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Heroines of War

von

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Omega

Der schneidende Wind trieb Norah Tränen in die Augen, während sie sich ein wenig aus dem rasend schnell fliegendem Shuttle lehnte und das Ziel entdeckte. Es war eine große, rechteckige Öffnung mitten in einem Gebirge „am Arsch des Universums“, wie der raubeinige Lieutenant Commander Dyson erklärt hatte. „Wir unterstützen die Special Forces dabei, ein Labor von Cerberus auszuheben. Leider haben wir vor zwei Tagen den Kontakt zu unserem Informanten verloren und wissen deshalb nicht genau, wie es dort aussieht. Aber uns wird um genau 0900 die Tür aufgemacht, die wir innerhalb von dreißig Minuten passieren müssen, bevor sie sich wieder schließt.“

„Kopf rein, Eli!“, blökte der LC nun hinter ihr und zog sie zurück ins Shuttle. „In fünfzehn Sekunden müssen Sie einsatzbereit sein.“

Im Innenraum des Shuttles herrschte viel Bewegung. Die Gruppe bestand neben Norah und Dyson aus acht weiteren Marines, allesamt Teilnehmer des Offizierslehrgangs. Sie lebten nun schon seit etwas über einem halben Jahr in der Gruppe zusammen, sei es bei Missionen oder während der theoretischen Lehrgänge, und kamen insgesamt gut miteinander aus. Da sie aber mindestens zwei oder drei Jahre jünger war als die meisten, hatte Norah lange das Gefühl gehabt, sich durch herausragende Noten oder erfolgreiche Missionsabschlüsse besonders beweisen zu müssen. Inzwischen respektierten sie alle wegen ihrer guten Leistungen und kollegialen Art.

Hastig setzte sie sich ihren Helm auf und entsicherte das Sturmgewehr, während der Pilot bereits zum Landeanflug ansetzte. Norah hatte keine Ahnung, was sie dort unten erwartete, aber in ihrem Hinterkopf dachte sie immer wieder, dass sie vielleicht endlich Ellen finden würden. Ein kleiner Teil von Norah hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

„Los geht’s!“, rief Lieutenant Commander Dyson und sprang als erster aus dem Shuttle, und die anderen Marines beeilten sich, ihm zu folgen.

Das Team der Special Forces war wenige Minuten vor ihnen angekommen und erwartete sie bereits.

„Könnt die Waffen noch stecken lassen“, sagte ein großgewachsener Marine, der an seinem Arm die rot-weißen Streifen eines N7-Absolventen trug.

„Der Hafen ist leer, alle Vögel sind ausgeflogen, und auf dieser gesamten Ebene haben wir weder Soldaten noch sonst jemanden entdecken können. Wir wissen aber noch nicht, wie es weiter unten aussieht.“

„Irgendein Wort von unserem Informanten?“, fragte Dyson, und auf Norah machte er einen etwas enttäuschten Eindruck, als er seine Waffe zurück in die Halterung gleiten ließ.

Der N7-Marine schüttelte den Kopf. „Negativ. Aber wer weiß, vielleicht steckt er ja noch irgendwo. Die Allianz ist ja ganz scharf darauf, ihn zu sich zu holen. Mein Vorgesetzter hat durchblicken lassen, dass er ein brillanter Wissenschaftler ist, der wieder für uns arbeiten soll.“

„Dann sollten wir wohl darauf hoffen, dass er noch lebt“, erwiderte Norahs LC. „Los, machen wir uns an die Arbeit.“

Der Anführer der Special Forces führte sie zu den beiden Fahrstühlen auf dieser Ebene und betätigte bei beiden den Rufknopf.

