business as usual von Arcturus (Die Hungerspiele des Lynn Irving) ================================================================================ 4. The Leader ------------- Entgegen all seiner Vorsätze spürte Vitya Nestor, wie er nervös wurde. Es war ein unangenehmes Gefühl, das in seinen Fingerkuppen begann und rein gar nichts mit den Trainingsbewertungen zu tun hatte, die ausgestrahlt werden würden, sobald Caesar Flickerman mit seiner Einleitung fertig war. Vitya hoffte nur, dass alle anderen glaubten, es hätte etwas mit der Punktebewertung zu tun. Wenn sie es überhaupt mitbekamen, denn er gab sich Mühe, es sich mit vor der Brust verschränkten Armen gar nicht erst anmerken zu lassen. Tatsächlich aber waren es wirklich nicht die Punkte – sondern der ganze, verdammte Rest. Der Fakt, dass nach der Punktebewertung nur noch die bescheuerten Interviews und dann die Arena auf sie warten würden. Caesar Flickermans dämliches Grinsen. Das überdeutliche Klackern von langen Fingernägeln auf dem überdimensionierten Glastisch, das nicht von der Stylistin Gloria stammte, sondern von ihrem Begleiter Apoll. Brutus und Enobarias finsteres Starren. Siennas eisiges Schweigen, das nur von dem Zischen ihres Feuerzeugs – ein Glücksbringer, den sie nicht würde in die Arena mitbringen können – unterbrochen wurde und das herrschte, seit er sich nicht hatte gegen den Rest der Allianz durchsetzen können. Und sowieso: Diese dämliche Allianz. Die und das Wissen, dass ihn jeder Anwesende in diesem verdammten Center für den größten Idioten hielt, der das Gebäude je betreten hatte. Vitya wusste natürlich, dass er kein Idiot war. Wäre er einer, hätte er es nicht bis in die Spiele geschafft. Das Problem war nur: Wenn alle anderen genau das von einem dachten, dann begann man irgendwann damit, es ebenfalls zu tun. Er wusste, dass er kurz davor war, genau das zu tun – und zugegeben, die Prügelei mit diesem dämlichen Lynn trug nicht sonderlich zur Verbesserung seiner Laune bei. Vermutlich hielt er mit seinem blauen Auge den Rekord des Tributs, der als erster in den Spielen von einem Kontrahenten verletzt worden war. Weil diese dummen Wächter ihn festgehalten hatten. Er ertappte sich dabei, wie seine Hand schon wieder zu seinem Gesicht gleiten wollte, um nach der leichten Schwellung zu tasten. Finster umklammerte er seinen Oberarm fester. Siennas Feuerzeug zischte erneut, als die kleine Flamme aufloderte, gerade rechtzeitig um ein letztes Mal Flickermans Grinsen zu beleuchten, bevor es von der Bildfläche verschwand. Vitya hörte, wie Sienna sich neben ihm etwas aufrichtete. Ihr Feuerzeug blieb in ihrer Hand, fast so, als wolle sie sich schützen. Er hätte am liebsten geschnaubt, doch das Bild des ersten Tributs lenkte ihn ab. Blue wurde eingeblendet, was absolut keine Verbesserung war. Die Zehn, die unter seinem Gesicht erschien, machte es höchstens noch schlimmer. Zugegeben – es war nicht so, das Vitya auch nur einen der anderen Careers hätte ausstehen können, nicht einmal Sienna. Blue war lediglich der Schlimmste von ihnen. Natürlich, er sprach nie aus, für wie blöd er ihn hielt, und ließ ihn mit seiner Anführer-Nummer einfach machen. Vitya hätte der Nummer auch glauben können und wollen, hätte Blue nicht gleichzeitig mit jeder Geste seiner übermanikürter Finger, mit jedem seiner freundlichen Lächeln und mit jeder Woge seines überroten Haares ausgestrahlt, was er wirklich dachte. Vitya, du bist der größte Idiot, der mir je untergekommen ist. Und ich liebe es. Es war wirklich kein großes Wunder, das Vitya ihn nicht leiden konnte, wirklich. Allein jetzt sein verdammtes Lächeln sehen zu müssen, machte Vitya so wütend, dass er beinahe die Bewertung von Blues kleinem, dummen Anhängsel, Trinity, verpasst hätte. Nicht, dass er bei der mickrigen Sieben viel hätte verpassen können, abgesehen von Siennas abfälligem Schnauben. „Wette, das war der Tittenbonus“, hörte er seine Partnerin neben sich flöten. Wie von selbst glitt Vityas Blick zu ihr. Auch keine große Verbesserung. „Etwas, auf das du nicht zu hoffen brauchst.