Weihnachtszeit mal anders von Nightalp ================================================================================ Kapitel 1: 01.12.20XX --------------------- 01.12.20XX Es ist viel zu ruhig, dachte Charles. Sollten in solchen Momenten nicht eigentlich Stürme heulen, Blitz zucken und Wolken sich zu riesigen, dräuenden Bergen auftürmen? Stattdessen war es klar und sonnig, wenngleich etwas kalt, und die Vögel zwitscherten hell und fröhlich. Nur eine Straße weiter hörte er Menschen plaudern; von dem Spielplatz schallten die Rufe und das Lachen der Kinder herüber. Und in der Wand der Königlich Britischen Bank prangte ein zwei Meter großes Loch. „Tja, da hatte jemand wohl keine große Lust, sich zu bücken.“, kommentierte Detective Laureen Carter. Unwillkürlich musste Charles ein Grinsen unterdrücken, obwohl ihm eigentlich gar nicht nach Lachen zumute war. Aber Detective Carter hatte eine Art, die ihn aus derartig schwermütigen Betrachtungen wie die Überlegung, warum Eric in eine Bank einbrechen sollte, einfach herausriss. Was kein Wunder war - sie erinnerte ihn an jemanden, der ihm einst sehr nahe gestanden hatte. Deshalb war er richtig froh, dass Inspector Johnson versetzt und Carter der Abteilung zugeteilt worden war - was sie wahrscheinlich etwas anders sah. Monsterstreife war Strafarbeit für Agenten, die irgendwann mal den Falschen verärgert hatten. Bei Carter war das der Moment gewesen, als sie in einem Fall gegen ein paar korrupte Politiker zu weit gegangen war - sich zu engagiert gezeigt hatte. Niemand wollte die Geldgeber verärgern. Also hatte man kurzerhand ihre Sicherheitsfreigabe erhöht und sie aufs Abstellgleis geschoben, wo niemand ihre Meinung hören konnte. Niemand außer den Mutanten, heißt das, von deren Existenz sie plötzlich erfuhr, und mit denen sie auf einmal für die nationale Sicherheit zu sorgen hatte. Als offizielle Agentin, als Aushängeschild, um die Erfolge der Mutanten, deren Existenz den ganzen Senat bedrohte, zu verbergen. „War er das?“, fragte sie jetzt. Niemand musste fragen, wer er war. „Nee.“, kommentierte Logan. „Die Tür ist Panzerstahl; der Mistkerl hätte sie mit seinen Kräften einfach nur öffnen müssen. Ein Loch in die Wand zu schlagen ist unter seiner Würde.“ Ein angewidert verzogenes Gesicht, das Charles zwar nicht sehen, aber durchaus hören konnte. „Das hier war jemand anders.“ Carter sah nicht überzeugt aus. „Und wer sagt mir, dass es sich dabei nicht um ein Ablenkungsmanöver handelt?“ Charles konnte es ihr nicht verdenken; im Gegensatz zu ihm kannte sie Eric nicht persönlich. Hatte nie seinen Gedanken gelauscht. Er lächelte bei dem Gedanken, wie die beiden miteinander umgingen - sollten sie sich jemals persönlich kennen lernen. „Eric hat eine mehr ... direktere Art, die Dinge anzugehen. Habe ich Ihnen nie von unserer ersten Begegnung erzählt? Da hat er versucht, einen sehr mächtigen Mutanten inmitten seiner nicht weniger starken Komplizen auszuschalten - nur, weil er sich zufällig dort befand, als Eric ihn fand. Als ihm das nicht gelang hat er sich an ein U-Boot gehängt, um ihnen zu folgen, und wäre dabei fast draufgegangen. Nein, glauben Sie mir, Eric hat keinen Sinn für komplizierte Pläne. Außerdem - welchen Sinn sollte es haben? Er muss wissen, dass er der erste ist, den wir verdächtigen.“ „Hmpf.“ Carter drehte sich weg, offensichtlich nicht überzeugt, aber zu klug, um mit ihm weiter zu diskutieren. „Wenn Sie meinen.“ Charles musste ein Grinsen unterdrücken. Er hatte Recht gehabt - sie war wirklich wie seine kleine Schwester. Kapitel 2: 02.12.20XX --------------------- 02.12.20XX Sind Sie sicher, dass es nicht Eric war?“ Charles drehte sich um, was sich als gar nicht so einfach erwies, hatte er doch gleichzeitig eine randvolle Tasse besten Assam in der linken Hand. In der rechten jonglierte er eine Pyramide aus Mürbchen, die Storm gebacken hatte - und sie würde ihm mindestens das Fell über die Ohren ziehen, sollte er auch nur eines davon auf den Boden fallen lassen. Was er ohnehin nicht vorhatte - mochte sie auch sonst manchmal zu Unrecht eingebildet sein auf ihre nicht immer ausreichenden Fähigkeiten, war sie doch eine mehr als vorzügliche Köchin. Und eigentlich hatte er schon vorgehabt, ihre Kekse in Ruhe zu genießen. Was ihm wohl doch nicht gelingen würde. Nicholas de Racheles war ein gerechter, gottgläubiger, unermüdlicher Streiter der Menschheit, von dem niemand sagen könnte, er wäre auch nur im geringsten jemals vom rechten Pfad abgekommen – aber er war nicht unbedingt ein angenehmer Mensch. Unter normalen Umständen hätte Charles vermutet, Nicholas interessiere es nicht, dass die Menschheit keine Stimme gehabt hatte in der Auswahl dieses ihres Streiters; angesichts der Tatsache, dass er Gedanken lesen konnte, wusste er es. „Vollkommen sicher, Nicholas.“, erwiderte er also. Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Nicholas sich nicht ignorieren ließ – und dass auch Zustimmung ihn nicht dazu brachte, sein erwähltes Opfer in Ruhe zu lassen. „Eric würde niemals so in eine Bank einbrechen. Das wäre stillos.“ Sein Gegenüber stöhnte leise, offensichtlich nicht davon überzeugt, dass Stil etwas war, dass mit Eric in einem Satz erwähnt werden sollte, aber da konnte er sich mit Storm zusammen tun – vorausgesetzt, er konnte seine Abscheu vor deren Auftreten lange genug unterdrücken. Lächelnd drehte er sich ganz um und blickte Nicholas an. Er trug heute – wie üblich – ein maßgeschneidertes indigoblaues Seidenhemd, eine graue Leinenhose und blitzblankpolierte Schuhe. Eine goldene Uhr, gerade dick genug, um von Geld zu flüstern, aber zu schlicht, um angeberisch zu wirken, umschlang sein Handgelenk, während eine ebenfalls goldene Kette unter seinem Hemdkragen hervorlugte und das Kreuz hielt, welches mit zwei Rubinen das protzigste seiner Garderobe war. Dazu perfekt frisiertes Haar, sorgfältig manikürte Fingernägel und eine kerzengerade Körperhaltung war er geradezu der Inbegriff des adligen Recken. Außer natürlich, dass er nicht adlig war. Charles hatte nicht die geringste Ahnung, woher Nicholas seine Einstellung hatte, aber da er gleichermaßen unsicher war, ob er sie mochte, war das vermutlich auch egal. „Wir sollten ihn dennoch stellen!“, gab der Mittelpunkt seiner Betrachtungen jetzt kund. „Wir können ihn nicht einfach herumlaufen und in Banken einbrechen lassen!“ Charles‘ Mundwinkel zuckten amüsiert, so sehr er es auch zu unterdrücken versuchte. „Was Sie nicht sagen.“, meinte er. „Und ich dachte, wir hätten die letzten fünfunddreißig Jahre exakt das bereits versucht!“ Er hätte sich denken können, dass Sarkasmus an Nicholas verschwendet war. „Natürlich haben wir das. Aber eben nicht genug! Wir müssen uns mehr anstrengen, sonst wird uns dieser Kriminelle eines Tages noch auf der Nase herumtanzen. Wir müssen die Welt vor ihm bewahren!“ Charles wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu, denn schon fuhr Nicholas fort: „Bitte, lassen Sie mich den Plan erdenken, um diesen gefährlichen Verbrecher endlich stellen und hinter Schloss und Riegel bringen zu können!“ Wenn du dann endlich Ruhe gibst …, dachte Charles und nickte. „Natürlich, Nicholas.“, sagte er. Was er nicht sagte, während der andere in einem theatralischen Wirbeln kehrt machte und energisch zur Tür schritt, war, dass die Anfänge des Plans, die er in dessen Gedanken sah, vollkommener Blödsinn waren. Kapitel 3: 03.12.20XX --------------------- 03.12.20XX Ob es dieses Jahr wohl zu Weihnachten schneit?“ Laura schob ihr Gesicht näher ans Fenster heran. „Im Radio haben Sie gesagt, dass eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit besteht.“ „Frag doch Frost.“ Mystique hob nicht einmal den Kopf aus dem Buch, in dem sie gerade las. „Selbst wenn es nicht schneit, kann Sie es doch jederzeit für dich schneien lassen.“ „Mann, Mystique!“ Laura schüttelte den Kopf. „Du bist total unromantisch, weißt du das? Als ob Schnee gleich Schnee wäre!“ „Was denn, ist er nicht? Beides ist nur Wasser, das zu Kristallen erstarrt ist. Wie es dazu gekommen ist, spielt doch keine Rolle.“ Mystiques Stimme deutete an, dass zwar die Herkunft des Eises sie vollkommen kalt ließ – die Frage, ob sie endlich ihr Buch weiter lesen konnte, allerdings nicht. Laura, nach mehr als einem Vierteljahrhundert längst daran gewöhnt, ließ sich jedoch nicht beirren. „Nicht dasselbe.“, belehrte sie Mystique. „Das eine ist himmlischer Schnee, geradezu dafür gemacht, sich wie ein wärmendes Tuch über das Land zu legen und es bis zum Frühjahr zu bewahren, und das andere ist, naja, Frost, der in einem hübschen Kleid daher kommt und dennoch nur Kälte und Tod bringt.