtete, knallte es so laut, dass man den Eindruck bekam, es würde eine Tonne wiegen. „Was zum Henker ist das?“ „Selbstgebaut. Gewicht: 120kg und die Kugeln durchlöchern sogar einen Panzer. Ich habe die Aufgabe, die Generatoren zu zerstören und Fahrzeuge oder Panzer auf die Bretter zu schicken. Der Plan sieht vor, dass ein Team einen Frontalangriff durchführt, während das andere sich auf geheime Wege ins Institut einschleust und von innen heraus angreift. Das Infiltrationsteam teilt sich dann auf und die eine Hälfte kümmert sich um die Befreiung der Kinder während das andere Feuerschutz gibt. Das Außenteam ist sowohl für die Ablenkung als auch für die Sicherung der Fluchtwege verantwortlich.“ „Und was ist mit uns?“ „Sakurako und Zion werden euch zu Henry Lawliet bringen und euch die Soldaten vom Leib halten. Zion meinte, dass du es mit deinem Vater alleine klären solltest.“ Ja, das war eindeutig L’s Aufgabe. Er als der leibliche Sohn dieses Monsters musste diese Sache endlich beenden und dann… was dann? Was würde dann sein, wenn er seinem Vater das Handwerk gelegt hatte? Sollte er wieder als L arbeiten? Watari war tot, das Waisenhaus niedergebrannt, die Kinder und Roger waren tot…. L hatte alles verloren und mit dieser Last auf seinen Schultern konnte er nicht mehr so weitermachen wie früher. Denn nichts war mehr so wie früher. Andrew hatte ihm alles genommen und er würde erst aufhören, wenn er tot war. Nein, L der große Meisterdetektiv war Geschichte. Er konnte nie wieder zurück. Thomas riss ihn schließlich aus seinen Gedanken. „Ich habe da mal eine Frage an dich. Soweit ich richtig informiert bin, hat jedes verlorene Kind gelbe Augen, mit Ausnahme der Shinigami-Hybriden. Jedes Kind, das vollen Zugriff auf seine Fähigkeiten hat, wechselt seine natürliche Augefarbe, was also bedeutet, dass wir Andrews wahre Kraft noch nicht erlebt haben.“ „Und anscheinend auch deine nicht, L“, bemerkte Beyond mit einem Seitenblick und wartete scheinbar auf eine Reaktion von L. Dieser wirkte tatsächlich ein wenig unsicher und ihm schien wohl so einiges auf der Seele zu lasten. „Es interessiert mich nicht, ob ich auf meine Kraft zugreifen kann, die ich meinem Vater zu verdanken habe. Ich will sie auch gar nicht. Ich bin ich und allein das zählt.“ Und damit ging auch L. Beyond sah ihm noch schweigend nach und war sich nicht sicher, ob er ihm nicht vielleicht folgen sollte. Thomas seufzte leise und begann seine Waffe zu reinigen. „L kann einem schon Leid tun. Er wird von seinen Geschwistern verachtet und er gehört auch nicht wirklich zu den Menschen dazu. Und mit so einem Vater gestraft zu sein, ist wirklich hart. Er gibt sich wohl die Schuld am Tod all dieser Kinder, die durch Henrys Hand gestorben sind und will sich wohl selbst bestrafen, indem er seinen Namen angenommen hat. Und dann ist da auch noch Andrew, der ihm das Leben zusätzlich schwer macht.“ „Warum ist Andrew eigentlich so fixiert auf L? Etwa nur wegen seines Vaters?“ „Tja, das lässt sich schwer sagen. Andrew ist im Grunde wie ein Amokläufer. Er hat all diesen Zorn und Hass jahrelang in sich aufgestaut und ist nun explodiert. Er richtet seine Wut gegen alles und jeden. Aber warum er L für den Tod von Alice Wammy verantwortlich macht, das weiß ich selbst leider nicht. Vielleicht hat ihm dieser alte Drecksack Henry ihm irgendetwas eingeredet oder aber Andrew weiß etwas, das wir alle nicht wissen.“ „Wie ist Mutter eigentlich gestorben?“ „Ich kann nur so viel sagen: Es war ein furchtbares Massaker. Wir haben eure Mutter zusammen mit einem Dutzend schwer bewaffneter Dragonfly Soldaten aufgefunden. Sie waren alle tot und ihre Leichen waren in einem schlimmen Zustand. Jeder Knochen war zertrümmert und manche sahen danach aus, als hätte sie irgendetwas zerrissen. L selbst war durch eine Schussverletzung in die Brust getroffen worden und hat nur durch einen glücklichen Zufall überlebt. Von Henry war keine Spur zu sehen aber ich weiß nur so viel: Was auch immer an diesem Tag passiert ist, es hat ihm sein linkes Auge gekostet und seitdem hat er auch eine lange Narbe im Gesicht.“ „Was glaubst du, was passiert war?“ „Ich weiß es nicht. Vermutlich hat Henry eine seiner gezüchteten Kampfmaschinen mitgenommen, um Alice und L zu töten. Diese ist außer Kontrolle geraten und hat das Blutbad angerichtet. Wahrscheinlich glaubt Andrew, dass L dafür verantwortlich ist, weil er neben Henry als Einziger überlebt hat. Dabei konnte man kaum von Überleben sprechen. Es war wirklich ein reines Wunder, dass L noch lebte. Ein paar Minuten später und es hätte ihn endgültig getötet.“ Kapitel 6: Henry Lawliet ------------------------ Naomi fühlte sich schlecht und ihr Kopf schmerzte. Sie fand sich auf einem Stuhl wieder, auf dem sie mit Gurten festgeschnallt war und konnte sich nicht bewegen. „Was zum Teufel…“ „Ah, guten Morgen Frau Misora. Schön, dass Sie endlich aufgewacht sind.“ Irgendwo hinter ihr tauchte ein rothaariger junger Mann auf, der nicht älter als L sein konnte. Er hatte hinterlistig funkelnde Augen, die von der Farbe her an Bernsteine erinnerten. Dieses Gesicht kam ihr mehr als nur bekannt vor. Es war doch dieser Vollidiot von der Spurensicherung Ben Lake. Nein, das konnte nicht sein. Das… das war doch in Wahrheit Andrew Asylum. „Oh Shit…“ murmelte sie als ihr klar wurde, was das überhaupt bedeutete. „Dann haben Sie die ganze Zeit ein doppeltes Spiel gespielt und ich habe nichts gemerkt.“ „Meine Verkleidung ist eben perfekt und ich muss zugeben, es hat mir wirklich Spaß gemacht. Ihre Vorgesetzte war ja auch sehr charmant. Nur zu schade, dass Sie meine Tarnung aufgedeckt hat und mich verpfeifen wollte. Sonst hätte ich das Spielchen noch ein kleines bisschen länger gespielt.“ „Was haben Sie mit Sadie gemacht?“ „Sagen wir es mal so: Sie hatte einen kleinen Autounfall. Dummerweise waren die Bremsschläuche defekt und sie konnte nicht mehr bremsen, als der Lastwagen auf sie zufuhr. Ich muss schon zugeben, dass Molly wirklich geschickt in solchen Dingen ist.“ Fassungslos starrte Naomi diesen eiskalten Psychopathen an und konnte es nicht glauben. Sadie James, die Madonna des FBIs war tot? Genauso wie Steven Kazan, ihr Kollege…. Einer nach dem anderen starb und sie war jetzt alleine. In Naomis Augen begannen sich Tränen zu sammeln. „Warum tun Sie das bloß? Bereitet es Ihnen so eine Freude, auf den Gefühlen anderer herumzutrampeln und ihnen alles zu nehmen, was sie haben?“ „Mir hat man auch alles genommen und mich hat auch niemand gefragt, ob ich es so will. Im Gegensatz zu mir hatten Sie eine Kindheit, Sie haben liebevolle Eltern und alle Möglichkeiten dieser Welt. Wir hingegen haben nichts davon. Wir haben keine Eltern, keine Kindheit und bis an unser Lebensende leben wir am Rande der Existenz und müssen uns verstecken. Tag für Tag leben wir in Angst, dass jeder Tag unser letzter in Freiheit sein könnte. Und wir sind einsam. Wir können nur von dem Leben träumen, welches die Menschen führen dürfen.“ „Und was haben Sie mit mir jetzt vor?“ „Das werde ich Ihnen verraten: Ich habe einen Deal mit dem Teufel. Wenn ich meinen Teil der Abmachung erfülle, wird Mutter wieder leben. Ihr Leben, Frau Misora, wird hier und heute enden und Mutter wird dafür in Ihrem Körper wieder aufleben.“ Das kann doch nicht wahr sein, das ist doch bloß ein verdammter Traum. Ja, das muss es sein. In Wahrheit schlafe ich einfach tief und fest und alles ist in bester Ordnung. Los Angeles und der Vatikan wurden nicht in die Luft gejagt, Steven und Sadie leben und ich liege noch im Bett. Naomi wollte einfach nicht glauben, dass das alles real war. Dies konnte einfach nur ein Traum sein. In der Realität gab es keine Mutanten, keine gezüchteten Hybriden und irgendwelche verlorenen Kinder, die einen Aufstand gegen die Menschen vorbereiteten. Und es konnte unmöglich einen rothaarigen Psychopathen geben, der die ganze Welt ins Chaos stürzte, nur weil er seine tote Mutter zurückholen will. Das war nie und nimmer real!!! „Tut mir Leid Frau Misora, aber dies ist leider kein Traum. Sie sind hier im Saarne Institut gefangen und lebend werden Sie dieses Gebäude auch nicht mehr verlassen.“ Das war doch nicht möglich… konnte es etwa sein, dass dieser Kerl da gerade etwa… „Ja ich kann Ihre Gedanken lesen. Bis jetzt habe ich meine Kraft unter Verschluss gehalten, um meinen Geist vor der Überflutung zu schützen, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis es aufs Ganze geht. Dann heißt es L oder ich.“ „Warum hegen Sie so einen Hass gegen L? Was hat er Ihnen getan, dass Sie ihm das Leben dermaßen schwer machen.“ „Das erfahren Sie noch früh genug Frau Misora. Spätestens wenn L kommt, um mich und seinen Vater zu töten. Ich habe wirklich keine Lust, es mehr als ein Mal vorzubeten.“ „Welche Rolle spielen eigentlich Molly und Dr. Heian in dieser Sache? Soweit ich weiß, sind sie keine verlorenen Kinder.“ „Das schon, aber Henry hat vorausgesetzt, dass ich einen medizinischen Spezialisten und die nötige Kohle bereithalte. Tja und Steven Red war nur eine Bauernfigur, die mir sowieso auf die Nerven ging.“ „Warum?“ „Er jammerte nur von seiner Miki herum und das war einfach nicht mehr zu ertragen.“ „Genauso wie Sie!“ Naomi hatte inzwischen ihre Angst und auch ihre Vorsicht überwunden und ging nun endgültig auf Konfrontationskurs. Wenn sie die Sache schon nicht überlebte, dann wollte sie sich ihrem Schicksal wenigstens nicht kampflos ergeben. „Sie hätten Steven eigentlich verstehen müssen, weil er genauso ist wie Sie. Er hat auch einen geliebten Menschen verloren, dessen Tod er nicht verkraftet hat. Und anstatt, dass Sie ihm Mitgefühl entgegenbringen, haben Sie ihn eiskalt töten lassen. Er hat doch das Gleiche durchgemacht wie Sie!“ Andrew hob ein wenig erstaunt über Naomis Worte eine Augenbraue und sah sie scheinbar nachdenkend und prüfend an. „Da haben Sie nicht ganz Unrecht Frau Misora. Ich sehe schon, Sie ähneln Mutter nicht nur äußerlich. Es scheint so, als hätten Sie auch ihre Charakterzüge.“ „Das kannst du nicht tun Alpha!“ rief plötzlich eine Stimme, die aus Naomis Inneren kam und doch nicht die ihre war. Es war Takuyas Stimme. Er benutzte sie offenbar als sein Sprachrohr. „Mutter hat ihr Leben für uns gegeben, damit wir in Freiheit leben und nicht, dass wir die Welt in einen Krieg stürzen. Und sie hätte nicht gewollt, dass du die Marionette eines skrupellosen und menschenverachtenden Tyrannen wirst!“ „Soso, anscheinend steckt da noch jemand in Ihrem Kopf, Frau Misora. Xi, schön mal wieder deine Stimme zu hören. Immer noch im Koma?“ „Ich will dich nur vor einem großen Fehler bewahren. Du kennst Henry Lawliet, er lügt dich nur an und nutzt dich bloß aus. Was glaubst du wohl, wie traurig Mutter sein wird, wenn sie erfährt, was du getan hast?“ „Ach was weißt du denn schon Xi? Du weißt nicht, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Du hast dich in diversen Traumwelten aufgehalten und konntest alles nach deinen Vorstellungen ändern.“ „Glaub mir Alpha, ich kenne deinen Schmerz. Ich war auch einsam. Ich konnte niemals an einem normalen Leben teilhaben, mein Bewusstsein konnte niemals Teil der Realität sein und nur über die Träume anderer war es mir möglich, überhaupt jemanden kennen zu lernen. Ich habe mir auch ein anderes Leben gewünscht, ich wollte auch ein Teil der Realität sein!“ Doch Andrew schien ihm nicht wirklich zuzuhören. Naomi erkannte, dass sein Herz so sehr von Hass und Verzweiflung zerfressen war, dass kein Wort der Wärme ihm noch helfen konnte. Und das schien auch Takuya zu erkennen, denn dieser sagte nun „Wenn du nicht mit diesem Wahnsinn aufhörst, dann werde ich eben…“ „Na, das würde ich an deiner Stelle lieber lassen.“ „Was denn? Wenn du Naomi tötest, kannst du Mum nicht zurückholen.“ „Wer sprach denn von dieser Menschenfrau? Ich sprach von dir.“ Und damit drehte Andrew den Stuhl um, auf dem Naomi saß und öffnete einen kleinen Vorhang. Entsetzt sah sie, dass dort Takuya lag, nach wie vor an einer Beatmungsmaschine angeschlossen und lag in einem Krankenhausbett. „Solange dein Körper noch lebt, ist es dir möglich, durch die Träume anderer zu wandern und über Frau Misora zu kommunizieren. Wenn er allerdings sterben sollte, dann wird sich dein Bewusstsein in Wohlgefallen auflösen und du hörst auf, zu existieren. Dann wirst du verschwinden, als wärst du nur ein flüchtiger Traum gewesen.“ Langsam ging Andrew zu Takuya hin, holte ein Messer hervor und hielt es ihm an den Hals. Naomi zerrte an ihren Gurten und versuchte mit aller Macht, sich freizukämpfen, doch es gelang ihr nicht. „Lass Takuya in Ruhe du Mistkerl!“ „Es liegt ganz bei ihm.“ Da Takuya nichts sagte und Naomi auch keine Stimme hören konnte, schien dies wohl ein Zeichen der Kapitulation zu sein. Sie selbst konnte es nicht fassen. „Wie kannst du deine eigenen Geschwister nur so hintergehen und bedrohen? Dabei dachte ich, ihr würdet um jeden Preis zusammenhalten, weil ihr nicht so sein wollt wie die Menschen. Ich verstehe das nicht. Deine Mutter hat ihr Leben gelassen um euch alle zu schützen. Sie hat euch alle gleichermaßen geliebt und so dankst du es ihr? Indem du all das mit Füßen trittst? Das kannst du doch nicht wirklich wollen.“ „Halten Sie die Klappe!“ Und damit ging Andrew und verließ den Raum nach hinten, sodass Naomi ihn nicht mehr sah. Dafür hörte sie ein leises Lachen, das von irgendeiner verborgenen Nische herkam, die sie nicht erkennen konnte. Ein Mann trat nun hervor, der ungefähr 50 Jahre alt war und zotteliges schwarzes Haar mit einigen grauen Strähnen hatte. Auf dem linken Auge trug er eine schwarze Augenklappe und er sah vom Gesicht her L ziemlich ähnlich, auch wenn er einen Stoppelbart besaß und über sein Gesicht eine lange hässliche Narbe verlief. Das musste L’s Vater Henry Lawliet sein. Seit wann war der denn im Raum? „Alpha hatte wirklich Recht, Sie ähneln Alice Wammy sehr.“ „Sind Sie Henry Lawliet?“ „Höchstpersönlich.“ „Was haben Sie vor und was haben Sie mit Andrew und Takuya gemacht?“ „Mit diesen minderwertigen Versuchsobjekten? Nicht viel. Xi liegt nach wie vor im Koma und sein Überleben hängt allein von den Maschinen ab, die ihn am Leben erhalten. Was Alpha betrifft, so brauchte es nicht viel, um ihn zu „überzeugen“. Sagen wir es mal so: Seine Neuprogrammierung hat jetzt endlich gefruchtet.“ Programmierung? Wovon zum Teufel sprach dieser Mann denn da bloß? Der sprach ja von Andrew, als sei dieser bloß ein Ding…. „Was meinen Sie damit?“ „Es liegt in Alphas Natur, sein Umfeld zu belügen, betrügen und zu manipulieren. Aber leider hatte der Gute eine erhebliche Fehlfunktion: Er konnte es nie fertig bringen, fehlerhafte Versuchsobjekte auszulöschen oder zu hintergehen. Eine Fehlfunktion, die er wohl Alice Wammy zu verdanken hat. Zum Glück habe ich diesen Fehler beheben können.“ Das alles sagte dieser Mann, der wie eine 50-Jahre-Version von L aussah, mit solch kühler und herablassender Stimme, als spräche er von einer minderwertigen Maschine. Dabei war Andrew doch ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Gefühlen und einer Seele. Was war das nur für ein widerlicher Kerl. „Hören Sie auf, so über Andrew zu reden. Sie nutzen seine Gefühle doch nur aus, um ihn gegen die anderen aufzuhetzen. Sicher ist seine Hetzjagd gegen L nicht allein auf seinem Mist gewachsen.“ „Ich sehe schon, Sie sind nicht auf dem Kopf gefallen. Tatsächlich brauchte Alpha eine gewisse Motivation und indem ich den letzten Rest seiner Menschlichkeit ausgemerzt habe, ist er doch noch zu einem guten Werkzeug geworden. Sie können reden, so viel Sie wollen. Alpha kennt kein Mitgefühl mehr, geschweige denn so etwas wie Gnade.“ „Wann und was genau haben Sie das mit ihm gemacht?“ „Während seiner Zeit in der Arroway Psychiatrie hat ihn mein Forschungsteam bearbeitet. Es war einfach, ihm mittels diverser Elektroschocktherapien gefügig zu machen und ihn somit neu zu programmieren. Das wäre doch so eine Verschwendung, wenn man so viel Intelligenz und so viel Raffinesse ungebraucht lässt. Noch dazu wollte er damals meinen Abkömmling töten, um mir einen Strich durch die Rechnung zu machen.“ Dann war Andrew also nicht immer so heimtückisch und boshaft gewesen? Dann richtete sich damals sein Hass bloß ausschließlich gegen die Menschen und nicht gegen seine Geschwister? Aber warum wollte er L umbringen? „Warum haben Sie Ihren eigenen Sohn damals in dieses Institut eingesperrt?