„Dieser Bau besteht aus acht Ebenen. Mein Vorschlag wäre, dass jede Gruppe sich ein Level vornimmt und nach der Säuberung und Informationsbeschaffung die nächste freie ansteuert.“

Dyson stimmte dem Plan zu. „Klingt vernünftig. Ihr nehmt E1, wir E2.“

Sirrend glitten die Fahrstuhltüren auf. Da nicht alle Marines gleichzeitig in die Kabinen passten, machte sich zunächst Norahs Team auf den Weg Als sie die zweite Ebene erreichten, erwartete sie ein grauenerregendes Blutbad. Mehrere Soldaten in Cerberuspanzerung lagen direkt vor den Fahrstühlen, so als hätten sie auf die Aufzüge gewartet und waren währenddessen überrascht worden. Jemand, oder besser gesagt etwas, hatte sie alle völlig zerfetzt. Manchen waren Körperteile ausgerissen worden, anderen ganze Stücke herausgebissen, teilweise samt Panzerung. Was auch immer das hier angerichtet hatte, war unglaublich stark und hatte kräftige Reißzähne.

„Ich glaube, mir wird schlecht“, murmelte Lily Ivons, eine blonde, drahtige Frau, die direkt neben Norah stand.

Lieutenant Commander Dyson stieg unbeeindruckt und mit großen Schritten über die Leichen weg.

„Reißen Sie sich zusammen, Ivons. Von hier gegen drei Korridore ab, wir werden uns also aufteilen müssen. Cronin, Porter und Eli gehen nach links, Dickinson, Spelling und Loebe nehmen die Mitte, alle anderen folgen mir. Seid wachsam, die Laborzüchtung, die das hier angerichtet hat, könnte noch hier sein. Und prägt euch diese Bilder gut ein, damit ihr nie vergesst, was für kranke Säcke bei Cerberus arbeiten. Unser Informant, Doktor Vicerus ist einer von ihnen, und unsere Aufgabe ist es, diesen Mann heile zur Allianz zu bringen. Unglaublich.“ Er hatte sich nicht sonderlich bemüht, seine Verachtung zu verbergen.

Als Norah den Namen Vicerus hörte, ratterte es in ihr. Plötzlich kam ihr die leuchtende Erkenntnis, und ihr Verstand setzte die einzelnen Puzzlestücke der vergangenen Monate zusammen. Vicerus hatte auf Antibaar eine Seuche freigesetzt, mit der auch Ellen in Kontakt gekommen, doch nicht daran gestorben war. Mit Sicherheit war sie deshalb auf gewisse Art und Weise interessant für ihn. Norah hätte ihren ganzen Sold darauf verwettet, dass der durchgeknallte Wissenschaftler hinter ihrem Verschwinden steckte. Vielleicht konnte sie hier Hinweise darauf finden, wohin er Ellen gebracht hatte. Wenn es sein musste, würde sie diese Informationen auch aus Vicerus herausprügeln.

„Lasst uns gehen“, sagte sie zu Tobyn Porter und Anna Corvin, während sie selbst schon ein paar Schritte in den linken Flur hinein gemacht hatte. Ihre Kameraden schlossen rasch zu ihr auf.

Auf ihrem Weg kamen sie an mehreren Büros und Laboren vorbei, doch da sämtliche Rechner nicht funktionierten, gab es für sie nichts interessantes zu bergen. Als sie jedoch an einer Tür mit der Aufschrift „Doktor Vicerus“ vorbeigingen, stockte ihre Atmung und ihr Puls beschleunigte sich. Ihr Gefühl sagte ihr, das dort drinnen etwas auf sie wartete.

Nervös öffnete Norah die Tür und spähte in den Raum hinein. Es schien eine Art Arbeitszimmer zu sein und war großzügig gestaltet worden. Die rechte Seite wurde von einer rechteckigen Arbeitsfläche dominiert, auf der PCs und kleinere Laborgerätschaften standen. In der Wand direkt gegenüber von Norah war ein breites Fenster eingelassen, doch da der Raum auf der anderen Seite völlig im Dunkeln lag und die Scheibe spiegelte, konnte sie nicht genau erkennen, was sich dort befand. Darunter stand eine lange Reihe mit hüfthohen Schränken, auf die mehrere Datenpads gelegt worden waren.

