Replika - Preis der Wahrheit von Sam_Linnifer (Feder & Stift - Rundumwichteln für AgentAya) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Als ich erwachte, war da der Schmerz. Er war so überwältigend, dass er mir jeden Sinn und jeden Gedanken raubte. Ich hatte nicht gewusst, dass es so eine Art von Schmerzen geben konnte. Die einzigen, die ich gekannt hatte, waren der Schmerz kleiner Wunden, eines Schnittes, vom Einstich einer Nadel. Das dumpfe Ziehen eines verstauchten Knöchels oder eine Prellung und der Schmerz, den man empfand, wenn man verlor, was man liebte. Auch das war ein starker Schmerz, doch von einer ganz anderen Natur. Dieser war körperlich und er sorgte dafür, dass ich mich nach dem Vergessen des Schlafes sehnte. Der Schlaf kam oder vielleicht auch die Bewusstlosigkeit, doch er ging auch wieder, während der Schmerz scheinbar ewig zu bleiben schien. Nach und nach begann ich mich daran zu gewöhnen, ein paar andere Dinge wahrzunehmen als meine Agonie, noch ohne sie wirklich zu begreifen. Nach und nach, vor allem, als der Schmerz schließlich nachließ, eroberte ich meinen Geist und auch meinen Körper zurück. Am Anfang waren es nur kleine Dinge. Das Bett, in dem ich lag. Die Monitore und Geräte, die in einschüchternden Türmen um mich herum aufragten, bedrohlich summten, piepten und blinkten. Die Schläuche und Verbände. Dann das Zimmer, in dem sich das Bett befand. Ein kleiner Raum, der im Weiß zu ertrinken schien. Weiße Wände, weiße Decke, weiße Fliesen auf dem Boden. So musste es an den Polen aussehen, wo das ewige Eis sich nach der Gletscherschmelze sein Territorium zurück erobert hatte. Es war nur nicht so kalt. Mir fiel es schwer, mich zu bewegen, aber auch das wurde nach und nach leichter. Ich fürchtete mich nur, weil ich nicht wusste, was diese Bewegungen anrichten konnten. Ich wusste ja, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich war krank. Aber ich wünschte mir, jemand würde kommen und mir erklären, was mit mir passierte. Ich wünschte es mir so lange, bis der Wunsch in Erfüllung ging. Gewiss waren die weißgekleideten Mediziner auch zuvor schon bei mir gewesen. Wahrscheinlich, während ich schlief oder während meine vernebelten Sinne sie in all dem blendenden Weiß nicht entdecken konnten. Die Augen zu lange zu öffnen tat weh. Der Mann aber, dem der Weißkittel folgte, war gewiss noch nie hier gewesen, denn er war grau und hob sich so als unübersehbarer Schatten vom Rest des Zimmers ab. Er war mittleren Alters und hatte etwas Strenges an sich. Ausgedünntes dunkles Haar war streng gescheitelt und sein Körper wirkte etwas hagerer, als gesund zu sein schien. Die Kleidung, die er trug, ließ ihn wichtig wirken. Oder vielleicht war es auch nur seine Haltung, seine Ausstrahlung. Vielleicht war es die Art, wie die anderen ihm begegneten. Sie schienen so rasch sie nur konnten seinem Blick entfliehen zu wollen, als hätten sie Angst. Und als er diesen Blick auf mich richtete, verstand ich, warum. Seine Augen waren grau und kalt wie der Stahl des Bettgestells. Die Haut war relativ dunkel, was wahrscheinlich einen Vorteil bedeutete, ihn aber noch bedrohlicher und dunkler wirken ließ. Sein Blick schien mich zu durchdringen und der missbilligende Zug um seine schmalen Lippen gab mir das Gefühl, etwas Schreckliches getan zu haben. Etwas so Schreckliches, dass ich mich beinahe nach dem Delirium der Schmerzen zurück sehnte, ich wusste nur nicht warum. Und er erklärte es mir. Er war der Minister des Bezirks, zu dem ich gehörte. Und er war derjenige, der mir nach und nach die Wahrheit über mich und das System in unserer Welt offenbarte. Nicht alles auf einmal. Ich konnte es auch so kaum begreifen, hielt es für Alpträume. Wollte es gar nicht glauben, solange mir eine Wahl blieb. Er fing in vergangenen Tagen an und mit Dingen, die ich wusste. Tag für Tag war er eine Weile bei mir und erzählte mir von der untergegangenen Zivilisation