“ „L sollte in den Genuss kommen, die Krönung meiner bisherigen Arbeit zu werden. Ich wollte sehen, wie viel Potential man aus einem Menschen herausholen kann und es hatte teilweise auch funktioniert, aber dann kam Alice. Sie musste sich einmischen und unsere Arbeiten sabotieren.“ „Sie hat es getan, weil sie in diesen Kindern keine Versuchsobjekte gesehen hat! Sie hatte Mitleid mit ihnen gehabt und sie geliebt.“ „Und das ist auch der Punkt, der sie zu einer miserablen Wissenschaftlerin gemacht hat. Sie konnte nicht objektiv bleiben. Sie hat Gefühle für Versuchsobjekte entwickelt, die im Grunde sowieso größtenteils nicht einmal richtige Menschen sind. Nur billige Kopien, Massenware eben.“ In Naomi kochte es, angesichts dieser menschenverachtenden Art, die Henry Lawliet an den Tag legte. Dieser Mensch war einfach widerlich. L konnte einem wirklich Leid tun, mit so einem Monster verwandt zu sein. „Sie sind einfach nur krank. Menschen sind keine Spielzeuge, genauso wie Kinder Kriegsmaschinen sind!“ „Da haben Sie Recht. Menschen sind tatsächlich keine Spielzeuge. Sie sind Parasiten, eine Krankheit, die es auszurotten gilt. Und ich arbeite an dem Heilmittel, das diese Welt von diesen Parasiten befreit.“ „Ihnen geht es doch nicht um die Rettung des Planeten sondern um Ihre persönlichen Vorteile!“ „Das liegt nun mal in der Natur des Menschen.“ Und damit ging Henry Lawliet zu Takuya und holte einen Revolver hervor. Dann entfernte er alle Kugeln bis auf eine einzige aus der Trommel, drehte diese und richtete sie auf die Stirn des Komapatienten. Als Naomi das sah, zerrte sie erneut an den Gurten und rief „Lassen Sie Ihre dreckigen Finger von Takuya oder ich bringe Sie um!!!“ „Sie sind ja auch eine interessante Person, Frau Misora. Wenn Sie ihn schon so wie eine Löwin verteidigen, dann muss diese Fehlkonstruktion ja etwas für Sie bedeuten.“ „Tun Sie nicht so! Ihre Leute haben damals versucht, mich zu kidnappen und deswegen ist meine Familie kaputt gegangen. Takuya hat mich all die Jahre vor Ihnen beschützt und ich lasse nicht zu, dass Sie ihm auch nur ein Haar krümmen.“ „Und wie wollen Sie das anstellen, gefesselt wie Sie sind?“ Diesem Bastard machte es ganz offensichtlich Spaß, sie zu quälen und mit dem Leben anderer zu spielen. Gegen ihn waren Sam Leens, Jeff the Killer oder Dr. Heian die reinste Kinderstunde. Naomi wand sich immer heftiger, sie stemmte sich mit aller Kraft gegen die Gurte, doch es hatte keinen Sinn. Egal was sie auch tat, sie würde sich nicht befreien können. Henry steckte seinen Revolver wieder ein und eiskalt lächelte er die suspendierte FBI Agentin an. „Nun schauen Sie mich doch nicht so wütend an. Ich kann jederzeit eine Kopie anfertigen, die mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet ist, wie ihr „Takuya“. Der würde dann wenigstens etwas taugen und wäre nicht so wertlos wie dieser Prototyp.“ „Das können Sie nicht tun! Sie können doch nicht einfach so mit dem Leben anderer spielen, wie es Ihnen gerade passt!!!“ „Und ob ich das kann, wenn ich die Möglichkeit habe. Vergessen Sie nicht, Frau Misora: Sowohl L als auch Alpha und Takuya sind mein Eigentum. Ich bin ihr Schöpfer, also ist es auch mein gutes Recht, sie auszulöschen, wenn sie ihren Zweck nicht erfüllen.“ Naomi sah zu Takuya und konnte eine Träne nicht zurückhalten. Das konnte doch alles nicht wahr sein. „Takuya“ dachte sie und senkte den Kopf. „Jetzt verstehe ich euch endlich. Ich kann einfach nicht fassen, wie er euch behandelt.“ „Glaub mir Naomi, ich hätte dir das alles gerne erspart. Bitte verzeih mir.“ „Schon okay. Aber was kann ich tun?“ „Darauf vertrauen, dass L bald hierher kommt.“ Da Henry offensichtlich noch einiges zu tun hatte, verließ er Naomi. Da sie ja nicht fliehen konnte, machte es keinen Unterschied, ob sie jetzt nun unbewacht war. Nun war Naomi ganz alleine, mit der Ausnahme von Takuya, der ihr aber auch keine Hilfe sein würde. „Und was machen wir jetzt?“ Die Antwort hatte Takuya bereits. Er wollte L und Beyond von der aktuellen Lage berichten und dazu musste er sie kurz verlassen. Na hoffentlich half es auch. Takuyas Vorteil war ja, dass sein Geist frei war und er somit überall hin konnte. So konnte er auch in L’s Gedanken eindringen und somit Nachrichten zwischen ihm und Naomi austauschen. Eine Gabe, die nicht ganz ungefährlich war. Im Prinzip könnte Takuya jeden Menschen auf der Welt ausspionieren. Kein Geheimnis wäre vor ihm sicher und er könnte wer weiß was mit seiner Kraft anrichten. Aber seine Achillesferse war sein eigener Körper, auf den er nicht zugreifen konnte. Wenn seinem Körper etwas passierte, dann würde sich sein Geist auflösen und er würde sterben. Eine Tür hinter Naomi öffnete sich und sie hörte Schritte auf sich zukommen. Da sie sich allerdings nicht umdrehen konnte, war sie nicht in der Lage, den Unbekannten zu sehen. „Hallo? Wer ist da? Hey!“ Keine Antwort. Dafür aber wurde der Gurt an ihrem Kopf gelöst und auch die Klammer an ihrem rechten Arm. Zwar war sie noch nicht ganz frei, aber jetzt konnte sie sich zumindest selbst befreien. Und damit begann sie auch sofort. Noch während sie den Gurt an ihrer Taille löste, versuchte sie sich umzudrehen und zu erkennen, wer da war, aber das war ihr immer noch nicht möglich. Dafür hörte sie aber eine Stimme, die leise zu ihr sprach. „Fliehen Sie, solange Sie können.“ Und damit fiel die Tür wieder ins Schloss. Naomi brauchte keine fünf Minuten, um alle Gurte zu lösen und sich vollständig zu befreien. Erleichtert darüber, sich endlich wieder bewegen zu können, streckte sie sich und sah sich in dem Raum um. Außer dem, was sie sowieso schon gesehen hatte, gab es nicht viel: Drei Monitore, zwei Türen und die kleine Nische mit Takuya. Ja richtig… Takuya. Was sollte sie tun? Ihn hier lassen und riskieren, dass Henry Lawliet ihn töten würde? Oder sollte sie ihn mitschleppen? Nein, das konnte sie nicht tun. Wenn Takuya nicht weiterhin von der Maschine beatmet wurde, dann starb er. Und sie konnte ihn unmöglich mit all den Gerätschaften durch die Gegend schleppen. Das war einfach nicht möglich. Sie hatte keine andere Wahl, sie musste Takuya zurücklassen auch wenn dies womöglich seinen Tod bedeutete. Aber wenn sie hier blieb, würden sie beide sterben. „Bitte verzeih mir Takuya….“ Kapitel 7: Deltas rätselhaftes Spiel ------------------------------------ L und Beyond hatten sich in der Halle eingefunden, wo Zion zusammen mit den wichtigsten Leuten die Mission besprach. Thomas, Seimei und Sakurako waren dabei. Auch Shin, Seimeis Bruder, traf ein. Er sah mehr aus wie ein Bürokrat als ein Soldat und trug sein schwarzes Haar stets perfekt zurückgekämmt. Zudem war er Brillenträger und der Anzug passte besser zu ihm als seinem Bruder. Auf dem allerletzten Drücker erschien Delta, der wie immer einen Kimono trug. L und Beyond fielen aus allen Wolken, als sie ihn sahen. „Was zum Henker machst du hier, Delta?“ „Ich habe meine Gründe.“ „Hat es etwas mit Alpha zu tun?“ „Wer weiß…“ Was führte er bloß im Schilde? Oder hatte Delta etwa den Auftrag, L direkt an seinem Vater auszuliefern? Delta bemerkte die misstrauischen Blicke von Beyond und L, ignorierte diese aber mit einem spöttischen Lächeln. „Keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, euch in den Rücken zu fallen.“ „Was planst du eigentlich?“ „Das ist immer noch meine Angelegenheit.“ Beyond stand auf und funkelte Delta mit einem todbringenden Blick an und auch Delta stand nun auf und warf ihm einen ebenso fiesen Blick zurück. Schließlich war es Zion, die den aufkeimenden Streit beendete. „Ihr zwei Holzköpfe reißt euch zusammen und setzt euch hin. Delta ist definitiv nicht unser Feind und wir brauchen seine Hilfe. Ich bin verschiedene Szenarien durchgegangen und habe das Beste schließlich herausgearbeitet. Dieses sieht folgendermaßen aus: Thomas und die Außeneinheit werden die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich lenken. Delta wird Beyond und L durch einen Geheimweg ins Institut schleusen. Shin und Sakurako werden euch Geleitschutz geben und euch auf dem schnellsten Weg zu Alpha und Henry Lawliet führen. Wir werden den Rest der Mission wie geplant durchführen. Wenn der Feind kapituliert, ist dein Team gefragt, Seimei. Ihr werdet die Schwerverletzten versorgen und die Kinder in Sicherheit bringen.“ „Das dürfte kein Problem darstellen“, antwortete der Asiate und lächelte zufrieden. Er schien wirklich die Ruhe selbst zu sein. Sein Bruder schien hingegen einige Bedenken zu haben. „Da drin wird es erst mal turbulent zugehen. Damit es keine unnötigen Schwierigkeiten gibt, müsst ihr mir versichern, dass ihr auf jede unserer Anweisungen hört.“ Für L war das kein Problem, doch bei Beyond war er sich da nicht so ganz sicher. Nur mit einigem Zögern erklärte auch er sich einverstanden. Zion nickte zufrieden. „Gut, dann wäre das soweit geklärt. Folgendes Problem ist zudem noch aufgetreten: Takuya und Naomi Misora werden im Institut als Geiseln gehalten. Das heißt, dass wir vor allem schnell vorgehen müssen. Je mehr Zeit wir während unseres Manövers verlieren, desto geringer ist die Chance, dass wir Frau Misora und Takuya lebend befreien können.“ „Ich hätte da noch eine Frage“, sagte Delta schließlich und nahm wieder Platz. „Was geschieht mit Alpha?“ „Wir werden ihn zusammen mit Henry Lawliet zur Rechenschaft ziehen. Er wird für seine Verbrechen büßen.“ L ließ das Gefühl nicht los, dass Delta etwas ganz Bestimmtes im Sinn hatte. Aber was genau war eigentlich sein Ziel? Welche Absichten verfolgte er? Tja, schon damals war er auch schon schwer einzuschätzen und da er nie seine Ziele offenbarte, wusste man auch nie, wie weit man ihm vertrauen konnte. Aber fest stand schon mal eines: Sein Ziel hatte mit Andrew zu tun. Stellte sich nur die Frage, welches Verhältnis zwischen ihnen bestand. Delta holte aus seinem Kimono einen Fächer hervor und begann nun damit, sich Luft zuzufächeln. Zion breitete eine Karte auf dem Tisch aus und markierte einen Raum, indem sie ihn mit einem roten Filzstift einkreiste. „In diesem Raum befinden sich derzeit Naomi Misora und Xi alias Takuya. Leider liegt er im Zentrum des Gebäudes und es gibt deswegen keine Abkürzung dorthin. Insgesamt führen zwei Wege zu diesem Raum. Der erste führt direkt an einer Sammlungshalle vorbei und dort werden wohl die meisten Soldaten warten. Der andere Weg führt an der Waffenkammer vorbei und dort wird es auch nicht besser aussehen. Da es zu riskant ist, wenn alle zusammen gehen, schlage ich vor, dass wir aus der Infiltrationseinheit zwei Teams bilden. Sakurako, du begleitest L und Delta und du Shin gehst mit Beyond. Team Sakurako wird den Weg an der Sammlungshalle vorbeigehen. Das dürfte für dich doch kein Problem darstellen.“ „Ein Kinderspiel“, antwortete die wunderschöne Japanerin und schien sich ihrer Sache sicher zu sein. Auch Shin sah keinerlei Problem in diesem Plan. Sie besprachen sich knapp eineinhalb Stunden, dann gab Zion ihnen noch zweieinhalb Stunden Zeit, um sich vorzubereiten. Während Beyond sich mit Shin besprechen wollte, hatte Delta wohl noch etwas mit L zu besprechen und ging mit ihm in den Hof. Draußen war es späte Nacht und die Sterne leuchteten. Doch der Mond blieb in dieser Nacht rabenschwarz. „Was willst du, Delta?“ Doch der im Kimono Gekleidete schwieg und ging ein wenig auf dem Gelände spazieren, sodass L ihm wohl oder übel folgen musste. Delta sah ihn nicht einmal an. „Hast du den Umschlag von den Zwillingen erhalten? Jener, der Wataris Siegel trägt.“ L blieb kurz stehen und holte aus seiner Tasche den Briefumschlag mit dem Wachssiegel heraus. Den hätte er ja fast vergessen. „Würdest du ihn mir bitte geben?“ Da L zögerte, nahm Delta ihn selbst an sich und öffnete ihn. Aus dem Umschlag holte sie einen Rosenkranz mit Rosenquarzperlen hervor. Er lächelte wohl wissend und betrachtete die Kette. L runzelte verwundert die Stirn. „Moment mal… ist das etwa Mutters Rosenkranz?“ „Ja… aber es ist mehr, als nur ein Rosenkranz. Er ist ein Schlüssel.“ „Ein Schlüssel?“ „Der Schlüssel zur Freiheit. Hör mal Lambda, ich möchte, dass du mir etwas versprichst: Alpha gehört einzig und allein mir.“ Und damit steckte Delta den Rosenkranz ein. Dann fächelte er sich wieder ein wenig Luft zu und sah in den Sternenhimmel. Er dachte über irgendetwas nach. Sein langes schwarzes Haar fiel über die zarten mädchenhaften Schultern und in dem langen weiten Kimono, der die fehlenden Kurven perfekt kaschierte, sah er wie eine wunderschöne Frau aus. Dann wandte er sich L zu und seine gelben Augen leuchteten beinahe wie Katzenaugen in der Dunkelheit. „Was wirst du tun, wenn das hier vorbei ist?“ Tja, das war eine gute Frage. Was sollte er tun, wenn der ganze Alptraum zu Ende war und seinem Vater endlich das Handwerk gelegt war? Für ihn stand fest, dass er danach nie wieder L Lawliet sein würde. Er konnte auch nicht mehr in sein altes Leben zurück. L Lawliet war bloß eine Figur gewesen, die er sich erschaffen hatte, die so lange existieren sollte, bis er seine toten Geschwister gerächt und seinem Vater das Handwerk gelegt hatte. Er und Watari hatten all die Jahre darauf hingearbeitet. Aber wenn L Lawliet seine Pflicht getan hatte, was sollte aus Lambda, dem verlorenen Kind werden? Wo konnte er denn hin? Im Grunde hatte er niemanden. Watari war tot, das Waisenhaus gab es nicht mehr und die verlorenen Kinder akzeptierten ihn nicht. Was sollte er tun? Beyond hatte einen Ort, an den er gehen konnte. Er hatte eine Familie, die auf ihn wartete… eine Zukunft. Delta hatte sein Haus und seine Schauspielerei. Und er hatte nur eine Identität, die nicht von Dauer war. Sein Gegenüber sah ihn beinahe mitleidig an und seufzte. „Das ist schon traurig. Die ganzen Jahre hast du als L Lawliet Verbrecher gejagt und dein eigenes Leben im Prinzip vernachlässigt. Du bist wirklich nicht zu beneiden. Hast du denn keine Ziele oder Wünsche, außer das mit deinem Vater?“ „Ich wollte nur, dass kein verlorenes Kind mehr leiden muss.“ „Das ist ja auch nobel, das will ich nicht bestreiten. Aber dabei hast du dich niemals um dein eigenes Leben gekümmert. Und ich fürchte, dass dir das zum Verhängnis wird. Denke über meine Worte nach, Lambda. Überlege dir genau, was du tun willst und dann tu es einfach.“ Delta steckte nun den Fächer wieder ein und fuhr sich mit seinen zierlichen dünnen und fast schneeweißen Fingern durchs Haar. „Ich werde mich gleich umziehen. Du kannst dir ja die Sache noch mal durch den Kopf gehen lassen.“ Mit eleganten und anmutigen Schritten verschwand Delta in der Dunkelheit und nun war L alleine. Dieser streifte gedankenverloren durch das ehemalige Institut und dachte über das nach, was Delta gesagt hatte. Schließlich erreichte er den Gebäudeteil, in dem die Kinder schliefen. Viele von ihnen waren noch wach, da sie nicht schlafen konnten oder furchtbare Alpträume hatten. Auf den Gängen brannte Licht und kleine Gestalten wanderten umher. Ein Junge, dem ein Auge fehlte und dem eine schreckliche Brandnarbe das halbe Gesicht zierte, irrte umher und weinte laut. Dann aber eilte Zion herbei, hob ihn hoch und nahm ihn tröstend in die Arme. Beruhigend sprach sie auf ihn ein und küsste ihm auf die Stirn. Als Seimei aus einem der diversen Räume kam, nahm er den Kleinen entgegen und brachte ihn wieder in sein Zimmer. Zion bemerkte L und ging zu ihm. Sie sah ein klein wenig müde aus. „Es ist wirklich nicht leicht mit solchen Kindern. Ein echter Fulltime Job.“ „Aber du machst es gerne, nicht wahr?“ „Natürlich, sonst würde ich es hier nicht länger als zwei Wochen durchhalten. Du musst gleichzeitig Elternteil, Offizier und Therapeut sein und Nerven wie Drahtseile haben. Aber wer soll sich denn um die Kinder kümmern, wenn nicht wir? Sie haben niemanden, sie brauchen eine Bezugsperson, eine Zukunft.“ „Eine Zukunft“, murmelte L und sah Zion mit einem etwas traurigen Blick an. Diese merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. „Sag schon L, was bedrückt dich?“ „Ich weiß nicht, was sein wird, wenn die Sache hier vorbei ist.“ „Möchtest du etwa, dass ich dir deine verschiedenen Zukunftsszenarien nenne?