Der Traumexorzist von avacairen ================================================================================ Kapitel 4: -+- 4 -+- -------------------- Zwei Wochen später…. Vander sah misstrauisch zu dem Blinden hinüber. Er wusste nicht recht, was er von ihm halten sollte. Jedenfalls traute er ihm nicht. Im Gegensatz zu Nicra. Sie schien sich recht gut mit ihm zu verstehen. Schon seit dem Aufeinandertreffen mit ihm. Natürlich begegnete man seinen Rettern mit Freundlichkeit, aber etwas an dem Verhalten des Blinden störte ihn. Er kam nur nicht recht darauf, was es war. Vielleicht fand er den Blinden, der sich mit dem Namen Dancyn vorgestellt hatte, nur deshalb so sonderbar, weil er ihn und Nicra vor einer giftigen Schlange gerettet, und anschließend vor Anhängern der Dunklen Gilde gewarnt hatte. Natürlich hatten Blinde ein gutes Gehör, und das mit der Schlange war ja auch noch halbwegs nachzuvollziehen, aber woher sollte er wissen, dass die Leute, die in der Nähe ihres Lagerplatzes herumstreunten, Anhänger der Dunklen Gilde waren? Abgesehen davon, warum sollten sie sich vor diesen Gildehunden verstecken? Vander erhob sich und ging in ihrem Lager auf und ab. Vielleicht war es nicht unbedingt Dancyn, der ihn misstrauisch machte, sondern die Gesamtsituation. Seit zwei Wochen fühlte er sich ein wenig merkwürdig. Womöglich lag es noch an dem Schock, den er erlitten hatte, auch wenn es sich nicht so anfühlte. Was ihn ebenfalls nachdenklich stimmte, war Nicras Meinungsumschwung. Denn nun waren sie nachdem Dancyn zu ihnen gestoßen waren, nicht mehr auf dem Weg nach Evameer, sondern auf den Weg in die Kerembiq-Ebene. Was Nicra dort suchte, wusste er nicht genau. Ihm machte es nichts aus, wohin sie gingen, solange es nur weit genug weg war. Und die Kerembiq-Ebene war noch meilenweit entfernt. Dancyn hatte überhaupt nicht gefragt, wo sie hinwollten, er hatte lediglich gefragt, ob er mitreisen konnte. Er jedenfalls kam aus der Richtung Evameer, und als sie ihn gefragt hatten, von wo er kam, hatte sich das bestätigt. Vander blieb stehen, und drehte sich wieder zu dem Blinden um. Er würde es ja sicher nicht bemerken, wenn er ihn eingehend musterte. Immerhin war er ja blind. Dancyn saß ruhig auf einem dicken Stamm, den sie in ihr Lager geschleppt hatten. Er hielt einen hölzernen Becher gefüllt mit Wasser in der Hand. Sein Bick war geradeaus gerichtet. Na gut, was sollte man auch von einem Blinden erwarten. Aber dennoch erschien er ihm ziemlich jung. Jedenfalls mochte er ein Stück jünger sein als er. Vander schätzte ihn auf etwa achtzehn oder neunzehn. Er selbst war fünfundzwanzig. Dennoch war Dancyn groß für sein Alter und ein wenig drahtig. Sein helles Haar war wuschelig, aber nicht ungepflegt, und auf seiner blassen Haut waren an manchen Stellen kleine Narben zu erkennen. Vor allem an den Händen. Was konnte ein Blinder tun, dass er solche Hände hatte? Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Gerade dann, als Nicra das Lager wieder betrat. Sie war im Wald gewesen und hatte Kräuter gesammelt, die sie für einen speziellen Tee brauchte. Wieso dieser Tee speziell war, hatte sie allerdings nicht verraten. „Hallo ihr beiden!“, grüßte sie fröhlich, als sie im Lager ankam. Dancyn drehte sich in ihre Richtung, lächelte und winkte, während Vander ihr zunickte. „Sehr gesprächig“, seufzte sie belustigt und machte sich daran den Tee vorzubereiten. Bis dieser fertig war, was bis zum Abend dauerte, sagte keiner von ihnen ein Wort. Dancyn saß den ganzen Nachmittag auf dem Stamm. Er schien eingenickt zu sein, das zumindest verriet seine Haltung. Vander ging kontinuierlich auf und ab, während er Nicra beim Teemachen zusah. Langsam wurde es dunkel und mit der aufkommenden Dämmerung ging auch ein Temperaturumschwung einher. Am Nachmittag war es noch ziemlich warm gewesen, doch diese Wärme wich rasch einer nächtlichen Kälte. Mit dem Aufkommen der Dunkelheit wurde es immer stiller. Die Vögel, die den ganzen Tag ihr Lied gesungen hatten, verstummten allmählich. Der Tee wurde schließlich fertig, und Vander setzte sich zu Nicra ans Feuer. Dancyn schlief noch. Nicra hatte sich inzwischen wegen der abendlichen Kühle eine Decke geholt, und sie um ihre Schultern gelegt. Auch Vander fröstelte ein wenig, doch er rückte nur ein Stück näher an das Feuer heran. Nicra reichte ihm einen Becher Tee, den er dankend annahm, aber dennoch ein wenig skeptisch beäugte. Der Tee roch eigenartig süßlich, war aber dennoch klar anstatt trüb. Vander wandte sich an Nicra, die bereits genüsslich den Tee trank. „Was ist das für ein spezieller Tee?“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Das wirst du schon sehen. Probier ihn doch mal.“ Vander blickte wieder in die klare Flüssigkeit. „Wenn du es auch trinkst, wird es ja nicht giftig sein.“ Damit trank er den ersten Schluck, und es war, als würde es ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Auf einmal brach alles auf ihn ein. Die ganzen Sinneseindrücke, die seine Umgebung hinterließ. Er vernahm das Prasseln des Feuers intensiver als zuvor, genau, wie er dessen Hitze deutlicher wahrnahm. Er wurde sich der Anwesenheit Nicras sehr viel bewusster, und ihre Präsenz lösten für einen kurzen Augenblick gewisse Gefühle in ihm aus. Auch Dancyn nahm er jetzt deutlicher wahr, auch wenn er noch immer zu schlafen schien. Doch bis jetzt war Vander die kühle und seiner Empfindung nach leicht bedrohliche Ausstrahlung des Blinden noch nicht aufgefallen. Er stutzte. Die Wirkung des Tees ließ nach und schlagartig schwand die Intensität der Sinneseindrücke, bis sich seine Empfindungen wieder normalisiert hatten. Vander starrte den Tee an, dann wanderte sein Blick zu Nicra, die ihn mit einem verzückten Lächeln ansah. Im ersten Moment dachte er, Nicra wolle ihm eine Droge verabreichen, allerdings würde das nicht erklären, warum sie ebenfalls den Tee trank. „Was ist da bitte drin?!“, fragte er. Daraufhin zählte sie ihm etliche Kräuter auf, von denen er noch nie im Leben gehört hatte. „Die Kräuteressenzen stimulieren die Geschmacksrezeptoren auf eine spezielle Art. Deswegen bewirkt der Tee gewisse Gefühle, wenn wir ihn trinken. Aber der Tee hat immer eine andere Wirkung auf andere Leute.“ Vander nickte nur, und trank einen weiteren Schluck des Tees. Sofort kehrte die Intensität seiner Empfindungen zurück. „Wie wirkt der Tee auf dich?“, fragte sie mit ehrlicher Neugier. „Er ist im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend“, sagte er, woraufhin sie vergnügt kicherte. „Bei mir wirkt er so, dass ich mich einfach wohl fühle. Es ist ein angenehmes Gefühl.“ Sie sah hinüber zu Dancyn. „Es würde mich interessieren, wie der Tee bei ihm wirkt. Meinst du, wir sollten ihn wecken?“ Vander schüttelte den Kopf. „Nein, lass ihn lieber. Vielleicht hat er ja schlechte Laune, wenn wir ihn wecken.“ Ihr Blick wanderte wieder hinüber zu Vander. „Du vertraust ihm nicht.“ Vander sah ihr für einen kurzen Moment in die dunkelblauen Augen, dann drehte er seinen Kopf weg. „Nicht völlig.