„Sieht sauber aus“, sagte Anna neben ihr und machte einen Schritt in den Raum hinein. Plötzlich zuckten sie alle zusammen, als ein großer Bildschirm auf der linken Seite zum Leben erwachte. Ein älterer Mann mit blauen Augen und rundem Gesicht begrüßte sie grinsend, und Norah erkannte ihn sofort wieder. Nach dem, was er Ellen angetan hatte, würde sie den verrückten Wissenschaftler niemals vergessen können. Die Aufnahme schien er hier in diesem Raum aufgezeichnet zu haben.

„Hallo, Marines“, sagte er und winkte.

„Will der Kerl uns verarschen?“, fragte Tobyn, doch Anna bedeutete ihm, still zu sein, als Vicerus weitersprach.

„Ihr könnt euren Vorgesetzten ausrichten, dass ich doch nicht zurück zur Allianz kommen möchte, für mich hat sich etwas anderes ergeben. Das ist nicht persönlich gemeint, mein nächster Arbeitgeber hat mir einfach mehr Unterstützung bei einer privaten Angelegenheit zugesichert, genauso, wie es damals bei meinem Wechsel von der Allianz zu Cerberus gewesen war.“

Ein leichter Schatten huschte über sein Gesicht.

„Nun, diese Partnerschaft ist alles andere als glücklich ausgegangen. Sie haben die Regeln geändert und sich alles zu eigen gemacht, was meine Arbeit war. Aber wie euch mit Sicherheit aufgefallen ist, habe ich Cerberus deutlich gemacht, dass man es sich nicht mit mir verscherzen sollte. Da ich keinen persönlichen Groll gegen die Allianz hege, habe ich vor meiner Abreise aber noch ein kleines Abschiedsgeschenk für euch hinterlassen. Cerberus wird diese Anlage zum Zeitpunkt eurer Ankunft verlassen haben, weil sie völlig die Kontrolle verloren hatten und ich ihnen gesagt habe, dass die Allianz auf dem Weg ist, weshalb sie wahrscheinlich alle verwertbaren Informationen vernichtet oder unerreichbar gemacht haben. Aber ich habe euch die Daten von fünf ausgewählten Projekten aufbereitet und dort beim Fenster hingelegt. Sie alle sind oder waren Marines der Allianz, weshalb sie für euch von besonderem Interesse sein dürften. Viel Vergnügen damit.“ Er winkte noch einmal zum Abschied, dann wurde der Bildschirm wieder dunkel.

Tobyn schüttelte den Kopf. „Was ist das bloß für ein Kerl?“

„Denk nicht darüber nach, er spielt gerne Spielchen“, sagte Norah und ging hastig auf die Datenpads zu. Anna schloss sich ihr an und nahm das ganz rechte in die Hand, Norah entschied sich für das in der Mitte. Es war ein Volltreffer. Auf dem orangefarbenen Bildschirm erschien ein Schriftzug.
 

-Projekt Webber, Ellen-
 

Sie konnte kaum fassen, was sie gerade in den Händen hielt.

„Woher kennst du Vicerus, Norah?“, fragte Tobyn misstrauisch, doch Norah winkte bloß ab.

„Nicht jetzt, Tobyn.“

Sie öffnete die aktuellste Datei, welche von vorgestern war. Diese bestand lediglich aus zwei Sätzen.

„Ellen ist gemeinsam mit Katlyn aus der Basis geflohen. Ziel unbekannt.“

Norahs Hände begannen zu zittern. Sie hatte Ellen um bloß zwei Tage verpasst. Wie konnte das sein? Wie konnte sie bloß so viel Pech haben?

Sie aktivierte ihr Omni-Tool, um alle Daten auf dem Pad zu scannen und an ihr Schiff, die SSV Madrid, zu schicken. Nachdem das getan war, dachte sie einen Moment nach. Diese Informationen vielen unter die höchste Sicherheitsstufe, weshalb sie nicht dazu befugt war, sie zu lesen. Während des Lehrgangs war ihnen eingetrichtert worden, dass sie bei der Datenbergung meistens keinen Blick darauf werfen sollten, worum es sich handelte, es sei denn, es war nötig, um die Mission erfolgreich beenden zu können. Ein Verstoß dagegen konnte hart geahndet werden. Doch Norah entschied sich, diese Regel zu brechen, und musste darüber ein wenig schmunzeln. Wie kam es bloß, dass immer Ellen involviert war, wenn sie beschloss, Anweisungen von Vorgesetzten zu missachten?