“ Mystique riss nun doch den blick von den Seiten los. „Was hast du genommen? Ein Löffel Romantik auf Schmalz, gewürzt mit fragwürdiger Poesie? Klingt wirklich interessant, ich hätte auch gern was gehabt, aber leider scheint es in deinem Wortschwall mitgerissen worden zu sein.“ „Mystique!“ Mystique grinste, als sie sah, wie ihre Freundin sich aufregte. Auch wenn sie beide längst erwachsen waren, fühlte sie sich doch manchmal als die große Schwester der zehn Jahre jüngeren Laura – und das bewirkte immer wieder die Versuchung, das andere Mädchen aufzuziehen. „Ich weiß doch, was du willst. Und wenn es dir nur darum geht, einen Jungen zu verführen, sollte Frosts Schnee ausreichend sein.“ „Ich hab doch schon gesagt, warum das nicht geht!“, grummelte Laura leicht beleidigt. „Und selbst wenn – nicht einmal Frost kann es weit genug schneien lassen, dass es natürlich aussieht.“ „Was uns dann Charles und seine kleine Heldentruppe auf den Hals hetzen würde, worauf ich im Moment wirklich keine Lust habe.“ Diese Stimme war männlich und kam nicht von der Tür, obwohl die Mädchen bis vor einen Moment noch allein gewesen waren. Allerdings überraschte das keine von beiden – hinter den Tapeten des alten Hauses verbargen sich zahlreiche Geheimtüren und die, die aus diesem Zimmer abging, führte direkt in Magnetos Labor. „So, keine Lust also?“, neckte Mystique. „Du wirst doch nicht langsam alt werden und dich vor diesen jungen Hüpfern verstecken wollen?“ Magneto lachte, aber unter der Fröhlichkeit hing ein Hauch Schwermut. „Alt werden? Ich?“ Er brach ab, wurde ernst: „Nein, das ist es nicht. Aber ich glaube, ich würde gern noch einmal Weihnachten mit ihm feiern. Bevor wir ...“ Seine Melancholie drückte die Stimmung im Raum. Um sie zu retten schlug Laura - nur halb im Scherz, wie sie selbst wusste - vor: „Du könntest ihn ja einladen. Vielleicht sagt er zu.“ Magneto sah sie an und meinte endlich, wobei seine Lippen bei dem Gedanken an Charles‘ Reaktion amüsiert zuckten: „Weißt du was: Ich glaube, das mache ich wirklich.“ Kapitel 4: 04.12.20XX --------------------- 04.12.20XX "Schaffen Sie gefälligst Ihren Arsch hierher, Mr. X, oder wir beide werden eine Menge Ärger miteinander bekommen!“, drohte ihm der Telefonhörer an. Charles blickte verblüfft darauf. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er meinen können, Detective Carter sei wütend auf ihn. „Was haben Sie denn, Carter?“, fragte er dementsprechend erstaunt. „Schlechte Laune.“, knurrte es ihm entgegen. „Und Ihre Verzögerungstaktik macht sie nicht wirklich besser.“ „Verzögerungs- oh, sie meinen Joy! Es tut mir wirklich leid, ich hätte sie wohl vorwarnen müssen. Joy wusste nicht, dass Inspector Johnson versetzt wurde und“ „Ja, ja, schon gut. Ich will Ihre Ausflüchte gar nicht hören. Wir haben einen neuen Tatort, und Sie haben exakt fünf Minuten, um hier zu erscheinen, oder wir werden hier von der Presse überrannt.“ Und schon war die Leitung tot. Der ‚Tatort‘ war dem letzten sehr ähnlich: Eine große Menge Geld, die verschwunden war. Ein Tresor mit einem Loch drin. Und viele ratlose Gesichter. Natürlich gab es auch Unterschiede: Diesmal ein Casino, keine Bank, und es war mitten am Tag passiert, aber da das Ergebnis dasselbe war und Zeugen sich ebenso rarmachten, hielt Charles die Gemeinsamkeiten für wesentlicher als die Unterschiede. „Sieht aus, als hätte unser geheimnisvoller Freund wieder zugeschlagen.“, kommentierte er. „Nein, ehrlich?“, fragte Carter ätzend. „Was Sie nicht sagen. Ein Hoch auf unsere mutierten Freunde – ohne sie könnten wir nicht mehr eins und eins zusammen zählen!“ Charles warf ihr einen Blick zu. „Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Carter. Was ist an dem Fall so besonders, dass sie plötzlich ausfallend werden?“ Sie schnaubte. „Ich dachte, Sie können Gedanken lesen, Mr. X?“ Er verzog das Gesicht. „Nur äußerst ungern, das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Es widerstrebt mir, in den intimen Geheimnissen meiner Mitmenschen herumzuwühlen.“ Wieder schnaubte sie, grummelte etwas vor sich hin, antwortete dann aber doch: „Wer immer das war, ist vermutlich auch ins CIA-Hauptquartier eingebrochen und hat dort dutzende von Akten mitgehen lassen. Mir sitzen die Bosse ziemlich im Nacken, dass wir etwas rauskriegen – möglichst noch vor dem Bericht zum Jahresende. Aber das haben Sie nicht von mir gehört, geht das klar?“ Charles nickte. „Natürlich.“ „Also, haben Sie irgendwelche Ideen?“, fragte Carter. „Leider noch nicht. Aber vielleicht hat Shuichi welche.“ Er nickte zu dem großen Schwarzen, der eben auf sie zukam. Der schweigsame Mann lächelte und hob die Hand, von der ein langes, rabenschwarzes Haar baumelte. Kapitel 5: 05.12.20XX --------------------- 05.12.20XX Als Vern stolperte, verdankten sie es nur ihrem Glück, dass niemand sie entdeckte. Denn der Tollpatsch fiel natürlich nicht nur, sondern ließ prompt noch alles fallen, was er in Händen hielt. Und weil schief geht, was nur schief gehen kann, löste sich der ohnehin locker Knoten am oberen Ende des Sackes, sodass der Inhalt herausfiel. Einmal mit Profis arbeiten., dachte er, als mehrere große Leinensäcke, ein Zapper und ein überlanger Dolch zu Boden klapperten. Nur einmal. Seufzend griff Ric einen der Leinensäcke, stopfte alles hinein und warf ihn Vern zu. „Und jetzt vorsichtig!“, zischte er. Also ernsthaft! Wenn es nach ihm ginge, wäre Vern schon lange abgeschrieben, besonderes Talent hin oder her. Dummerweise glaubte der Boss, dass der große Plan Verns bedurfte, also musste er, Ric, jetzt Kindermädchen spielen. Und als ob es nicht ausreichte dass er, eines der höchstangesehenen Mitglieder der Bewegung zur Befreiung der Elite, eine Arbeit verrichten musste, die jeder dahergelaufene Schläger ebensogut übernehmen konnte, musste er es auch noch als Santa Claus tun! Wütend wischte er sich den Schweiß von der Stirn und verschob natürlich prompt die Mütze. Jetzt reicht es!, dachte er, gerade in dem Moment, als Vern jammerte: „Wann sind wir denn endlich da?“ „Noch nicht!“, fauchte er zurück, und merkte im selben Augenblick, dass sein Stolz ihm jetzt nicht mehr erlauben würde, zu kneifen - selbst wenn es aus Überdruss und nicht aus Schwäche geschah. „Mach schon, wir sind fast da!“ Und das waren sie wirklich. Es dauerte nur noch wenige Minuten, bis sie, in ihren unförmigen Weihnachtsmann-Kostümen vollkommen unsichtbar, neben der Bank hielten. Vern ließ sich natürlich erst einmal erschöpft zu Boden sinken, aber mit einigen harschen Worten und dem ein oder anderen Schlag trieb Ric ihn wieder auf die Beine. „Los jetzt, mach hin!“, befahl er, und endlich gehorchte der Jüngere. Gegen seinen Willen fasziniert beobachtete Ric, wie Vern mit zitternden Fingern über die graue Betonwand strich. Unter seiner zaghaften Berührung schien ein Beben durch das Material zu gehen, dann bildeten sich zarte Risse, die schnell auseinander klafften und zu herabfallendem Mörtel wurden. Erst war es nur feiner Staub, dann grobere Sandkörner, und endlich fielen ganze Platten herunter. Aber noch auf dem Weg zum Boden zerbröselte alles so weit, dass die frische Brise alles davonwehen konnte. Aber das war nichts gegen das, was mit dem Stahlanteil des Tresors geschah: Er konnte zusehen, wie der dicke, bombensichere Stahl alterte, Rostflecken bekam und endlich ebenfalls zerbröselte. „Sollen wir das wirklich tun?“, fragte Vern zögernd, als endlich ein riesiges Loch in der Wand klaffte – hoch genug für Ric, und breit genug, dass sie beide nebeneinander hindurch passten. „Ich meine, das ist doch illegal, in eine Bank einbrechen und so …“ „Vern.“, sagte Ric, alle Geduld, die er noch besaß, sammelnd. „Du erinnerst dich? Ich habe dir das doch schon erklärt. Die Gesetze wurden von Menschen gemacht, die unsere natürliche Überlegenheit nicht verstehen. Ergo sind ihre Gesetze für uns nicht bindend. Außerdem wird es die Menschheit uns einmal danken, wenn wir erst die Herrschaft übernommen und ewigen Frieden und Gerechtigkeit auf die Erde gebracht haben. Das siehst du doch ein?