“ Was würde es bringen? Zion war in der Lage, an die hundert potentielle Zukunftsmöglichkeiten vorherzusehen, aber würde es ihm wirklich helfen? Sollte er sich allein darauf verlassen, was sie ihm vorhersagen konnte? Was, wenn die Zukunft nur Hoffnungslosigkeit für ihn bereit hielt? Was, wenn sein Leben nicht vorwärts kam oder er den Kampf gegen seinen Vater nicht überleben würde? Schließlich unterbrach Zion seine Gedanken. „Weißt du L, du solltest dir nicht so viele Gedanken machen, was alles sein könnte. Du hast alle Möglichkeiten der Welt, das ist das große Geschenk der verlorenen Kinder. Dank unserer Fähigkeiten sind uns Dinge möglich, von denen andere nur träumen können. Wir nutzen sie für das, was wir gerne tun. Ich helfe gerne meinen Geschwistern und es ist mir eine Ehre, Mutters Erbe fortzuführen. Delta ist dank seiner Gabe ein perfekter Schauspieler und selbst Beyond, der mit dem Shinigami-Augenlicht gebrandmarkt ist, hat die Kurve gekriegt. Ich könnte dir erzählen, was du alles werden könntest, aber dann würde ich dir die Möglichkeit nehmen, für dein Ziel zu kämpfen. Du musst dich auch nicht sofort festlegen. Nimm dir einfach Zeit, dich selbst zu finden und herauszufinden, wer du bist und wohin du gehen willst. Es ist nicht einfach, aber kein Kampf ist lohnenswerter als der Kampf um das eigene Glück.“ „Sag mir wenigstens… wird L’s Kampf denn wenigstens nicht umsonst sein?“ Zion lächelte und legte L eine Hand auf die Schulter. „Du wirst es schon schaffen. Solange du dein Ziel nicht aus den Augen verlierst. Mutter wäre ganz sicher stolz auf dich.“ Mutter… Als L an sie dachte, sah er sie vor seinem inneren Auge, wie sie ihm ein Lied vorsang, damit er einschlief. Sie hatte ein so liebevolles und gütiges Lächeln wie das eines Engels. Doch diese Szene verschwamm und plötzlich wurde alles in ein dunkles Blutrot getaucht. Er sah plötzlich seine Mutter… Alice Wammy… blutend auf dem Boden liegen, mit Tränen in den Augen und wie sie mit letzter Kraft ihre Hand hob um ihm die Wange zu streicheln. „Es wird alles gut mein Schatz, du brauchst keine Angst zu haben.“ L wurde schwindelig und der Boden unter seinen Füßen schien nachzugeben. Sein Herz begann zu rasen und auch auf den Ohren schien er nur noch dumpf zu hören. Zion rückte plötzlich in unnahbare Ferne und ihm wurde übel. Der Kopf schmerzte ihm. „L, alles in Ordnung?“ Er hörte ihre Worte wie aus weiter Ferne und blinzelte. Um nicht umzufallen, stützte er sich an der Wand ab und machte einen halben Schritt zurück. Was war das nur? Da war eine völlig verschwommene Erinnerung in seinem Kopf, die ihm gewaltsam vorenthalten wurde. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich einfach nicht erinnern. Alles, worauf sein Bewusstsein zugreifen konnte, waren Stimmen. Er erinnerte sich an Schreie, an die Stimme seines Vaters und wie Alice Wammy vor Schmerz aufschrie. Was war da nur passiert? Zion, die sich ernsthafte Sorgen um L machte, da dieser auf einmal völlig bleich im Gesicht wurde, packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn kräftig. Das holte ihn wieder zurück und er sah sich orientierungslos um. Er brauchte eine Weile, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und ihm war speiübel. „L, was ist los? Geht es dir nicht gut?“ „Ich weiß nicht…“ murmelte er und legte eine Hand auf die Stirn. Sie glühte. „Wahrscheinlich bin ich nur müde.“ Wieder kam ein Kind aus den Schlafräumen herbeigelaufen und eilte zu Zion. Es war ein Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren. Sie hatte blutunterlaufene Augen und frisch genähte Wunden am Körper. Zion kniete sich hin und streichelte ihr tröstend die Wange. „Hast du noch Schmerzen?“ „Egal wie ich mich hinlege, es tut so weh. Es brennt so sehr.“ „Wo brennt es denn?“ Das Mädchen entblößte seinen linken Arm und L sah die langen Schnittwunden, die fast ihren gesamten Arm ausfüllten und rot angelaufen waren. Die Verletzung hatte sich entzündet. „Na komm mal her, wir werden uns sofort darum kümmern. Und dann versprichst du mir, dass du ganz artig ins Bett gehst, Rachel.“ Das Mädchen nickte artig und rieb sich die Tränen aus dem Gesicht. Zion führte sie an der Hand zur Krankenstation und L folgte ihr. Dort wurden die genähten Wunden der kleinen Rachel mit Salbe behandelt und sie bekam noch Antibiotika, damit die Entzündung nicht schlimmer wurde. Dann spritzte man ihr ein leichtes Schmerzmittel und eine Schwester brachte sie zurück ins Bett. „Rachel war Teil eines perversen Nazi-Projektes“, fing Zion zu erzählen an und räumte die Medikamente wieder in den Schrank. „Man hat sie mit Essen geködert, um ihre Geschwister umzubringen. Hat sie sich geweigert, hat man sie hungern und foltern lassen, bis sie gefügig wurde. Lange hat sie durchgehalten, aber schließlich haben diese Mistkerle ihren Widerstand gebrochen. Soll ich dir verraten, was dann passiert ist? Man hat ihr das Kind, welches sie töten musste, gekocht und zum Essen serviert! Rachel weiß davon zum Glück nichts und auch an die Tötung hat sie keine Erinnerung mehr.“ „Du sagtest was von Nazi-Projekt…“ „Ja, die Nazis haben dieses Experiment in Polen durchgeführt. Aber die Amis haben sich auch nicht gerade besser betragen. Einem Kind haben sie durch diverse Operationen alle Sinnesnerven gekappt. Es konnte weder sehen, hören, schmecken, tasten oder riechen. Sie wollten herausfinden, was ihm wohl für Gedanken durch den Kopf ginge. Das Kind ist verrückt geworden, hat angefangen zu fantasieren und schrie immer wieder Ich habe mit Gott geredet! Er hat uns alle verlassen!!! Und die Russen, die schlafentziehende Gase ausgetestet haben, sind auch keinen Deut besser. Manchmal erscheint es mir so, als sei die gesamte Welt vollkommen verdorben. In den Zeiten ist es besonders schwer, sich den Glauben an Gerechtigkeit zu bewahren.“ Sie gingen schließlich in die Kantine um dort etwas zu essen. Shin, Seimei, Sakurako und Beyond saßen bei einer Tasse Tee zusammen und spielten Karten. Von Thomas und Delta war nichts zu sehen und sonst hatten sich Soldaten oder Krankenschwestern bei Kaffee und Mitternachtssnacks versammelt und plauderten. L und Zion holten sich einen Kaffee und machten es sich in den Sesseln bequem. „Was hast du eigentlich mit Delta bequatscht?“ „Er wollte den Rosenkranz von Mutter haben. Er sagte, es sei der Schlüssel zur Freiheit. Delta ist etwas seltsam.“ Zion gab nur ein „Hm“ von sich und goss sich etwas Milch in den Kaffee. Zucker nahm sie nicht. Sie hasste das Zeug. „Wusstest du eigentlich, dass Delta bereits drei Male in der Arena war?“ Als L das hörte, sah er auf und glaubte nicht recht zu hören? Delta war drei Male in der Arena und hatte überlebt? Das war eigentlich nicht möglich. Es war eigentlich ein Wunder, wenn man das erste Mal überlebte und ein fast unmögliches Wunder, beim zweiten Mal als Sieger hervorzugehen. „Diese Zeit hat Delta mehr geprägt, als seine Zeit im Rotlichtmilieu. Er hat einen unglaublich eisernen Willen, um jeden Preis am Leben zu bleiben und dafür ist er auch bereit, seinen Körper zu verkaufen. Hauptsache er überlebt. Ich habe mich schon immer gefragt, warum er so weit geht. Insbesondere frage ich mich, warum Mutter Delta zum „Träger des Schicksals“ auserkoren hat. Ich frage mich, wessen Schicksal er in seinen Händen hält.“ Seit seiner Zeit im Nova Institut war er schon so drauf? Warum nur war er so versessen darauf, um jeden Preis am Leben zu bleiben, selbst wenn er dafür seinen Körper verkaufen oder auf Leben und Tod gegen seine Geschwister kämpfen musste? Welche Funktion hatte Delta? „Hat Delta überhaupt mal über seine Ziele gesprochen?“ „Nein, er vertraut auch niemandem. Aber es scheint, dass er genau weiß, was er tut. Als ich ihn nämlich kurz nach Andrews Einlieferung in die Woodley Psychiatrie sprach, sagte er wortwörtlich zu mir „Ich habe einen Plan und den muss ich alleine ausführen. Ihr Schicksal liegt in meiner Hand und ich lasse mir von niemandem in die Karten sehen.“ „Ihr? Wen meint er damit?“ „Frag mich etwas Leichteres. Fakt ist, dass Delta auf seiner eigenen Seite steht und das macht es auch so schwer, ihn korrekt einzuschätzen.“ Der Gedanke, dass Delta die Arena drei Mal überlebt hatte, sprach zum einen für seinen unbändig starken Willen aber auch für seine Kraft. Soweit L richtig informiert war, besaß Delta außer seiner Fähigkeit der Imitationen sonst keine übermenschlichen Kräfte. Er war körperlich nicht sehr stark oder sonderlich schnell. Er war ein cleveres Köpfchen, aber seine Intelligenz reichte nicht an die von Andrew heran. Wie also hatte er es geschafft, unter solch harten Bedingungen am Leben zu bleiben? Für wen tat er das alles? Und was sollten seine Worte bedeuten, die er zu L gesagt hatte, als er den Rosenkranz an sich nahm? Vielleicht würde L das noch früh genug erfahren. Aber ob er das wirklich wissen sollte, stand in einem anderen Kapitel geschrieben. „Hoffen wir nur, dass diese Nacht ohne großes Blutvergießen zu Ende gehen wird.“ Kapitel 8: Die Fahrt zum Saarne Institut ---------------------------------------- Alles war bereit zum Aufbruch. Jeder der Männer und Frauen, die sich freiwillig für den Einsatz gemeldet hatten, trugen kugelsichere Westen, waren selbst bewaffnet und mit allen ausgerüstet, was einem das Leben retten konnte. Es gab insgesamt drei verschiedene Teams, die sofort zu erkennen waren und die auch verschieden groß waren. Das „Außenteam“ bestand aus perfekt ausgerüsteten muskulösen und wild entschlossenen Soldaten, die von Thomas Gauss angeführt wurden, der groß und stolz wie ein Denkmal an der Spitze stand. Seimei führte das Team für „medizinische Versorgung“ an und sah so gelassen und zuversichtlich aus, dass er wirklich die Sorgen jedes anderen mit einem einfachen Lächeln nehmen konnte. Das Versorgungsteam bestand aus weiß uniformierten Lazarettärzten und Sanitätern und diese waren mit entsprechenden Koffern und Instrumenten ausgestattet. Im Gegensatz zu Seimei sahen sie viel ernster aus. Und zuletzt kam das kleinste Team, nämlich die Infiltrationseinheit. Shin trug nach wie vor seinen Anzug und schien keine Schutzweste zu tragen, im Gegensatz zu Beyond und L. Delta und Sakurako trugen einen Kimono, wobei Delta ihn wie immer relativ offen trug, sodass er nach wie vor sehr aufreizend wirkte. Er trug weder eine Schutzweste noch hatte er eine Waffe bei sich. „Delta“, sagte Beyond mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck. „Ich dachte, du wolltest dich umziehen.“ „Natürlich. Wie du sehen kannst, trage ich jetzt meinen weißen Kimono mit blauem Blütenmuster und nicht den roten. Also wirklich!“ Das hat er eigentlich nicht so gemeint Delta, dachte L und schüttelte den Kopf. Delta war wirklich nicht mehr zu helfen. Zion stand an der Spitze und hatte sich zu ihnen gewandt. Mit einem Mikrofon ausgestattet motivierte sie die Freiwilligen und machte ihnen Mut. Sie ermahnte, dass zuerst nachgedacht wird, bevor man schoss, weil das Risiko groß war, dass man Unschuldige treffen könnte. Immerhin war diesen Leuten aus dem Institut zuzutrauen, dass sie die Kinder als lebende Schutzschilde benutzen würden. Schließlich traten die Anführer der drei Teams hervor: Seimei, Shin und Thomas. Diese marschierten los und ihnen folgten die anderen. Das Außenteam hatte alle vier Panzer dabei und die Versorgungseinheit war mit gepanzerten Rettungswagen ausgestattet. Sie waren alle perfekt vorbereitet. In unzähligen Fahrzeugen traten sie die Reise zum Saarne Institut an, welches sich ungefähr zwei Stunden Fahrt entfernt befand. Die Zeit vertrieben sich alle auf ihre Weise. Beyond lehnte sich einfach zurück und pennte glatt ein und auch Sakurakos Augen fielen zu. Doch L konnte nicht schlafen. Seit Tagen konnte er das nicht. Immer, wenn er die Augen zumachte, hörte er die unzähligen Schreie aus dem dunkelsten Kapitel in seiner Vergangenheit und dann sah er Alice Wammy, seine zweite Mutter, blutüberströmt auf dem Boden liegen. Und dann wachte er immer vor Angst zitternd und völlig schweißgebadet auf. Etwas in ihm versuchte sich mit aller Macht an etwas ganz Bestimmtes zu erinnern, während ein anderer Teil sich davor fürchtete. Delta spürte anscheinend, dass etwas mit L nicht stimmte, zögerte jedoch, direkt nachzufragen. Dann aber fragte er „Was geht dir durch den Kopf? Hast du Angst davor, deinem Vater zu begegnen?“ „Nein… es ist etwas anderes. Irgendeine Erinnerung an damals… als Mutter schwer verletzt war… oder vielleicht der Augenblick ihres Todes…“ In diesem Moment leuchtete etwas in Deltas Augen auf, jedoch schwieg er und wandte seinen Blick von L ab. Den Rest der Fahrt über schwieg er und schien selbst in Gedanken versunken zu sein. Er fächelte sich mit seinem Fächer Luft zu und seufzte leise. Da L die Wartezeit ein wenig überbrücken wollte und es zu dunkel zum Lesen war, holte er seinen MP3-Player hervor und begann klassische Musik zu hören. Er entschied sich für „Divenire“ vom italienischen Pianisten Ludovico Einaudi. Er liebte klassische Musik, besonders die von Einaudi. Dank dieser Musik fiel es ihm leichter, seine Alpträume zu vergessen und ein wenig herunterzukommen. Die Musik half ihm, seine Gedanken auch mal loszulassen. Vielleicht machte er eine Reise durch Italien, wenn die Sache vorbei war. Nicht in die überfüllten Großstädte und nicht in die vollkommen zerstörte Hauptstadt Rom, sondern in die ländlichen Gegenden. In den heißen Sommern die Weinberge durchstreifen, oder sich in die Bergregionen Chinas zurückziehen und dort nach seinem neuen Lebensziel suchen. Vielleicht sollte er eine Weltreise machen und damit eine Reise zu sich selbst unternehmen. Oh Mann, jetzt wurde er schon esoterisch. Fehlte nur noch, dass er auf den Trichter kam, sich im Schneidersitz auf den Boden zu setzen und die ganze Zeit wie eine CD mit Macke „Om… om…“ zu wiederholen, während er versuchte, seine innere Mitte zu finden. Und dann würde er in irgendwelchen Gewändern herumlaufen, mit langem Haar und einem Stirnband, während er auf Woodstock Konzerten kiffte wie ein Hippie. Vielleicht aber würde er weiter seiner Arbeit als Detektiv nachgehen. Als „Divenire“ zu Ende war, spielten „Andare“ und schließlich „Le Onde“ in B Minor. Er schloss die Augen, lauschte der Musik und in einem unbedachten Moment wanderte seine Hand zu der Pistole an seinem Gürtel. Diese Waffe würde noch in dieser Nacht zum Einsatz kommen. Bevor der Morgen anbrach, würde L Lawliet seine Pflicht erfüllen und seinen eigenen Vater töten. Es gab keinen anderen Weg. Dieser Mann musste sterben, sonst würde nur noch mehr Leid über diese Welt kommen. Immerhin hatte er unzählige Kinder in den Tod geschickt, sie gefoltert und seine eigene Frau abschlachten lassen. Dabei fiel L ein, dass er gar nicht wusste, wie seine leibliche Mutter überhaupt aussah. Er hatte sie kurz nach seiner Geburt gesehen gehabt, dann war sie gestorben. Noch im Krankenhaus war sie von den Handlangern ihres Mannes ermordet worden, weil sie ihr Kind vor ihm schützen wollte. Warum nur hatte Henry das getan? Warum tötete er seine eigene Frau und sperrte sein eigenes Kind in die Zellen des Instituts? Wenn er wirklich so ein eiskalter, skrupelloser und selbstsüchtiger Mensch war, wie Watari ihn beschrieben hatte, warum hatte er dann mit einer Japanerin ein Kind gezeugt, wo er doch einige Jahre der rechtsextremistischen Szene angehört hatte? Wo lag da die Logik? Delta, der es sich ein bisschen bequemer machen wollte, hob den Rücken und suchte nach einer gemütlicheren Sitzposition, um ein wenig zu dösen, dabei verrutschte sein Kimono und seine rechte Schulter wurde entblößt. Eine Tätowierung in Form eines Schattens einer Kobra mit geöffnetem Maul kam zum Vorschein. Es war das Zeichen eines chinesischen Mafiarings in Shanghai. Dieses Tattoo hatte L an Delta noch nie gesehen. Er musste es immer mit Make-up überdeckt haben. Aber warum hatte er ein Mafia Tattoo? Hatte er tatsächlich ein Mafiakapitel in seinem Leben zu verzeichnen? Nein, Delta hatte viele Jahre in einem Bordell verbracht, bevor er endlich dem Rotlichtmilieu den Rücken zugekehrt hatte. Er konnte nicht bei der Mafia gewesen sein. Zumindest nicht als Mitglied… aber vielleicht als Eigentum. Allein schon bei der Vorstellung wurde L ganz anders zumute. Watari hatte zwar durchblicken lassen, dass Delta eine echt harte Kindheit hatte und einen besonders schweren Kampf zu führen hatte. Immerhin war er vom Armutsviertel, wo er ums tägliche Brot kämpfte, indem er Leute ausraubte oder Mülltonen durchwühlte, direkt ins Rotlichtmilieu geraten und L wollte lieber nicht wissen, was er alles durchgemacht hatte. Und wenn dann auch noch die chinesische Mafia ins Spiel kam, dann musste seine Vergangenheit wirklich die Hölle gewesen sein. Trotzdem war er nicht verrückt geworden. Er war fest entschlossen, sein Ziel zu erreichen und dazu war ihm jedes Mittel Recht. Für sein Ziel, was immer es auch war, ertrug er jedes Martyrium. Woher nahm er bloß diese Kraft? L gab es nur ungern zu, aber er bewunderte Delta für diese übermenschliche Entschlossenheit. Delta hatte so einen Lebenswillen, wie ihn sonst keiner seiner Geschwister besaß. Da er offenbar keine bequeme Position fand, gab es Delta auf, sich ein wenig ausruhen zu wollen und setzte sich aufrecht hin. Dabei bemerkte er, dass L seine Tätowierung an der Schulter betrachtete. „Neugierig?