“ Sienna bewegte sich nicht, nahm nicht einmal den Blick von der Leinwand, auf der gerade sein eigenes Gesicht erschien. Sie antwortete nicht – vermutlich das deutlichste Zeichen dafür, dass er getroffen hatte. Vielleicht war es auch besser so. Wobei – so hatte er alle Gelegenheit, sein Ebenbild auf der Leinwand zu bewundern, mit einer kläglichen Acht darunter. Für die Aufnahme hatte er seine Haare hochstylen lassen, die Trainingskleidung glatt gestrichen und sein grimmigstes Grinsen aufgesetzt. Was sich bei der Aufnahme furchteinflößend angefühlt hatte, wirkte jetzt nur noch bescheuert. Blue schlug ihn selbst in der Kategorie ‚Furchteinflößend‘ um Längen – und das, obwohl er lächelte. Da klang selbst Apolls Klatschen und sein heiteres „Fantastisch!“ wie Hohn, auch wenn er nicht glaubte, dass Apoll zu so etwas wie Hohn fähig war. Er war einfach immer begeistert. Deutlich aussagekräftiger war das Schweigen ihrer beiden Mentoren. Genau wie Brutus und Enobaria rührte Vitya sich nicht. Es war eine Erleichterung, als endlich Siennas Bild erschien und von seinem Versagen ablenkte. Sie hatte niemandem gesagt, was sie in ihrem Einzeltraining gezeigt hatte, doch er vermutete, dass es mit ihrem kleinen Hobby zu tun hatte. Wenn er recht hatte, bedeutete das entweder, dass sie die Spielmacher sehr überrascht oder aber sehr verärgert hatte. Ihr Feuerzeug zischte leise. Dann erschien die Zahl. Zehn. Apollo überschlug sich beinahe vor Applaus und vor Glückwünsche, deren Worte Vitya gar nicht verstehen wollte, und die beiden Stylisten stimmten, glücklicherweise verhaltener, mit ein. Selbst Enobaria schnalzte mit der Zunge – eine anerkennende Geste, auch wenn es angesichts ihrer goldenen Zähne immer etwas seltsam klang. In seinem Augenwinkel sah er, wie selbst der reaktionskarge Brutus sich über den kahlgeschorenen Kopf strich. „Scheint, als bräuchte sie keinen Tittenbonus“, verkündete selbiger schließlich, kaum das Vitya wieder wegsah. „Im Gegensatz zu dir. Was hast du in diesem Training getrieben? Die Schwerter gestreichelt?“ Vitya biss die Zähne aufeinander. „Vielleicht hätte ich es tun sollen.“ Der Kommentar brachte ihm ein leises Zischen und eine kleine, flackernde Flamme von Sienna und Schweigen von Apoll. Entgegen seines Vorsatzes, keine Miene zu verziehen, wenn es um Apoll ging – einfach, weil seine Mimik sonst irgendwann weh tun würde – grinste er. Sein Grinsen blieb auch, während Geek und Freak, die beiden Tribute aus Distrikt 3, deren Namen er sich nicht gemerkt hatte, ihre vier und fünf Punkte kassierten und damit keine Überraschungen boten, noch nicht einmal negative. Erst als das Bild des fünften Careers erschien, verging ihm das Grinsen und das schnell. Lynn Irving lächelte. Es war nicht so penetrant, wie Blues Lächeln, aber es war nah dran. Spätestens mit der Zehn darunter. Vitya beschloss zwei Dinge. Erstens: Heute war nicht sein Tag. Zweitens: Er hatte genug gesehen. Was auch immer noch kommen würde, es würde nicht mehr besser werden und das letzte, was er brauchte, waren der Spinner aus 7 oder das Grünzeugmädchen aus 10, die Blue angeschleppt hatte. Er wartete nicht einmal darauf, dass auch die Nummer sechs ihrer kuscheligen Allianz ihren Auftritt hatte. Das Mädchen war ohnehin nur Career-Frühstück, das war bereits bei der Ernte der beiden unübersehbar gewesen. Noch bevor Crestas Bild erschien, stand Vitya auf. Er hatte die Couch verlassen, bevor überhaupt jemand auf die Idee kam, ihn zurückhalten zu wollen. Vermutlich, weil niemand ihn ernsthaft zurückhalten wollte. „Was auch immer in deinem Kopf vorgeht“, hörte er Brutus‘ knurrige Stimme, „es ist eine dumme Idee.“ Ohne stehen zu bleiben, warf er einen Blick über die Schulter. Bis auf Brutus schwiegen sie alle. Apoll entsetzt, Sienna gelangweilt, Enobaria mit Zähnen. Auf der Leinwand schwieg auch Annie Cresta. Mit einem hübschen Lächeln und einer hübschen Neun darunter. „Ich muss doch meinem Ruf gerecht werden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)