“ Er wartete Verns Nicken gar nicht mehr ab, sondern schlüpfte durch das Loch in das Innere des Gebäudes hinein, wo er rasch und geübt Geld in die mitgebrachten Säcke stopfte. Glücklicherweise brauchte er weder das Messer noch die Pistolen – es war Sonntag, da war niemand hier, und sie konnten ungestört Geld abheben. Ric grinste zufrieden, als er Vern seinen Anteil an der Beute zuwarf und sich, seinen eigenen schulternd, Richtung Hauptstraße auf den Weg machte. Sie waren längst über alle Berge, ehe jemand das Loch in der engen Gasse bemerkte und meldete. Kapitel 6: 06.12.20XX --------------------- 06.12.20XX Wie üblich war John zuerst wach. Sarah war erst spät von ihrer Schicht im Krankenhaus gekommen, und Sherien hing seit Neuestem die halbe Nacht vorm Computer, um mit ihren Freunden, die, wenn er das richtig mitbekommen hatte, über den gesamten Erdball verteilt waren, zu chatten. Nun ja, und an den Misanthrop im Dachgeschoss verlor er gar keinen Gedanken. Der hatte mit seinen Hobbys sowieso immer zu den merkwürdigsten Zeiten zu tun. Er schüttelte sich, als er an diese Hobbys dachte. Sarah hatte ihn eigentlich gar nicht hier haben wollen – er war, ihrer (beider) Meinung nach ein schlechter Umgang für die Kinder, die sie miteinander zu haben gedachten; ganz zu schweigen davon, dass er ein ziemliches Hindernis für ein erfülltes Liebesleben darstellte – aber da sie sich das Haus ohne seine Unterstützung gar nicht hätten leisten können hatte er eben die zwei Dachzimmer bekommen. Und wenn John ehrlich war, dann war es gar nicht so schwer, mit ihm zusammen zu leben. Man hatte sich im Laufe der vergangenen dreizehn Jahre aneinander gewöhnt – und nachdem er ein eigenes Bad und einen riesigen Kühlschrank bekommen hatte konnten sie auch seine etwas ausgefalleneren Experimente ignorieren. Und typisch Kinder fanden Sherien und Paul den Verrückten Wissenschaftler auf ihrem Dachboden voll abgefahren. John vermutete sogar, dass sie bei ihren Mitschülern Geld kassierten, um sie in das Geheime Labor zu lassen. Er schüttelte noch immer den Kopf, als besagter verrückter Wissenschaftler die Treppe herunterkam. „John.“, sagte der. „Ich dachte schon, ich müsste dich wecken. Ruf ein Taxi. Wir müssen dringend Inspector Lestrade einen Besuch abstatten.“ John zog irritiert die Augenbrauen hoch. Es verwunderte ihn immer wieder, dass der andere ihn trotz ihrer langen Bekanntschaft noch immer so aus der Fassung bringen konnte. „Guten Morgen, Sherlock.“, sagte er betont. „Es ist dir sicher nicht aufgefallen, aber ich bin gerade dabei, Speck für mein Frühstück zu braten. Möchtest du dich zu mir setzen? Ich bin sicher, was auch immer du Inspector Lestrade sagen möchtest, hat auch noch eine halbe Stunde Zeit. Ganz zu schweigen davon, dass du es ihm auch per Handy mitteilen kannst – dafür ist das Ding nämlich da, dass du da vorn in deiner Brusttasche spazieren trägst.“ Sherlock Holmes, der Welt einziger Consulting Officer, blinzelte nicht einmal. „John, dein Frühstück kannst du auch heute Abend noch essen. Das hier ist ein viel zu interessanter Fall, als dass du ihn verpassen“ Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn und Sherlock holte es irritiert aus seiner Tasche. Er betrachtete es einen Augenblick, als habe er in seinem gesamten Leben noch kein Handy gesehen, ehe er das Gespräch annahm. „Ja?“ John sah ihn einen Moment lauschen, der Gesichtsausdruck dabei von irritiert über überrascht nach interessiert wechselnd. „Und niemand hat den Einbrecher gesehen?“, hakte er nach, lauschte kurz und stellte dann einige weitere Fragen, die für John in keinem Zusammenhang zueinander zu stehen schienen. Plötzlich zuckte Sherlocks Kopf hoch und er fragte, an John gewandt: „Mir ist aufgefallen, dass wir mehr Post als normal bekommen. Ist in nächster Zeit irgendetwas los? Ein Fest, eine Wahl, irgendetwas?“ John betrachtete ihn argwöhnisch. Machte sein weltfremder Bekannter sich schon wieder über ihn lustig, oder hatte er tatsächlich keine Ahnung? „In drei Wochen ist Weihnachten.“, sagte er endlich vorsichtig. „Weihnachten!“, rief Sherlock aus und in seiner üblich theatralischen Art streckte er den freien Arm aus und begann zu gestikulieren. „Natürlich! Weihnachten! Überall rosige Gesichter, und Stände mit ungesundem Essen, und Krimskrams und Liebespärchen und“ Er hielt direkt vor John an und deutete auf ihn, als sei er ein Lehrer und John der Schüler, der sich beweisen musste. „Und, weißt du, wer noch alles da draußen herumläuft? Auf wen niemand achtet, weil er hinter seiner Uniform verborgen ist? Komm schon, John, du weißt es, das ist gar nicht so schwer.“ Und das von jemandem, der bis vor zwei Minuten noch nicht einmal wusste, dass Weihnachten ist., dachte John, wusste aber aus Erfahrung, wie die Antwort auf diese Bemerkung lauten würde, und hielt daher den Mund. „Ähm …“, machte er stattdessen. „Weihnachtssinger … oder nein, du meinst Weihnachtsmänner, richtig?“ „Natürlich Weihnachtsmänner!“, rief Sherlock aus. „Hörst du, Charles? Der oder die Einbrecher haben sich als Weihnachtsmänner getarnt, sind zu dem Zielgebäude gegangen und haben das Loch in der Wand geschaffen. Dann haben sie das Geld in den mitgebrachten Jutesäcken abtransportiert. Niemand achtet auf Weihnachtsmänner mit vollen Säcken.“ Wieder wechselte seine Aufmerksamkeit zu John. „Sag schon, bin ich ein Genie oder nicht?“ Ein erneuter Gedankenwechsel. „Das klingt interessant, Charles. Ich denke, ich werde mir die Tatorte persönlich angucken kommen. Wann geht der nächste Flug, John?“ John schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, Sherlock, aber ich bin sicher, dass er ohne dich geht. Dein Bruder heiratet nächste Woche, erinnerst du dich? Mycroft, der Mann mit der Macht, dir den Britischen Geheimdienst auf den Hals zu hetzen und alle Fluglinien anzuweisen, dir die Ausreise zu versagen, damit du auch wirklich dabei bist?“ Sherlock stieß ein paar lasterhafte Flüche über seinen Bruder aus, die diesen vollkommen kalt gelassen hätten, hätte er sie gehört, und murmelte dann: „Das habe ich vollkommen vergessen. Okay, Charles, halt mich auf dem Laufenden, ich komme rüber, sobald mein Bruder diese lächerliche Zeremonie hinter sich gebracht hat.“ Er lauschte kurz, fuhr fort: „Warum sollte ich nicht kommen? Seien wir ehrlich, wenn der Täter keinen groben Fehler macht, seid ihr ihm in zwei Wochen immer noch nicht näher als jetzt.“ Offenbar betrachtete er das Gespräch als beendet, denn gleich darauf legte er auf. Er drehte sich um, während er das Handy noch zurück in die Brusttasche steckte. Und bemerkte Johns Blick. „Ja?“, fragte er. „Ich bin nicht sicher, was mich mehr verwundert: die Tatsache, dass du nicht weißt, dass Weihnachten ist; dass du vergessen hast, dass dein Bruder deine Anwesenheit auf seiner Hochzeit sicher gestellt hat; oder dass du tatsächlich gerade das Wort Zeremonie gebraucht hast. Und nein, ich möchte nicht, dass du das kommentierst. Möchtest du jetzt auch Speck, oder fährst du lieber allein vor zu Inspector Lestrade?“ Kapitel 7: 07.12.20XX --------------------- 07.12.20XX Ich verstehe vollkommen, Chef. Der Fall hat höchste Priorität. Ich werde persönlich alles daran setzen, dass er sobald wie möglich gelöst ist.“ Der Mann ihr gegenüber nahm einen frustrierten Bissen von der Gummischlange, an der er dank des Rauchverbots im Gebäude nagte. „Das sollten Sie auch besser.“, drohte er. Detective Laureen Carter, inzwischen an die durch Nikotinentzug verursachte schlechte Laune gewöhnt, blieb gelassen. „Das Labor sollte die Ergebnisse inzwischen fertig haben. Ich schicke Ihnen den Bericht, Inspector.“ Mit einer Handbewegung gab ihr Chef zu verstehen, sie könne gehen, was sie umgehend tat. Draußen vor der Tür, durch die Markise von den Blicken ihres Chefs geschützt, atmete sie erst einmal tief durch, ehe sie sich auf den Weg in den Keller machte, wo die Spurensicherung arbeitete. Wenn sie nämlich ehrlich war, war sie nicht halb so zuversichtlich, wie sie ihrem Chef vorgemacht hatte, auch wenn Mr. Xavier ihr versichert hatte, dass er noch ein Ass im Ärmel hatte – wenngleich eines, das ihnen nur helfen konnte, wenn sie in der Woche vor Weihnachten noch immer keine Spur hatten. Und weiter war er dann leider auch nicht darauf eingegangen. Obwohl es vielleicht besser so ist., dachte sie. So habe ich zumindest noch Hoffnung. Endlich hatte sie das Labor erreicht und stieß die Milchglastür auf. Jessica, eine Hand am Telefon, begrüßte sie mit einem Nicken und deutete auf eine Tür, die etwas weiter hinten am Gang abging – als wüsste Laureen nicht, wohin sie wollte. Aber sie nickte nur dankend und ging die paar Meter den Gang hinunter, ehe sie Daniels kleines Labor erreichte. Sie öffnete die Tür, die in schwarzen Lettern darauf hinwies, dass hier Daniel Pfeffer arbeitete, und stellte fest, dass er im Augenblick mit einigen Proben beschäftigt war, die er eben in eine blubbernde giftgrüne Flüssigkeit tauchte. Sein befriedigter Laut, als die Flüssigkeit beinahe sofort eine tiefrote Farbe annahm machte ihr wieder einmal bewusst, dass Chemie bereits in der Schule nicht zu den Fächern gehört hatte, denen sie etwas abgewinnen konnte. Endlich drehte er sich um – und ließ bei ihrem Anblick beinahe die Petrischale fallen. Laureen sprang vorsichtshalber zurück; sie hatte heute ihre guten Schuhe an und wollte gar nicht wissen, was die Flüssigkeit aus ihnen machen würde. „Oh .. ähmmm … hallo, Laureen.