“ Warum fragte sie ihn das? Einen Moment schwiegen sie beide. Die Nacht hatte inzwischen ihre schwarzen Schwingen über dem Himmel ausgebreitet. Es zog eine kühle Böe auf. An Vanders Armen bildete sich eine leichte Gänsehaut, doch er fror nicht. Nicra zog die Decke enger um sich. „Warum vertraust du ihm nicht? Gibt es dafür einen gewissen Grund?“ Vander überlegte. Gab es den? Eigentlich nicht. Es war bloß so ein Gefühl, das ihn warnte. Ein kleiner leiser Hintergedanke, der ihm sagte, er solle dem Blinden nicht gänzlich vertrauen. Doch einen nennenswerten Grund gab es dafür nicht. Er konnte Nicra sagen, dass es daran läge, dass er nicht genug über ihn wisse, allerdings wusste er genauso wenig über sie. „Es gibt keinen besonderen Grund. Es ist nur so, dass--“ Von seiner rechten Seite aus erklang ein Gähnen. Dancyn schien wach geworden zu sein. Vander verstummte und wandte sich wieder seinem Tee zu. Nicras Blick ruhte einige Sekundenbruchteile auf ihm, bis sie sich Dancyn zuwandte. „Na, wieder wach?“, sagte sie fröhlich. Dancyn drehte seinen Kopf zu ihr und lächelte. „Wie spät ist es?“, fragte er. „Die Nacht ist bereits hereingebrochen“, sagte sie, und er sah ein wenig ungläubig drein. „So spät schon? Wie lange habe ich denn geschlafen?“ „Den ganzen Nachmittag“, lachte sie, füllte einen Becher mit Tee, und gab ihn Dancyn. „Was ist das?“, fragte er. „Es riecht so ähnlich wie Honigwein.“ „Es ist Tee. Ich habe ihn mit speziellen Kräutern versetzt, deswegen riecht er so süßlich.“ „Ach so“, er lächelte und nahm einen großzügigen Schluck. Nicra beobachtete Dancyn und wartete auf einen Reaktion. „Schmeckt gut. Für mich ist er auch nicht zu süß. Ist Vander eigentlich nicht hier?“ Nicra wirkte ein klein wenig enttäuscht. Sie hatte sich wohl erhofft, eine Aussage darüber zu erhalten, was der Tee bei Dancyn bewirkte. „Doch, er sitzt hier.“ „Ach so.“ Dancyn drehte sich leicht in die andere Richtung, fixierte allerdings einen Punkt an Vander vorbei, und grüßte ihn. „Hallo Vander.“ Vander nickte. „Hallo.“ Es mochte nicht das erste Mal sein, dass Dancyn dachte, Vander sei nicht da. Er wusste nicht recht, wie er mit Dancyns Blindheit umgehen sollte. Es wirkte einfach seltsam auf ihn, wenn der Blinde ihn ansprach und teilweise in eine vollkommen andere Richtung sah. Nicra wandte sich wieder an Dancyn. Sie hatte es wohl noch nicht aufgegeben, von Dancyn entlocken zu wollen, wie der Tee auf ihn wirkte. „Und?“, fragte sie neugierig. Er drehte seinen Kopf wieder in ihre Richtung. „Was und?“ „Wie fühlst du dich?“ Dancyn schien durch die Frage verwirrt, was Vander dazu brachte zu bezweifeln, dass der Tee eine Wirkung auf ihn gehabt hatte. „Genauso wie vorhin, fürchte ich“, sagte er. „Ach so“, erwiderte sie. In ihrer Stimme schwang Enttäuschung mit. Die drei schwiegen. In der Ferne hörte man eine Eule, während man das durchgehende Rauschen der Blätter der Bäume im naheliegenden Forst hörte. Der Wind wurde ein wenig stärker, und im Lager wurde es deutlich kühler. Vander stand auf um sich seinen Mantel zu holen, den sie bei ihrer letzten Rast in einem kleinen Dorf gekauft hatten, und kam anschließend wieder zum Feuer zurück. Dancyn schien nicht zu frieren. Er saß in seinem dünnen Hemd auf dem Baumstamm, ohne ein Anzeichen darauf, dass er es als kalt empfand. Noch nicht einmal Gänsehaut hatte sich auf seiner blassen Haut gebildet. Vander richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Feuer. „Ich übernehme heute Nacht die Wache“, erklärte Dancyn plötzlich. Die Köpfe der beiden Verbleibenden drehten sich zu ihm. „Wache?“, fragte Nicra. Dancyn nickte. „Für den Fall, dass sich Banditen hier herumtreiben. Zum Beispiel. Ich habe heute den ganzen Nachmittag geschlafen, deswegen könnt ihr euch ausruhen, und ich übernehme die Wache.“ Vander schaute nachdenklich. „Und für den Fall, dass da jemand ist?“, fragte er. „Was wirst du dann tun?“ Der Blinde sah in Vanders Richtung. „Ich kann euch rasch wecken.“ Beide schienen kurz zu überlegen, ehe Vander sagte: „Gut, in Ordnung. Ich lege mich dann schon mal schlafen. Gute Nacht“, und damit das Lagerfeuer verließ. Nicra saß noch eine Weile zusammen mit Dancyn am Lagerfeuer, und unterhielt sich leise mit ihm, ehe sie sich ebenfalls schlafen legte. Kaifar sprang von dem Karren ab, der langsam durch die Straßen der Stadt rollte. Die Fahrt von Alantria in die Hafenstadt Juewon war lang und holprig gewesen, weshalb Kaifar froh war sich endlich die Füße vertreten zu können. Rasch lief er um den Wagen herum, um dem Fahrer zu danken, der ihn von Alantria bis Juewon mitgenommen hatte. Der Fahrer, ein älterer Händler, verabschiedete Kaifar mit einem freundlichen Kopfnicken ehe er weiterfuhr. Kaifar sah ihm mit einem Lächeln nach, und strich anschließend seine neuen Kleider glatt, die von der Fahrt ganz zerknittert waren. Sheera hatte ihm gesagt, er solle ordentlich herumlaufen, damit keiner dachte er sei ein Dieb oder ein Herumtreiber. Er war zwar mit seinen sechzehn Wintern nun volljährig, aber dennoch sah man ihm seine bäuerliche Herkunft anhand seines Verhaltens an. Unter den reichen Kaufleuten erregten gut gekleidete Bauernjungen zwar Argwohn, aber dennoch nicht annähernd so viel wie ein Bauernjunge, der aussah als hätte er es nötig anderen Leuten die Börse zu stehlen. Kaifar erinnerte sich, was Sheera ihm über das Benehmen gesagt hatte, und versuchte es ihren Anweisungen nach zu tun. Er stellte sich aufrecht um nicht wieder mit gekrümmten Rücken durch die Gegend zu schlurfen, wie er es bisher gewohnt war. Außerdem versuchte er seine Füße parallel zu halten, sodass seine Füße nicht wieder jeweils links und rechts zur Seite gingen, und es nicht aussah als würden seine Füße ein gedachtes Dreieck bilden. Er untersuchte sogar seine Fingernägel nach Dreck, und richtete seinen Hut. Vielleicht hätte er mit dieser Haltung als Adeliger durchgehen können, würde er teurere Kleider tragen. Zufrieden mit sich selbst wandte er sich endlich der Stadt zu, durch dessen Tore er vor einigen Minuten gekommen war. Juewon war riesig. Das hatte er zwar schon zuvor gewusst, aber jetzt hatte er die Größe dieser einzigartigen Stadt wahrhaft vor Augen. Die Hafenstadt lag auf einem Hügel und zog sich bis hinunter zum Meer, weshalb man ihr Ausmaß gut überblicken konnte. Juewon war nicht nur die sauberste Stadt des Landes, sondern auch eine der reichsten Städte im Länderbund. Sie war ein wichtiger Angelpunkt des Handels, und durch ihren großen Hafen legten die meisten Seefahrer dort an, um ihren Proviant aufzustocken. Dass Händler aller Herrenländer in das Halszentrum Juwewon kamen, wurde ihm deutlich, als Kaifar durch die gepflasterten Straßen der Stadt lief. Bei dieser Vielfalt an Menschen würde noch nicht einmal der Exorzist auffallen, wenn er hier offen über die Straße lief. Der Exorzist. Bei diesem Gedanken schauderte Kaifar. Er blieb auf einer Brücke stehen, die einen der vielen Kanäle Juewons überspannte, lehnte sich an das Geländer und sah in das klare Wasser. Als er sein verschwommenes Ich in dem fließenden Wasser des Kanals betrachtete, fiel ihm wieder ein, weshalb er nach Alantria gereist war. Er war wegen des Exorzisten gekommen. Die Geschichten um diesen Mann hatten ihn bereits vor Meg’s Exorzierung fasziniert. Schon zwei Winter zuvor hatte er es sich