Sie entfernte den kleinen Speicherchip aus dem Datenpad und steckte ihn ein.

Anna, die in der Zeit die anderen vier Pads gescannt hatte, beäugte sie nun mit zusammengekniffen Augen und fragte: „Norah, was tust du da?“

„Es ist Ellen“, antwortete sie mit leiser Stimme. Während einer Feier hatte Anna sie gefragt, warum sie nicht mal mit einem der Jungs ausging, und da hatte Norah ihr von Ellen erzählt. Sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, hatte es aber auch nicht an die große Glocke hängen wollen.

Anna sah sie mit aufgeklapptem Mund an.

„Etwa DIE Ellen?“

„Wer ist Ellen?“, fragte Tobyn neugierig.

Anna sah ihn genervt an. „Nicht jetzt, Tobyn.“ Dann weiteten sich ihre Augen vor Schreck und sie schrie: „Tobyn, hinter dir!“

Dass der Marine ein Biotiker war, rettete ihn in dem Moment das Leben. Instinktiv riss er eine Barriere hoch, welche die Gestalt, die ihn gerade anfallen wollte, rechtzeitig abwehrte. Bevor sich das Wesen aufrappeln konnte, hatte Tobyn sich umgedreht und es mit Stase am Boden festgehalten. Norah zog ihre Waffe aus der Halterung und verschoss zwei Salven.

„Scheiße, was war das denn?“, fragte Tobyn und trat näher an das Ding heran. Anna und Norah taten es ihm gleich, und gespannt beobachteten sie, wie die Stase nachließ und sich Blut auf dem Boden ausbreitete.

Vor ihnen lag etwas, das große Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte, der mit einem Tier gekreuzt worden war. Die zerfetzte Kleidung an seinem Körper bedeckte kaum die unglaublich muskulösen Arme und Beine, die in einer mit fünf Klauen besetzten Hand endeten. Das Gesicht war völlig deformiert, die dunklen Haare büschelweise ausgefallen und der riesige Kiefer war mit vielen, sehr scharf aussehenden Zähnen bedeckt.

„Das war mal ein Mensch, glaube ich“, sagte Anna, die sich hingehockt und das Wesen mit ihrer Waffe angestuppst hatte.

Norah stimmte zu. „Eins von Cerberus Experimenten.“

„Ist das etwa Ellen?“

Anna stand auf und gab ihm einen Klapps gegen den Helm. „Natürlich nicht, du Dummkopf.“

„Wie sieht es bei euch aus, Eli?“, fragte Lieutenant Commander Dyson über Funk.

„Vicerus ist fort, aber er hat uns eine nette Abschiedsnachricht hinterlassen. Und sogar ein Geschenk in Form von Forschungsdaten. Außerdem haben wir gerade das Projekt ausgeschaltet, das für die Leichen am Lift verantwortlich war, glaube ich. Wir sind aber unverletzt und gehen jetzt weiter.“

Sie hörte den Lieutenant seufzen. „Großartig. Gute Arbeit, wir treffen uns in zehn Minuten bei den Lifts. Glaube nicht, dass wir hier noch viel Verwertbares finden.“

„Verstanden“, antwortete Norah. Gemeinsam mit Anna und Tobyn machte sie sich auf den Weg, die restlichen Räume zu durchsuchen.
 

Ein wenig später war es ihre Aufgabe, die Quartierebene zu überprüfen. Dort gab es nicht wirklich viel zu finden, weshalb nur Norah, Tobyn und Anna sich dort umsehen sollten, während der Rest sich um die Etage darunter kümmerte.

Sie spazierten langsam einen Flur entlang und durchsuchten abwechselnd die angrenzenden Zimmer, die den Forschungssubjekten gehört zu haben schienen. Meist bestanden die Räume nur aus einem Bett und einem kleinen Badezimmer und beinhalteten keinerlei persönliche Gegenstände. Das sie in einem davon allerdings einen kleinen Stoffhasen gefunden hatten, hatte sie alle schockiert.