“, sagte Daniel atemlos. Sie lächelte. „Hallo Daniel. Du meintest, du wärest vielleicht jetzt schon fertig mit den Tests.“ „Oh, ähh … ja, die Tests, also, ähmmm … ich hole sie mal, ja?“ Er flüchtete fast in die andere Hälfte des Labors, wo ein Schreibtisch stand, vom dem er eine dünne Klemmmappe nahm. „Äh …, naja, ist leider nicht viel.“, sagte er entschuldigend, als er sie ihr reichte. „Ein paar von den Tests müssen eine Weile stehen.“ Laureen lächelte. „Ich bin überrascht, dass du überhaupt schon etwas hast. Das hilft mir enorm weiter. Danke, Daniel.“ Er lief bis zu den Haarwurzeln rot an. „Oh, keine Ursache.“, nuschelte er. Dann, in dem offensichtlichen Versuch, das Thema zu wechseln, fragte er: „Sitzt dir der Boss im Nacken?“ Sie verdrehte die Augen. „So kann man es auch nennen. Er hat mir praktisch mit einer Degradierung gedroht, sollte ich das hier nicht bis Jahresende erledigt haben.“ „Dir?“, quiekte Daniel. „Aber wer soll denn dann mit den … du weißt schon wen arbeiten?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Naja, ihm steht halt auch die Scheiße bis zum Hals, also …“ Sie verzog kurz das Gesicht. „Nun, er muss eben jemandem die Schuld geben. Aber so leicht mache ich ihm das nicht.“ „Und ich werde dich unterstützen.“, versprach Daniel ernsthaft. „Sag mir einfach Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.“ Sie blickte lächelnd in sein offenes Gesicht und wusste, dass er das vollkommen ernst meinte. Ein leichtes Schuldgefühl stieg in ihr auf, weil sie ihn so benutzte. Zumindest ganz kurz. Immerhin ging es hier um das Schicksal der Welt. Und Daniel würde über seine Verliebtheit schon hinweg kommen. Kapitel 8: 08.12.20XX --------------------- 08.12.20XX Hinter der Schule gab es einen Park, der sich im Laufe eines halben Jahrhunderts durch mangelnde Pflege zu einem Dschungel ausgewachsen hatte. Zwar gab es immer wieder Versuche, ihn zu zähmen, aber bisher waren alle gescheitert. Niemand sprach es aus, aber jeder ahnte, dass die Mutanten mit einer Gabe für Pflanzen etwas damit zu tun hatten; keiner von ihnen schien den Minidschungel verschwinden sehen zu wollen. Und da der Rest der Schülerschaft (und wahrscheinlich auch die meisten Lehrer) ihn als ruhiges Plätzchen für Pausen oder auch das eine oder andere Stelldichein zu schätzen wussten waren die Versuche, ihn zu entfernen, mehr als halbherzig. Zum Beispiel hatte noch niemand vorgeschlagen, dass Cyclops ihn abbrennen oder Icemen ihn erstarren lassen sollte. Trotzdem gaben zumindest die Lehrer offiziell vor, den Wald zu hassen, und den Schülern war es verboten, ihn zu betreten. Was es umso unverständlicher für Philippe machte, warum Frau Wellington ihn nach der Schule zu sich gerufen hatte und ihn jetzt genau zu diesem Dschungel führte. Der gesamte Park war von einer Hecke eingeschlossen worden, die auch jetzt noch die Begrenzung des Waldes darstellte, wenngleich sie fünfzig Jahre zuvor, als sie zuletzt geschnitten worden sein musste, wohl kaum vier, an manchen Stellen sogar über sechs Meter in die Luft geragt hatte und eine Breite von über drei Metern aufwies. Sie war ohne besondere Kräfte oder zumindest Flammenwerfer absolut undurchdringlich – wie einige wagemutige Schüler immer wieder bewiesen. Die einzigen Unterbrechungen in diesem Wall waren die vier Zugänge – einer für jede Himmelsrichtung. Übermäßig enthusiastische Gärtner hatten die ehemals gezähmten Pflanzen über Metallstreben geführt, die einen Elefanten gehalten hätten – und heute der Grund waren, dass der Wald überhaupt noch begehbar war. Allerdings hatten auch diese Gärtner nicht vorhersehen können, mit welchem Ansturm die Gitter würden klarkommen müssen, und so waren die Stäbe mit der Zeit abgesackt, wodurch die Sonne kaum jemals bis in die Tiefen der Durchgänge vordringen konnte, wo nun die Schatten regierten. Und in diese Schwärze hinein zog ihn der feste Griff der Lehrerin. Überrascht von ihrer Stärke stolperte Philippe hinter der kleinen Frau her – und wurde ganz plötzlich gegen das Gitter gepresst, eine kalte harte Linie im Nacken und ein weicher Frauenkörper, der ganz und gar nicht Frau Wellingtons war, im Rücken. „Wenn du schreist, wird dir das leidtun, hast du verstanden?“, warnte eine vollklingende Stimme, die sofort eine unerwartete Rektion in seinem Unterleib hervorrief. Geschockt blieb er stumm, wurde aber durch einen leichten Druck mit dem Dolch nachdrücklich davon überzeugt, dass seine Angreiferin eine Antwort wollte. „Ähm … ja.“, stotterte er, während er zu verarbeiten versuchte, wie er auf sie reagierte. Allerdings ließ ihm die Frau keine Zeit dazu. „Ich freue mich, dass wir uns verstehen.“, flüsterte sie in sein Ohr und er musste einen Schauder unterdrücken. „Denn ich will, dass du Charles eine Botschaft von mir bringst. Tust du das für mich, Philippe?“ Er nickte und schaffte es irgendwie, „Ja“ zu sagen. Sie beugte sich noch ein wenig näher zu ihm und sein Herz schien direkt in seinen Hals zu springen, als ihre Brüste über seinen Rücken schabten. „Richte ihm aus, dass er Eric und Raven anrufen soll. Tust du das für mich?“ Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er erst meinte, nicht richtig gehört zu haben. Dann aber verstand er und die Erkenntnis schwappte wie eine kalte Welle über ihm zusammen. „Ja.“, stammelte er endlich ein drittes Mal und sie klopfte ihm leicht auf die Schulter, wie man es mit einem Welpen tun mag, und nannte ihn einen guten Jungen. Dann zog sie das Messer von seinem Hals zurück und schlenderte davon, scheinbar ohne den Blick zu bemerken, der ihr folgte. Und Philippe, der ihr mit offenem Mund hinterher starrte, dachte: Mann, hat Professor Xavier eine heiße Schwester. Kapitel 9: 09.12.20XX --------------------- 09.12.20XX Die Fichte ragte fast zwölf Meter in die Höhe und erstrahlte im Licht von Tausenden elektrischen Kerzen, die von den bunten Glaskugeln reflektiert wurden, in weihnachtlichem Glanz. Zuckerstangen, goldene Tannenzapfen, Lebkuchenmännchen und allerlei Spielzeug vervollständigten das Bild eines Weihnachtsbaums. Zumindest das amerikanische Bild., dachte Nica, während sie den Blick weiter schweifen ließ. Für ihr deutsches Auge hatte der Christkindlmarkt L.A.s zu viel Kitsch und zu wenig feierliche Stimmung – und die ganzen Lehrer, die ihre Schüler aufforderten, sich mit den ausländischen Verkäufern in deren Muttersprache zu unterhalten und so ihr Deutsch zu erproben, waren auch nicht wirklich hilfreich – aber sie hatte Jo versprochen, mit ihm auf diesen Markt zu gehen, also sollte sie besser versuchen, das ganze positiv zu sehen. Zumal ihr Freund mit ihr zusammen an einer deutschen Casting-Show teilgenommen hatte. Der Gedanke ließ sie noch immer erbeben. Sie hatten gewonnen! Sie hatten gewonnen! Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich davon abhalten, über den Platz zu tanzen. Dann aber fiel ihr Blick auf einen der Weihnachtsmänner – einen der Santa Cläuse? –, die, obwohl dieser Markt ihrer Konkurrentin geweiht war, viel zu zahlreich vertreten waren, und ihre gute Laune versickerte wie Wasser in der Wüste. Jo, der ihren Stimmungsumschwung bemerkt hatte, fragte besorgt: „Ist dir kalt? Wir können irgendwo rein gehen, wenn du willst.“ Sie warf ihm einen Blick zu, leicht amüsiert. „Ich weiß, dass ich keine Jacke anhabe, und OK, es wird dunkel, aber wir haben immer noch, was? Fünfzehn Grad? Zu Hause haben sie jetzt ungefähr zwei Grad oder so.“ Dann aber sank ihre Stimmung wieder. „Nein, ich musste nur wieder daran denken …“ Sie biss sich auf die Lippe. „Glaubst du immer noch, du hättest gesehen, wie zwei Weihnachtsmänner eine Wand haben verschwinden lassen?“ Jo klang ungläubig. Aber das war in Ordnung. Nica war selbst nicht sicher, was sie gesehen hatte. Außer … es hatte so ausgesehen, als wäre die Wand unter der Hand des einen Santa Claus zerbröselt. So, als wäre sie innerhalb weniger Sekunden um Jahrhunderte gealtert. Was natürlich nicht sein konnte. Und schon gar nicht die Wand einer Bank, verdammt noch mal, die bestimmt aus haltbareren Materialien errichtet war als gewöhnliche Wohnhäuser. Und dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihr Blick immer wieder zu dem – inzwischen zugemauerten - Loch wanderte, sobald sie am Fenster ihres Zimmers in Jos Appartement stand und sie sich fragt, ob sie nicht vielleicht doch … „Hör mal, Nica, selbst wenn du Recht hast: Wenn die Polizeibeamten deine Aussage nicht gleich verwerfen, dann spätestens, sobald du das Gebäude verlassen hast.