vorgenommen herauszufinden, wer dieser Mann war, und was sein Geheimnis war. Und nun, da er volljährig war, hatte er es sich ernsthaft vornehmen können, sein Ziel zu erreichen. In der letzten Woche war der Gedanke an den Exorzisten allerdings vollkommen in den Hintergrund getreten. Ursachen dafür waren nicht nur das Angebot von Sheera und ihrem Kumpanen Itch, bei ihnen einzusteigen und für ein angemessenes Gehalt für sie zu arbeiten, und die Aufgaben, die er bis zu diesem Zeitpunkt zu erledigen hatte, sondern auch weil man seit einer Woche nichts mehr von dem Exorzisten gehört hatte. Jetzt, wo er so darüber nachdachte, erschien es ihm merkwürdig. Der Exorzist war immer ein Thema gewesen, über das sich die Leute gerne unterhielten, und immer wenn der Exorzist irgendwo aufgetaucht war, und dort seine Arbeit getan hatte, wurde es weitererzählt. Doch seit einer Woche hörte man nichts mehr von ihm. Das letzte was über den Exorzisten erzählt wurde war, dass er in Evameer, der Hauptstadt des benachbarten Königreiches Lluvien, mit einem wahnsinnigen Mörder gekämpft hatte, und diesen getötet hatte. Diese Nachricht hatte die Leute in Aufruhr versetzt. Nach der spektakulären Hexenverbrennung in Alantria, der Kaifar ja selbst beigewohnt hatte, war dieses Ereignis um einiges erschreckender gewesen. Auch für ihn. Danach hatte man nichts mehr von dem Exorzisten gehört. Die Leute fragten sich oft gegenseitig, was nun mit ihm passiert sein möge, doch keiner hatte eine Antwort darauf. Auch Kaifar nicht. Aber er nahm sich vor, es herauszufinden. Zunächst aber musste er die Aufgabe erledigen, wofür er nach Juewon gekommen war. Es war nicht einfach für ihn, so zu tun als ob er tatsächlich nichts von seiner Umgebung mitbekommen würde. Dass er nichts sah, brauchte er nicht zu spielen, immerhin er sah tatsächlich nichts. Doch eigentlich musste er sich deshalb nicht gleich wie ein Blinder benehmen, der sich ahnungslos in der Welt herumtastete. Schließlich wusste er, was um sich herum geschah, konnte deshalb aufrecht gehen, ohne gleich über alles Mögliche zu stolpern. Doch das wussten seine Mitreisenden Nicra und Vander natürlich nicht. Also bemühte er sich in leicht geduckter Haltung zu gehen, und mit einem Stock vorsichtig über den Boden zu tasten. Dabei kam er sich albern vor. Außerdem hatte er das Gefühl, damit Leute zu verhöhnen, die tatsächlich nicht wussten, wo sie waren, und wie die Welt um sie herum aussah. Dennoch war es wichtig, dass Nicra und Vander nicht wussten, wer er war. Keiner durfte es wissen. Nur sehr wenige Anhänger der Dunklen Gilde kannten sein wahres Äußeres, und ebenso wenige wussten, dass er blind war. Das Unwissen der anderen Mitglieder der Gilde war vorteilhaft, denn so konnte er unentdeckt bleiben, sofern er seine Tarnung als Blinder aufrecht erhielt. Doch die Gilde bestand leider nicht nur aus Stümpern. Es gab auch sehr fähige Mitglieder der Gilde, vor allem in den höheren Rängen. Und genau das war sein Problem. Was würden Vander und Nicra denken, wenn sie wüssten mit wem sie eigentlich unterwegs waren. Er musste verhindern, dass sie es erfuhren. Oder er musste dafür sorgen, das ist zumindest nicht bekannt wurde. Und dafür würde er einiges riskieren. Es gab nur zwei wichtige Sachen, für die der wirklich Sorgen musste. Zum einen musste er am Leben bleiben, und zum anderen wusste er seinen Auftrag erfüllen. Die Reise mit Vander und Nicra ging beinahe schleppend voran. Aber er hatte es nicht eilig, und ebenso wenig schienen es die anderen zu haben. Um sein Ziel zu erreichen, braucht er ohnehin ein wenig Zeit. Und vor allem brauchte er diese Zeit zum Nachdenken. Möglicherweise hatte er Gegenspieler. Um diese galt es sich auch zu kümmern. Er wusste nicht genau, wo genau sie sich momentan befanden. Irgendwo auf der Strecke einer alten Handelsroute zwischen Evamer und Juewon. Diese Route war nicht beschildert, nur die Händler hatten sie damals gekannt. Doch zu dem Zeitpunkt wurde sie schon lange nicht mehr benutzt. Diese Route hatte Vander vorgeschlagen. Und sowohl Nicra als auch er waren damit einverstanden gewesen. Nachdem sie in Juewon gewesen waren, führte sie eine weitere Handelsroute an ihr Ziel, die Kerembiq-Ebene. Ab und zu kamen sie an kleineren Dörfern vorbei, in denen sie bei Gelegenheit Rast machten. Wenn abends jeder auf sein Zimmer war, hatte Dancyn Zeit für sich. Und diese Momente in den Gasthäusern waren fast die einzigen. Sonst hatte er immer Nicra und Vander um sich herum, und dadurch konnte er sich nicht natürlich verhalten, was ihn besonders darin einschränkte, sie davon abzuhalten von der Gilde entdeckt zu werden. Irgendwann würden sie sicher auf ihre Fährte stoßen. Und diese Sorgen hatte er schon die ganze Zeit. Sie waren schon Wochen unterwegs, als sie mitten im Wald ein altes Kloster entdeckten. Hätte es nicht in Strömen geregnet, hätten sie dieses Kloster auf ihrem Weg einfach hinter sich gelassen. Doch nun wollten sie Zuflucht vor den herabfallenden Wassermassen darin suchen. Zuvor hatten sie des Öfteren durch den Regen wandern müssen, weil es keine Möglichkeit gegeben hatte, sich vor ihm zu schützen, aber das Kloste war eine ebensolche Gelegenheit. Es war allerdings schon spät, die Nacht war schon beinahe vollständig hereingebrochen. Dennoch versuchten sie ihr Glück und klopften an der Pforte an. Ein Mönch öffnete ihnen nach einigen Minuten, und er sah gehetzt aus. „Was kann ich für Euch tun“, fragte der Mönch, er schien dabei leicht zu schnaufen und ein Schweißtropfen perlte ihm von der Stirn. Dancyn nahm es ebenfalls wahr, deutete aber mit keiner Geste an, dass er es tat. „Wir sind Wanderer und suchen einen Unterschlupf für diese Nacht bei diesem unglücklichen Wetter“, sagte Nicra freundlich. Der Mönch mochte wohl bemerkt haben, dass Dancyn blind war, denn er überlegte einen kleinen Moment mit einem nachdenklichen Blick und nickte dann. „Den Kindern des einen Gottes Animeiyas ein Dach über den Kopf zu geben, wenn sie es benötugen ist eine Pflicht und eine Freude der Diener des Herrn“, antwortete der Mönch schließlich und trat beiseite, damit die Wanderer eintreten konnten. Er wies Nicra und Vander den Weg, während er Dancyn stützte und ihn führte. Dancyn bedankte sich freundlich, hoffte aber dennoch, dass der Mönch nicht weitere Anstalten machen würde, ihm irgendwie behilflich zu sein. Der Mönch entschuldigte sich bei ihnen, dass sie bereits alle zu Abend gegessen hatten, woraufhin Nicra bloß abwinkte, und meinte, es sei in Ordnung. Dennoch bot ihnen der Mönch einige Scheiben Brot mit etwas Käse an, was die drei dennoch nicht ablehnen konnten. Während dem Essen fragte der Mönch sie, wo sie den hinwanderten, und Nicra erzählte ihm, sie wollten nach Juewon, Verwandte besuchen. Mit dieser Aussage erreichte Nicra, was sie wollte, denn der Vater erklärte ihnen, dass sie bloß noch fünf Tagesreisen von der großen Hafenstadt entfernt waren. Dancyn fühlte sich nicht wohl. Er konnte nicht sofort sagen,woran es lag, aber seit sie in das Kloster eingelassen wurden, hatte er doch ein komisches Gefühl. Doch einige Ursachen für dieses Gefühl konnte er sofort ausschließen. Es war niemand in der