“ fragte er und lächelte verschlagen. „Was glaubst du, was dieses Zeichen bedeutet?“ „Du… du hattest mit der chinesischen Mafia zu tun, richtig?“ „Sie haben mich an eine japanische Bordellbesitzerin verkauft, als ich gerade mal zwölf war. Ich hatte eben Pech. Aber wenn ich eines gelernt habe, dann, dass die Menschen käuflich sind. Für sie ist Geld das Wichtigste auf der Welt und wenn Geld eines bewirkt, dann, dass es die Menschen zu Sklaven macht und sie ihrer Menschlichkeit und ihrer Moral beraubt. Das Geld wird zu ihrer einzigen Moral. Und diesen Umstand habe ich mir zunutze gemacht.“ „Was ist passiert?“ „Nachdem ich endlich nicht mehr an perverse Geldsäcke versteigert wurde, hat mir die Bordellbesitzerin alles beigebracht, um es mit der Mafia aufnehmen zu können. Ich habe ihr einiges zu verdanken, sie hat mir geholfen, in dieser Welt zu überleben und mir die Schwächen der Menschen zunutze zu machen.“ „Zion hat mir erzählt, dass du bereits drei Male in der Arena warst. Wie schaffst du es nur, unter den härtesten Bedingungen weiterzumachen, ohne zugrunde zu gehen?“ In diesem Moment war Deltas geheimnisvolle Aura gewichen und er kam Beyond mit einem Male menschlicher und näher vor. Er sah ernst aber auch eine Spur traurig aus. In diesem Moment erkannte L, dass seine weibliche Persönlichkeit seiner richtigen männlichen Persönlichkeit Platz gemacht hatte. „Wenn du ein Ziel hast, das du unbedingt erreichen willst, dann darfst du auch keine Angst und keine Vorbehalte haben, wenn du dafür alles tun musst, selbst wenn der Preis dein Körper ist.“ „Und welches Ziel hast du?“ Wieder wechselte Deltas Gesichtsausdruck und Hainuelle, seine weibliche und dominante Seite, übernahm wieder die Kontrolle. Gleichzeitig wechselte auch seine Stimme, sodass er sich wieder ganz wie eine Frau anhörte. „Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, die mir Mutter anvertraut hat. Ich bin der Schicksalsträger und wenn ich meine Aufgabe nicht erfülle, dann wird ein schreckliches Unglück geschehen.“ „Und darauf hast du all die Jahre hingearbeitet?“ Delta lächelte. „Ich hätte die Sache auch früher beenden können, aber… ich musste eine Sache überprüfen und auch jetzt sind für mich noch ein paar Fragen offen geblieben, die ich vorher noch beantwortet haben will, bevor ich meine Aufgabe zu Ende führe. Du wirst es verstehen, wenn es vorbei ist.“ „Kann ich dir wenigstens so weit vertrauen, dass du mich nicht hintergehst?“ „Ich stehe zu meinen Geschwistern, auch wenn es nicht den Anschein hat.“ Das beantwortete nur teilweise L’s Frage. Er dachte über seine ganzen Gespräche mit Delta während dieses Falls nach. Er hatte ihm gesagt, dass Andrew die gesamte Menschheit ausrotten wollte, um die Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern. Waren das nicht eigentlich die Motive seines Vaters Henry? Er hatte bei ihrem ersten Gespräch versucht, ihm Henrys Ansichten und Ziele zu vermitteln, was also bedeutete, dass er mehr wusste als seine Geschwister. Er hatte Henrys Ansichten sogar vertreten und ihm Recht gegeben, indem er sagte, dass die Menschheit im Grunde keine Existenzberechtigung habe. War das etwa gewesen, um ihn zu prüfen? Wollte er sichergehen, dass L nicht den Fußstapfen seines Vaters folgte? „Vertrittst du wirklich die Ansicht, dass die Menschheit nicht existieren sollte?“ „Nun, das bei unserem ersten Gespräch war ein wenig zu zynisch gewesen, ich war auch ziemlich angeheitert und da gebe ich schon mal so etwas von mir. Ich halte nicht viel von den Menschen, das ist Fakt. Sie sind alle Huren, die ihre Körper, ihre Moral und ihre Seele für Geld verkaufen und die ganze Welt ist ein Bordell aber zweifelsohne sind einige Huren nicht von Grund auf verdorben. Sie sind mehr in diese Welt hineingedrängt worden und versuchen sich ihre Aufrichtigkeit zu bewahren. Die Besitzerin des Bordells, in dem ich gearbeitet habe, war ein solcher Mensch und ich schätze sie auch heute noch sehr. Ohne sie wäre ich entweder von den Freiern umgebracht worden oder wäre womöglich in die Drogenszene abgerutscht. Von ihr habe ich viel gelernt und das nicht nur Stellungen.“ „Das wollte ich auch nicht wissen.“ Als L ein wenig rot wurde, kicherte Delta und zwinkerte ihm zu. „Wenn man schon so lange in dieser Branche gewesen ist, verliert man schnell seine Zugeknöpftheit… und seinen Würgreiz.“ „Ich will solche Dinge nicht wissen“, rief L und merkte nicht, dass Delta ihn absichtlich provozierte, nur um ihn zu ärgern. Von dem Lärm wurden Beyond und Sakurako aufgeweckt und müde rieben sie sich die Augen. „Was schreist du so rum, L?“ „Ach, unserem kleinen Lambda ist es nur peinlich über Sex und andere Dinge zu sprechen.“ „Warum zum Teufel sprecht ihr über Sex?“ fragte Beyond ungläubig und sah L irritiert an. Dieser machte eine mürrische Miene und erklärte „Nicht ich habe über Sex gesprochen. Delta hat angefangen.“ „Hört auf, euch wie Kleinkinder aufzuführen, ich will schlafen!“ Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken, denn sie hatten das Saarne Institut fast erreicht. Delta begann seinen Kimono zu richten und steckte den Fächer in den Obi, damit er beide Hände frei hatte, um sich sein langes, schwarzes Haar hochzustecken und es mit „Kogai“, so genannten Schwertnadeln zu befestigen. Beyond und L verstanden nicht, warum es ausgerechnet jetzt und in so einer Situation sein musste. „Wie willst du eigentlich gegen Alpha vorgehen?“ „Ich werde ihn außer Gefecht setzen, damit er keinen Unsinn mehr anstellt. Du überlässt ihn ganz einfach mir und versuchst deinen Vater in die Mangel zu nehmen. Beyond, wärst du dann so freundlich, dich um Naomi und Xi zu kümmern?“ „Glaubst du wirklich, du kannst es alleine gegen Andrew… ich meine Alpha… aufnehmen? Er ist ziemlich hinterlistig und stark.“ „Ich komme schon klar. Ich habe schon viel überlebt, dann werde ich auch das schaffen. Alphas Tricks kenne ich zu Genüge und ich werde ganz sicher nicht verlieren.“ Deltas unerschütterliche Selbstsicherheit in Ehren, aber L konnte sich nicht vorstellen, dass er wirklich gegen Andrew gewinnen konnte, indem er seine Haare hochsteckte und einen völlig sperrigen Kimono trug. Aber andererseits… wenn er tatsächlich drei Male die Arena, die chinesische Mafia und das Rotlichtmilieu überlebt hatte, dann musste er ein As im Ärmel haben. Zumindest sah er ziemlich siegessicher aus. Aber warum zum Teufel wollte er jetzt gegen Andrew kämpfen, wo er ihn doch zuvor unterstützt hatte? Spielte er bloß ein Spiel oder war es L, den er an der Nase herumführte? Vielleicht war Delta deswegen unbewaffnet, weil er L und Beyond in eine Falle stellen wollte. Nein, er hatte zugesichert, dass er seine Geschwister niemals hintergehen würde und zumindest in dieser Hinsicht konnte man ihm vertrauen. Er machte keine gemeinsame Sache mit Henry, aber er spielte ein Spiel nach eigenen Regeln. Schließlich hielten die Transportwagen und nach und nach stiegen alle aus. Müde streckte Beyond sich und sah in den Himmel. Er hatte sich gänzlich verfinstert und selbst die Sterne waren nicht mehr zu sehen. Um sie herum herrschte eine beinahe gespenstische Stille, die selbst dann noch präsent war, als Zion laut ihre Befehle ausrief und die Teams koordinierte. Selbst der Wind wehte nicht mehr. Sakurako wirkte ein wenig beunruhigt und wandte sich an Shin, der mit einem ernsten Blick in die Ferne sah. „Alles ist still. Das ist kein gutes Zeichen.“ „Wir müssen auf die Stärken der Menschen vertrauen. Wenn der Wille stark genug ist, dann ist ein Einzelner zu Übermenschlichem fähig. Diese Nacht wird lang… heute werden viele Entscheidungen fallen. Tun wir, was wir tun können.“ Die Asiatin nickte, schien aber noch ein wenig beunruhigt zu sein und sie zupfte ein wenig nervös an ihrem Obi. Dann sah sie zu Beyond, L und Delta. Als sie die drei sah, wie sie sich wild entschlossen auf die Schlacht vorbereiteten, da wuchs auch ihr Mut. „Ja, tun wir unser Möglichstes.“ „Nur Mut Sakurako. Du hast lange und hart trainiert und ich vertraue dir genauso wie Seimei dir vertraut. Und jetzt…“ Shin sprach den Satz nicht zu Ende, denn seine scharfen Adleraugen registrierten eine Gestalt in der Finsternis, die vom Institut her auf sie zugeeilt kam. Er ging zu Seimei, der ebenfalls diesen bewegenden Schatten sah. „Trügen mich meine Augen, oder ist es…“ „Du hast richtig gesehen, Bruder.“ Die beiden gingen zusammen mit Zion und Thomas auf den Schatten zu, der sich im Lichte der Scheinwerfer als niemand anderes entpuppte als Naomi Misora. Sie wirkte ein wenig abgehetzt und offenbar glaubte sie zunächst, dass die Leute mit den vier Panzern und den Fahrzeugen zu den Soldaten des Instituts gehörten. Da sie wegen dem grellen Licht nichts sehen konnte, machte sie kehrt und wollte weglaufen, doch da war Seimei schneller und ergriff sie an der Hand. „Sie sind in Sicherheit, Frau Misora. Wir arbeiten zusammen mit L und Beyond Birthday.“ „Ta… Ta… ya…“ Sie brachte nur Gestammel hervor und die Tränen wurden zu Sturzbächen. Bei ihrer Flucht musste sie furchtbare Ängste durchgestanden haben oder aber etwas anderes machte ihr große Sorgen, dass es sie aus der Fassung brachte. Nur mit Mühe gelang es ihr, Worte zu finden und zusammenhängende Sätze zu sprechen. Sie fiel auf die Knie und weinte wie ein kleines Kind. „Sie haben Takuya. Henry wird ihn umbringen! Bitte, ihr müsst ihm helfen! Ihr müsst Takuya retten.“ Schließlich trafen auch L, Beyond und Delta ein und der Zustand, in dem sich Naomi befand, gefiel ihnen ganz und gar nicht. Sie hatte entsetzliche Angst. „Keine Sorge, wir werden Takuya retten.“ „Ist Alpha ebenfalls da drin?“ fragte Delta, den die Verfassung der suspendierten FBI Agentin offenbar völlig kalt ließ. Sie nickte und wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch weg. „Ja. Ich glaube… er war es auch, der mich befreit hat. Ich weiß nicht warum, aber er hat mir gesagt, ich solle fliehen, solange es noch geht. Henry hat ihn manipuliert. Er hat ihn mit Elektroschocktherapien gefügig gemacht und er will…“ „Wir werden uns schon darum kümmern.“ Wieder blitzte etwas Seltsames in Deltas Augen auf und L war sich dieses Mal sicher. Delta wusste etwas, das sonst keiner wusste. Er kannte die Antwort und er kannte sie schon seit diese ganze Scheiße angefangen hatte. Und doch hatte er L nichts davon gesagt, nicht einmal den anderen verlorenen Kindern, geschweige denn Watari. Er hatte gewusst, dass Andrew mit Stromstößen manipuliert worden war und so wie er aussah, wusste er auch, dass da noch etwas war, wovon nicht mal Naomi etwas wusste. „Es wird Zeit, dass wir die Sache ein für alle Male zu Ende bringen.“ Kapitel 9: Andrews Befreiung, Lambdas Erwachen ---------------------------------------------- Die Teams hatten ihre Positionen eingenommen und machten sich bereit für die bevorstehende Schlacht. Naomi, die noch völlig aufgelöst war, wurde vom Versorgungsteam betreut und bekam Beruhigungsmittel. Sakurako und Shin hatten ihr Team auf verstecktem Umwege vorbeigeführt und wollten auf geheimem Wege ins Institut eindringen. Doch sie mussten damit rechnen, dass auch dort ein ganzes Bataillon auf sie wartete, um sie mit einer Gewehrsalve in Empfang zu nehmen. Darum würden Shin und Sakurako zuerst vorgehen und den Weg frei machen. Von dort aus würden sich die Teams trennen. Lautlos wie Schatten schlichen sie vorwärts und erreichten den Hochspannungszaun, der sie vom Innenhof her trennte. Zu ihrem Erstaunen war er außer Betrieb, offenbar hatte ihn jemand abgeschaltet, damit Naomi fliehen konnte. Wahrscheinlich war es Andrew gewesen, der sich offenbar dem Einfluss Henrys entziehen konnte, um ihr zu helfen. Naomi hatte gesagt, dass Andrew schon seit seiner Zeit in der Arroway Psychiatrie „bearbeitet“ worden war, was also bedeutete, dass das von ihm begonnene Todesspiel wohl auf Henry Lawliets Mist gewachsen war. Aber inwiefern hing Andrew selbst in dieser Sache mit drin? Delta wusste wahrscheinlich die Antwort auf diese Frage, doch er würde sie nicht nennen, zumindest noch nicht. Er wartete auf den perfekten Zeitpunkt. Als in der Ferne die ersten Schüsse fielen, eilten Shin und Sakurako zum Zaun und die mit Schwertern bewaffnete Asiatin schnitt ein sauberes Loch hinein. Durch diesen gelangten sie in den Innenhof, wo bereits die ersten Soldaten auf sie zukamen und das Feuer eröffneten. Sakurako führte ihre Schwerter wie ihre eigenen Arme und zerschnitt die Kugeln im Fluge oder ließ sie von der Klinge einfach abprallen. Shin seinerseits bediente sich einer Pistole und konzentrierte sich darauf, seinen Gegnern die Waffen aus den Händen zu schießen und sie niederzuschlagen. L und Beyond kamen kaum hinterher und Delta folgte zu allerletzt, da der Kimono wohl nicht fürs Laufen geeignet zu sein schien. Sie sahen staunend zu, wie Sakurako wie ein Blatt im Wind tanzte und ihre Schwerter schwang. Binnen weniger Sekunden hatte sie alle in ihrer Nähe niedergerungen und konzentrierte sich darauf, Beyond, L und Delta vor Angreifern zu schützen, während Shin sich nach vorne zur Tür kämpfte. Beyond und L kamen gar nicht dazu, ihre Pistolen zu ziehen. Die Asiatin war einfach zu schnell. Und wie wunderschön sie aussah, während sie „tanzte“. Es war ein Tanz der Klingen, der normalerweise in einem blutigen Gemetzel endete, hier aber viel reiner und unbefleckter war. Kaum ein Angreifer ließ sein Leben, nur als einer wieder zur Waffe griff und nur ihr Haar streifte während er schrie „Verdammte Japse!“ Dabei verzog sie nicht mal die Miene und das Blut berührte nicht einmal ihren Kimono, als sie sein Herz durchbohrte. Im Licht der Scheinwerfer leuchtete das Blut auf ihrer Klinge wie kleine Rubine auf poliertem Silber. Etwas Schöneres in dieser Richtung hatte Beyond noch nie gesehen und er war fasziniert von diesem Anblick. Als schließlich die erste Welle niedergerungen war, brachen sie die Sicherheitstür auf etwas unkonventionelle Weise (nämlich durch das Zersäbeln eben jener Tür) und verschafften sich somit Zutritt. Drinnen war alles durch Neonröhren erhellt, die ein kränklich gelbes Licht von sich gaben und das Innere des Gebäudes hatte nicht wenig Ähnlichkeiten mit dem Spiel SCP Containment Breach, wie Beyond auffiel. Sie teilten sich an einer Gabelung auf und während Beyond und Shin den rechten Weg nahmen, schlugen Sakurako, Delta und L den anderen Weg ein. Sie legten ein unglaubliches Tempo an den Tag und L, der eigentlich ziemlich sportlich war, geriet schon leicht aus der Puste. Aber sie mussten sich beeilen, denn Takuyas Leben war in höchster Gefahr und es stand auch zur Befürchtung, dass Henry Lawliet flüchtete und ihnen durch die Lappen ging. Es wurde geschossen und sofort gingen sie in Deckung. L erwiderte das Feuer und tatsächlich traf er einen Soldaten am Arm, sodass dieser seine Waffe fallen ließ. Doch es gab noch drei weitere, die aus der Deckung heraus auf sie schossen und auch hinter ihnen hatten die Soldaten zu schießen begonnen. Sakurako blickte auf die Neonröhren und schien einen Plan zu haben. „Wenn die Lichter ausgehen, setzt eure Nachtsichtgeräte ein.“ Damit trat die Japanerin hervor und mit verheerenden Schwerhieben zerstörte sie die Deckenbeleuchtung, die wütend aufzischte und Funken spuckte. Eine Röhre nach der anderen zerbrach unter den Schnitten des Schwertes und sorgte für einen Kurzschluss, durch den alle ausfielen. Sofort setzten L und Delta die Nachtsichtgeräte auf und folgten der jungen Frau. An der Sammlungshalle angekommen, verriegelten sie sofort die Tür um zu verhindern, dass noch mehr Soldaten kommen würden. Zielstrebig lief Sakurako die Gänge ab und wehrte jeden Angriff ab, der von vorne erfolgte. L und Delta kümmerten sich um die Angreifer von hinten. Wie sich herausstellte, hatte Delta unter seiner Kleidung ein wahres Waffenarsenal. Er hatte kleine Wurfmesser in seinen Ärmeln versteckt und traf jeden der Soldaten exakt in die Stirn. Es waren so saubere und perfekte Treffer, die er mit solch einer Leichtigkeit ausführte, als wäre es das einfachste in der Welt. Schließlich holte Delta eine kleine Kugel mit einer Lunte hervor, zündete diese an und warf sie in die Richtung der Soldaten, die auf sie zurannten. Ein lauter Knall ertönte und Rauch breitete sich aus. „Was sind das für Dinger?