“ Sie wusste nur zu gut, dass er lediglich die Wahrheit aussprach – mehr noch: dass er sich immerhin bemühte, sie zu verstehen, was sie mehr als süß von ihm fand – aber trotzdem fühlte sie sich nicht richtig verstanden. Wenn es denn nun tatsächlich Menschen gab, die so etwas tun konnten: Sollte dann nicht jemand darüber Bescheid wissen? Sie konnten immerhin noch viel Schlimmeres tun, als nur in Banken einzubrechen. „Komm schon, vergiss die Typen.“, sagte Jo. „Ich habe einen Stand mit Kräppelchen entdeckt; du hast mir erzählt, dass die so lecker schmecken, aber auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt gab es ja leider keine.“ Zögernd ließ sie sich mitziehen; obwohl sie wusste, dass er sie nur aufmuntern wollte, konnte sie sich dem Gefühl nicht entziehen, dass sie so bald wie möglich zur Polizei gehen sollte. Kapitel 10: 10.12.20XX ---------------------- 10.12.20XX Wolken verhingen den Himmel vor seinem Fenster und das Licht, das in seine Schreibstube schien, war trüb und grau, reichte zu kaum mehr, als die Umrisse der Möbel zu erkennen. Dazu kam die vom Wind gebeutelte Gestalt der Birke vor seinem Fenster, die immer wieder an die Scheibe gedrückt wurde und das Zimmer dann für einige Momente beinahe vollkommen schwarz zurück ließ. Dennoch hatte Charles kein Interesse daran, das Licht anzumachen. In einer Weise, die er nicht in Worte fassen konnte, würde es viel wirklicher machen, was er vorhatte. Und was er vorhatte, empfand er beinahe selbst als Verrat. Zögernd nur wandte er sich endlich vom Fenster ab und ging die drei Schritte, die es brauchte, seinen kleinen Ecktisch zu erreichen. Und auf diesem lag, unschuldig schwarz glänzend, sein Handy. Sein Medium des Verrats. Er streckte die Hand aus, und es fühlte sich viel zu schnell an, dass sich seine Hand um das kleine Smartphone schloss. Viel zu schnell, verglichen mit der Bedeutung, die es hatte. Die Nummer, die er wählte, kannte er auswendig, obwohl er sie nie zuvor gewählt hatte. Nie zuvor war er … nein, das stimmte nicht. Er war oft versucht gewesen, sie zu wählen. Aber niemals zuvor hatte er einen Grund gehabt, hinter dem er sein Verlangen, mit jenen Leuten zu sprechen, die seinem Herzen so nahe waren, verbergen konnte. Das Telefon klingelte nur zweimal, ehe sich sein Freund meldete. „Hallo Eddie.“, sagte eine vertraute Stimme weich. Die einzige Stimme, die diesen Namen benutzen durfte. Er musste tief durchatmen, schluckte. „Hallo Bobby.“, sagte er endlich. „Ich dachte schon, du hast meine Nummer vergessen.“, sagte die Stimme des anderen. „Du hast dich nie gemeldet.“ Eric klang wie immer – munter, ein wenig ironisch, abgebrüht. Aber hinter den flapsigen Worten hörte Charles, dass es dem anderen genauso ging wie ihm. Merkwürdigerweise half ihm das, sein Gleichgewicht wieder zu finden. „Eric.“, sagte er, in einem Tonfall, der fast als geschäftsmäßig durchgegangen wäre. „Du wolltest, dass ich dich anrufe. Also, worum geht es?“ Kurze Stille, dann: „Du hättest dich auch bei Mystique oder Laura melden können.“ „Ich habe Rahels Nummer nicht. Und es war nicht Raven die mich sprechen wollte.“ Zwei vollkommen logische, korrekte Gründe – nur warum hatte er dann das Gefühl, sie seien ebenso vollkommen fadenscheinig und falsch? „Also – warum wolltest du mich sprechen?“, fragte er, um das Gefühl abzuschütteln. Wieder war die Leitung still, und er glaubte schon, sie sei tot, als Eric endlich antwortete: „Wir wollten dich einladen, die Weihnachtsgans mit uns zu teilen. Nur Laura, Mystique und ich – und du.“ Charles erstarrte. Wortwörtlich. Er hatte geglaubt zu wissen, um was es in diesem Gespräch gehen würde – oder, wenn er sich irrte, so doch auf alles andere vorbereitet zu sein. Jetzt wusste er, dass er sich geirrt hatte. „Was?“, krächzte er in den Hörer. Er hörte, wie Eric am anderen Ende der Leitung tief Luft holte. „Ich lade dich ein, Weihnachten mit uns zu feiern. So wie eine … Familie.“ Eine Familie. Was sie waren, in gewisser Weise. Eric und er die großen Brüder, und Raven und Rahel die beiden kleinen Schwestern - ihrer beider kleine Schwestern, obwohl er Rahel nur kurz kennen gelernt hatte vor jenem schicksalhaften Tag, an dem Eric sich entschloss, eigene Wege zu gehen. Und Raven beschloss, dass man sie genug angestarrt hatte. Und dass ihre Liebe zu Eric größer war als die, die sie zu ihrem Bruder empfand. „Eric.“, sagte er endlich. Überrascht stellte er fest, dass sein Ton eisig war – vor Erinnerungen, und Erinnerungen an Gefühle, die er nicht mehr haben sollte. „Wenn es dir lediglich um derartigen Schmarrn geht – ruf mich nicht mehr an.“ Er drückte so fest auf den kleinen roten Hörer, dass der Knopf fast kaputt ging. Dann sank er auf den Boden, fassungslos angesichts dessen, was gerade passiert war. Was Eric angeboten hatte. Kapitel 11: 11.12.20XX ---------------------- 11.12.20XX Was hat er getan?", fragte der Boss außer sich vor Wut. Ric zuckte gespielt gleichgültig mit den Schultern. "Er meinte, es sei falsch, in fremde Gebäude einzudringen und Geld zu stehlen." Er betrachtete das vor Ärger weiße Gesicht seines Oberen und fügte, innerlich über die Gelegenheit, sich für alle Erniedrigungen rächen zu können, frohlockend, hinzu: "Das kommt von den ganzen Bücher, die er immer liest. Philosophie." Das letzte Wort betonte er überdeutlich. Der Boss atmete einmal tief durch - und dann gleich noch einmal. "Wer hat ihm erlaubt, so etwas zu lesen?", knurrte er endlich halb gefasst. Ric ahnte, dass das auch auf ihn zurückfallen konnte. "Ihr habt ihm freien Zugang zur Bibliothek gewährt.", sagte er daher lediglich vorsichtig. Erneutes Tief-Durchatmen. "Dann ziehe ich diese Erlaubnis zurück. Und mach etwas gegen seine Schlaffheit. Ich bezweifle, dass er dann noch viel freie Zeit hat in der er auf dumme Gedanken kommen kann." Das tat Ric auch - wenngleich aus anderem Grund. "Hoch mit dir, du Schnarchnase!", befahl er mit Genuss, als er Vern nach seinem Gespräch mit dem Boss endlich aufgespürt hatte. Der kleinere sah überrascht und ein wenig verängstigt von seiner Lektüre hoch. "Aber ich habe doch gesagt, dass ich nicht mehr irgendwo einbrechen werde!", protestierte er, sich noch weiter in die Ecke schiebend, in der er sich verkrochen hatte. Ric grinste bösartig. "Oh, darum geht es auch gar nicht.", sagte er gehässig. "Der Boss hat nur beschlossen, dass du ein bisschen von deinem Babyspeck verlieren sollst." Mit einer schnellen Bewegung riss er das Buch an sich und schleuderte es dann mit Wucht gegen die Wand. Vern zuckte hoch, dieses eine Mal zu erregt, um nervös zu sein. "Das war eine Thomas-Mann-Erstausgabe!", rief er und versuchte, an Ric vorbeizukommen; offensichtlich wollte er das Buch auf Schäden überprüfen. Ric, der es hasste, wenn seine Befehle ignoriert wurden – und außerdem das dumme Gefühl niederkämpfen musste, dass es wegen dem Buch noch Ärger geben würde; der Boss war ein passionierter Sammler -, packte ihn, erfreut über die Gelegenheit, sich abzulenken, am Kragen und stieß ihm das Knie in den Magen. "Ich habe gesagt, du sollst aufstehen.", sagte er, während Vern würgend zu Boden ging. Dann blickte er sich noch einmal um und sagte endlich: "Räum hier auf und komm runter in die Turnhalle. Du hast zehn Minuten, sonst werde ich böse." Ein weiteres boshaftes Lächeln, das der sich noch immer windende Vern nicht sehen konnte. „Und du willst mich nicht erleben, wenn ich böse werde.“ Er musste aufpassen, dass er nicht fröhlich pfiff, als er den Raum verließ. Aber der Anblick des am Boden liegenden Versagers … deliziös. Am liebsten hätte er noch einmal zugetreten, aber der Boss würde nicht erfreut sein, wenn sein Spielzeug nicht funktionierte. Und außerdem hatte Ric den Kleinen jetzt ganz für sich allein. Wenn er aufpasste, dass er ihn nicht unbrauchbar machte, konnte er alles mit ihm tun was er wollte. Das Lächeln auf seinen Lippen wurde breiter. Vern würde sich schon bald nach einem Auftrag sehnen. Und wenn der Boss erst hörte, dass Vern endlich spurte – dass Ric diesen undankbaren Job so richtig gut machte -, würde er ihn hoffentlich belohnen und von diesem elenden Kindermädchendienst befreien. Kapitel 12: 12.12.20XX ---------------------- 12.12.20XX Brüderchen?" Lauras Stimme riss ihn aus der Betrachtung der weihnachtlich geschmückten Einkaufsstraße. „Ja?