Es fährt ein Zug nach nirgendwo von Turtok11 ================================================================================ Kapitel 1: Es fährt ein Zug nach nirgendwo ------------------------------------------ Unter der Last meines Gepäcks schnaufend stehe ich vor der Anzeigetafel, an der sich die nächsten Zugverbindungen ablesen lassen. Mit einem Rauschen verschwinden die Zugzielanzeigen und tauchen unmittelbar danach eine Zeile weiter oben auf dem Täfelchen wieder auf. Immer weiter rutschen die Zugverbindungen nach oben und ich stehe nur da und schaue. Ich schaue zu, wie sich immer wieder aufs Neue die einzelnen Felder bewegen und die Buchstaben doch stets wieder den richtigen Platz finden. Wie viele Ziffern und Buchstaben mögen sich wohl hinter der Anzeigetafel verbergen, die eine derartige Symphonie ergeben? Erst nach einer ganzen Weile reiße ich mich von dem Anblick los, ich buckle meinen schweren Rucksack auf, schnappe mir den Koffer und stapfe wahllos zu einem Gleis. Es ist Gleis 4. Wohin der Zug fahren soll, weiß ich nicht, aber es ist mir auch egal. Was bedeuten die Orte schon, wenn sie doch nicht zu ihr führen? Was bedeuten sie, wenn Misty ja doch nicht in einer der Städte wartet in denen die Bahn hält? Unterdessen dröhnt es aus den Lautsprechern am Bahnsteig: „Bitte zurücktreten! Der Zug fährt gleich ein“. Ich blicke die aufspringenden Menschen an, wie sie sich von den Sitzbänken erheben und sich zu den bereits am Bahnsteig wartenden drängeln. Ein paar auf Futtersuche befindliche Taubsis werden durch das Gedränge aufgeschreckt und fliegen davon. Ich bleibe ruhig, mich drängt hier nichts und so setze ich meinen Rucksack langsam auf die Sitzbank am Bahnsteig, auf der eben noch eine alte Frau saß. Bedächtig setze auch ich mich neben das Transportutensil. Misty hatte es mir geschenkt bevor wir zu unserem ersten gemeinsamen Urlaub aufbrachen. Als ob ich sie noch einmal spüren könnte, fasse ich nach dem Rucksack, um dann langsam meine Hand an ihm abgleiten zulassen. Sie ist es nicht… und ich werde Misty wohl nie mehr berühren Inzwischen schnaubt ein Schaffner auf dem Bahnsteig: „Zurücktreten bitte, der Zug fährt ab.“ Die Menschenmenge hat sich bereits in das Innere des Zuges verzogen und so bin ich ganz alleine auf dem Bahnsteig. Alleine trifft es ganz gut, denn ich bin generell ganz, alleine seit ich dich, Misty, heute Morgen im Bett neben mir liegen ließ. Ein leichtes Lächeln huscht mir über das Gesicht, während ich daran denke, wie sie heute Morgen so friedlich schlafend in ihre Decke gekuschelt da lag. Langsam fahre ich ihr in Gedanken noch einmal durchs Haar, wie auch heut Morgen, und gebe ihr dann einen Kuss auf die Wange. Bevor ich die Tür zum Schlafzimmer schließe, drehe ich mich noch einmal um und sehe traurig auf das orangehaarige Mädchen, welches dort so friedlich schläft. Misty ist immer noch so bezaubernd, wie eh und je, das hat sich in all den Jahren nicht verändert. „Bitte zurücktreten! Der Zug fährt in wenigen Augenblicken ein“ ertönt es zum wiederholten Mal aus den Lautsprechern. Ich blicke mich, aus den Gedanken gerissen, um und sehe anders als beim letzten Zug keine Menschenmengen, die sich auf dem Bahnsteig entlang drängen und so buckele ich meinen Rucksack wieder mühevoll auf und schnappe mir die Tasche. Da fährt der Zug auch schon ein. Es ist eine