Gegend, den er kannte, und auch niemand aus der Dunklen Gilde. Das zumindest beruhigte ihn. Doch irgendwoher musste das Gefühl kommen. Im Stillen beschloss Dancyn der Sache auf den Grund zu gehen, sobald die anderen sich schlafen gelegt hatten. Irgendwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Nach dem kurzen Mal wies der Mönch ihnen Zellen zu, in denen sie nächtigen konnten. Vander und Dancyn bekamen eine größere unbewohnte, in der drei Betten standen. Offenbar ein Schlafraum, der für Novizen angedacht war. Nicra bekam als Frau, und wahrscheinlich der einzigen Frau in dem ganzen Gebäude, eine eigene Zelle, ganz am Ende des Ganges, damit sie niemand stören konnte. Der Mönch wünschte ihnen schließlich eine gute Nacht und verschwand rasch. Etwas zu rasch, wie Dancyn befand, der es schließlich mitbekam. Das rasche Davonhuschen des Vaters festigte nur seinen Verdacht, dass irgendetwas faul war. „Noch fünf Tage“, meinte Vander schließlich seufzend und riss Dancyn aus seinen Überlegungen. Er sah in Vanders Richtung. „In Juewon werden wir einen größeren Stop hinlegen, nicht war?“, fragte Dancyn, wobei er Vander wieder nicht direkt anblickte, was ihm selbst auch noch immer ungewohnt vorkam. Vander nickte, besann sich aber gleich darauf, dass Dancyn das Nicken ja nicht sehen konnte, und antwortete mit einem „Ja“. „Es wird gut tun, sich mal wieder in einer Stadt aufzuhalten“, meinte Dancyn und merkte sogleich seinen Fehler. Er war ja blind, was hielt er von einer Stadt, in dem ihm etliches passieren konnte, angefangen davon, dass er sich verlaufen konnte. Es schien Vander allerdings nicht groß aufzufallen. Er nickte wieder. „Da magst du recht haben. Man kann sich ein wenig von der Reise erholen und vor allem Neuigkeiten einholen.“ Daraufhin nickte Dancyn. Dasselbe dachte auch er. „Und wir können unsere Vorräte wieder voll aufstocken.“ „Nicra wird wieder darauf bestehen, irgendwelche Kräuter, Tinkturen und sonstigen Kram mitzunehmen, den wir nie im Leben brauchen werden“, meinte Vander seufzend, woraufhin Dancyn doch ein wenig schmunzeln musste. „Und wer darf das ganze Zeug wieder tragen? Ich“, fuhr Vander fort. „Ich könnte ruhig auch etwas nehmen“, meinte Dancyn schließlich. Vander schüttelte den Kopf, doch diesmal vergaß er, dass Dancyn das nicht sah. „Du bist blind. Sie wird dich niemals etwas mittragen lassen. Dafür hat sie zu viel Mitleid mit dir.“ Nun war es an Dancyn zu seufzen. „Mitleid macht meine Augen auch nicht wieder gesund.“ „Der Meinung bin ich auch.“ Eine Stille setzte ein. „Ich hau mich jetzt hin“, meinte Vander schließlich, brachte sich dann von der sitzenden Position in eine liegende und deckte sich zu. „Weichere Betten hätten sie uns auch nicht geben können“, kommentierte er, wobei sein Kommentar in der Tat nicht sarkastischer hätte sein können. „Selbst der Waldboden ist bequemer.“ „Na ja“, erwiderte Dancyn. „Besser als gar nichts. Gute Nacht, Vander.“ „Nacht...“ Auch Dancyn hatte sich hingelegt, aber mit dem Rücken zu Vander, bis er sich sicher war, dass Vander eingeschlafen war, was nicht allzu lange dauerte. Dennoch wartete Dancyn noch eine gute halbe Stunde, ehe er sich leise wieder aufsetzte. Sein ungutes Gefühl war noch immer nicht verklommen. Und jetzt bot sich die Gelegenheit der Sache auf den Grund zu gehen. So leise er konnte stand Dancyn auf, und verließ den Raum. Zusätzlich tastete er den Gang noch mit seinen Sinnen ab. Er spürte niemanden. Das war das Zeichen für ihn sich in Bewegung zu setzen. Beinahe ohne einen Laut auf den alten Holzdielen zu verursachen ging er den Gang hinab. Hier war der Mönch entlang gegangen, nachdem er Nicra ihre Zelle zugewiesen hatte. Vor allem als Dancyn an dieser vorbeiging verhielt er sich leise. Er war nicht sonderlich darauf aus, von Nicra erwischt zu werden. Aber er nahm keine größeren Bewegungen aus dem Zimmer wahr. Nicra schien ebenfalls schon zu schlafen. Leise zog Dancyn weiter bis der Gang eine Biegung machte, wo vor er vorerst stoppte. Doch nach dem kleinen Moment, in dem er dennoch niemanden wahrgenommen hatte, bog er ab, und musste erneut stehenbleiben. Vor ihm stand eine Leiter. Sie führte zu einer Luke in der Decke, die vermutlich zum Dachboden führte. Er hielt inne. Dancyn hatte zuvor bloß darauf geachtet, ob sich Leute in der Nähe befanden, aber er hatte das mulmige Gefühl nicht beachtet, was er schon die ganze Zeit hatte. Nun allerdings fiel ihm auf, dass er sehr nahe an der Quelle seines Unbehagens war. Was auch immer dort oben war, es war der Ursprung seines Unbehagens. Und langsam hatte er auch eine Ahnung, woher dieses Gefühl rühren konnte: Mystik. Einige Momente verharrte er bloß vor der Leiter und versuchte zu erspühren, was dort oben war. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber seine Vermutung ließ sich wohl doch langsam bestätigen. Inzwischen war er sich sogar ziemlich sicher. Dancyn konzentrierte sich. Er versuchte herauszufinden, wie viele Leute sich auf dem Dachboden befanden. Er hörte es jedenfalls über sich knarzen, und allein aus dem Geräusch konnte er zwei Leute ausmachen. Aber er ahnte, dass sich dort doch mehr befanden. So leise es ging stieg er die halbe Leiter hinauf, und strengte sich noch mehr an, zu erkennen, was dort oben vor sich ging. Er spürte eine starke Energiequelle. Doch es war keine natürliche Energie, wie Feuer, sondern Mystik, wie er vermutet hatte. Außer dieser einen spürte er keine weitere Energiequelle, was hieß, dass die anderen Personen nichts mit Mystik zutun haben konnten, was Dancyn zu einem gewissen Grad beruhigte. Doch er nahm noch immer nicht alles auf dem Dachboden wahr, und vor allem wusste er noch immer nicht, was dort vor sich ging. Er kletterte die Leiter bis zur Luke hinauf, öffnete diese allerdings nicht. Inzwischen konnte er mehr wahrnehmen. Sechs Leute. Einer von ihnen schien die Energiequelle zu sein und lag am Boden. Was die Leute taten konnte er nicht erkennen, sofern sie sich nicht von der Stelle bewegten. Doch der Form der Mystik nach zu urteilen wusste er jetzt, was vor sich ging. Eine der Personen über ihm bewegte sich, und zwar zur Luke hin. Augenblicklich stieg Dancyn herab und verschwand so schnell es ging in einen Raum hinter der Biegung des Ganges. Und er war froh, dass er leise geblieben war, denn wie er bemerkte befand er sich in einer Kammer mit schlafenden Novizen. Er wollte keinen Grund haben müssen, sich zu erklären, wenn einer von ihnen aufwachte. Soweit sollte es nicht kommen. Er stellte sich an die Tür und versuchte sein Augenmerk vor allem auf den Gang zu richten, doch um die komplette Biegung mitsamt der Luke überwachen zu können, brauchte er eine Menge Konzentration. Hoffentlich wurde nur keiner der Novizen wach, denn das konnte er zusätzlich nicht kontrollieren. Sein Verdacht, dass jemand vom Dachboden herabkam wurde sogar bestätigt, denn einige Augenblicke, nachdem Dancyn in die Kammer verschwunden war, wurde die Luke mit einem leisen Quietschen geöffnet und eine Person kam die Treppe hinuntergestiegen. Anschließend kam noch jemand herunter. Erst als Dancyn diese beiden nicht mehr spürte, wagte er sich, leise die Tür der Kammer zu öffnen. Auf dem Gang war niemand. Zum Glück. Er trat aus dem Raum, schloss die Tür so leise es ging, und machte sich wieder auf den Weg in die eigene Kammer. Vander schlief noch, und es schien als täte er dies ziemlich fest. Dancyn setzte sich auf sein Bett. Er konnte nicht viel tun von hier, ohne entdeckt zu werden, aber dennoch konnte er es nicht dabei belassen. Dort oben auf dem Dachboden war jemand, der von einem Dämon besessen war. Es war kein Traumdämon, sondern ein gewöhnlicher, was allerdings dennoch nichts Gutes bedeuten konnte. Innerlich fluchte er. „Ich weiß schon, was du tun wirst“, sagte die Stimme leise. Wie gewöhnlich ignorierte Dancyn sie, auch wenn sie diesmal recht hatte. Es gab nur eine Möglichkeit. Er seufzte leise und brachte sich auf dem Bett in eine gerade Haltung. