Jetzt nicht mehr ... von Scribble ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Es gibt noch viel zu tun, Jack. Viel zu tun!“ Der Junge mit dem weißen Haar wechselte den knorrigen Holzstab zwischen seinen Händen und lehnte sich halb daran, eine Augenbraue hochgezogen. „Ganz ehrlich, Nord. Ich fange an das zu bereuen.“ In Jacks Stimme schwang Witz mit. Natürlich bereute er es nicht den Eid als Hüter abgelegt zu haben. Er hatte aus vollem Herzen sein Leben geschworen und, schlussendlich darin seine wahre Bestimmung entdeckt. Aber da waren einfach Orte, an denen er lieber wäre, als zwischen dem Trubel von Yetis und Elfen, die Pitchs Chaos beseitigten, während ihr Chef versuchte den Hüter des Spaßes für Formalitäten zu begeistern. Jack hatte sich bereits den ganzen Tag über durch all das gekämpft. Er war es nicht gewohnt so lange völlig still zu sitzen, und obwohl er sich wirklich Mühe gab fiel es ihm irrsinnig schwer seinen Drang nach Freiheit und Wind zu bekämpfen. Und seinen Wunsch zu Jamie zu gehen, durch sein Fenster zu sehen wie so viele Male und in diesem Fall selbst gesehen zu werden. Das Gefühl pulsierte viel zu warm in seiner Brust um sich nicht noch mehr davon zu wünschen. Jamie glaubte an ihn. Er sah ihn. Er hatte ihn umarmt. Den warmen Körper des kleinen Jungen zu umarmen als sei es völlig normal – nach all der Zeit, in der die Menschen einfach durch ihn hindurch verschwunden waren … das hatte sich fast noch besser angefühlt als den Eid zu leisten. Nords Gesichtszüge wurden weich. Er schlug seine Hand so heftig auf Jacks Schulter, dass es den schmalen Jungen fast umriss. „Ah, Jack! Hast du gut gemacht heute, gut gemacht!“ Nord schlug das schwere Buch schwungvoll zu, in dem er eben noch geblättert hatte. „Weißt du, ich glaube, du sollst noch üben bei Kindern.“ Nord zwinkerte ihm zu und Jack lächelte automatisch. „Ehrlich?“, fragte er fast noch etwas ungläubig. „Ehrli-“ Ein heftiger Windstoß fegte durch das Büro und trug den Jungen davon ehe der Mann seine Worte überhaupt aussprechen konnte. Jacks Freudenruf verhallte in der Ferne und wurde von schimpfenden Yetis übertönt. Den Wind zu fühlen tat gut, plötzlich nach all dem Schweigen und Lernen und Denken wieder seinen Kopf durchpusten zu können ließ es ihn noch mehr genießen als sonst. Er atmete tief die kühle Luft ein, breitete die Arme aus. „Wind! Zurück nach Hause!“ Jack hätte nicht damit gerechnet, dass er plötzlich doch so ein mulmiges Gefühl im Bauch haben würde, wenn er wieder am Fenster des kleinen Jungen war. Er kauerte auf einem Ast davor, verbarg sich hinter tiefgrünen Tannenzweigen, obwohl es nur die Angst war, doch nicht mehr gesehen zu werden, die es ihm so schwer machte. Was, wenn Jamie seinen Glauben verloren hatte und ihn nicht mehr sah? Doch im selben Moment wurde Jack klar, wie albern dieser Gedanke war. Jamie war ihr letztes Licht, derjenige, der seinen Glauben niemals verloren hatte. Jack war mit einem leichtfüßigen Satz auf dem Fensterbrett und legte eine Hand an die Scheibe. Mit einem sanften Klirren wuchsen Eisblumen über das Glas, über die hinweg er in das Zimmer hinein sah. Jamie hatte die Augen geschlossen, ein friedliches Lächeln auf dem Gesicht im Schein seines Nachtlichts, das warme Schatten auf seine Haut zeichnete. Das Fenster war nicht verriegelt, und so schob Jack es auf, um lautlos in das Zimmer zu huschen und vor dem Bett des kleinen Jungen in die Hocke zu gehen. Er lehnte die Wange an seinen Stab und betrachtete lächelnd das schlafende Kind, ein leises Seufzen auf den Lippen, weil der Tag ihn erschöpft hatte, aber Jack diesen Anblick auch so wunderbar fand. Jamies Nase kräuselte sich wie von der kühlen Brise, die Jacks Atem mit sich brachte. Blinzelnd öffnete der Junge die Augen, eine Sekunde noch zu verschlafen und desorientiert, um zu erkennen, wer vor ihm saß. Dann schwappte schiere Freude wie eine Welle über sein Gesicht und ließ ihn strahlend zurück. „Jack!