„Kinder“, hatte Tobyn gekeucht, „wie krank ist das denn?“

„Cerberus kennt keine Grenzen“, erwiderte Norah in einem finsteren Ton. Es war eine Sache, Experimente an Erwachsenen durchzuführen, aber bei Kindern nahm das Ganze noch einmal völlig andere Ausmaße an. Was dachten sie sich bloß dabei? Gar nichts, beantwortete Norah sich ihre Frage selbst. Genau das war das Problem, den Personen hinter Cerberus waren Dinge wie ethische Moral einfach völlig egal.

„Norah, hier“, sagte Anna, die inzwischen bereits eine Tür weiter gegangen war. „Das solltest du dir ansehen.“

Sie wusste bereits, was sie dort erwarten würde, als sie zu ihrer Kameradin ging. Anna deutete auf ein Schild, dass mit „Webber, E.“ beschrieben worden war. Norahs Herz setzte einen Satz aus, nur um dann umso schneller zu schlagen. Vermutlich würde sie in dem Raum nichts anderes erwarten als in den Vorherigen, aber sie hoffte trotzdem darauf, etwas zu finden, als sie die Tür öffnete.

„Komm, geben wir ihr einen Moment“, hörte sie Anna sagen und die anderen beiden Marines gingen weiter.

Andächtig betrat Norah den kleinen Raum und sah sich um. Sie war ein wenig enttäuscht, weil hier tatsächlich nur ein Bett stand und sonst weiter nichts. Mit den grauen Wänden und dem tristen Licht ergab das ganze eine deprimierende Szenerie.

Norah setzte sich auf das Bett und nahm ihren Helm ab. Sie wünschte sich, dass sie etwas persönliches von Ellen gefunden hätte, selbst wenn es auch nur eine Kleinigkeit gewesen wäre. Gedankenverloren nahm sie das Kopfkissen in ihre Hände und strich darüber. Dabei nahm sie den Hauch eines Geruchs wahr, der ihr nur zu bekannt war. Mit Tränen in den Augen drückte sie das Kissen fest an sich und atmete so viel von Ellens Duft ein, wie sie konnte. Sie hätte alles dafür gegeben, um ihre Freundin wieder bei sich zu haben. Während der Einsätze schaffte sie es, das Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen, doch wann immer sie eine ruhige Minute hatte, traf es sie meistens wieder wie ein Schlag.
 

Als sie endlich wieder an Bord der SSV Madrid waren, zog Norah sich nach dem Duschen und gemeinsamen Essen mit ihren Kameraden zurück, um Vicerus Akte über Ellen zu lesen. Je mehr sie erfuhr, desto erschütterter war sie. Was man ihr alles angetan hatte, war einfach unfassbar. Und dann noch die Exekutionen, zu denen sie angestiftet worden war …

Norah konnte es verstehen, wenn Ellen nach all dem eine Art Auszeit brauchte. Sie würde nach Hause kommen, wenn sie so weit war, und Norah würde so lange auf sie warten, wie lange auch immer es dauern mochte.
 

Gelangweilt saß Ellen auf einem unbequemen Sofa und starrte auf das riesige Fernsehbild an der Wand gegenüber, ohne wirklich hinzusehen. Gerade wurde irgendeine turianische Seifenoper gezeigt, doch das interessierte sie nicht, sie ließ den Fernseher einfach nur laufen, damit sie sich in dem kleinen Appartement nicht einsam fühlte. Wann immer es zu ruhig war, wanderten ihre Gedanken zurück zu der Forschungseinrichtung, und Katlyn ging es nicht viel besser damit.

Sie waren inzwischen seit etwas über einer Woche auf Omega. Ellen sah auf die digitale Uhr neben dem flackernden Bildschirm, welche sie nach der Erdenzeit eingestellt hatten, denn es hatte für sie etwas befriedigendes an sich, die Tageszeit wieder zu kennen und selbst bestimmen zu können, wann man aufstand oder schlief. So wie auch heute, am 5. November 2183 um 18.36 Uhr.