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis die Dunkle Gilde hier eintraf, denn wenn es darum ging einen gewöhnlichen Dämon auszutreiben, waren sie immer zur Stelle. Also musste Dancyn entweder fliehen, oder den Dämon selbst erledigen. Fliehen wäre eine schlechte Idee. Er wüsste nicht, wie er es Nicra oder Vander erklären sollte, jedenfalls konnte er ihnen nicht die Wahrheit sagen. Alleine fortzugehen kam ebenfalls nicht in Frage. Seine beiden Weggefährten waren eine zu gute Tarnung, als dass er die beiden einfach aufgab. Außerdem waren sowohl die beiden als auch er in Gefahr, wenn er sich von ihnen trennte, bloß weil er mit ihnen unterwegs gewesen war. Also blieb nur die Möglichkeit, den Dämon eigenständig zu erledigen bevor die Dunkle Gilde hier eintreffen konnte. Es gab eine Möglichkeit, wie er den Dämon auf der Person austreiben konnte, ohne dass er bei dieser Person sein musste, und sich so verraten musste. Es war nicht einfach und es bestand dennoch das Risiko, dass er jemanden auf sich aufmerksam machen konnte. „Dann musst du dafür sorgen, dass der Kamerad hier bis morgen früh durchschläft“, meldete sich die Stimme wieder. Dancyn hasste es, wenn er auf die Stimme hören musste. Er stand auf, und kam zu Vander herüber, der nicht reagierte. Zwei Schritte vor dem Bett blieb er stehen und achtete einfach nur auf Vanders Schlafrythmus. Mystik war eigentlich kein Ersatz von Magie, auch wenn manche Leute es so sahen. Dancyn seufzte leise und murmelte einen kurzen Satz. Vander zuckte nur leicht zusammen und drehte sich auf den Bauch. Das würde ihn erst einmal außer Gefecht setzen. Er ging zurück zum Bett und setzte sich im Schneidersitz darauf mit graden Rücken. Er regulierte seine Atmung und konzentrierte sich. Jetzt wurde es schwierig. Gedanklich ging er aus dem Zimmer, auf den Gang und versuchte seine Wahrnehmung zu schärfen. Es gelang mit der Zeit immer besser, mit jedem Schritt nahm er mehr und mehr den Boden unter seinen Füßen wahr und die kalte Luft auf dem Gang. Er kam an die Biegung und bog ab, in den anderen Gang. Die Leiter war wie auch in Wirklichkeit ausgefahren, doch die Luke war offen. Dancyn erklomm die Leiter und fand sich auf dem Dachboden wieder. Er versuchte die Wahrnehmung nicht zu verlieren, weil sein Geist nun in bisher unerforschten Gebiet war, sondern er versuchte seine Wahrnehmung noch zu schärfen. Es dauerte, sein Geist blieb oben am Rand der Luke stehen und nur langsam kam seine Umgebung zum Vorschein. Der Dachboden schien weitläufig zu sein, dennoch auch sehr modrig und es war kühl. Obwohl er nicht wirklich dort war, bemerkte Dancyn die Kälte und die feuchte Luft. Aber dieses Gefühl stellte sich nur langsam ein. Auch bemerkte er die Personen nun, die sich auf dem Dachboden befanden. Es waren zwei Mönche, die standen und einer, der auf dem Boden lag, und dieser war besessen. Seine Kondition war noch nicht allzu schlecht, aber je länger Dancyn wartete, desto schlimmer wurde es. Und lange durfte er nicht mehr trödeln. Sein Geist ging auf den Besessenen zu, der auf dem Boden auf einer dünnen Strohmatte lag, und schwitzte. Aus der Nase und aus dem Mund blutete er auch schon leicht, aber schlimm wurde es nur, wenn er begann aus den Augenwinkeln zu bluten. Er kniete sich neben den Besessenen, dessen Dämon seine Präsenz noch nicht wahrgenommen hatte. Dann legte er sachte eine Hand auf die Stirn des Opfers. Er nahm das Gefühl wahr, als bilde sich auf seinem Körper, der noch in der Kammer saß, leichte Gänsehaut. Es war durchaus etwas anderes, einen Dämon bei direktem Kontakt auszutreiben. Langsam schien der Dämon auch die Präsenz von Dancnys Geist wahrzunehmen, denn er regte sich. Der Mönch am Boden begann zu zucken. Sofort wusste Dancyn, dass er jetzt handeln musste. Er bündelte seine gesamte Konzentration und suchte die Stelle, an der sich der Dämon eingenistet hatte. Es musste nicht zwangsläufig Herz oder Hirn sein, es konnten auch ganz andere Stellen im Körper sein. Abgesehen davon forderte es seine gesamte Aufmerksamkeit und selbst dann war es schon ziemlich schwer. Zum Glück hatte er dafür gesorgt, dass Vander zunächst nicht aufwachen würde. Sein Geist indessen suchte beinahe vergeblich nach dem Dämon, fand ihn allerdings auch. Er hatte sich im linken Oberarm eingenistet. Er griff nach dem Dämon. Dann wurde alles schwarz. Dancyn verlor die Kontrolle. Es wurde kalt, und er begann zu zittern, wobei er nicht recht sagen konnte, ob sein Geist zu zittern begann, oder sein richtiger Körper. Am allerwenigsten konnte er allerdings sagen, was gerade geschah. Irgendwas war schief gelaufen, und er versuchte angestrengt die Kontrolle wieder zu erlangen. Vermutlich spielte der Dämon schon verrückt. Am liebsten hätte er geflucht. Langsam kamen wieder Schemen in sein Wahrnehmungsfeld, allerdings spürte er außer der Kälte noch nichts. Beinahe schon energisch versuchte er den vorigen Zustand wiederherzustellen, doch erneut brach alles ab. Daraufhin versuchte er es wieder. Eine Erschütterung erfasste ihn. Jedenfalls dachte er das. Kurz war er davor, ein weiteres Mal die Kontrolle zu verlieren, doch tatsächlich schaffte er es, die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Weitaus umständlicher als zuvor baute er seine Wahrnehmung weiter aus. Zunächst nahm er vage den Raum wieder war, wo sich sein Geist befand. Der Dachboden kam ihm dabei zunächst kleiner vor als vor dem Kontrollverlust, aber das schien an etwas anderem zu liegen. Etwas großes war in dem Raum, weshalb es sich wohl so anfühlte, als wäre der Raum kleiner. Und er ahnte schon, was es war. Und als er es dann doch endlich schaffte, seine Wahrnehmung vollkommen wiederherzustellen, merkte er nicht nur, dass sich seine Ahnung bestätigt hatte, sondern auch, dass er ein Problem hatte. Der Dämon hatte sich bereits materialisiert, und einer der Mönche lag bereits in einer Blutlache am Boden. Jetzt nahm er auch den Schrei wahr, der sich aus der Kehle des anderen Mönches gelöst hatte. Und nun erwiderte der Dämon den Schrei mit einem unbändigen Gebrüll. Damit dürfte das gesamte Kloster geweckt sein. Außer Vander vielleicht. Dancyn musste also sofort agieren. Sein Geist zeichnete rasch einige Zeichen in die Luft, die Symbole der Alten Sprache verkörperten. Der überlebende Mönch würde es nicht wahrnehmen, aber der Dämon schon. Er nahm die Präsenz von