“ „Das sind kleine Rauchbomben, die ich selbst gebastelt habe. Sie stinken und brennen in den Augen, das sollte uns etwas Zeit verschaffen, um sie abzuhängen.“ Als ein Soldat von der Seite auf sie zurannte und ganz offensichtlich L attackieren wollte, stieß Delta ihm gezielt Zeige- und Mittelfinger in die Kehle und knockte ihn aus. L kannte diesen Schlag und er war froh, dass dieser nicht ihm gegolten hatte. Wenn man nämlich auf die Halsschlagader traf, dann konnte es im schlimmsten Fall zum sofortigen Tod führen. „Besser wir beeilen uns. Es werden immer mehr.“ Sie bogen in einem Gang ab und hatten eigentlich fast das Büro von Henry Lawliet erreicht, da sahen sie plötzlich Andrew, der sie ausdruckslos anstarrte. Als hätte er auf sie gewartet. „Alpha!“ rief Delta und beschleunigte plötzlich seine Schritte, wo er doch zuvor so getrödelt hatte. Aber Andrew lächelte nur kalt, wandte sich ab und lief davon. „Los! Ihm nach!“ Delta schaffte es nun endlich, mit Sakurako Schritt zu halten und so folgten sie dem Flüchtigen bis er schließlich ein Treppenhaus erreichte und damit ins Kellergeschoss eilte. Irgendwie hatte L ein mieses Gefühl bei der Sache. Es war sicher eine Falle. Aber Delta war gar nicht mehr aufzuhalten. Er flog die Treppen regelrecht runter und schließlich erreichten sie eine schwere Stahltür, die sperrangelweit offen stand. „Wartet“ rief Sakurako und hielt die beiden zurück. „Wenn wir blindlings losrennen, dann tappen wir womöglich in eine Falle. Wir sollten…“ aber L und Delta hörten ihr nicht zu. Sie wussten, um was für einen Raum sich das hier handelte, denn der Gestank allein, der aus ihm herausströmte, kam ihnen mehr als vertraut vor. Vor allem Delta. Es war die Arena des Saarne Instituts. Das verriet ihnen der Geruch von Blut und Tod, mit dem dieser Raum erfüllt war. „Sakurako, ab hier werden wir alleine übernehmen. Die anderen werden deine Hilfe sicherlich mehr benötigen. Wir kommen schon klar.“ Damit betraten sie den Raum und bereiteten sich auf ihren bevorstehenden Kampf vor. „Ich hätte nie gedacht, dass ich noch mal hier rein müsste“, murmelte Delta und seine Miene wurde ernst. „Und in solchen Momenten könnte ich was Hochprozentiges vertragen.“ Die Arena war groß, besaß keine Tribünen und sah aus wie die Bühne eines Kolosseums, nur mit der Ausnahme, dass der Boden aus Beton war. Andrew stand in der Mitte, allein und er hatte eine Pistole in der Hand. Versteckmöglichkeiten gab es hier keine, nur freie Fläche und das war das Verheerende an der Arena. Nirgendwo konnte man sich verstecken, hier war man schutzlos ausgeliefert. Die Tür hinter ihnen fiel zu und Delta zog seinen Fächer. „Sag schon, wo ist Henry?“ Aus einer dunklen Ecke trat Henry Lawliet hervor. Äußerlich sah er L wirklich fast wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Nur zierte sein Gesicht eine hässliche Narbe und eine schwarze Augenklappe. Auch sein Haar wies graue Strähnen auf und er hatte etwas von einem Wolf, das sah man sofort. Er lächelte L und Delta eiskalt an. „Willkommen in der Arena, zur letzten Schlacht.“ „Spar dir diese fadenscheinige Begrüßung, Henry“ rief Delta und stellte sich vor L. „Dass du dich hier aufhältst, obwohl die Widerstandsgruppe längst das Gebäude stürmt, ist doch mehr als verdächtig. Und dass du niemanden außer Alpha an deiner Seite hast, zeigt doch, dass du einen letzten Trumpf im Ärmel hast. Sag schon, was hast du vor?“ „Für ein wertloses Versuchsobjekt bist du nicht auf den Kopf gefallen, Delta-PM-093. Tatsächlich habe ich noch eine Geheimwaffe in der Hinterhand die, wenn sie erst einmal in Aktion tritt, nicht nur euch sondern auch den gesamten Widerstand in die Knie zwingen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Delta sah abwechselnd zu L, Andrew und Henry und jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. Er war bereit, sofort zuzuschlagen, sollte jemand angreifen. „Die ultimative Waffe, das Armageddon Projekt von Alice Wammy befindet sich in der Arena, nehme ich richtig an? Und dass wir hier sind, bedeutet, dass du diese Waffe nicht nur reaktivieren sondern auch testen willst. Und da ich sehe, dass Alphas Augen ihre Farbe gewechselt haben, bedeutet es, dass seine Kraft entfesselt wurde.“ „Welche Kraft?“ „Alpha ist hochintelligent und seine Gehirnleistung übersteigt die eines normalen Lebewesens. Sie ist tausend Mal höher als die, eines Menschen und dies befähigt ihn dazu, unsere Gedanken zu lesen aber auch, Elektrizität über seine Nervenbahnen zu leiten und sie freizusetzen. Mit anderen Worten: Er weiß, was wir denken und kann uns gut und gerne bis zu 10.000 Volt durch den Körper jagen.“ L wurde fast schwindelig als er das hörte. Andrew war schon in der Vergangenheit intelligenzmäßig stärker als L und jetzt sollte dies nur ein Bruchteil seiner Fähigkeiten sein? Das konnte ja noch heiter werden. Henry lachte spöttisch und fixierte Delta. „Ich hoffe, dir gefällt die Kulisse, Delta. Es ist ja schon fast 21 Jahre her, als ich dich drei Male in die Arena geschickt habe. Wie hat es sich eigentlich angefühlt, deine „Geschwister“, die du um jeden Preis beschützen wolltest, zu töten?“ Deltas Miene verfinsterte sich immer mehr und purer Hass funkelte in seinen Augen. Henry wollte ihn offenbar provozieren und dann Andrew dazu bringen, ihn zu töten. „Du wirst für deine Verbrechen bezahlen, Henry! Hier und heute wird es zu Ende gehen und ich werde sicher nicht verlieren!“ Delta nahm eine der Schwertnadeln aus seinem Haar und schleuderte sie in Henry Lawliets Richtung. Die messerscharfe Spitze zielte direkt auf sein Herz, doch Andrew war schneller und blockierte den Angriff ab. L sah, dass kein Weg an Henry heranführte, solange Andrew da war. Er würde ihn mit seinem Körper beschützen und das hieß, sie mussten erst an Andrew vorbei. Dieser wirkte ein wenig abwesend, sein Blick war leer und glasig, als wäre er nicht ganz bei Sinnen. Doch kaum wanderten seine Augen zu L, da erfüllte sie ein Glanz, der voller Zorn war. Er war nur noch von Rache und Hass getrieben und er würde L massakrieren, wenn er ihn zu fassen bekam. Denn er sah aus irgendeinem Grund den Mörder seiner Mutter in ihn. „Delta, warum schützt du diesen Verräter? Erklär mir das!!“ „Ich werde dich nicht darin unterstützen, Henrys Arsch zu retten und die Waffe zu reaktivieren. Du bist nicht ganz bei Sinnen Alpha und wenn nötig, dann prügel ich dir den Verstand wieder ein!“ „Dann stirbst du ebenfalls, zusammen mit diesem Verräter da!“ Das war wirklich nicht mehr Andrew, auch wenn er wie dieser aussah. Es war eine rasende Bestie, die nicht mehr imstande war, Freund und Feind auseinander zu halten, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Zorn zerfraß seinen Verstand. Delta öffnete seinen Fächer und machte einen halben Schritt zurück, um sich auf den bevorstehenden Angriff vorzubereiten. „Lambda, du bleibst hinter mir und tust nichts, egal was auch passiert. Vertrau mir!“ Vertrauen? Ausgerechnet jemandem wie Delta sollte er vertrauen? Ihm, der immer Geheimnisse hatte und nie seine wahren Absichten verriet? Das war doch glatter Schwachsinn, doch dann hörte L in seinem Kopf die vertraute Stimme von Xi alias Takuya, die zu ihm sprach. „Tu was Delta sagt. Er weiß, was er tut!“ „Was hat er vor?“ „Ich weiß es nicht, aber er wird das Richtige tun.“ Delta zog keine Waffe, er hatte nur seinen Fächer und das schien Andrew nicht gerade zu beeindrucken. Er zielte auf seinen Körper und schoss. L’s Augen weiteten sich entsetzt und er rief „Delta!!“ doch er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Vor seinem inneren Auge sah er Delta blutend zu Boden stürzen… tot und wie sein schöner Kimono dunkelrot besudelt wurde. Aber Delta fiel nicht, er stand wie ein Fels in der Brandung und hatte seinen Fächer wie einen Schutzschild vor seinem Körper gehalten. Erst jetzt sah L die Innenseite dieses Fächers und erkannte, dass das Innenleben aus Metall war. Deltas Fächer war eine versteckte Waffe. Andrew, der davon ausging, er habe ihn verfehlt, schoss noch mal, doch Delta wehrte jede der Kugeln mit dem Fächer ab und lief dann auf ihn zu. Er war schnell, verdammt schnell und kaum war er nah genug, da schloss er seinen Fächer und schlug ihn auf Andrews Handrücken und dann auf seinen Arm, sodass dieser die Pistole fallen ließ. Mit der anderen Hand zog Andrew ein Messer, doch bevor er dazu kam, es auch einzusetzen, ließ Delta die Klinge zwischen den Falten des Fächers verschwinden, drehte Andrew somit die Klinge aus der Hand und schlug ihm dann gegen den Kopf. Andrew taumelte zurück, doch Delta zögerte, ihn noch mal anzugreifen. Henry schien seinerseits diese Show zu genießen. „Für ein minderwertiges Versuchsobjekt schlägst du dich gut, Delta. Du scheinst die Fächerkampfkunst gut zu beherrschen.“ „Tja, ich habe während meiner Zeit im Bordell viel gelernt.“ „Und doch zögerst du, Alpha ernsthaft zu verletzen. Eine wirklich fatale Schwäche von dir und deshalb wirst du auch immer ein missratenes Versuchskarnickel bleiben. Dabei hatte ich gehofft, dass aus dir ein besseres Werkzeug wird, wenn ich schon Kaedes DNA nehme.“ Kaede? Meinte er damit etwa… L machte einen Schritt auf seinen Vater zu und fragte „Soll das heißen, dass Delta Teile der DNA meiner leiblichen Mutter in sich trägt?“ „Natürlich, irgendwo muss doch das ganze Material her. Studien haben gezeigt, dass vollständig künstliche Menschen bei weitem nicht so vital und widerstandsfähig sind wie richtige Menschen. Die Humanoiden entwickeln sehr oft körperliche Gebrechen oder haben schwächliche Konstitutionen. Deshalb sollten die größten Meisterwerke auch meine Abkömmlinge sein.“ Angewidert verzog Delta das Gesicht. „Allein die Vorstellung, ich trage die DNA eines solchen Widerlings, ist krank. Dann ist Alpha auch damit gestraft?“ „Natürlich. Die roten Haare hat er allerdings von seiner Mutter.“ Andrew, der offenbar Henry gar nicht zugehört hatte, ging wieder zum Angriff und wollte Delta offenbar mit bloßen Fäusten niederringen. Da Delta befürchten musste, einen elektrischen Schlag zu bekommen, falls er getroffen würde, ließ er seinen Fächer fallen und holte dafür zwei andere, die an den Außenseiten mit Gummi gepolstert waren. Er war wirklich auf jede Eventualität vorbereitet. Beide kämpften verbissen und Andrew machte es Delta wirklich nicht leicht. Sein Tempo hatte enorm zugenommen und auch seine Reaktion war schneller als gewöhnlich. Es musste daran liegen, dass sein Gehirn die elektrischen Impulse in den Nervenbahnen verstärkte. Somit war es ihm auch möglich, viel schneller zu reagieren oder kräftiger zuzuschlagen. Immer mehr drängte Andrew Delta in die Enge. „Delta, pass auf!“ Delta wehrte jeden erdenklichen Angriff ab, indem er seine Stahlfächer auf Andrews Arme schlug oder sie ihm in die Brust oder die Schulter stieß. Deltas Strategie war es, mit wenigen Angriffen größtmöglichen Schaden zu verursachen, um Andrews Beweglichkeit einzuschränken. Schließlich machte Delta einen Satz nach vorne, setzte einen Fuß auf Andrews Brust und sprang schließlich über ihn hinweg. Noch im Sprung machte er eine Drehung und ergriff Andrew schließlich am Kragen. Noch während er wieder landete, holte er aus seinem Kimono den Rosenkranz von Alice Wammy heraus und brach das kleine Holzkreuz auf. Hinter der Holzverkleidung kam eine Art kleines Metallgehäuse mit einer spitzen Nadel zum Vorschein. Delta hielt den Rosenkranz hoch erhoben, drückte Andrew mit aller Gewalt zu Boden und drückte seinen Kopf nach unten, während er ihn an den Haaren festhielt. Dann stieß er zu und stach ihm die Nadel in den Hinterkopf. Andrew schrie zunächst auf, doch dann verlor er sofort das Bewusstsein und blieb regungslos auf dem Boden liegen. „Delta! Was hast du…“ rief L und rannte auf die beiden zu, doch Delta hielt ihn zurück. Mit einem heimtückischen Lächeln sah er Henry an. „Das Spiel ist aus, Henry. Du wirst Alpha nicht mehr als deine Marionette benutzen können. Ich habe den Chip deaktiviert.“ L blieb stehen und verstand nicht wirklich, wovon Delta da sprach. Von was für einen Chip war hier denn die Rede? Henry, sein Vater schien jedenfalls ziemlich sauer zu sein. „Wovon redest du, Delta?“ „Alpha trug seit Jahren einen Mikrochip, den dein Vater ihm in sein Gehirn eingepflanzt hat. Der Chip steuert seine Emotionen, seine Gedanken und hat ihn zu der hasserfüllten, mordlüsternen Bestie gemacht, die er bis gerade eben war. Mutter, Alice Wammy, hatte nicht mehr die Gelegenheit dazu gehabt, den Chip zu entfernen und leider ließ er sich auch nicht herausoperieren, da sonst ein tödlicher Stromstoß in den Körper geschickt worden wäre. Der Chip ließ sich allein mit diesem kleinen Gerät hier deaktivieren, ohne Alpha zu töten oder ernsthaft zu verletzen. Allerdings hatte ich jahrelang keine Ahnung, wo dieses verdammte Ding steckte, bis du es in deinem Besitz hattest.“ „Woher wusstest du, dass es im Kreuz des Rosenkranzes war?“ „Ich habe Mutters Dokumente sehr gründlich studiert.“ „Und warum hast du bis jetzt darüber geschwiegen?“ „Hätte der Schmierlappen da gemerkt, dass ich Bescheid weiß, hätte er Alpha Amok laufen lassen oder sogar getötet. Das wollte ich nicht riskieren. Und außerdem wollte ich beobachten, welche Auswirkungen dieser gottverdammte Chip hat.“ „Du… du hast es die ganze Zeit über gewusst?“ knurrte Henry und ballte die Hände zu Fäusten. Es war sein Fehler gewesen, Delta so zu unterschätzen. Dieser abgebrühte Kimonoträger war die ganze Zeit im Bilde darüber, was mit Andrew los war und hatte ihn glauben lassen, er selbst sei nur ein gescheitertes Experiment, das sich in Hurenhäusern herumtrieb. Tatsächlich verfolgte dieser Mistkerl Delta seit Jahren das Ziel, den Rosenkranz zu finden, um den Mikrochip zu deaktivieren, der Andrew steuerte. Aber woher sollte er so etwas wissen? Irgendwoher musste er diese verdammte Information haben. „Woher zum Teufel weißt du von dem Chip?“ „Mutter hat mir die Aufgabe vermacht, Alpha zu befreien. Denn immerhin bin ich der Träger des Schicksals und ich will, dass Alpha genauso frei ist, wie wir. Frei von dir, du Mistkerl!“ Delta drehte Andrew vorsichtig auf den Rücken und überprüfte, ob er noch lebte. Er atmete noch aber es würde dauern, bis er wieder bei Bewusstsein war. Der Schlag auf den Kopf hatte es in sich gehabt! Doch entgegen dieser Vermutung öffnete Andrew langsam die Augen und zu Deltas und L’s Erleichterung hatten seine Augen wieder ein braun angenommen. Langsam setzte er sich auf und hatte anscheinend Mühe sich daran zu erinnern, wo er war. „Delta… Lambda… was… was ist passiert? Ich… ich kann mich erinnern, dass ich gegen dich gekämpft habe, Delta aber… das war nicht ich. Das war…“ „Henry hat dich jahrelang mit einem implantierten Mikrochip manipuliert und dich nicht nur gezwungen, die Bomben zu zünden, sondern auch unsere Geschwister aufzuhetzen.“ Andrew schien völlig orientierungslos und verwirrt zu sein und er legte eine Hand auf die Stelle, in die Delta die Nadel gerammt hatte. Er zuckte, als er die kleine Wunde ertastete und ein unangenehmer Schmerz durch den Kopf fuhr. Er sah das Blut an seiner Hand und langsam kehrte sein Gedächtnis wieder. Die Bomben… das Spiel gegen Beyond… das Massaker in der Woodley Psychiatrie… die Hetzrede beim Geschwistertreff. Andrews Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ihm klar wurde, was er da eigentlich angerichtet hatte und er sah zu L. Er erinnerte sich an damals. Er hatte L niedergestochen und Beyond gezwungen, ihm die Kehle durchzuschneiden, was dieser aber nicht konnte. Er hatte sie gegeneinander aufgehetzt und er hätte beinahe Fear und Anne getötet, hätte L ihn nicht dingfest genommen. Und noch schlimmere Bilder schossen ihm durch den Kopf. Der Mord an Roger und Watari, das brennende Waisenhaus. Die vielen Kinder, die in den Flammen umgekommen waren. „Oh Gott“ murmelte er und raufte sich die Haare. Er wurde blass und in seinen Augen sammelten sich Tränen. „Was habe ich nur getan…“ Delta stand wieder auf und sah Henry mit böse funkelnden Augen an. „Du wirst für diese Schandtaten bezahlen, Henry.