“, rief er außer sich vor Glück und verhedderte sich fast in seiner Decke, als er sich hektisch aufzusetzen versuchte. Jack lachte leise, das Gefühl in seinem Bauch so warm wie er es sich zuvor niemals hätte vorstellen können. „Langsam, Kleiner.“ Doch Jamie war nicht zu bremsen. „Wahnsinn! Du bist zurückgekommen!“ Endlich hatte er seine Hände frei und fiel vor lauter Euphorie fast aus dem Bett, als er versuchte Jack zu umarmen. Der fing ihn lachend auf und setzte ihn sicher auf den Boden, nur um sich einen Moment später in einem festen Klammergriff um seinen Hals zu finden und rücklings mit dem Kleinen auf den Teppich zu fallen. Jacks Lachen füllte den Raum, doch Jamie plapperte noch immer atemlos. „Ich dachte ich seh dich nie wieder! Aber jetzt bist du hier!“ Er hielt inne, rollte von Jack herunter und sah den noch immer Liegenden ernst an. „Du bist doch hier, oder? Du bist nicht einer von Sandys Träumen?“ Statt einer Antwort ließ Jack eine Schneeflocke um seine Finger tanzen und pustete sie dem Jungen dann entgegen, welcher die Augen zusammenkniff, als die kühle Flocke auf seiner Nase schmolz. Ein Lachen entkam ihm, und er fiel Jack erneut um den Hals, der sich gerade erst aufgesetzt hatte und nun auch die Arme um den Kleinen legte. „Immer langsam, Jamie“, murmelte Jack, doch die Freude des Jungen berührte ihn so sehr, dass er das Gefühl hatte, es bald nicht mehr ertragen zu können, all diese unerwartete Wärme in sich zu haben. „Und wieso sollte ich nie wieder kommen?“ Jamie ließ von ihm ab und plumpste neben ihm auf den Teppich, noch immer ein breites Lächeln auf dem Gesicht, das seine Zahnlücke zeigte. „Naja, da sind noch so viele andere Kinder … ich bin doch nichts Besonderes.“ „Nichts Besonderes?“, fragte Jack ungläubig. Er ließ sich vorwärts auf die Knie fallen und legte die Hände auf Jamies Schultern. „Du hast die Hüter gerettet. Und du bist der Erste, der jemals an mich geglaubt hat. Du bist etwas ganz Besonderes.“ „Meinst du ehrlich?“, fragte Jamie mit vor Glück geröteten Wangen, und Jack nickte mit Nachdruck. „Aber natürlich!“ Jamie zog ihn erneut in einen Würgegriff und Jack lachte nur darüber, wie viel Herz in dieser gar nicht so seltenen Geste steckte. Jamie jedoch wirkte fast schon verlegen, als er diesmal von ihm abließ. „'Tschuldigung … ich freu mich nur so ...“ Jack lächelte ihn an. „Ich mich doch auch. Weißt du, du bist der Erste, der mich so umarmen kann. Es ist schön.“ Jamies Augen weiteten sich und er schlug sich die Hände vor den Mund, weil er jetzt verstand, was Jacks Worte bedeuteten. „Also konnte dich vor mir niemand sehen?“ „Niemand außer den Hütern zumindest ...“ Fast wie aus einem Reflex schloss Jack die Hand um seinen Stab, wie er es so viele Male getan hatte, um sich sicherer zu fühlen, um diesen Gefühlen in ihm irgendwie zu entkommen. Es war eine vertraute Handlung. „Dann musst du ja schrecklich einsam gewesen sein ...“, flüsterte Jamie. Jack senkte den Blick auf den Boden, ein leises, melancholisches Lächeln auf den Lippen. „Das war ich ...“, murmelte er nur. Die Erinnerung war noch viel zu nahe, um nicht zu schmerzen. Da spürte er, wie Jamie näher an ihn heran rückte und den Kopf auf seine Schulter legte. „Aber jetzt nicht mehr, oder?“ Jack legte den Arm um den kleinen Jungen, der sich so vertrauensvoll an ihn schmiegte. Er schloss die Augen und atmete auf, als wäre eine schwere Last von seinen Schultern gefallen. „Nein, Jamie ...“, sagte er lächelnd. „Jetzt nicht mehr ...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)