Dancyns Geist und die mystische Signatur dessen deutlich wahr, weshalb sich dessen Aufmerksamkeit jetzt auch in seine Richtung lenkte. Der Dämon ließ also von dem Mönch ab, und ging auf Dancyns Geist zu. Doch bevor der Dämon ihn berühren konnte, hatte er ein paar weitere präventive Zeichen in die Luft gemalt, die einige Sekunden lang als Schutz dienen konnten. Doch diese paar Sekunden verschafften ihm genug Zeit um zu reagieren. Er bewegte sich ein paar Schritte zurück und konstruierte ein weiteres Symbol, so schnell er konnte. Anschließend ertönte ein gequälter Laut. Dancyn hatte seinem Geist eine Stimme gegeben. Das würde ihn vermutlich teuer zu stehen bekommen, aber er hatte eine andere Wahl. Anders würde er den Dämon nicht eindämmen können. Seinem Geist eine Stimme zu geben bedeutete nicht nur, einen großen Anteil an Mystik zu verbrauchen, sondern auch, dass sein richtiger Körper sprechen musste, was ihn also auch eine Menge Konzentration kostete. Neben der Tatsache, dass die Gefahr bestand, von jemand anderem gehört zu werden. Gut, dass es reichte, wenn er leise sprach. Der Befehl, den er dem Dämon nun auf der Alten Sprache gab, brachte ihn dazu zurückzutreten. In Sekundenschnelle errichtete er eine Barriere, die den Dämon umgab. Lange würde sie ihn nicht zurückhalten, aber lange genug, als dass er etwas gegen diese Ausgeburt des Jenseits tun konnte. Der Dämon wehrte sich heftig gegen seine mystischen Fesseln, doch er konnte ihnen nicht schaden. Das konnte bloß die Zeit. Brenzlig wurde es vor allem, wenn Dancyn die Mystik ausging. Je länger diese Aktion dauerte, desto mehr leerte sich der Mystikkontingent. Dancyn oder eher sein Geist begann nun eine lange Formel zu flüstern. Dabei legte er eine Hand an die Barriere, um sie zusätzlich zu stabilisieren. Mit jedem Wort, dass er sagte merkte, wie ihn mehr und mehr die Mystik verließ, und wie auch seine Konzentration schwächer wurde, weil es sein Körper ebenso tat. Dennoch wurde nicht nur er schwächer, sondern auch der Dämon. Er wehrte sich immer weniger, krisch aber dennoch wie zuvor. Der überlebende Mönch hatte sich inzwischen von dem Dachboden gerettet und warnte nun wahrscheinlich einige anderen Mönche. In der Hinsicht wurde es auch wieder für Dancyn gefährlich. Er musste sich beeilen. Und wäre er nicht zu sehr auf den Exorzismus konzentriert gewesen, dann hätte Dancyn sicherlich die Schritte und panischen Rufe ein Stockwerk unter ihm mitbekommen. Auch Nicra hatten sie geweckt und von da an blieb ihm wahrscheinlich gerade mal eine halbe Minute, ehe Nicra zu ihm und Vander ins Zimmer kam, und ihn auf einer alten Sprache flüsternd vorfinden würde. Dunkelheit sammelte sich auf dem Dachboden um den Dämon, der noch immer mit den unsichtbaren Fesseln von Dancyns Befehl gefesselt war. Dancyn selbst nahm dies nicht wahr, auch wenn er sich nicht derartig konzentrieren würde. Der Dämon heulte auf und Dancyn spürte, wie seine Beschwörungen langsam ihren Effekt zeigten. Die Dunkelheit sammelte sich in einem Ring um den Dämon, dort, wo Dancyn die Barriere errichtet hatte. Mit den letzten Worten, die er aussprach zog sich der Ring, der eine ungeheure Energie ausstrahlte, immer enger um den Dämon zusammen und verursachte diesem Schmerzen. Nach einigen weiteren Momenten verschwand der Dämon mitsamt des Ringes, doch zu diesem Zeitpunkt war Dancyn bereits bewusstlos geworden. Hätte Vander nicht einen lautstarken Fluch ausgestoßen, wäre Dancyn vermutlich nicht aufgewacht. Nach einigen Momenten in denen er noch liegen blieb, vor allem deshalb, weil er merkte, wie schlecht er sich fühlte, setzte er sich dennoch auf. „Morgen“, meinte er zu Vander, wobei seine Stimme etwas schleppend war, als wäre er bloß verschlafen. „...Morgen...“, kam es in einem eher brummigen Ton von Vander zurück. Es war beinahe als ob die Kopfschmerzen, die er nun überdeutlich spürte, Dancyn töten wollten. Doch nicht nur das machte ihm zu schaffen. Er fühlte sich müde und kraftlos, was ihn zunächst ziemlich irritierte. Die Erinnerungen an den vorigen Abend kamen nur langsam zurück. Doch als er sich erinnerte, konnte er eine hektische Bewegung nur gerade so stoppen. Offiziell hatte er nichts mitbekommen. Vander indessen zwang sich ebenfalls aufzusetzen, wobei man den Eindruck bekam, dass Vanders Beschwerden ihn viel mehr in die Mangel nahmen. „Alles klar bei dir?“, fragte Dancyn freundschaftlich, erhielt allerdings nur ein Brummen als Antwort. Seufzend streckte Dancyn seine Glieder, nahm sich den Stock, den er immer dabei hatte, um den Schein zu wahren, von neben dem Bett, und stand auf, nachdem er einige Male mit dem Stock seine Umgebung abgetastet hatte, wobei er doch etwas unbeholfen wirken wollte. Ob es ihm gelang konnte er nicht sagen. Nun erhob sich auch Vander aus dem Bett und streckte sich erstmal, ehe ein kurzes, aber unmissverständliches Gähnen folgte. Kein Wunder, dass Vander so unausgeschlafen wirkte, nachdem, was Dancyn am Vorabend mit ihm gemacht hatte. Mystik hinterließ immer ihre Spuren. Mit einem Mal pochte es harsch an die Zellentür und ehe einer der beiden Männer hätte „Herein“ sagen können, flog die Tür auch schon auf und eine ebenfalls unausgeschlafen aussehende Nicra kam hereinmarschiert. „Morgen Jungs“, meinte sie, woraufhin Dancyn mit einem freundlichen „Morgen“ und Vander erneut mit einem Brummen antwortete. „Ich bin ja so froh, dass ihr beiden jetzt wach seid! Ich dachte gestern Nacht, ihr seid ins Koma gefallen.“ Dancyn stutzte. „Wie meinst du das?“, fragte er. „Naja, ich wollte euch gestern Nacht wecken, aber ihr seid nicht wach geworden.“ „Und wieso wolltest du uns wecken?“, fragte Vander dann noch immer nicht weniger brummig. „Gestern Nacht sind hier wohl zwei Mönche gestorben.“ Dancyn gab sich bestürzt, wohinter er allerdings seine Verwunderung darüber verstecken konnte, dass zwei Mönche gestorben waren. Er war sich sicher, dass der Dämon nur einen gerissen hatte. Vanders Verwunderung schien durch seine Müdigkeit gedämpft, aber dennoch wischte er sich über das Gesicht, und fragte: „Wie das?“ Nicra zuckte mit den Schultern. „Das wollte man mir nicht sagen.“ Diesmal setzte Dancyn einen nachdenklichen Ausdruck auf, wobei er eher weniger verwundert war. Es gab einen ziemlich einfachen Grund, warum man es Nicra nicht sagen wollte. Die beiden Mönche, oder zumindest einer waren von einem Dämon getötet worden. Ein Dämon in einem Kloster war eines der größten Unmöglichkeiten, die es gab. In einem Kloster lebten immerhin nur gottesfürchtige Menschen, und Dämonen bedeuteten Sünde. Niemals würde einer dieser Kirchenmänner zugeben, dass sich bei einem von ihnen ein Dämon eingenistet hatte. Vander seufzte. „Dann ist es wohl besser, wenn wir uns rasch vom Acker machen.“ „Das wäre es tatsächlich“, meinte plötzlich die Stimme, doch diesmal ignorierte Dancyn sie nicht. „Deine Freunde sind unterwegs“, fuhr die Stimme vergnügt fort. Nur knapp konnte er sich ein Zusammenzucken verkneifen und fragte sich, warum ihm das noch nicht aufgefallen war, doch die Antwort darauf kam ihm beinahe sofort in den Sinn. Er hatte seine gesamte Mystik verbraucht, und demnach waren seine Sinne dafür abgestumpft. „Der Meinung bin ich auch“, lenkte Dancyn nun ein. Sie mussten sofort verschwinden. „Lassen wir die Brüder trauern.