“ Doch anstatt, dass Henry Lawliet die Nerven verlor, lachte er verächtlich und holte eine merkwürdig aussehende Pistole hervor, richtete sie auf L und feuerte ab. Es war aber keine Kugel, die ihn traf, sondern eine Art Betäubungspfeil. „Solange ich über die ultimative Waffe verfüge, werde ich nicht verlieren.“ Delta ahnte Böses und entfernte sofort den Pfeil aus L’s Hals, doch leider war ein Teil der trübgelben Flüssigkeit in seine Adern gelangt. „Was ist das?“ „Ich werde ihm helfen, sich zu erinnern. An den Tag, an dem er eure so geliebte Mutter umgebracht hat.“ Etwas in L schien sich zu regen, das spürten sie alle. Mit einem Male war die Luft wie elektrisiert, schwer und der Boden schien sogar leicht zu vibrieren. Delta wich von L zurück und stellte sich schützend vor Andrew. Ein verborgener Glanz leuchtete in L’s Augen und er begann laut zu schreien. Henry lachte überlegen und genoss die Entwicklung. „Ja mein Sohn, erinnere dich an damals, als deine wahre Kraft entfesselt wurde. Erinnere dich, wie du Alice Wammy getötet und mir mein Auge genommen hast!“ „Delta, was passiert hier?“ „Lambda ist die ultimative Waffe, das Armageddon Projekt, welches Mutter geleitet hat. Offenbar denkt Henry, er kann sie auch ohne die 26 Träger reaktivieren, indem er seine verdrängte Erinnerung zurückholt.“ L schrie und wand sich vor Schmerzen. Seine Finger, die nun mehr an Krallen erinnerten, krallten sich in den Boden und sein Gesicht verzerrte sich zu einer monströsen Fratze. Eine unglaubliche Druckwelle wurde freigesetzt, die sie alle von den Füßen riss. L’s Schmerzensschreie wurden zu welchen, die mehr an tierische Laute erinnerten. Das Monster in L begann zu erwachen. Kapitel 10: Ich bin nicht wertlos! ---------------------------------- Delta zerrte Andrew auf die Beine und ging mit ihm mehrere Schritte von L zurück. Diese Entwicklung gefiel ihm ganz und gar nicht. Wenn L wirklich das Armageddon Projekt war, dann musste er sofort aufgehalten werden. Aber wie sollten sie das anstellen? Töten kam nicht infrage. L war einer von ihnen, ein verlorenes Kind aber wenn er außer Kontrolle geriet, dann war er eine Bedrohung für sie alle. Und es war kaum auszudenken, was passierte, wenn er auch noch Henry gehorchte. Inzwischen hatten L’s Augen ein leuchtendes Gelb angenommen und er wirkte nun mehr tierisch als menschlich. Henry lachte triumphierend. „Eure Kraft ist nichts im Vergleich zu den meines eigenen Fleisch und Blutes. Bloß durch seine Gedankenkraft kann er einem Menschen die Knochen brechen wie Streichhölzer. Er braucht euch nur anzusehen, um euch zu töten. Alice hat geglaubt gehabt, sie könnte seine Kraft mit der Hilfe der Träger verschließen aber es braucht nur die Erinnerung an seine wahre Kraft, um das Monster in ihn zu wecken. Los Lambda, töte sie! Auf der Stelle!“ Diese mörderischen Augen fixierten Andrew. Dieses Wesen suchte sich rein instinktiv das schwächste Glied der Kette aus und das war momentan Andrew. Delta griff in seinen Ärmel und warf Andrew eine Pistole zu. „Besser, du hast etwas, um dich zu verteidigen. Ich kümmere mich um unseren Pseudo-Hulk.“ Delta nahm seine Fächer und wartete auf den ersten Angriff. Er wusste, dass Lambda mit den Fähigkeiten der 26 Träger ausgestattet war, mit der Ausnahme von Eta und Theta. Folglich konnte er Gedanken lesen, aber wenigstens konnte Takuya helfen, eine Blockade zu errichten. Diesen Trick hatte er auch schon im Kampf gegen Alpha eingesetzt, um ihn aufzuhalten. Trotzdem durfte er dieses Monster nicht unterschätzen. Lambda gab ein knurrendes Geräusch von sich und hechtete auf Andrew zu. Delta stellte sich in den Weg und stieß ihm den Fächer in die Brust, doch es zeigte keine Wirkung bei ihm. Stattdessen schlug er nach Delta und die Kraft war so ungeheuer, dass selbst er es nicht abblocken konnte. Die Wucht des Schlages schleuderte ihn ein paar Meter weg, doch er schaffte es noch, sich abzurollen und sofort wieder auf die Beine zu kommen. Rohe Gewalt wirkte also nicht. Dann eben etwas anderes. Delta griff in sein Haar und nahm die Schwertnadeln, welche er in Lambdas Richtung schleuderte. Sie waren rasiermesserscharf und würden tiefe Wunden reißen. Ihm blieb also nur, den Klingen auszuweichen. Doch er wich nicht aus, er fing die im Flug einfach ab und warf sie auf Delta zurück. Dieser schaffte es ebenfalls, die Schwertnadeln aufzufangen und steckte sie wieder zurück, dafür holte er noch eine selbstgebastelte Granate hervor, zog die kleine Schnur und warf sie auf ihn. Sie explodierte mit einem lauten Knall und eine Rauchwolke entstand. Andrew, der erst vor Schreck erstarrt war, sprang nun auf und rannte auf Henry zu. Offensichtlich hatte er vor, ihn in die Mangel zu nehmen. „Nein Alpha!“ rief Delta und versuchte ihn einzuholen, doch Lambda war schneller und bekam Andrew an der Kehle zu packen. Er hob ihn hoch und drückte immer weiter zu. Andrew machte nicht einmal Anstalten, sich zu befreien. Warum nur wehrte er sich nicht? Wollte er etwa sterben? Das schien auch den wild gewordenen L zu verwirren. „Warum wehrst du dich nicht?“ „Ich habe… nicht das Recht… dazu. Es tut mir Leid, dass es so weit kommen musste. Es tut mir alles so furchtbar Leid.“ „Zwecklos“ kommentierte Henry kalt und schüttelte verächtlich den Kopf. „Deine tränenreichen Worte werden ihn nicht mehr zurückverwandeln. Dieser Zustand ist endgültig. Es gibt L nicht mehr, sondern nur noch Lambda, die ultimative Kriegsmaschine.“ Doch Henry schien vergessen zu haben, dass es eine vierte Person im Raum gab. Eine, die er weder sehen noch greifen konnte. Sie war körperlich auch nicht anwesend und doch war sie da. Takuya drang in seinen Kopf ein. Er wusste im Gegensatz zu Henry, dass L sich nicht völlig verdrängen ließ. Er war immer noch da. Tief in seinem Inneren gab es noch einen Teil von ihm, doch er war schwach, sehr schwach. Und er wusste auch, wo er ihn finden konnte: Im Gefängnis seiner eigenen Erinnerungen. Takuya durchbrach die Blockaden seines Unterbewusstseins und fand sich schließlich in einem Auto wieder. Am Steuer saß seine „Mutter“ oder zumindest ihr Abbild und L saß neben ihr. Er hatte einen leichten schwarzen Haaransatz, war abgemagert und sah kränklich und schwach aus. Das war kein Abbild, das war er selbst. Sein bewusster Teil hatte sich mit der Erinnerung verschmolzen und er lebte jetzt in seiner eigenen Welt. Wahrscheinlich wusste er noch nicht einmal, dass dies lediglich eine Erinnerung war. Wenn er sich dessen nicht bewusst wurde, dann konnte Takuya ihm nicht helfen. Irgendwie musste er L helfen, mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden. „Mama, wo gehen wir denn hin?“ „Weit weg mein Schatz, da wo wir sicher sind. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Takuya saß auf der Rückbank und beobachtete die beiden. Er wusste, dass L ihn nicht sehen konnte, zumindest noch nicht. Noch war es zu früh, um einzugreifen. Außerdem wollte er wissen, was damals wirklich passiert war. Plötzlich tauchten von allen Seiten gepanzerte Wagen auf und nahmen ihnen jegliche Fluchtmöglichkeiten. Alice war gezwungen, den Wagen anzuhalten und sie holte eine Pistole hervor. Takuya sah aus dem Fenster und stellte fest, dass überall schwer bewaffnete Soldaten standen und den Wagen im Visier hatten. Und vorne stand Henry Lawliet, noch in seinen jungen Jahren (und man sah, dass L ihm wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten war) und rief durch ein Megafon, dass sie beide aussteigen sollten, da sonst das Feuer eröffnet würde. Der kleine 5-jährige L ergriff angsterfüllt ihren Arm und sah sie mit seinen großen, schwarzen Augen an. „Mama, ich will nicht raus.“ „Keine Angst, ich pass auf dich auf. Es wird alles gut werden.“ Sie stiegen aus, Takuya folgte ihnen und Alice hatte L an die Hand genommen. Henry Lawliet kam auf sie zu. „Sei nicht dumm Alice und gib ihn mir wieder. Selbst mit den 26 Trägern kannst du ihn nicht unter Kontrolle halten.“ „Das kannst du dir abschminken Henry. Ich lasse nicht zu, dass du ihn einsperrst oder ihn für deine miesen Zwecke missbrauchst.“ „Mama…“ „Er ist mein Fleisch und Blut und damit mein Eigentum. Und ich lasse mir nicht gerne mein Eigentum wegnehmen. Gib ihn mir und ich lasse dich mit einem blauen Auge davonkommen.“ „Auf deine Lügen falle ich nicht herein. Du wirst mich so oder so umbringen.“ Und damit richtete Alice ihre Pistole auf ihn. „Und wenn ich schon in die Hölle komme für meine Verbrechen, dann nehme ich dich gleich mit!“ Alle Waffen wurden auf sie gerichtet, doch Alice schoss. Zumindest wollte sie das, denn die Pistole hatte Ladehemmungen und verklemmte sich schließlich. Dies nutzten die Soldaten aus und ergriffen die beiden. Alice wurde von mehreren kräftigen Männern gepackt und brutal an der Kleidung und an den Haaren gezerrt, während der kleine L verzweifelt nach ihr rief und weinte. Die junge Frau wehrte sich nach Leibeskräften. Sie trat und biss und kratzte blutige Wunden mit ihren Fingernägeln. Wie eine Furie kämpfte sie, um L zu retten, da traf sie ein Faustschlag Henrys sie mitten ins Gesicht und schleuderte sie zu Boden. Ein kräftiger Tritt traf sie direkt in den Unterleib und stöhnend blieb sie auf dem nassen Asphalt liegen. „Du hast ganz Recht, Alice. Du wirst sterben, aber erst, nachdem ich dich lange genug bearbeitet habe. Dann wirst du nämlich den Tod wünschen. Okay Jungs, ihr wisst was zu tun ist.“ Und mit einem sadistischen Grinsen nickte er den Soldaten zu. „Besorgt es dieser Hexe auch ordentlich. Und wenn ihr genug habt, macht sie kalt.“ Als Alice hörte, was da auf sie zukam, geriet sie in Panik. Jedoch nicht, weil sie Angst vor dem hatte, was ihr bevorstand, sondern sie dachte an L. „Nein, nicht vor ihm. Lasst ihn das nicht mit ansehen! Tut ihm das nicht an!“ Sie rissen ihr die Kleider vom Leib und Alice schrie immer wieder, sie sollten L das nicht mit ansehen lassen, doch sie hörten nicht auf sie. L sah, wie sie Alice, seine „Mutter“, mit Gewalt festhielten und sich auf das Bevorstehende vorbereiteten. Er verstand nicht, was diese Leute mit ihr vorhatten aber er sah die Angst in ihren Augen und er wusste, dass sie ihr wehtun würden. Und sie taten ihr weh. Während sie über Alice herfielen, wehrte die sich nach Leibeskräften und versuchte L zu verstehen zu geben, dass er wegschauen solle, doch er reagierte gar nicht auf ihre Worte. Er war wie betäubt und starrte auf diesen entsetzlichen Anblick, der sich ihm bot. In diesem Moment legte sich ein Schalter in ihn um und sein Blick nahm etwas Blutrünstiges und Animalisches an. Seine Augen leuchteten gelb auf und er stieß einen lauten Schrei aus, gefolgt von einer Druckwelle, die alle Umstehenden von den Füßen riss. Und dann fiel er über die Männer her. Er brach ihnen das Genick, zerfetzte sie sie regelrecht in der Luft und brach ihnen die Knochen wie Streichhölzer. Zuerst attackierte er jene, die Alice angefasst hatten und schlitzte ihnen mit seinen Fingernägeln, die durch die Wandlung länger gewachsen waren, die Kehlen und Bäuche auf. Er biss und kratzte, ließ niemanden an Leben. Selbst jene, die bereits um ihr Leben rannten, verfolgte er und durchbohrte ihre Brust. Schließlich ging er auf Henry zu. Dieser erkannte die Gefahr und wollte fliehen, doch L erwischte ihn und riss ihm ein Auge aus. „Niemand“ stieß L mit krächzender Stimme hervor „Niemand tut Mama weh!“ Henry versuchte mit aller Kraft, sich die kleine Kampfbestie vom Leib zu halten, doch L war wie von Sinnen. Schließlich holte er eine Pistole heraus und schoss. Es waren keine gewöhnlichen Kugeln sondern besonders schwere, die einem gewöhnlichen Menschen den halben Schädel weggerissen hätten. Doch bei L verursachte dies bloß eine Platzwunde. Er fiel zu Boden und verlor kurzzeitig das Bewusstsein. Diese Gelegenheit nutzte Henry, um sich aus dem Staub zu machen. L, der sich von seiner Ohnmacht erholt hatte, war immer noch in Rage und er sah sich um. Dann erblickte er einen schwer verletzten Soldaten, der auf allen vieren davon kroch und zu fliehen versuchte. L sah sein angstverzerrtes Gesicht, war jedoch kaum imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste nur, dass dieser Mann einer der Kerle war, die seiner Mama wehgetan hatten und dafür musste er büßen. Mit einem wütenden Aufschrei stürmte er auf ihn zu, um auch ihn in Stücke zu reißen, da stellte sich plötzlich Alice in den Weg und bekam den tödlichen Schlag ab. L konnte es nicht mehr aufhalten, sein Arm durchbohrte ihre Brust und hinterließ ein klaffendes Loch. Alice nahm ihn in den Arm und weinte. „Bitte beruhige dich, mein Schatz. Es ist ja vorbei.“ „Mama…“ schluchzte er und begann zu weinen. Alice würgte einen Schwall aus Blut hervor, versuchte aber stark zu bleiben und strich ihm sanft über die Wange. „Es wird alles gut mein Schatz. Du brauchst keine Angst zu haben.“ L zitterte am ganzen Körper und kehrte langsam wieder in seinen normalen Zustand zurück. Als er das Ausmaß der Verwüstung ansah, begriff er, was eigentlich passiert war. Und er sah seine Mutter blutüberströmt, wie sie im Sterben lag. „Mama… es tut mir Leid. Ich wollte das nicht!“ „Hab keine Angst mein Schatz, es wird alles gut. Du musst jetzt ganz tapfer sein. Watari kommt bald um dich nach England mitzunehmen.“ „Ich will aber bei dir bleiben Mama.“ „Das geht nicht, Liebling. Aber egal was auch passiert, ich werde immer bei dir sein, auch wenn du mich dann nicht sehen kannst.“ „Nein Mama! Bitte bleib bei mir Mama!!“ Doch Alice hatte zu viel Blut verloren und sie sank leblos zusammen. Ihr Blick ging durch L hindurch und verlor jeglichen Ausdruck und Glanz. L schrie und weinte und umklammerte die Leiche von Alice, als wollte er sie nie wieder loslassen. So war das also gewesen. L wollte seine Mutter beschützen und weil sie ihn aufhalten wollte, hatte sie sich in den Weg gestellt und den tödlichen Hieb einstecken müssen. Es war ein Unfall gewesen. Takuya trat näher und kniete sich neben L hin. Dieser schluchzte und wimmerte „Es tut mir Leid…“ oder „Mama, bitte komm zurück.“ „Du hast sie nur beschützen wollen, nicht wahr?“ „Ich wollte nicht, dass sie stirbt. Sie haben ihr so sehr wehgetan….“ Takuya sah ihn mitleidsvoll an und fragte sich, wie er L am Besten wieder aufbauen konnte. Aber zumindest verstand er jetzt Andrews Worte als er sagte, L sei für den Tod der Mutter verantwortlich. Henry musste ihm die Wahrheit gesagt haben, aber warum hatte Andrew nicht direkt gesagt, L habe seine Mutter ermordet? Gab er L gar nicht die Schuld sondern nur seiner monströsen Hälfte „Lambda“? „L, du hast alles versucht, um Mama zu retten, das kann dir niemand zum Vorwurf machen. Dass sie sich in den Weg stellt, konntest du doch nicht wissen. Du hast es nicht absichtlich getan.“ „Und doch ist sie meinetwegen jetzt tot.“ L klammerte sich schluchzend an die tote Alice Wammy und vergrub sein Gesicht in ihre Brust. Takuya legte sanft eine Hand auf L’s Schulter. „Was passiert ist, das kann man nicht rückgängig machen. Das ist Fakt. Wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten, hätten wir alle vieles anders gemacht. Aber… du bist noch am Leben, genauso wie wir. Mama hätte niemals gewollt, dass wir den falschen Weg einschlagen oder uns unserem Groll ergeben. L, Mama ist gestorben, damit du leben kannst. Du darfst dieses Leben nicht wegwerfen.“ „Aber ich vermisse sie so.“ „Wir alle vermissen sie. Doch ein Teil von ihr ist immer bei uns. Solange wir uns an sie erinnern und uns an ihre Liebe und ihre Wärme erinnern, stirbt sie nicht. Wir sind ihre Kinder, ihr einziges Vermächtnis. Dank ihr leben wir in Freiheit und wir können uns unsere Zukunft frei aussuchen. Das ist ihr Geschenk an uns. Wir dürfen nicht in der Vergangenheit leben und über unsere Fehler weinen. Wir sollten nach vorne sehen!“ Langsam ließ L den Leichnam von Alice Wammy los und nahm still und in Gedanken Abschied von ihr. Kurz hörte er auf zu weinen, doch als er Takuya in den Arm nahm, da weinte er aufs Neue. „Ich will zurück…“ schluchzte er und sah seinen „Bruder“ mit seinen glänzenden schwarzen Augen an. „Ich will das beenden!“ „Okay L, ich bring dich zurück.