und ihrem letzten Krieg. Erzählte mir, wie die traurigen Überreste der Weltbevölkerung immer weiter dezimiert wurden, während sie sich bemühten, aus den Ruinen ihrer Heimat etwas aufzubauen, das funktionierte. Davon, wie die Welt sich um sie herum veränderte, wie das Wasser stieg und Land verschwand, Land regelrecht zerbrach. Wie die Temperaturen in großen Bereichen immer weiter sanken, bis das Leben gefror und andernorts stiegen, bis dort kein Leben mehr möglich war. Von Kämpfen, die sie immer noch führten, weil sie überleben wollten und davon, was vor allem die Strahlung ihnen antat. Dann erzählte er mir von denen, die Erfolge verzeichnet hatten. Wiederauferstehungen medizinischer Versorgung, wissenschaftlicher Labore. Die gelungene Zucht künstlichen Gewebes, das frei von den Belastungen der Nahrungsautonomie dienen konnte. Kleine Schritte auf dem Weg dorthin, wo wir uns heute befanden. Man konnte nicht überhören, wie stolz er auf die Kolonien war. Darauf, wie die Menschen den Widrigkeiten trotzten, wie sie überlebten. Und ich konnte auch nicht überhören, wie sehr er mich verachtete. Den Grund verstand ich, als er mir verriet, was ich war, oder als was er mich betrachtete: Ein Warenlager. Und für ihn schien es meine Schuld zu sein, dass er sich mit mir befassen musste. Die Wahrheit schmerzte mich so sehr, dass ich mich lange Zeit gar nicht fragte, wieso ich dann noch hier war, warum er hier war und mit mir über diese Dinge sprach. Warum der Schmerz irgendwann nachzulassen begann und die Geräte und Schläuche immer weniger wurden. Er sagte es mir erst, als ich ihn selbst danach fragte. Es waren die ersten Worte, die ich an ihn richtete. Die ersten Worte überhaupt, wie mir in jenem Augenblick bewusst wurde und sie schmerzten in meinem Hals. „Weil ich mir sicher bin, dass du an deiner wertlosen Existenz hängst“, erklärte er kühl und beinahe gelangweilt. Er sah mich nicht an bei diesen Worten, als wäre ich zu unwichtig dazu, sondern betrachtete seine Hände. „Weil du leben willst und ich dir dein Leben geben kann, solange du tust, was ich von dir verlange.“ Die Wahrheit war, dass das Original den Eingriff, der sein Leben hätte retten sollen, nicht überstanden hatte. Das geschah sehr selten, war normalerweise ein Ärgernis, vielleicht sogar tragisch. In diesem Fall aber war es ein ernstes Problem. Ein so großes Problem, dass man alles Menschenmögliche unternommen hatte, um die Organe in meinen Körper zurück zu verfrachten und selbigen wieder zum Laufen zu bringen. Es war ganz einfach. Der Junge, der gestorben war, war der Nachfolger des Ministers. Auch der Austausch von Verschleißteilen konnte die Lebenszeit nicht endlos verlängern und weil es im Augenblick keine geeignete Alternative gab, die man hätte ausbilden können, durfte niemand je erfahren, dass dieser Mann gestorben war. Die Aussicht auf Führungslosigkeit hätte eine ernsthafte Gefährdung der Stabilität des Systems bedeutet und war inakzeptabel, wie er sagte. Also würde ich leben, wenn ich tat, was man mir sagte und die Sache gut genug machte. Während man die Zeit nutzen würde, um jemanden zu finden, der kein Klon war und geeignet. Den man ausbilden konnte und der mich schließlich ersetzen würde. Der Aufwand, den es bedeuten würde mich auf einen Stand zu bringen, in dem ich hilfreich wäre, ärgerte den Minister und auch dafür gab er mir die Schuld. Die Zeit, die es benötigen würde und in der es heißen würde, dass der Nachfolger des Ministers in einem kritischen Gesundheitszustand sei. Zeit, in der die Menschen sich um ihre Zukunft sorgen würden. Zeit, in der es zu Unruhen kommen mochte. Und so etwas konnten sich die Menschen nicht leisten. Wenn das System schwankte, dann würde alles auseinander brechen. Dann wäre die Ära der Menschen endgültig vorbei. Als ich zustimmte, war ich eigentlich nicht fähig, über irgendetwas nachzudenken. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, warum ich zustimmte und es wäre Heuchelei zu behaupten, es sei aus achtbaren Motiven geschehen. Vielleicht hoffte ich nur, seiner Missbilligung zu entkommen, wenn ich tat was er wollte. Denn jene Missbilligung schien mich in diesem winzigen Raum zu ersticken. Danach kamen auch andere Leute. Zuerst verschwammen ihre Namen und Gesichter zu einer homogenen Masse, doch nach und nach lernte ich sie kennen. Sie kamen, um mir die Dinge zu erzählen, die ich wissen musste. Bei vielen verstand ich die Gründe nicht, aber das schien sie nicht zu stören. Vielleicht dachten sie, ich wäre umso leichter zu lenken, je weniger ich verstand und wahrscheinlich war es am Anfang auch so. Andere brachten mir bei, was für ein Mensch das Original gewesen war und was für ein Mensch ich demnach jetzt sein musste. Wahrscheinlich fehlte mir das Talent zur Schauspielerei, denn es war schwer für mich, jemand anders zu sein als ich selbst. Sogar, als ich eigentlich gar nicht mehr wusste, wer ich war. Zum ersten Mal wachgerüttelt wurde ich, als die Frau, mit der das Original zusammen gewesen war, an meinem Bett erschien. Sie war gefasst und ruhig, aber ich erkannte etwas vertrautes in ihr, weil sie um ihn trauerte, wie ich um Liv getrauert hatte. Der Unterschied war, dass sie mich hasste. Wahrscheinlich wollte sie es nicht. Wahrscheinlich hätte ich es auch gehasst, wenn plötzlich eine unzulängliche Kopie des Menschen, den ich liebte, aufgetaucht wäre und seinen Platz beansprucht hätte, doch am Ende lernte ich von ihr mehr, als von all den anderen. Über das Original, über die Menschen und über mich selbst. Nachdem ich genesen war, konnte ich das weiße Zimmer verlassen und ich lernte die eigentliche Welt kennen. Sie war so grau wie der Minister. Stabile, funktionale Gebäude aus Stahl und Stein, Schutzwälle, chemische und wissenschaftliche Anlagen. Gerade Winkel bei den Straßen und der der Eindruck von Ordnung, Strenge und Symmetrie überall. Es überraschte mich, wie viele Menschen es gab. Ich mochte wissen, dass es eigentlich nicht viele waren, aber doch mehr, als ich je auf einmal gesehen hatte. Und ich fühlte mich schrecklich fremd. Das Haus, in dem ich lebte, war groß und bot vermutlich das, was in unserer Gesellschaft ein Maximum an Luxus war. Auch das Haus war voller Menschen, von denen ich noch mehr Dinge lernen sollte. Das alles musste Monate gedauert haben und daraufhin dauerte es Jahre. Es war leichter, als ich gedacht hatte, weil ich eigentlich nichts tun musste. Nur Worte lernen und sie im richtigen Moment aufsagen. Das tun, wozu ich angewiesen wurde: existieren. Nach zwei Jahren fanden sie ein Kind, das ihnen vielversprechend schien und ich wusste, dass meine Zeit von da an begrenzt sein würde. Es würde eine Weile dauern, das Mädchen auszubilden. Sie wäre erst in ein paar Jahren bereit, in meine Fußstapfen zu treten - doch wenn es soweit war, würde man mich nicht mehr brauchen und ich machte mir keine Illusion darüber, was das bedeuten würde. Vielleicht begann ich da ernsthaft darüber nachzudenken, wie ich dieser Sache einen Sinn geben konnte. Ich hatte Zeit genug gehabt, mich an die Tatsachen zu gewöhnen und mir eine Meinung dazu zu bilden. Ich hatte Augen und Ohren offen gehalten und nicht nur das erfahren, was mir zugedacht war, und ich war zu dem Entschluss gekommen, dass ich etwas tun musste. Meine Situation war einmalig und auch wenn ich noch nicht wusste was, so wusste ich doch, dass ich irgendetwas tun musste. Irgendetwas von Bedeutung. Letztlich war es das, was mich acht Jahre nach Beginn meines neuen Lebens an jenem Tag mit dem Wissen vor die Menge führte, dass ich die Stufen des Podestes zum letzten Mal erklomm. Ich wusste, dass jeder Akt, der dem System schadete unverzeihlich war. Ich hoffte, dass meine Worte, mein Tod und meine Geschichte es auf lange Sicht in seinen Grundfesten erschüttern würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)