“ Nicra zögerte kurz. „Nagut, ihr habt ja recht. Aber wie wäre es noch mit Frühstück oder sowas?“ „Wir haben noch Proviant, also können wir unterwegs frühstücken. Lassen wir sie nicht auch noch Frühstück für uns machen“, meinte Dancyn, der es darauf anlegte so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Gut nur, dass er im Moment so wenig Mystik zur Verfügung hatte, dass er nicht unbedingt eine mystische Signatur hinterließ, wenn sie jetzt verschwanden. Dass Mystik eingesetzt wurde, um hier einen Dämon zu Exorzieren lässt sich problemlos nachweisen und wenn die Gilderatten die Mönche fragen, wer zur fraglichen Zeit hier war, werden sie wissen, dass Dancyn sich hier aufgehalten hatte, und vermutlich auch, dass er auf dem Weg nach Juewon war. Vorausgesetzt jedoch, sie wussten, dass Dancyn blind war. Nicra seufzte und nickte dann. „Ich hole nur noch meine Sachen, aber verabschieden und uns bedanken können wir dennoch.“ Solange es schnell ging hatte Dancyn nichts dagegen einzuwenden und Vander auch nicht, wie es schien. Etwa eine Viertelstunde später waren sie aus dem Kloster draußen, doch für Dancyn wurde es nun vor allem gefährlich. Immerhin wusste er nicht, wo sich die Gildehunde gerade befanden. Auf die Stimme konnte er in diesem Fall nicht hoffen, sie würde sich nicht noch einmal melden. Fest stand, dass sie auf keinen Fall die Hauptstraße in Richtung Juewon entlang gehen durften, denn dort würden sie mit Sicherheit den Gildemitgliedern begegnen. Also war es an sich egal, was er tat. Irgendwas musste er immer riskieren. Also tat er das einzige, was ihm in dem Moment einfiel. Nachdem sie einige hundert Meter auf der Hauptstraße gelaufen waren, blieb Dancyn plötzlich stehen. „Leute... ich höre was.“ Die Idee war unglaublich schwachsinnig, aber die einzige Sache, die ihm eingefallen war. Nun blieben auch Nicra und Vander stehen und drehten sich zu ihm um. „Was ist denn los?“, fragte Nicra daraufhin freundlich. „Ich habe was gehört, und es hat sich nicht sonderlich gut angehört“, meinte Dancyn und hörte genau hin. Vielleicht gab ihm ja tatsächlich etwas Aufschluss darüber, wie nahe „seine Freunde“, wie die Stimme es so schön betont hatte, sich befanden. Das war allerdings nicht der Fall. Vander, der noch immer brummig war, und sich offenbar auch nicht besonders gut fühlte, erwiderte nichts, doch Nicra schien besorgt. „Und was hast du gehört?“ „Ein Klirren, glaube ich und einen leisen Schrei. Aus der Richtung“, meinte Dancyn und zeigte mitten in das Geäst des Waldes. „Also ich höre nichts“, gab Vander schließlich dazu. „Ich auch nicht ehrlich gesagt.“ Natürlich hörten die beiden nichts. Stattdessen schüttelte Dancyn den Kopf. „Was ist in dieser Richtung?“, fragte er die beiden. „Wald“, kam es einsilbig von Vander. „Es sind bestimmt Banditen.“ Nun wirkte Nicra etwas alarmiert. „Banditen?“, denen sollten wir nicht begegnen. „Ich glaube sie kommen näher.“ „Dann sollten wir von hier verschwinden“, meinte Vander, und genau das dachte auch Dancyn. Sie standen schon zu lange hier herum. Die Gilde könnte schon längst das Kloster erreicht haben, was eine Katastrophe wäre. „Und wohin?“, fragte Nicra. „In den Wald“, meinte Dancyn zu hastig. Er hatte eine Sekunde lang vergessen, dass er eigentlich komplett blind sein sollte, und ein Blinder tat sich nicht sonderlich gut im Wald. „Aber ihr müsst mir ein bisschen helfen“, setzte er hinzu und setzte eine peinlich berührte Miene auf. Vander sah zu Nicra und sie erwiderte seinen Blick. „Und du bist dir wirklich sicher, dass da Banditen sind?“, fragte Vander noch einmal nach, und Dancyn nickte. „Ja, bin ich.“ „Na gut, dann sollten wir nicht länger hier herumstehen“, seufzte Vander, ging zu Dancyn herüber und nahm ihn am Oberarm um ihn in das Geäst zu führen, während Nicra folgte. Und Dancyn konnte nicht fassen, dass es funktioniert hatte. Niemals hätte er gedacht, dass die beiden ihm so glauben würden, aber dennoch bestand die Gefahr, dass sie später an Dancyns Urteil zweifeln konnten, oder noch schlimmer, während sie gerade noch auf der Flucht waren. Also musste Dancyn die Situation noch ein wenig hektischer gestalten, damit ihre Aufmerksamkeit nicht gerade auf der Tatsache ruhte, dass da keine Banditen waren. Einen Moment lang dachte er darüber nach, wie er es anstellen konnte, vor allem sodass sie dennoch so viel Wegstrecke zwischen ihnen und den Gildenmitgliedern brachten, wie nur möglich. Dafür sondierte er sein Umfeld und ihm fiel etwas auf, das ihm durchaus nützlich sein konnte. Abgesehen dass der Waldboden übersät mit abstehenden Wurzeln, Baumstümpfen und herumliegenden Stämmen war, gab es auch ein relativ steiles Gefälle, über das Vander ihn zu führen versuchte. Innerlich seufzte er. Was man nicht alles tat. Jetzt musste er nur noch darauf achten, dass er sich nichts brach. Mit dem Stock tastete er sich voran ließ sich aber noch von Vander führen, der doch einen ziemlich zügigen Schritt an den Tag legte, was ihm allerdings zusätzlich zu Gute kam. Denn plötzlich verhakte sich der Stock mit einer Wurzel, und Dancyn stolperte, doch Vander reagierte zu langsam als dass er den Sturz abfangen konnte und ließ Dancyn los, bevor auch er zu Boden ging. Nicra schrie aus Reflex leise auf, vor allem weil Dan nicht einfach am Boden liegen blieb, sondern jetzt den Abhang herunter rollte. Sie wusste natürlich nicht, dass das alles kein Versehen war. Je weiter runter es ging, desto schneller wurde Dancyn und desto schwieriger fiel es ihm, auszuweichen. Dennoch schaffte er es bei dem Gröbsten. Unten angekommen nahm er doch einige Blessuren wie einige Schnittwunden, ein verstauchtes Handgelenk und etliche blaue Flecken wahr. Doch was etwas Schlimmeres gab es zum Glück nicht zu beklagen. Nicra und Vander waren Dancyn so schnell es ging nach unten gefolgt, dennoch nicht auf die gleiche Weise. Unten bei ihm angekommen half Nicra Dancyn, sich aufzusetzen. „Hast du dir was getan?“, fragte sie, und Dancyn schüttelte den Kopf. „Ich hatte schon Schlimmere Verletzungen als ein paar blaue Flecken.“ Vander seufzte. „Dancyn, du blutest ja!“, meinte Nicra doch ziemlich besorgt. „Tatsächlich?“, fragte er. „Wo denn?“ „Am Arm, im Gesicht...