“ Er hatte sich noch immer nicht von der entschiedenen Absage seines Freundes erholt – und das im Zuge diverser umstürzender Möbel und zuknallender Türen (ganz zu schweigen von den unabsichtlichen Manifestationen seiner Macht) auch deutlich gemacht. Sie ignorierte seinen grummeligen Tonfall und fiel im einfach um den Hals. „Hör auf, so ein Gesicht zu machen!“, befahl sie ihm spielerisch. „Immerhin habe ich zwei interessante Neuigkeiten für dich.“ „Hast du?“ Magneto gab sich unbeteiligt, obwohl er wusste, dass seine Schwester ihn nicht wegen Kleinkram so anstrahlen würde. „Ja.“ Sie verstummte, sah ihn erwartungsvoll an. Trotz ihrer mehr als vierzig Jahre war sie in mancherlei Hinsicht noch immer das Kind, als das ihr jung gebliebener Körper sie erscheinen ließ. Und Magneto machte sich nichts vor: seit er sie als Zehnjährige aus dem Kinderheim geholt hatte war sie von ihm über alle Maße hinaus verwöhnt worden - und er hatte nie aufgehört damit, sie wie eine kleine Schwester, ein Kind zu behandeln, auch wenn sie wie sie alle daran arbeitete, die Welt zu einem besseren Ort für Mutanten zu machen. Natürlich gab er auch diesmal nach. „In Ordnung. Was hast du herausgefunden?“, fragte er. „Hoffentlich nicht, dass Richard mit unserem neusten Rekruten recht grob umgeht – dass er den armen Kleinen nicht ausstehen kann weiß ich nämlich schon.“ „Richard? Oh, du meinst den Grobian aus New York. Ich weiß ehrlich gar nicht, was du an dem findest.“ Laura verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Er ist ein taktloser Kerl, der unser Niveau herunter zieht, meinst du nicht?“ Sie ließ ihm keine Zeit zum Antworten sondern fuhr fort: „Ist ja auch egal.“ Eine kleine Handbewegung, die eben jenes egal ausdrücken sollte. „Jedenfalls ist das nicht das, was ich mit dir besprechen wollte.“ Als sie nicht weitersprach fragte er endlich erneut: „Und? Was ist es dann?“ „Du hast mir doch von deinem Gespräch mit Charles erzählt.“, begann sie siegesgewiss grinsend. Magneto verzog das Gesicht. Er hätte es wissen müssen – Rahel war in Charles so ziemlich seit jenem Zeitpunkt verknallt gewesen als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Natürlich hatte sie ihn nach seinem Telefonat mit Charles gelöchert, bis sie alle Details kannte. Und sich jetzt wahrscheinlich wer weiß was zusammen gesponnen. Er unterdrückte seine eigenen Gefühle diesbezüglich und meinte ironisch: „Und was ist es, das dich daran so gefesselt hat? Außer das Charles daran beteiligt war, meine ich.“ Der letzte, sehr deutlich betonte Satz ließ Laura bis unter die Haarspitzen rot anlaufen. Aber sie blieb dennoch bei der Sache, was ihm eine erste Ahnung gab, dass an dem, was sie ihm erzählen wollte, vielleicht doch etwas dran war. „Nun, nachdem, was du mir erzählt hast, hatte ich doch das Gefühl, er habe erwartet, du wolltest ihn wegen etwas anderem sprechen. Erinnerst du dich? Ich hab dir das gesagt.“ Magneto nickte. Das hatte sie tatsächlich. „Also, ich habe mich schlau gemacht: In L.A. geht wohl momentan ein Einbrecher um. An sich nichts ungewöhnliches, allerdings haben sind Charles und Shuichi an einem Tatort gesehen worden, was mich vermuten lässt, dass ein Mutant dahinter steckt.“ „Und Charles glaubt, dieser Mutant bin ich.“, schloss Magneto. Er sagte nichts weiter; kein Grund, das in irgendeiner Form zu kommentieren. „Davon gehe ich auch aus.“, stimmte Laura zu, ohne seine Gedanken zu bemerken. „Aber es kommt noch interessanter: Offenbar ist er nicht der einzige, der das glaubt, denn unser guter Freund Nicki soll doch tatsächlich an unserer alten Unterkunft herumgestromert sein.“ Magneto verzog das Gesicht. Nicholas war eine Nervensäge schlechthin – schon gewesen, bevor er zu der Überzeugung gelangt war, Magneto sei das personifizierte Böse. Dann gingen ihm plötzlich die Möglichkeiten auf. Mit einem langsamen Lächeln fragte er: „Du meinst …“ „Genau.“ Lauras Lächeln war breiter, aber genauso hinterlistig wie seins. „Wir bekommen schon noch unseren ganz besonderen Weihnachtsgast. Wenn auch nicht so, wie wir eigentlich wollten…“ Kapitel 13: 13.12.20XX ---------------------- 13.12.20XX Er wirkt noch mehr daneben als sonst. Hat er seine Drogen heute nicht genommen?“ John wandte gar nicht den Kopf; er hatte sich im Laufe des letzten Jahrzehnts an Donovans bissige Kommentare zu Sherlock gewöhnt und hielt es im Allgemeinen genauso wie dieser, wenn es zu dem hübschen Detective kam: Er ignorierte sie. Diesmal jedoch mischte sich auch Lestrade ein und den konnte er schlecht ignorieren. „Sie hat Recht. Ist irgendwas mit ihm los?“ Immerhin hörte sich der Inspector ernsthaft besorgt an, was John glauben ließ, dass es ihm um mehr ging als die Gefahr, Sherlock könnte den Fall nicht knacken – oder, was noch schlimmer war: Womöglich einem drogeninduzierten Anfall bekommen. Zwar hatte Lestrade niemals etwas in diese Richtung angedeutet, aber John war immer davon ausgegangen, dass er das befürchtete. Immerhin wusste er, dass Sherlock früher Drogen in größeren Mengen konsumiert hatte, ohne aber sicher sein zu können, dass sich dessen weiterhin erratisches Verhalten nicht mit weiterem Drogenkonsum erklären ließ. Er konnte nicht wissen – und John selbst sollte das mit Sicherheit auch nicht, aber inzwischen kannte er sich mit den Methoden von Sherlocks Bruder ganz gut aus -, dass Mycroft die letzten drei Wochen praktisch täglich seine Leute für eine Drogenrazzia in Sherlocks Mansarde geschickt hatte und ihn auch sonst rund um die Uhr überwachen ließ. Wenn Lestrade schon keinen Skandal wollte, so wollte ihn Mycroft noch weniger. Allerdings hatte Sherlocks merkwürdiges Verhalten - merkwürdig für Sherlock, hieß das, was eine ganz neue Stufe von Merkwürdig war, wie John jederzeit zuzugeben bereit war - nichts mit bewusstseinserweiternden Substanzen zu tun. „Es geht ihm gut.“, erklärte er endlich, sich wieder einmal in seine Rolle als Übersetzer des verrückten Genies fügend. „Er ist da nur an einem Fall dran und kann ihm aufgrund diverser Umstände nicht richtig nachgehen.“ „Diverse Umstände?“, fragte Lestrade perplex. „Sein Bruder heiratet.“, erklärte John. Kurze Stille, dann: „Der Freak hat einen Bruder?“ Jetzt drehte John sich doch um. Er hatte gewusst, dass Sherlock mit diesen Leuten nicht gerade auf gutem Fuß stand, aber dass sie Mycroft nicht kannten … Sally Donovans Gesicht machte deutlich, dass dies für sie tatsächlich eine Neuigkeit war, während Lestrade eine Grimasse zog, und John erinnerte sich, dass Sherlock einmal erwähnt hatte, wie er den Inspector kennen gelernt hatte: Als Sherlock während einer Razzia wegen Drogenbesitzes festgenommen worden war, war Lestrade der Polizeibeamte gewesen, der ihn abgeführt hatte. Mycroft hatte ihn damals rausgehauen, aber nicht, ehe der kleine Sherlock den frischgebackenen Polizisten mit seinem Genie beeindruckt hatte, aber das war eine andere Geschichte. „Sein Bruder heiratet? Und er will Holmes dabei haben?“ Offener Unglauben. John zuckte mit den Schultern. „Ja.“, meinte er einfach. Er konnte es ja selbst kaum glauben, obwohl er ziemlich sicher war, dass hinter der amüsierten Gründlichkeit Mycrofts und Sherlocks unhöflichem Desinteresse durchaus Bruderliebe steckte. Irgendwo. Lestrade blickte ihn an, öffnete den Mund – und entschied sich dann doch, das Thema zu wechseln. „Dieser andere Fall – worum geht es dabei?“ John überlegte kurz, was er dem anderen erzählen konnte, und entschied sich dann für: „Eine Einbruchserie in Banken und Kasinos, drüben überm großen Teich. Die Beamten haben zwar eine Spur, aber keine richtigen Beweise, und ein Freund Sherlocks, der in die Sache verwickelt ist, hat ihn um Hilfe gebeten.“ „Ein Freund des Freaks?“ Donovan war offensichtlich mit ihrer Ironie noch nicht am Ende. Nun, John mit seiner Geduld schon. „Man mag es nicht glauben, aber nicht alle Leute sind oberflächlich.“ Wobei es nicht gerade ein Nachteil ist, wenn man die Gedanken des anderen lesen kann., dachte er, während er über die Straße dorthin blickte, wo Sherlock gerade neben der Leiche hockte und, wenn er sich die Gesichter der umstehenden Polizisten betrachtete, geschmacklose Kommentare von sich gab. Kapitel 14: 14.12.20XX ---------------------- 14.12.20XX Du meinst also, wenn wir ihm hier auflauern, dass wir ihn dann überwältigen können?