“ Als L wieder zu Bewusstsein kam, hielt er Andrew an der Kehle gepackt und Delta stand nicht weit von ihm entfernt und redete auf beide ein. Andrew sah aus, als würde er gleich ersticken, doch er wehrte sich nicht einmal. Stattdessen vergoss er Tränen der Reue, weil er sich die Schuld an dieser vertrackten Situation gab. Sofort ließ L ihn los und wich einen Schritt vor ihm zurück. Geschockt sah er auf seine Hände, diese dünnen langen Finger mit den spitzen langen Fingernägeln, die einen Menschen in der Luft zerfetzen konnten. Er fühlte diese unglaubliche Kraft in sich, die Zerstörungslust und er roch den verlockenden Duft von Blut. Andrew fiel zu Boden und rang nach Luft, Delta trat auf sie zu und holte einen Taschenspiegel heraus und hielt ihn L vor, sodass dieser die gelb leuchtenden Augen sah, die zuvor noch Mordlust und Wahnsinn ausgestrahlt hatten. Und er sah die Zähne, die mehr wie das Gebiss eines Raubtiers erinnerten. L war entsetzt von diesem Anblick und konnte nicht glauben, dass es tatsächlich sein eigenes Spiegelbild war. „Präge es dir gut ein und vergiss es nie“ sagte Delta in einem mahnenden Predigerton und hielt den Spiegel weiterhin auf L gerichtet. „Du allein hast die Kontrolle über diese Bestie, die Mutter damals verletzt hat. Du allein hast die Verantwortung dafür, dass es nie wieder aufwacht. Und vergiss niemals, dass dieses Monster sogar jene angreift, die dir wichtig sind.“ „Das… das ist nicht möglich…“ stammelte Henry und wich zurück. „Das kann gar nicht sein! Niemand kann es aufhalten! Das ist unmöglich. Du bist eine geborene Killermaschine, sonst nichts.“ Langsam aber doch erkennbar kehrte L’s Körper in seinen normalen Zustand zurück. Seine Augen wurden wieder schwarz, das Tierische in ihm wich wieder und er war schließlich wieder ganz der Alte. Nein… nicht ganz. Er würde nie wieder ganz der Alte sein. Denn jetzt wusste er, wer oder was er war und was da tief in ihm schlummerte und nur darauf wartete, erneut auszubrechen. L nahm die Waffe und ging auf seinen Vater zu. Er richtete den Lauf auf ihn und entsicherte die Pistole. Und doch schoss er nicht. Etwas in ihm zögerte und als auch Henry das erkannte, lachte er gehässig. „Worauf wartest du noch du Feigling? Na los, erschieß mich doch! Erschieß mich und beweise der Welt, was du wirklich bist: Nämlich eine Killermaschine. Eine kaltherzige und mordlüsterne Killermaschine.“ L schoss und verfehlte Henrys Ohr nur knapp. „Ich weiß genau, wer oder was ich bin. Ich bin ich und ich bin genauso wie Delta, Andrew oder Eta und Theta ein verlorenes Kind, und ich bin genauso ein Mensch wie du und Naomi. Solange ich weiß, wer ich bin, bin ich frei und kann mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten. Ich bin keine Killermaschine, ich bin auch kein Rächer oder Weltretter aber ich bin ganz gewiss kein Mörder wie du!“ Damit wandte sich L von ihm ab, mit purer Verachtung für seinen Vater in den Augen und ging davon. Henry sah ihm nach und brauchte einen Moment um zu realisieren, was sein Abkömmling da von sich gegeben hatte. Seine Augen verzerrten sich vor Wut und dann verlor er den letzten Rest seiner Beherrschung. „Ach ja? Du bist ein minderwertiges Stück Dreck, ein Abfallprodukt wie all die anderen. Ich werde dich einfach durch ein anderes Versuchsobjekt ersetzen. Du bist wertlos! Ihr alle seid wertlos. Und eure so genannte Mutter war sowieso eine verlogene und dreckige…“ „Halt die Schnauze!“ rief Andrew und riss L die Waffe aus der Hand, dann schoss er Henry ins linke Bein und dann in die Hand. Dieser fiel zu Boden und schrie auf vor Schmerz. Andrew stieß L beiseite und richtete die Waffe auf Henrys Stirn. Tränen der Wut glänzten in seinen rehbraunen Augen und er sah aus, als würde er sofort schießen. Weder L noch Delta griffen ein. „Der einzige, der wertloser Abschaum ist, bist du! Du elender Bastard hast mich all die Jahre manipuliert. Deinetwegen hasst Beyond mich und deinetwegen habe ich so viele Menschen getötet. Dafür wirst du bezahlen! Schmor in der Hölle du Dreckskerl!!“ Andrew schoss das gesamte Magazin leer. All sein Zorn bohrte sich in Henrys Körper und selbst als alle Kugeln verschossen und Henry sein Leben längst ausgehaucht hatte, schlug Andrew mit der Pistole auf ihn ein. Nichts konnte seiner Wut noch Einhalt gebieten und er schlug mit solcher Gewalt auf ihn ein, dass sein Kopf nach und nach seine Form verlor. Und dabei flossen Tränen. Andrew ließ Henry mit jedem Schuss und jeden Schlag seinen Hass und seinen Schmerz spüren. Schließlich war es Delta, der Andrews Arm festhielt und ihn endlich stoppte. All die Jahre hatte man kaum Gefühle bei ihm erkennen können, doch man sah, dass er traurig und erschöpft zugleich war. „Es ist vorbei“, sagte er mit müder Stimme und senkte den Blick. „Es ist vorbei.“ Kapitel 11: Was wird aus Andrew? -------------------------------- Als sie die Arena verließen, war die Schlacht schon großteils zu Gunsten der Widerstandsgruppe entschieden. Nachdem die Dragonfly Soldaten vom Tod des Institutsleiters erfuhren, ergaben sie sich allesamt und somit konnten die Kinder befreit werden. Das Versorgungsteam begann sofort damit, die schlimmsten Fälle zu verarzten und jene Kinder, die transportfähig waren, zum Stützpunkt zu bringen. Beyond war ebenfalls draußen. Takuya wurde zunächst notdürftig beatmet und dann mit einem Helikopter weggebracht. Andrew, der L und Delta stumm und mit gebrochenem Blick gefolgt war, sah ihn und wollte gehen. Er schämte sich für das, was er unter Henrys Einfluss getan hatte und er wusste, dass Beyond ihn dafür abgrundtief hasste. Er wusste auch, dass er für das, was er getan hatte, bezahlen musste. In einem normalen Rechtsstaat würde er lebenslänglich bekommen und anschließend Sicherheitsverwahrung bekommen, in anderen Staaten sogar die Todesstrafe. Für ihn gab es also keine Zukunft als solche. Henry Lawliet hatte sein ganzes Leben und das seiner Freunde zerstört. Andrew wollte gerade gehen, doch Beyonds Shinigami-Augen hatten ihn längst erfasst und der Rest von ihm bewegte sich schnurstracks in seine Richtung. „Du elender Mistkerl!“ rief er und bekam Andrew am Kragen zu packen. „Warum bist du noch nicht tot?“ Andrew sagte nichts, er sah den Hass in Beyonds Augen, der mal sein bester Freund gewesen war und seine Brust schnürte sich zusammen. Es war das Beste, wenn er nicht mehr da war. Er hatte zu schlimme Dinge getan, als dass man sie ihm noch vergeben konnte. Wie sollte Beyond ihm jemals verzeihen, nachdem er ihn so betrogen hatte? Gar nicht. Delta und L liefen zu den beiden hin und versuchten sie auseinander zu bringen. „Beyond, es ist vorbei. Alpha war gar nicht der…“ „Der lügt doch, wenn er nur den Mund aufmacht! Aber mich führst du nicht hinters Licht. Du täuschst mich nicht noch einmal.“ Beyond holte schon sein Messer hervor, doch Delta war schneller. Mit dem Fächer schlug er ihm auf die Hand, sodass Beyond es fallen ließ. „Hör auf mit dem Unsinn Beta. Alpha ist nicht unser Feind. Er wurde jahrelang durch einen implantierten Chip von Henry Lawliet gesteuert. Also pass auf, sonst bekommst du noch einen Schlag auf die Finger.“ Da es nicht gerade fördernd war, Andrew und Beyond im selben Wagen fahren zu lassen, entschied Delta, dass erster mit ihm fahren sollte. L hingegen fuhr mit Beyond und er fühlte sich völlig kraftlos und müde. Im Wagen rang er mit der Müdigkeit und es kostete ihn Mühe, seine Augen offen zu halten. Noch wollte er nicht schlafen. Er musste Beyond die ganze Geschichte erzählen. Und er erzählte sie auch die ganze Fahrt über. Angefangen von Deltas Kampf gegen Andrew, der kleinen Nadel im Rosenkranz und über seine dunkelste Seite, die damals Alice Wammy getötet hatte. Beyond hörte ihm schweigend zu und sah ihn mit seinen Shinigami-Augen prüfend an. Die ganze Zeit hatte er nichts gesagt sondern nur zugehört. Es war schwer zu sagen, was er gerade dachte. Schließlich, nachdem L seinen Bericht beendet hatte, atmete er tief durch und fragte „Du bist dir also sicher, dass dies nicht bloß ein Spiel von Andrew ist, um sich aus der Affäre zu ziehen?“ „Ich bin mir ganz sicher. Hätte ich nicht wieder die Kontrolle über mich selbst zurückerlangt, dann hätte er sich freiwillig von mir erwürgen lassen.“ Doch Beyond fiel es schwer, Andrews Sinneswandel zu glauben und das konnte L ihm nicht verdenken. Beyond war einfach zu oft belogen und betrogen worden, als dass er noch Vertrauen fassen konnte. Doch L hatte eine Idee. „Wir werden sowieso den Chip entfernen müssen, wenn wir wieder zurück im Nova Institut sind. Dann werden wir alle sehen, inwieweit Andrew an dieser ganzen Sache beteiligt war oder nicht.“ „Ohne eindeutige Beweise glaube ich ihm kein einziges Wort. Und wenn er schuldig ist, dann lege ich ihn um. Das verspreche ich dir. Die Fahrt dauerte nicht so lange wie die Hinfahrt und als sie im ehemaligen Nova Institut angekommen waren, herrschte bereits Hochbetrieb. Die verletzten Widerstandskämpfer und Kinder mussten verarztet werden und außerdem war da noch Andrew. Er wurde gleich nach seinem Ausstieg aus dem Wagen festgenommen und in eine Zelle gesperrt. Er nahm dies alles mit einem kummervollen Schweigen hin und befolgte still alle Anweisungen. Schließlich wurde er in den Operationssaal gebracht, wo Dr. Heian, den sie im Saarne Institut zusammen mit Molly aufgegriffen hatten und der als Einziger genug Erfahrung besaß, den deaktivierten Chip herausholte. Der Chip war nicht sehr groß, saß aber ziemlich tief und war ein kleines Kraftbündel. Durch Stromstöße konnten Emotionen wie Traurigkeit, Wut oder andere Gefühle künstlich hervorgerufen werden und so weit steigern, dass es auch das eigene Bewusstsein deutlich einschränken und das klare Denken beeinträchtigen konnten. Auch konnten sie einige Verletzungen an Andrews Kopf erkennen, was wohl daher kam, dass er in der Arroway Psychiatrie tatsächlich einer Elektroschocktherapie unterzogen wurde. Diese wurde durchgeführt, weil er zuvor erheblichen Widerstand gegen Henry und dem Mikrochip in seinem Gehirn geleistet hatte. Man fand auch an der Stelle, wo der Chip gesteckt hatte, alte Verletzungen. Offenbar hatte Henry ihm mehrere Stromstöße durch den Kopf gejagt, um ihn gefügig zu machen. Selbst Dr. Heian, der schon einiges in seiner Beruf- und Verbrecherlaufbahn gesehen hatte, war für einen Augenblick lang sprachlos. „Wenn ich offen sprechen darf“, sagte er schließlich „hatte Delta mich aus einem bestimmten Grunde befreit. Er hatte mich nämlich zu Rate gezogen, wie man den Chip noch entfernen könnte. Leider hätte sich dadurch ein Mechanismus aktiviert, der die gesamte Gehirnfunktion auf Null fährt und Andrew entweder getötet oder ins Koma versetzt hätte.“ „Und welche Rolle spielte Molly bei der Sache?“ „Stone Industries hat die Prototypen des BMC hergestellt und Molly war vertraut mit der Technik. Wir durften Andrew jedoch nicht in die Sache einweihen.“ Tatsächlich handelte es sich bei dem Brain Micro Chip um ein typverwandtes Produkt des Konzerns, der Mollys Eltern gehörte. Das erkannte sie sofort. „Und wie lautet Ihr Urteil?“ fragte Zion, die sich die Röntgenbilder und die OP-Berichte durchlas. „Wie weit war er schuldfähig?“ „Das ist schwierig zu sagen, es kommt auf die Situationen an. Wenn ich mir aber die Verletzungen ansehe, dann gehe ich davon aus, dass er sich mit aller Macht gewehrt hat. Ich würde also sagen, dass er nicht zu hundert Prozent schuldfähig war, höchstens zu 5 bis 13%.“ Während Andrew noch in der Narkose lag, wurde bereits über sein Schicksal diskutiert. Ein Geschwistertreffen wurde einberufen, in der Zion, L und Delta den wahren Sachverhalt klarstellten und gleich noch erwähnten, dass Andrew Henry Lawliet erschossen hätte. Eta und Theta, die inzwischen nun wieder in ihrer Schwesterntracht gekleidet waren, stimmten dafür, dass man Gnade walten ließ. Man musste aber auch noch mal erwähnen, dass sie als Christinnen sogar Henry vergeben hätten, weil es ihnen der Herr so vorschrieb. Die meisten waren jedoch anderer Meinung und auch Beyond konnte Andrew trotz dieser Tatsache nicht vertrauen. „Wenn ich ehrlich sein soll“, sagte er in einem sehr ruhigen Ton „fällt es mir schwer zu glauben, dass er jemals anders war.“ „Im Institut hat er uns immer beschützt“, warf Omikron ein und stand auf. „Damals war er für uns da, wenn Mutter uns nicht besuchen konnte und wenn er wirklich von Henry benutzt wurde, dann dürfen wir ihn nicht so hart verurteilen.“ „Genau“, pflichteten Eta und Theta bei. „Das war nicht unser Bruder Alpha gewesen! Der echte Alpha hätte so etwas nie getan.“ „Außerdem hat er Frau Misora befreit, die sich in Henrys Gewalt befand. Das spricht dafür, dass er nicht durch und durch schlecht ist.“ „Vielleicht war das ja auch nur ein Trick, um sich aus der Affäre zu ziehen!“ Die Diskussion zog sich immer mehr in die Länge und während die Geschwister miteinander um Andrews Schicksal stritten, bemerkte keiner, dass Andrew sich, nachdem er aus der Narkose erwacht war und wieder klar genug bei Sinnen war, die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Zum Glück konnten die Krankenschwestern ihn noch rechtzeitig retten, bevor er verblutete, aber es stand nicht zum Besten um ihn. Kurz, nachdem man ihn operiert hatte, unternahm er direkt einen zweiten Suizidversuch, dieses Mal versuchte er es mit einer Überdosis Schlaftabletten, kombiniert mit Alkohol. Um ihn vor sich selbst zu schützen, verlegte man ihn in die psychiatrische Abteilung, wo er unter ständiger Beobachtung war. Dieses auffällige Verhalten gab Beyond zu denken. Die Suizidversuche waren ernst gemeint und keine bloße Farce. Es hätte wirklich nicht viel gefehlt, und er wäre gestorben. Andrew wollte sterben. Beyond hatte die Versammlung verlassen und durchstreifte gedankenverloren die Gänge. Was sollte er glauben? Vielleicht war es besser, Andrew zumindest einmal anzuhören, um seine Version zu hören. Wenn er früher wirklich anders gewesen war, dann sollte er ihm noch eine allerletzte Chance geben. Hatte er denn nicht L eine Chance gegeben und hatte sich da nicht auch herausgestellt, dass L in Wahrheit kein Feind war? Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend ging Beyond in Richtung psychiatrische Abteilung und traf dort auf Seimei, der gerade ein paar Kinder besucht hatte. „Du möchtest sicherlich Andrew besuchen, oder?“ „Woher wissen Sie das?“ „Das sagt mir mein Gefühl.“ „Wie geht es ihm?“ „Sein Zustand ist momentan stabil, doch er leidet sehr unter der Situation. Er schämt sich für die Dinge, die er getan hat und macht sich schwere Vorwürfe. Wir haben ihm starke Beruhigungsmittel gegeben. Komm mit, ich bringe dich zu ihm.“ Beyond folgte dem Asiaten den Gang entlang, bis sie das letzte Zimmer links betraten. Andrew lag in seinem Bett und war an den Handgelenken an den Bettkanten gefesselt worden, damit er nicht noch einen Suizidversuch unternehmen konnte. Sein Blick war fest auf die Zimmerdecke gerichtet und er sah alles andere als gesund aus. Er war ziemlich blass und wirkte kränklich. Als wäre all seine Lebenskraft aus seinem Körper gewichen. Seimei legte eine Hand auf Beyonds Schulter und sah ihm mit einem Blick an, der so viel sagte wie „Sei nicht so hart zu ihm“. Langsam trat Beyond näher, blieb jedoch auf Abstand zu Andrew. Dieser sah ihn nicht an, er konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Schließlich atmete Andrew tief durch und schloss dabei kurz die Augen. „Bist du hier, weil du mich töten willst? Nur zu, ich habe es nicht anders verdient.“ „Die anderen bereden sich gerade über dein Schicksal. Sie diskutieren, ob man dir noch vertrauen kann, nach alledem.“ Andrew schloss die Augen, als würde er einschlafen. Doch er schlief nicht, auch wenn er müde war. „Ich kann es ihnen nicht verdenken. Wie soll ich mir denn selbst vertrauen, nach allem, was passiert ist? Nach allem, was ich dir und L angetan habe. Ich kann einfach nicht mehr mit dieser Schuld leben! Ich kann es nicht!“ Andrew brach in Tränen aus und schluchzte leise. Dann sah er Beyond an und sein Blick war so traurig und verzweifelt, dass es selbst in seinem verletzten Herzen Mitgefühl weckte. So etwas konnte er doch nicht spielen, oder etwa doch? „Ich weiß, dass du mir nicht vertrauen kannst, aber eines musst du mir glauben: Ich habe all das niemals gewollt. Und es tut mir unendlich Leid. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann hätte ich das alles niemals zugelassen!“ „Warum hat Henry dich gezwungen, L zu attackieren?