„Ich bin wieder zu Hause“, rief Katlyn vom Flur und Ellen könnte hören, wie sie ihre Stiefel in eine Ecke pfefferte. Sie musste über die Bezeichnung „Zuhause“ schmunzeln. Nach ihrer Ankunft auf Omega waren sie zunächst in einem billigen Hotel untergekommen, welches das einzige auf der ganzen Station zu sein schien, und hatten gestern schließlich dieses kleine Appartement in einem der unteren Distrikte bezogen. Es hatte neben dem Wohnzimmer, in dem sich auch eine Kochecke befand, noch ein Schlafzimmer und ein kleines Bad. Der Makler und Vermieter, ein geschäftiger Salarianer, hatte ihnen versichert, wie viel Glück sie doch hatten, denn freie Wohnungen mit speziell auf Menschen zugeschnittener Einrichtung waren zur Zeit Mangelware. Was genau an dem Inventar so besonders sein sollte, hatten weder Ellen noch Katlyn feststellen können, doch es war ihnen eigentlich auch gleich, sie hatten einfach nur eine Unterkunft gebraucht, und nachdem sie ohne zu diskutieren den mit Sicherheit überteuerten Mietpreis gezahlt hatten, war der aufdringliche Salarianer auch sofort verschwunden.

Dass sie derzeit sehr zahlungskräftig waren, verdankten sie Katlyn. Irgendwie hatte sie es geschafft, vor ihrer Flucht aus der Station mehrere Creditkarten mitgehen zu lassen.

„Du willst gar nicht wissen, wie ich an die gekommen bin“, hatte sie bloß abwinkend geantwortet, als Ellen sie danach gefragt hatte. „Aber wir haben ungefähr 80.000 Credits, damit dürften wir eine Weile auskommen, solange sie nicht gesperrt werden.“ Zu ihrem Glück war das noch nicht geschehen, und sie hatten sich neben dem Appartement bisher nur Kleidung und Nahrung davon geleistet. Ihre Klamotten von Cerberus, mit denen sie hier angekommen waren, hatten sie vor drei Tagen feierlich verbrannt.

Katlyn kam in das spärlich eingerichtete Wohnzimmer und stellte zwei Plastiktüten auf den breiten, metallenen Tisch.

„Mit besten grüßen von Mister Chang“, sagte sie zufrieden und ließ sich neben Ellen auf das Sofa fallen. Als sie gestern bummeln waren, hatten sie sehr zu ihrer Freude einen kleinen chinesischen Imbiss in einer Seitengasse entdeckt. In manchen Teilen Omegas, wie sie bereits feststellen mussten, war es nahezu unmöglich, für Menschen genießbares Essen aufzutreiben, weshalb sie umso glücklicher über ihren Fund gewesen waren.

„Außerdem habe ich ein Shampoo aufgetrieben, von dem angeblich die Haare schneller nachwachsen. Gott, Ellen, was läuft da denn für ein Schrott?“, fragte Katlyn belustigt, nachdem sie einen Moment lang die Sendung verfolgt hatte.

Ellen schüttelte den Kopf und drückte ihr die Fernbedienung in die Hand. „Keine Ahnung, tob dich aus.“ Sie beugte sich vor und griff nach einer der Tüten, in der zwei Pappschachteln mit Stäbchen waren. Hungrig reichte sie eine Portion an Katlyn und öffnete dann ihre eigene. Reis mit Gemüse und Fleischstücken, die hoffentlich Hühnchen waren. Außerhalb der Erde konnte man sich bei solchen Dingen nicht sehr sicher sein. Doch sie tat es mit einem Achselzucken ab und schaufelte sich das Gericht rein, so gut es mit den Stäbchen ging. Schon als Kind hatte sie sich damit nie besonders geschickt angestellt.

„Dein Appetit ist wirklich bemerkenswert“, sagte Katlyn, die ihr zugesehen hatte.