“ Christine klang skeptisch, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Nicolas war nicht wirklich davon ausgegangen, dass sie seinen Plan unterstützen würde, selbst wenn sie einsah, dass etwas getan werden musste. Und das hatten erfreulich viele getan: Außer Christine noch Jennifer und Leonardo von den regulären Agenten, Theodore von den Ersatzleuten und aus der Abschlussklasse Maximilian, Julien und Chang. Allerdings kamen, auch wenn sie grundlegend mit seinem Plan einverstanden waren, immer noch solch überflüssige Einwände. Und das bei ihrer letzten Lagebesprechung vor dem Einsatz! „Er hat ständig um ein Treffen mit Professor Xavier gebeten. Und wenn man ihre Vergangenheit bedenkt kann man davon ausgehen, dass er zu diesem Treffen allein kommen wird.“ „Weil er davon ausgeht, dass der Professor allein kommt.“, sagte Theodore. „Der Professor wird nicht sehr erfreut sein, wenn wir seinen guten Namen so beschmutzen, Nicolas.“ Nicolas hätte fast die Augen verdreht, aber das schickte sich nicht für einen Mann in seiner Position. „Ich bin sicher, wenn wir ihm erst einmal Magneto aushändigen, wird er sich über solche Kleinigkeiten nicht aufregen.“ Er klang selbstsicherer als er es war. Denn wenn er ehrlich war – was er nur zu sich selbst sein durfte, zumindest in diesem Fall -, dann war er sehr sicher, dass der Professor wütend sein würde, Magneto hin oder her. Aber so sehr Nicolas den Professor auch bewunderte – er hatte ihn schon immer für einen Mann gehalten, der seine Moralvorstellung ein bisschen übertrieb. Für ihn, Nicolas, war die Festnahme Magnetos und damit der Schutz der Welt und ihrer nichtsahnenden, unschuldigen Bevölkerung jedenfalls das wichtigste! „Nun, wie dem auch sei. Um zu verhindern, dass Magneto uns wahrnimmt oder aber es gar gegen uns wenden kann, dürfen wir alle nichts aus Metall bei uns tragen. Also denkt daran: Keine Haarspangen, kein Schmuck, keine Reißverschlüsse.“ „Keine Schuhe mit Stahlkappen.“, murmelte Julien und Chang verzog das Gesicht und machte eine Bewegung, als wolle sie ihn mit selbigen treffen. Nicolas atmete tief ein und zählte langsam bis zehn, ehe er wieder ausatmete. Warum nur konnte er nicht mit Profis arbeiten? Dann wäre diese Lagebesprechung schneller vorbei gewesen und er wäre wirklich sicher gewesen, dass sein Plan auch korrekt ausgeführt wurde und demzufolge auch Erfolg hatte. „Also, als erstes gehen Jennifer Christine und ich in die Schlucht rein und verstecken uns dort. Und zwar genau zwei Stunden vor dem Treffen. Dann kommt Theodore, verkleidet als Professor. Leonardo, Maximilien, Chang und Julien sind die Nachhut. Wenn Magneto auftaucht lassen wir ihn auf etwa fünfzig Meter an Theodore herankommen. Dann greifen wir ihn an. Sobald ihr dann das Signal bekommt, kommt die Nachhut rein und packt das Päckchen ein.“ Das klang so leicht. Aber ein simpler Plan hatte die größten Chancen, nicht schief zu gehen. Ganz zu schweigen davon, dass seine Komplizen ihn sich merken können mussten. „Was ist, wenn er mit mir spricht?“, fragte Theodore. Nicolas musste gar nicht überlegen – er hatte das natürlich eingeplant. „Versuch, ihn so lange wie möglich mit Gesten hinzuhalten. Wenn das nicht geht, gib vor, eine Erkältung zu haben. Wenn alle Stränge reißen müssen wir eben früher angreifen.“ „Und wenn er doch nicht allein kommt?“ Christine klang noch immer nicht überzeugt. Er winkte ab. „Selbst wenn er nicht ganz allein kommt – wir sind mehr als genug, um ihn zu überwältigen. Auch plus ein paar andere mehr. Und selbst wenn er nicht allein kommt wird er nur wenige Leute mitbringen, weil er damit rechnet, nur einer Person gegenüber zu stehen.“ Er sah sich noch einmal um. „Noch Fragen? Nein? Dann sollten wir jetzt schlafen gehen. Morgen müssen wir früh los, wenn wir vor ihm da sein wollen.“ Nicolas stand auf und sah zu, wie die anderen vor ihm aus dem Raum strömten. Gut, sie waren Anfänger und hatten noch nie zusammen gekämpft. Aber sein Plan war genial. Der Sieg schmeckte süß. Jetzt musste er ihn sich nur noch holen. Kapitel 15: 15.12.20XX ---------------------- 15.12.20XX Also ehrlich.“ Magneto schüttelte den Kopf, während er auf die – zugegebenermaßen sehr gut versteckten – Agenten hinunter blickte. „Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich darauf herein gefallen bin? Ich habe Kleinkinder schon bessere Fallen stellen sehen.“ Frost lachte. „Wieso? Der Plan ist einfach und – das musst sogar du zugeben -: Es hätte klappen können. Ich weiß noch immer nicht, woher du wusstest, dass nicht Charles auf dich warten würde.“ Weil er mir zwei Tage, bevor die Mail kam, so überdeutlich klar gemacht hat, dass er mich nicht sehen will, dass nur ein Dummkopf glauben würde, er hätte seine Meinung geändert. Aber das sagte er nicht laut – Frost hielt seine Gefühle für Charles ohnehin schon für eine Schwäche. „Laura hat Nicolas an unserem alten Stützpunkt in San Francisco herumschnüffeln sehen. Da war es nicht schwer sich zu denken, dass er etwas vorhatte.“ Zumindest wenn du gewisse Nervensägen so gut kennst wie ich. „Verstehe.“ Frost grinste noch immer. Magneto sah sie von der Seite an. Als er sie damals in seine Befreiungsfront aufgenommen hatte war sie ein junges, desillusioniertes Mädchen gewesen, und er hatte ihre Kräfte für einen wertvollen Zuwachs zu seiner Organisation gehalten. Inzwischen jedoch hatte sich gezeigt, dass irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung war; was auch immer die Männer ihr angetan hatten – oder sie den Männern – hatte sie zerstört. Oberflächlich betrachtet war sie immer fröhlich, lächelte viel, lachte. Aber niemals zeigte sie ihre wahren Gefühle. So wie jetzt, wo ein kaum wahrnehmbarer Zug um ihre Augen, ein eigentlich nicht vorhandenes Zusammenkneifen des Mundes auf ihr Jagdfieber hindeutete. Er war noch immer davon überzeugt, dass es richtig gewesen war, Frost – Storm, wie sie damals noch hieß – in die Organisation zu holen; sie brauchte einen Halt, ein Ziel in ihrem Leben, den sie ihr gegeben hatten, und Frosts Gabe, beinahe alles zu Eis erstarren lassen zu können, hatte sich schon häufig als nützlich für sie erwiesen. Allerdings bezweifelte er manchmal, dass das ausreichte. Frost brauchte etwas, jemanden, der ihr wieder den Wert von Gefühlen zeigte – und Magneto selbst war dafür leider denkbar schlecht geeignet. Schmerz flammte in seinem Geist auf, und er wandte sich von dem Gedanken ab. Es mochte unverständlich erscheinen, angesichts seiner jugendlichen Gestalt und seines attraktiven Äußeren, aber er hatte nie eine Frau getroffen, mit der er sein Leben hätte teilen wollen. Vielleicht lag es daran, dass er so häufig enttäuscht, verlassen worden war. Er brauchte, suchte, nach jemandem, von dem er sicher wissen konnte, dass er ihn nie betrügen würde. Und der selbst stark genug war, sich gegen alles zu verteidigen, was die Welt auf ihn loslassen konnte. Ungebeten trat Mystiques Bild vor sein inneres Auge. Als sie ihm damals gefolgt war hatte er gewusst, dass es zumindest zum Teil seinetwegen war. Und ja, für zwei, drei Jahre waren sie ein Paar gewesen, bevor ihnen beiden klar geworden war, dass sie nicht füreinander bestimmt waren. Dass Magneto immer noch ein Kind in ihr sah, eine kleine Schwester, die er beschützen musste. So wie er es sich selbst versprochen hatte, für Charles. Dieser Gedanke ließ ihn abrupt aufschrecken. Schnell konzentrierte er sich wieder auf die Schlucht unter ihm, wo jetzt eine Gestalt aufgetaucht war, die aus der Ferne eventuell für Charles durchgegangen wäre. Wenn man ihn nicht kannte, zumindest. „Sieht aus, als entrolle sich das Drama.“, murmelte Frost und lachte wieder leise. „Meinst du, du willst dich wirklich allein in die Höhle des Löwen wagen?“ Er zwang ein Grinsen auf sein Gesicht. „Du meinst, die Löwen könnten Zähne haben?“ Er zog eine Hand voll Nägel aus der Tasche seines Mantels. „Nun, ich habe Klauen.“ In seinen Händen, geführt von seiner Gabe, waren die harmlosen Eisenstücke gefährliche Waffen. Die er allerdings nur einzusetzen gedachte, wenn die Kinder da unten – und die Nervensäge – sich nicht anders überwältigen ließen. Hinter sich hörte er noch immer Frosts leises Kichern, als er den kleinen Vorsprung verließ und seinen eigenen Platz in dieser kleinen Tragödie einnahm. Kapitel 16: 16.12.20XX ---------------------- 16.12.20XX Die Lippen zu rot, der Mund unter dem ernsthaften Lächeln verkniffen. Das Kostüm gute Qualität, zeitlos schön, hat aber Liegefalten. Und das sind nur die offensichtlichsten Zeichen. Offenbar ist die Brautjungfer schon lange nicht mehr zu Familienfesten eingeladen worden. Oder zu anderen öffentlichen Feiern. Ganz anders die Braut – aber die Braut hat zu strahlen. Wer, wenn nicht sie? Der Bräutigam war jedenfalls nicht der Typ, der viel lächelte – echt lächelte, hieß das. Champagnerfarbenes Kleid, kaum Rüschen, wenig Schmuck. Selbstbewusst. Leicht gebräunte Haut. Schwielen an den Händen. Blonde Haare, oben leicht gebleicht. An der linken Hand ein hellerer Striemen ums Handgelenk, wo wahrscheinlich die Uhr sitzt. Also viel draußen unterwegs. Sportlich aktiv. Echtes Lächeln, schaut ständig zum Bräutigam. Atemlos. Wahrscheinlich verliebt … Böser Blick von Mycroft. Will vermutlich, dass ich mich auf die Hochzeit konzentriere und nicht seine Braut abschätze. Hat er vermutlich selbst bereits vorher getan. „… so antworte jetzt: Ja.