“ „Er wollte L in die Enge treiben, damit das Monster in ihm erwacht. Dann hätte er alles vernichtet, was ihm in die Quere gekommen wäre. Ich habe wirklich versucht, mich dagegen zu wehren aber Henry hat mich einfach nicht in Ruhe gelassen. Immer wieder hat er mir eine Ladung in den Kopf gegeben, wenn ich mich gegen ihn gewehrt habe. Mit jedem Male wurde es schlimmer und schlimmer, bis ich das Gefühl hatte, es würde mich gleich umbringen. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf explodieren. Irgendwann begann ich schon, unter Wahnvorstellungen zu leiden und ich habe versucht, meine Wut unter Kontrolle zu halten.“ „Hast du deshalb diese ganzen Brandstiftungen begangen?“ „Ich wollte niemanden verletzen. Und indem ich Dinge angezündet habe, konnte ich diese Wut in mir einigermaßen kontrollieren. Ich habe Tiere getötet, um keine Menschen zu verletzen, aber es wurde immer schlimmer. Ich habe Watari gebeten, mich wegzusperren, sollte ich es nicht mehr schaffen….“ „Dann hat Watari dich gar nicht hintergangen sondern nur deinem Wunsch entsprochen?“ „Er hat gedacht, es würde nicht so schlimm werden, aber dann habe ich kurz die Kontrolle verloren und L niedergestochen. Watari täuschte meinen Selbstmord vor, weil ich nicht wollte, dass ich dir, L oder jemand anderem aus dem Waisenhaus noch etwas antue.“ „Was ist in der Psychiatrie passiert?“ Andrews Stimme war gebrochen und es kostete ihn Mühe, klar und verständlich zu sprechen. Er atmete tief durch, um sich selbst zu beruhigen. „Erinnerst du dich noch an den Doktor aus dem Nova Institut, diesen Dr. Skinner, den wir immer den „Skintaker“ nannten? Der Dreckskerl hat Dr. Tod bestochen, um mich an die Batterie anzuschließen, wenn du verstehst, was ich meine. Tag für Tag haben sie mir etwas gespritzt und mich unter Strom gesetzt.“ „Und was war das mit der Befreiungsaktion?“ „Dank des Chips wusste Henry, was ich vorhatte. Er wusste, dass ich mich selbst isolieren wollte und das wollte er nicht zulassen. Während ich in meinen wachen Momenten alles versucht habe, um gegen diesen Einfluss anzukämpfen, hat Henry mich für dafür bestraft, indem er mir alles genommen hat. Irgendwann hatte ich einfach nicht mehr die Kraft zu kämpfen und als selbst du mich gehasst hast, sah ich auch keine Motivation mehr, noch weiter zu kämpfen.“ Eine lastende Stille trat ein. Sie beide schwiegen und wussten nicht, was sie noch sagen sollten. Beyond dachte über Andrews Worte nach und Andrew hatte keine Kraft mehr, überhaupt noch diesen jahrelangen Alptraum zu schildern, in dem er gefangen war. Beyond dachte darüber nach, was er jetzt tun sollte. Sollte er Andrew wirklich glauben, nach alledem, was dieser ihm angetan hatte? Sollte er ihm wirklich eine Chance geben? Beyond dachte über die letzten Monate nach. Andrew hatte mit ihm gespielt, ihn manipuliert und doch hatte er ihm in Notsituationen zur Seite gestanden. Er hatte Rumiko und Faith vor dem Slender Man gerettet, obwohl er nicht den geringsten Grund dafür gehabt hätte. Er hätte Beyonds kleine Familie jederzeit in Finnland aufsuchen können, doch er hatte sie in Frieden gelassen. Und warum? Weil er den Kampf trotz allem nicht aufgegeben hatte. Er hatte gekämpft, weil er nicht zulassen wollte, dass Beyonds Familie etwas passierte. Wenn er ihn schon hasste, dann durfte wenigstens sein Leben nicht zerstört werden. In diesem Augenblick dachte Beyond an Rumikos ungeborenes Kind. „Hope“, das war der Name, den er sich ausgesucht hatte, sollte es ein Mädchen werden. Sie sollte das Symbol der Hoffnung sein, dass alles von nun an besser werden würde… dass sich alles endlich zum Guten wenden würde. Nicht nur Beyond hatte diese kleine zerbrechliche Familie beschützt, sondern auch Andrew. Er hatte Beyonds Hoffnung beschützt und in Kauf genommen, selbst alles zu verlieren, sogar sich selbst. Andrew log nicht, als er sagte, dass er dies alles nicht gewollt hatte. Beyond spürte das tief in seinem Inneren. Andrew hatte ihn niemals belogen oder hintergangen. Er hatte ihn niemals im Stich gelassen. Das war alles Henry Lawliet gewesen, dieser elende Sadist, der sie alle nur als Abfallprodukte bezeichnet hatte. All die Jahre hatte Andrew einen stillen Kampf geführt und hatte diesen schließlich verloren. Delta war es schließlich gewesen, der ihn von dieser Last befreit hatte und auch er hatte jahrelang ausgeharrt und gekämpft. Jedes der verlorenen Kinder führte seinen eigenen Kampf gegen die schweren Momente des Lebens. L und Delta hatten es auf ihre Weise geschafft, sich an etwas zu klammern, das ihnen Kraft und Halt gab, selbst die schlimmste Tortur durchzuhalten. Beyond hätte beinahe aufgegeben, wäre da nicht Rumiko gewesen, die ihm Hoffnung gab. Für Andrew jedoch gab es nichts mehr. Henry hatte ihm wirklich alles genommen als Strafe für seinen jahrelangen Widerstand. Und nun stand Andrew vor dem Nichts, genauso wie er, Beyond Birthday, vor dem Nichts gestanden hatte. Hätte der die Sache mit dem Tagebuch nicht eingefädelt, dann wäre Beyond heute noch alleine. Rumiko hätte niemals Faith getroffen und sie hätten die kleine Madeline Grey nicht kennen gelernt. Beyond hatte keinerlei Grund, Andrew zu hassen. Nein, er sollte eher Henry hassen, dass er seinen besten Freund manipuliert und ihn all diese schrecklichen Dinge tun ließ. Sein Blick wanderte zu Andrew, der wieder an die Zimmerdecke starrte und immer noch bereit war, hier und jetzt sein Leben zu lassen. Beyond wurde klar, dass er ihm helfen musste. Andrew brauchte seine Hilfe! „Ich bin gleich wieder zurück.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und verließ das Zimmer. Auf dem Gang traf er Delta, der offenbar auf ihn gewartet hatte und sich wohl heimlich von der Versammlung davongeschlichen hatte. „Wie kommt es, dass du die Versammlung schwänzt?“ „Da wird sowieso nur geredet, ohne dass viel dabei rauskommt. Solche Diskussionen bin ich einfach müde geworden. Es reicht schon, wenn meine Leute die ganze Zeit meinen, sie müssten sich die Köpfe einschlagen.“ „Deine Leute?“ „Ach, das ist nicht so wichtig. Sag mal, was hast du jetzt eigentlich vor?“ „Na was wohl? Ich werde Alpha helfen. Ich weiß jetzt, dass er unschuldig ist und ich werde verhindern, dass er im Knast verrottet oder dass er sich selbst die Kugel gibt.“ Delta folgte Beyond und fächelte sich dabei mit seinem getarnten Stahlfächer Luft zu. „Wenn du ihm helfen willst, dann bin ich dabei. Ich hätte da sogar schon einen Plan ausgearbeitet.“ Beyond blieb wieder stehen und sah Delta verwundert an. Dieser lächelte verschlagen und zwinkerte ihm zu. „Natürlich würde er noch besser funktionieren, wenn du mit von der Partie bist.“ „Dann schieß mal los. Ich bin ganz Ohr.“ Epilog: Neuanfang und Rückkehr ------------------------------ Die Diskussion hatte immer noch kein Ende gefunden und die versammelten Geschwister hatten sich darauf geeinigt, eine Pause einzulegen. Eta und Theta waren müde und wollten sich aufs Ohr legen. Die Aufregung der letzten Tage und auch die Anreise war anstrengend genug gewesen und in diesem Zustand konnte niemand mehr objektiv denken. L beschloss, nach Naomi zu sehen, die sich bei Takuya befand und ihn in Gedanken versunken betrachtete. Als L den Raum betrat, drehte sie sich zuerst erschrocken um, doch dann war sie erleichtert, nachdem sie sah, dass es L war. Sie wirkte blass und müde, außerdem hatte sie leichte Augenringe. „Wie geht es Ihnen, Naomi?“ fragte er vorsichtig und setzte sich auf den Stuhl neben ihr, wie immer in seiner üblichen Haltung. So schnell würde er seine Angewohnheit nicht loswerden können. „Mir geht es soweit ganz gut. Ich bin ja nicht verletzt und Takuya geht es auch gut. Es wird nur eine schwere Zeit werden. Meine Kollegen und Freunde sind tot, auch Raye ist dem Bombeneinschlag zum Opfer gefallen und eine Rückkehr zum FBI kommt für mich auch nicht mehr in Frage. Es ist einfach zu viel passiert.“ „Das kann ich Ihnen gut nachfühlen. Mir geht es genauso. L war für mich immer eine Rolle gewesen, die allein dazu diente, die Machenschaften meines Vaters zu beenden. Jetzt ist er tot und damit hat L Lawliet seine Rolle zu Ende gespielt. Und dank Henry Lawliet kann ich auch nicht mehr zurück sondern nur noch nach vorne.“ „Und was werden Sie jetzt tun?“ „Ich werde das tun, was ich am Besten kann. L Lawliet ist zwar jetzt Geschichte, aber Dathan Penpal könnte durchaus Karriere als L’s Nachfolger machen. Trotz dieser schrecklichen Dinge glaube ich daran, dass es sich lohnt, für seine Ziele zu kämpfen. Und mein Ziel ist es, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Es ist harte Arbeit und ich weiß, dass es niemals eine perfekte Welt geben wird, aber ich möchte meinem Leben eine sinnvolle Tätigkeit geben, mit dem ich auch anderen auf meine Weise helfen kann…. Mein Vater sagte zwar, ich wäre eine Bestie und tatsächlich ist ein Teil von mir ein Mordinstrument. Aber ich bin auch ein Mensch und solange ich einer bin, werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um anderen Menschen zu helfen. Und zwar auf meine eigene Art und Weise.“ Dann schwieg L eine Weile und sah zu Naomi. Diese lächelte müde und sagte „Das haben Sie wirklich schön gesagt. Ihre Mutter wäre ganz sicher stolz auf Sie.“ „Ja, das wäre sie. Allerdings wird es ein großes Stück Arbeit werden. Dathan Penpal wird Unterstützung gebrauchen können. Kennen Sie vielleicht jemanden, der sich als Partner eignen würde?“ „Natürlich“, sagte Naomi und lächelte müde. „Es gibt da eine gewisse Susan Long, die früher mal FBI Agentin war und dort zuvor als Naomi Misora gearbeitet hat.“ Am übernächsten Tag gab es einen heftigen Aufruhr im Nova Institut, als man Andrew Asylum befragen wollte. Seimei erklärte, dass sich Andrew niemals aus dem Zimmer entfernt hatte und sonst lediglich ein Mal Besuch von Beyond und Delta gehabt hätte. Und doch musste ihm irgendwie die Flucht gelungen sein, denn der Andrew, der gefesselt im Bett lag, war niemand anderes als der verkleidete Delta. Dieser behauptete seinerseits steif und fest, sich an rein gar nichts zu erinnern, da er die ganze Zeit über geschlafen hätte und zudem noch mächtig betrunken war (wobei er wirklich eine extreme Menge vertragen konnte). Beyond war wie schon bei der ersten Verhaftung von Andrew Asylum Hals über Kopf nach Finnland zurückgekehrt und erklärte, dass er von nichts wüsste. Er sei alleine nach Hause zurückgekehrt und auch die Stewardess sagte aus, dass kein rothaariger Engländer an Bord des Flugzeuges gewesen sei. Der Einzige, der ihr aufgefallen sei, war ein blondhaariger junger Mann namens Ben Lake. Sie berichtete, dass er die merkwürdige Angewohnheit hatte, das „St“ und „Sp“ immer getrennt voneinander zu sprechen. Eine Überprüfung ergab, dass er sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten hatte und als ziemlicher Tollpatsch bekannt sei. Er habe eine Zeit lang als Aushilfskraft in einem Hotel gearbeitet, bevor er dann zur Spurensicherung beim FBI kam. Doch dort war er hochkantig rausgeflogen und suchte nun auf einer zurückgezogenen Farm sein Glück. Es konnte sich demnach unmöglich um Andrew Asylum handeln. Zumindest sahen das die meisten so. Naomi und L wussten es besser und Delta sowieso. Delta kehrte nach China zurück, da er der Ansicht war, er könnte seine Leute nicht einen Tag alleine lassen, ohne dass sie gleich die ganze Vergnügungsmeile auf den Kopf stellten. Nachdem L Nachforschungen bezüglich Deltas Tatöwierung angestellt hatte, konnte er ein paar interessante Dinge über ihn herausfinden. Und die Wahrheit sah folgendermaßen aus: Delta war das Oberhaupt des Yanjingshe Mafia Clans in Shanghai und regierte das Vergnügungsviertel unter dem Namen Shenshi Yuanshen. Dieser war bekannt dafür, dass er die Fächerkampfkunst (also Tessen Jutsu) noch besser beherrschte, als die Samurai den Schwertkampf und dass er auch ohne Klinge imstande war, ein Dutzend Menschen zu töten. Shenshi Yuanshen war bekannt dafür, dass er auf der einen Seite gütig und hilfsbereit zu den Schwachen und absolut grausam und brutal zu seinen Feinden war. Als L diese Fakten ans Tageslicht brachte, konnte er nicht anders, als ungläubig zu schmunzeln. „Delta schafft es auch immer wieder, mich zu überraschen.“ Jedenfalls munkelte man, dass der Grund für seinen harten Kampf für Andrews Freiheit wohl ein anderer war, als bloße Geschwistergefühle. Aber das waren bloß Gerüchte und Delta bestätigte sie nicht, aber er stritt sie auch nicht ab. Er ließ dies sein eigenes Geheimnis bleiben und er würde es wohl bis an sein Lebensende für sich behalten. Kurze Zeit, nachdem Andrew Asylum die Flucht aus dem ehemaligen Nova Institut gelungen war, kehrte langsam die Normalität wieder ein. Eta und Theta kehrten ins Kloster von St. Michael zurück und wenn sie nicht um ihre Heilkräuter im Klostergarten kümmerten und für ihre Geschwister beteten, pflegten sie im örtlichen Sanatorium die Kranken. Zion kümmerte sich nach wie vor um die geretteten Kinder und tat ihr Bestes, sie an liebevolle Familien zu vermitteln, um ihnen ein normales Leben zu ermöglichen. Zwar war Henry Lawliet tot, aber es gab immer noch Leute, die für die Organisation Dragonfly arbeiteten und solange diese Organisation existierte, würden noch mehr Experimente an Menschen durchgeführt werden. Und solange diese Organisation existierte, würde sie ihren Kampf gegen diese Grausamkeiten fortsetzen. Da die Woodley Psychiatrie zerstört war, wurden Molly und Dr. Heian in die Hochsicherheitsanstalt in Glasglow eingewiesen. Der Chirurg blieb dort bis zu seiner Flucht nach sechs Jahren, bis er von der Polizei erschossen wurde, während bei Molly eine etwas eigentümliche Heilmethode anschlug. Man pflanzte ihr einen ähnlichen Mikrochip ein wie bei Andrew, allerdings um ihre Aggression und ihren Hass in den Griff zu bekommen. Im Alter von 18 Jahren konnte sie tatsächlich die Anstalt als geheilt verlassen und bereitete sich auf ihre Aufgabe als zukünftige Konzernleiterin vor. Ihre Schwäche für Ballkleider und Diademe konnte sie allerdings nie wirklich loswerden, weshalb sie noch jahrelang „Little Miss Princess“ genannt wurde. Die Leiche von Steven Red wurde direkt neben seiner geliebten Miki bestattet und sowohl Steven Kazan als auch Sadie James erhielten ein feierliches Staatsbegräbnis. L Lawliet setzte sich als solcher zur Ruhe und man hörte nie wieder etwas von ihm. Dafür bekam die Polizei Unterstützung von einem etwas verschroben aussehenden Typen mit krummen Rücken, der sich selbst Dathan Penpal nannte. Dieser war nicht nur genauso genial wie L, er hatte auch eine clevere als auch hübsche Partnerin namens Susan Long an seiner Seite. Und was wurde aus Takuya? Nun, dieser erwachte niemals aus seinem Koma und da die verlorenen Kinder Sorge hatten, die Organisation könnte ihn entführen oder ihn töten, indem sie ihn von der lebenserhaltenden Maschine entfernten, blieb er in der Obhut von Zion. Wo sich aber sein Geist aufhielt, das konnte man nur spekulieren. Die größte Vermutung lag nahe, dass er nach wie vor engen Kontakt zu Naomi pflegte und sie und L bei ihrer neuen Tätigkeit auf seine Weise unterstützte. Das Einzige, was L in seiner Rolle noch tat, war die Richtigstellung über den maskierten Bombenleger, der mehr als zweitausend Menschen getötet hatte. In seinem Bericht hieß es, dass der machtbesessene Henry Lawliet für die Zündung der Bomben verantwortlich sei und dass er illegale Experimente an Menschen durchführen ließ. Er sei schließlich einem Herzinfarkt erlegen. Von der Existenz der verlorenen Kinder erfuhr jedoch niemand etwas und L gelang es noch, einen Krieg zu verhindern. Auch über die Organisation Dragonfly schwieg L. Es wäre einfach zu gefährlich gewesen und hätte vielleicht dazu geführt, dass die verlorenen Kinder in Gefahr gerieten. Es war ein wunderschöner Herbsttag, als Beyonds Adoptivschwester Rumiko ins Krankenhaus eingeliefert wurde, nachdem bei ihr die Wehen einsetzten. Die Geburt zog sich über einige Stunden hinweg, bis sie schließlich ein gesundes Mädchen zur Welt brachte. Sie wurde auf den Namen Elyssa Hope Kinsley getauft und sollte Jahre später in die Fußstapfen ihres Vaters treten. Beyond Birthday übernahm die Patenschaft und zweieinhalb Jahre später brachte Rumiko einen Jungen zur Welt, der auf den Namen Andrew Lumis Kinsley getauft wurde. Seine Patenschaft übernahm der geheimnisvolle Farmarbeiter Ben Lake. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)