„Liegt an der Biotik“, erwiderte Ellen zwischen zwei Bissen. „Hat einer von Vicerus Wissenschaftlern mal erklärt.“

Bei dem Namen zuckten sie beide unwillkürlich zusammen, und eine Weile lang aßen sie schweigend weiter, während nur der Fernseher zu hören war. Bisher hatten sie Gespräche über die Forschungseinrichtung vermieden, genauso wie über alle Dinge, die davor gewesen waren. Ellen wusste über Katlyn bisher nicht sehr viel außer ihren Vornamen, hatte aber auch nicht fragen wollen. Es gab ein stilles Einverständnis darüber, solche Themen erst anzusprechen, wenn sie beide soweit waren.

„Hast du Vadim getötet?“, fragte Katlyn plötzlich. Sie sah Ellen dabei nicht an, sondern stocherte konzentriert in ihrer Papschachtel herum.

Ellen hielt inne und musterte sie. „Spielt das eine Rolle?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Katlyn achselzuckend. „Er hätte es mehr als verdient gehabt. Aber ich glaube, ich könnte es irgendwie verstehen, wenn du es nicht getan hättest.“

Ellen dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete. Doch es brachte nichts, die Wahrheit zu verschleiern, und sie hatte eigentlich auch keinen Grund, Katlyn anzulügen. Dadurch, dass sie beide das selbe durchgemacht hatten, bestand eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen, obwohl sie sich bisher kaum kannten.

„Er lebt“, sagte sie schließlich. „Noch. Aber irgendwann ...“

Irgendwann was? Wie wahrscheinlich war es, realistisch betrachtet, dass sie Vadim noch einmal begegnete, und so eine Chance bekäme? Die Wahrscheinlichkeit dafür ging wahrscheinlich gegen Null, und Ellen fühlte sich plötzlich furchtbar deswegen. Sie hatte es in der Hand gehabt, für sich und alle anderen Personen, die von dem Cerberusoffizier malträtiert worden waren, Gerechtigkeit zu erlangen.

Katlyn legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte sie aufmunternd an. In ihrem Blick lag eine Spur Traurigkeit, doch irgendwie schaffte sie es trotzdem, dass Ellen sich ein wenig besser fühlte.

„Ja, irgendwann. Und ich werde dir dann dabei helfen“, sagte sie und es klang wie ein Versprechen.

Danach schwiegen sie eine Weile und beendeten ihr Abendessen. Schließlich schnappte Ellen sich die Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus und stand auf.

„Komm, wir gehen heute aus. Wir haben ja noch gar nicht richtig auf unsere Freiheit angestoßen.“ Sie hatte Lust, sich einfach mal gehen zu lassen und die Erinnerungen an die letzten Monate mit Alkohol abzutöten, so gut es ging. Katlyn stimmte ihrem Vorschlag begeistert zu.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Dark777
2014-08-27T17:32:04+00:00 27.08.2014 19:32
2 verfluchte Tage und Ellen und Norah hätten sich endlich wiedergesehen >_<! Andererseits ist es auch ganz gut so, dass Ellen erst einmal ihre Auszeit bekommt. Ich glaube kaum, dass sie irgendjemanden in ihrem jetzigen Zustand so sehen sollte..........so gebrochen wie sie ist. Beim letzten Kapitel hat es nicht gleich klick gemacht, aber nun erinnere ich mich wieder an Omega. Ich schätze mal ihr nächster Lebensabschnitt wird sich mit Kopfgeldjagden befassen. Sie muss nur aufpassen, dass sie nicht zu sehr in kriminelle Machenschaften verstrickt wird. Allerdings hat sie Katlyn an ihrer Seite, ich schätze mal sie wird auf Ellen achten. Das Kapitel hinterlässt einen Hauch von Melancholie und begeistert mich einmal mehr. Ich kann es wie immer kaum abwarten weiterlesen zu können!

V(~_^)
Von:  fahnm
2014-08-23T02:02:57+00:00 23.08.2014 04:02
Hammer Kapi^^

Schade Norah hat sie knaüü verpasst.
Freue mich schon aufs nächste kapi
Von:  dragon493
2014-08-22T06:31:28+00:00 22.08.2014 08:31
tolles Kapitel
Schade das norah Ellen so knapp verpasst hat
Gut das Ellen erst mal in Sicherheit ist
freu mich aufs nächste Kapitel
lg dragon493


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