Bummelbahn. Wohin sie fährt weiß ich auch dieses Mal nicht, aber es ist auch egal. Die einzigen Kriterien, die das Bähnchen erfüllen muss, sind, dass keine Menschenmassen mitfahren und dass sie mich weg von diesem Ort bringt, weg von dem Ort an dem mich alles an Misty erinnert, an das Mädchen mit dem ich die letzten dreieinhalb Jahre meines Lebens verbracht habe. Es waren dreieinhalb schöne Jahre, na ja drei schöne Jahre um genau zu sein, das letzte halbe Jahr war nur noch eine Qual. Um ehrlich zu sein, weiß ich bis heute nicht, wie das eigentlich gekommen ist, aber innerhalb kürzester Zeit haben wir uns nicht mehr täglich unterhalten, sondern maximal noch angeschrien, wenn überhaupt. Wir haben keine Gedichte mehr füreinander geschrieben, sondern nur noch Aufgabenzettel, die der andere abarbeiten sollte und ich hab Misty nachts nicht mehr in den Arm genommen und in ihre strahlenden blau-grünen Augen geschaut, sondern viel zu oft nur noch ein Tränenmeer gesehen und wenn ich versuchte sie zu trösten, ihre Abwehrhaltung zu spüren bekommen. Wir sind einfach nicht mehr zu dem Punkt zurückgekommen, wo die Beziehung noch etwas für beide Seiten bringt, sondern haben uns eigentlich bis heute immer weiter voneinander abgeschottet. Dabei habe ich Misty doch so sehr geliebt… Und tue es auch heute noch. Schon lange sitze ich im Zug und auch jetzt ist der Rucksack wieder neben mir, so wie es früher immer Misty war. Ich habe das ganze Abteil für mich alleine und so starre ich aus dem Fenster und warte darauf, dass der Zug endlich abfährt. Genau genommen warte ich nicht. Was mach ich eigentlich überhaupt? Sitzen? Atmen? Erinnern? Dann ruckelt der Zug los, wo er hinfährt weiß ich immer noch nicht, aber was macht das schon? Die ersten Häuser rauschen vorbei und vor mir erhebt sich die Stadt, die von einem dichten Wolkenkleid belagert wird. Da ist das Pastarestaurant, bei dem wir unser Einmonatiges verbrachten. Bei der Erinnerung huscht mir ein Lächeln über die Lippen. Dann passieren wir den An- und Verkauf, bei dem wir unsere Küche besorgten, nachdem wir über einen Monat diskutiert hatten, welche wir nun nehmen. Die Gleise führen meinen Zug weiter vorbei an dem Fahrradladen, in dem ich Misty ein Fahrrad besorgt hatte, nachdem ihres zum dritten Mal von Pikachu geschrottet wurde. So viele Erinnerungen, doch alles ist vorbei, was bleibt sind Erinnerungen. Erinnerungen an die Vergangenheit, in der wir beide eins waren und in der ich die schönste Zeit meines Lebens verbringen durfte. Dann verlässt der Zug das Stadtgebiet und die Gleise führen ihn durch die Mittelgebirgswälder. Plötzlich ist alles schwarz und wir passieren den Onix-Tunnel, der wegen seiner Länge so genannt wird. Ich schließe die Augen und umarme Misty sanft in Gedanken, dann legt sie ihren Kopf an meine Schulter, wie sie es so oft im letzten halben Jahr in meinen Gedanken getan hat. Als ich meine Augen wieder öffne und in den schwarzen Tunnel schaue, da sehe ich im Spiegelbild des Fensters wie sie neben mir sitzt! MISTY! Hektisch drehe ich mich zu ihr um, doch auf dem Platz neben mir ist keine Misty, dort sitzt gar niemand. Alles was sich dort finden lässt, ist ein großer sperriger Rucksack. Unter Tränen sehe ich ihn an und lasse mich schließlich auf ihn sacken. „Misty, ich vermiss dich!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)