“, sie beendete ihren Satz nicht, sondern begann sofort in ihrer Tasche zu kramen und ein paar Leinen und Kräuter herauszuholen. Anschließend machte sie sich daran Dancyns Wunden zu behandeln, was ihm eigentlich eher weniger gefiel, denn er mochte es nicht, berührt zu werden. Allerdings hatte Dancyn die beiden zumindest erfolgreich abgelenkt. „Das kam gerade rechtzeitig“, meldete sich die Stimme und von weiter oben auf dem Kieselpfad auf dem die drei zuvor auch unterwegs gewesen waren hörte man Schritte von mehreren Personen. Dancyn konzentrierte sich und tatsächlich spürte er eine leise Spur Mystik. Es waren die Gildenmitglieder. Antares hatte seinen jungen Gast vor etwa einer Stunde begrüßt. Kaifar Bevers war allerdings ziemlich erschöpft gewesen, auch wenn er es nicht offensichtlich zugegeben hatte. Er hatte dem jungen Gesandten, oder Novizen, wie er ihn eigentlich bezeichnen konnte, eine Mahlzeit auftragen lassen, ehe er darauf bestanden hatte, dass sich der Junge ausruhte. Mit einem Schmunzeln erhob er sich aus seinem Sessel und ging hinüber zum Balkon. Antares Anwesen lag auf dem Hügel, sodass man eine wunderbare Sicht auf die Stadt und den Hafen hatte. In dem Bezirk wo sein Haus stand, standen sonst nur Villen und Regierungsgebäude. Hier in Juewon tagte regelmäßig eines der fünf Gremien, die die Regierung dieses Landes bildeten, der Handelsrat. Es war eine Art konstitutionelle Monarchie, doch lag die Legislative nicht alleine beim König und dem Parlament, sondern auch bei der Volksversammlung, dem Handelsrat und dem Rat der Gilden. Das Verfahren neue Gesetze zu entwerfen war ziemlich kompliziert, aber da es von jedem der fünf Gremien gleichermaßen viele Organe gab, die darauf achteten, dass diese eingehalten wurden, herrschte ein relatives Gleichgewicht, was der Bevölkerung zudem ziemlich gut tat. Vor der Revolution vor etwa einem Jahrzehnt litt die Bevölkerung noch unter dem Machtkampf zwischen den Gilden und dem König. Das Parlament, der Handelsrat und die Volksversammlung hatten sich erst in der Zeit der Revolution gebildet. In dem Brief, den Sheera Kaifar für Antares mitgegeben hatte, hatte sie erwähnt, dass der Junge keine Ahnung hatte, in was er eigentlich hineingeraten war, aber er würde es noch schnell genug herausfinden. Antares seufzte, und sah hinaus auf das Meer. „Du kannst eintreten.“ Die Tür zu Antares Studierzimmer ging auf. Eine Person, die in ein teuer aussehendes Gewand gehüllt war, trat ein. Es war ein Mann mittleren Alters, und er trug über seinen Augen eine Maske. „Hallo Benevit“, meinte Antares ohne sich umzudrehen. Der Mann Namens Benevit trat hinter Antares, blieb allerdings im Schatten des Hauses. „Wie sieht es aus?“, fragte Benevit kühl. „Außerordentlich gut, mein Freund.“ Antares drehte sich nun zu ihm um und winkte ihn in das Studierzimmer. Er ging hinüber zu einem Schreibtisch, auf dem ein großes Blatt mit einem weit verzweigten Notizensystem. Darauf zeigte er. „Es ist bereits alles in die Wege geleitet, seid vorbereitet, in ein oder zwei Tagen geht es los.“ Benevit betrachtete das Blatt. An den ganzen Verzweigungen standen Ereignisse, die bereits eingetreten waren, doch an einem der letzten Zweige stand „Ankunft in J.“ Benevit wusste, was damit gemeint war, und nickte. „Ich habe gehört, du hast einen Gast hier, Antares“, meinte er zu dem Schwarzhaarigen, der daraufhin nickte. „Du wirst ihn auch kennenlernen, mein Lieber.“ Benevit nickte bloß, und ging dann in Richtung der Tür. Dann drehte er sich noch einmal kurz um. „Aber treibe es bloß nicht zu weit.“ Antares lächelte bloß. Dann vergingen etwa drei Stunden. Schließlich wurde doch etwas zaghafter an die Tür geklopft. „Herein“, sagte Antares, und als die Tür aufging und Kaifar den Kopf reinsteckte, lächelte er und winkte den Sechzehnjährigen hinein. „Na, wie hast du geschlafen?“, fragte Antares freundlich. „Gut, danke“, erwiderte Kaifar und kam also raschen Schrittes zu Antares und setzte sich auf den Stuhl vor Antares Schreibtisch. Sein Gegenüber lächelte. Kaifar hingegen tat es nicht. „Weshalb genau hat Sheera mich hergeschickt?“, fragte Kaifar doch recht direkt. „Damit du was lernst“, konterte Antares mindestens genauso direkt. Kaifar stutzte und legte den Kopf schief. Der Junge schien etwas anderes erwartet zu haben. „Keine Sorge, bei mir wirst du nichts Unwichtiges lernen, und vor allem nichts, was keinen interessiert. Ich werde auch versuchen die politischen Angelegenheiten außen vor zu lassen, soweit es geht, aber merke dir eines, Kaifar, wenn du ernsthaft von mir lernen willst, dann ist der Weg deines Lebens besiegelt. Du kannst dich dann nicht mehr vor dem retten, was dann kommt“, fuhr Antares fort. Kaifar betrachtete den etwa Mittvierzigjährigen mit einem doch sehr skeptischen Blick. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und er schien wohl nicht zu wissen, ob er seine Mundwinkel heben sollte, um darüber zu lachen, oder ob Antares es wirklich ernst gemeint hatte. Antares ließ ihm einen Moment, damit sich setzen konnte, was er gesagt hatte. „Ich meine es ernst, Kaifar. Das was ich dir beibringe lernst du nirgendwo sonst in deinem Leben, aber ich ziehe dich durch dein Mitwissen in einen Konflikt mit hinein.“ Kaifars Gesichtsausdruck veränderte sich zu einem noch skeptischeren, doch die Unsicherheit, ob er eher belustigt sein sollte, verschwand gänzlich. „Geht es hier um so eine Mafia-Banditen-Sache?“, fragte Kaifar dann, doch Antares schüttelte nur den Kopf, wobei es so schien, als würde er leicht schmunzeln. „So einfach ist das nicht.“ „Und was sind die Bedingungen, dafür dass ich bei Euch lernen kann?“, fragte Kaifar daraufhin. „Du musst neugierig sein, aber auch darauf eingestellt, in diesen Konflikt hineingezogen zu werden. Je nachdem wie tief drinnen du steckst, desto gefährlicher könnte es werden.“ „Und was bleibt mir für eine Alternative?“ „Du könntest nicht von mir lernen wollen, gehen und dann von hier fliehen, denn so wie ich Sheera und Itch kenne lassen sie ihre Beute selten wieder gehen.“ Kaifar lachte auf. „Das ist doch wohl ein Scherz, oder?“ „Nein, ganz und gar nicht.“ Kaifar seufzte. „Wie bin ich bloß hier reingeraten?“, fragte er sich selbst. „Vermutlich warst du einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, oder deine Neugier hat dich in diese Lage gebracht. An sich macht es keinen Unterschied. Du bist hier, und nun ist es an dir zu entscheiden, auch wie dein späteres Leben wird. Entweder flüchtest du, und versuchst dir ein normales Leben aufzubauen, oder du führst ein spannendes Leben und bist bei einem schon fast geheimen Konflikt an vorderster Front mit dabei. Entscheide dich für eines der beiden.“ Kaifar überlegte eine ganze Weile. Es vergingen einige Minuten, in der bloße Stille herrschte, und Antares sein Gegenüber bloß ansah. Antares konnte sich denken, was Kaifar beschäftigte. Zunächst fragte er sich, ob es nicht doch alles ein blöder Scherz war. Einen Moment bedauerte Antares so direkt gewesen zu sein. Bei seinen vorigen Novizen war er weniger direkt gewesen und hatte sie langsam an die Entscheidung geführt. Aber bei Kaifar war es ihm so erschienen, als sei das nicht nötig. Als wisse Kaifar, in welcher Lage er sich befindet. Als hätte der Junge zumindest eine vage Ahnung. Aber es schien tatsächlich so, als sei Kaifar einfach zufällig von Sheera und Itch ausgesucht worden, obwohl das eigentlich unmöglich war. Es gab immer einen Grund, so musste es auch diesmal einen geben. Kaifar schwieg noch immer. Antares machte keine Anstalten ihm irgendeine Art von Entscheidungshilfe anzubieten. Er saß bloß hinter seinem Schreibtisch und wartete. „Und ich habe wirklich keine andere Wahl?“, fragte Kaifar schließlich noch einmal nach und Antares schüttelte leicht den Kopf. Daraufhin seufzte Kaifar erneut. „Also gut, worum geht es?“ Antares konnte sich ein kleines Grinsen schlecht verkneifen. „Es geht um den Kampf zwischen der Religion des Lebens und des Todes.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)