“ „Ja.“ Immer noch nicht am Ende. Der Flug geht morgen früh, 8:35. Sarah wollte John vorher nicht gehen lassen. Außerdem ist nachher die Feier und ich kann nicht vor Mitternacht weg, weil Mycroft mir unerfreuliche Konsequenzen angedroht hat. Habe nicht gefragt, was das für Konsequenzen sind. Hat einen neuen Einbruch gegeben. Veränderung der Vorgehensweise, laut der Polizei. Diesmal wurden zwei Männer von einer Kamera aufgezeichnet, als sie sich der Tür näherten. Warum diesmal die Tür? Welche Umstände haben sich geändert? Achtung! Muss jetzt Bräutigam den Ring reichen. Merkwürdiges Teil: Weißgold, kleiner blauer Stein. Wahrscheinlich blauer Diamant, aber er hat ihr das nicht gesagt. Sähe Mycroft ähnlich, ein kostbares Geschenk zu machen und ihr nichts davon zu sagen. Sie scheint nicht gierig zu sein, schaut den Ring kaum an. Ist aber überrascht – hat ihn noch nicht vorher gesehen. So wie Mycroft vorhin beim Standesbeamten. Hat das Kleid vorher auch noch nicht gesehen. Aber sein Hemd passt farblich dazu. Wer ihn eingekleidet hat, wusste, was die Braut trägt. „Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Gut, jetzt ist endlich alles vorbei. Alle klatschen. Klatsche ich mit? … John meint, ich sollte mich mehr wie ein Mensch verhalten. Ich klatsche mit. Wir verlassen die Kirche. John schiebt sich neben mich. „Ich bin erstaunt. Du hast dich richtig gut gehalten, als Trauzeuge. Ich dachte, du verpasst deinen Einsatz.“ Es erstaunt mich immer wieder, dass John mich offensichtlich für unterbelichtet bezüglich menschlichen Verhaltens hält. Ich belasse es bei einem Blick. Er grinst. „Gut, wir sehen uns dann nachher bei der Feier? Mycroft wollte dich ja vorher noch einmal sprechen.“ Wir nähern uns meinem Bruder und seiner Frau, die sich vor der Kirche aufgestellt haben und Glückwünsche empfangen. Als Trauzeuge hätte ich einer der ersten sein sollen, der ihnen gratuliert. Ich war nicht schnell genug hinter ihnen draußen. … Ich bezweifle, dass das jemandem auffällt. Außer Mycroft und John, natürlich. Kapitel 17: 17.12.20XX ---------------------- 17.12.20XX   Ich habe brav neben meinem Bruder gesessen, habe die Braut und ihre Mutter nicht verärgert und die Sahnetorte gegessen, obwohl ich Kuchen nicht ausstehen kann. Es ist nach Mitternacht. Können wir jetzt endlich?“ John drehte sich, wenig überrascht, zu dem Ursprung der fast weinerlich klingenden Stimme um. „Es ist halb vier.“, sagte er. Ihr Flug würde erst um kurz nach halb neun gehen - mehr als genug Zeit, um zum Flughafen zu fahren und einzuchecken - vor allem, wenn man die Taschen bereits im Auto hatte. Außerdem hatte Sarah gewollt, dass er noch einmal mit ihr tanzte, wenn er schon kurz vor Weihnachten mit dem Misanthropen abhaute. Das merkwürdige war, fand John, dass Sherlock sie mochte. Bevor er jedoch eine weitere Bemerkung anbringen konnte - oder Sherlock auf seine vorige antworten - erschien plötzlich der Bräutigam neben ihnen. Für einen Mann, der sich auf einen Stock stützte, bewegte er sich eindeutig zu leise. „Es ist Zeit.“, sagt Sherlock verstimmt - entweder, weil er seinen Bruder auch nicht hatte kommen hören, oder, was John für wahrscheinlicher hielt, weil er noch immer daran kaute, dass Mycroft ihm eine frühere Ausreise unmöglich gemacht hatte. „Natürlich.“ Mycroft wirkte lediglich amüsiert und einmal mehr fragte John sich, ob Sherlock seinen Bruder nicht mehr mochte, als er zugab. Dann wandte dieser amüsierte Blick sich ihm zu. „Sie achtem doch auf meinen Bruder?“ Was sollte er da schon sagen? Es war ja nicht so, als könnte er dem mächtigsten Mann Großbritanniens irgendetwas abschlagen. „Natürlich“, sagte er also. Wenn er mir nicht davonrennt, heißt das. Oder ich gekidnappt werde. Oder er partout darauf besteht, dass ich einen anderen Ort aufsuche als er. Mycrofts Gesicht spiegelte nichts wider, dennoch war John davon überzeugt, dass er seine Gedanken kannte. Und der Blick, den er kurz darauf mit Sherlock wechselte, sprach Bände. „Mein Fahrer wartet draußen auf euch.“, sagte er. John wollte etwas einwenden, da fuhr Mycroft auch schon fort: „Ich habe ihn angewiesen, euer Gepäck umzupacken, sodass Sarah nachher ohne Verzögerung heimfahren kann.“ John starrte ihn an. Mycrofts Gesicht verriet nicht, dass dieses Gepäck in Johns Wagen eingeschlossen gewesen war – und sich der Schlüssel noch immer in seiner Tasche befand. „Ärgerst du schon wieder deinen kleinen Bruder?“, mischte sich eine helle Stimme ein und sie drehten sich alle überrascht um. Nein, das stimmte nicht: John drehte sich überrascht um. Weder Mycroft noch Sherlock wirkten vom plötzlichen Erscheinen von Mycrofts Angetrauter erstaunt. „Wie kommst du darauf?“, fragte Mycroft lächelnd. „Ich habe mich lediglich von ihm verabschiedet, da er doch lediglich wegen unserer Hochzeit im Lande geblieben ist und sein Talent dringend woanders benötigt wird.“ Falls je einer von ihnen daran gezweifelt hatte, dass Felicitas nicht über ihren Ehemann und seine Umtriebe Bescheid wusste, so zerstreute der Blick, mit dem sie Mycroft jetzt bedachte, diese Annahme. „Lassen Sie sich bloß nicht von meinem Mann aus der Fassung bringen.“, sagte sie an John gewandt. „Er genießt das.“ Dann, zu Sherlock: „Schön zu sehen, dass du Zeit gefunden hast. Ich glaube zwar, dass er dich notfalls auch mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen hätte, hier zu erscheinen, aber gehen wir doch mal davon aus, dass du freiwillig hier bist: Vielen Dank für dein Erscheinen.“ Sherlock sah einen Moment so aus, als wäre er baff, dann verneigte er sich leicht. „Es war mir eine Ehre.“ Als sie gingen, sah John aus den Augenwinkeln, wie Sherlock Felicitas zuzwinkerte.   Kapitel 18: 18.12.20XX ---------------------- 18.12.20XX Sie standen wieder vor einer Wand. Diesmal war es eine braune Wand, und sie gehörte weder zu einer Bank noch zu einem Casino, sondern lediglich zu der Privatvilla eines der reichsten Männer der USA – so reich, dass er es sich leisten konnte, dieses Haus leer stehen zu lassen, während nur wenige Straßen weiter Menschen keine Unterkunft hatten. Vern wusste, dass er sich nicht wirklich schlecht fühlen musste, bei diesem Mann einzubrechen. Selbst wenn er das Haus zusammenbrechen und das Geld zu Staub zerfallen lassen würde, würde der Mann den Verlust kaum bemerken. Trotzdem war es fremdes Eigentum. Allerdings hatte Ric in seinem Bemühen, ihn umzustimmen, zumindest teilweise Erfolg gehabt. Vern gab es nicht gern zu, aber bei dem Gedanken, sich noch einmal von dem anderen eine Unterrichtsstunde in Selbstverteidigung geben zu lassen – was im Endeffekt darauf hinauslief, sich von diesem verprügeln zu lassen -, wurde ihm übel. Also hatte er nachgegeben. Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach., dachte er und rieb sich über die Rippen, die von violetten und gelben Flecken übersäht waren, wo Ric ihn getreten hatte. Er konnte von Glück reden, dass der Boss ihn lebend brauchte, und auch in gutem Zustand, sonst wäre er ganz sicher nicht so glimpflich davon gekommen. Und das hätte den zweiten Teil seines Plans um einiges schwieriger gemacht. Rasch unterdrückte er den Gedanken. Ric hatte die unheimliche Fähigkeit, ständig zu wissen, wann er rebellisch zu werden begann, und verpasste ihm dann jeweils sofort eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. „Nicht zögern!“, zischte er auch jetzt, und Vern zuckte zusammen. Die Boshaftigkeit in der Stimme des anderen verursachte ihm Gänsehaut. Rasch legte er die gespreizten Finger auf die Wand, genauso wie er es zuvor bei der Gartenmauer getan hatte, und rief seine Macht herbei. Sie kam widerwillig – er hatte schon früh bemerkt, dass es ihm schwerer fiel, sie auszuüben, wenn er es nicht wirklich wollte. Dennoch kam sie, und er spürte mit ihr in das Mauerwerk vor sich hinein. Er spürte das Alter des Gebäudes – es musste schon einige Jahrzehnte hier stehen und war immer wieder ausgebessert und erweitert worden – dann veränderte er es. Langsam, als drehe er an einem Regler, ließ er den Stein und Zement vor sich altern, bis er brüchig wurde, Risse bekam. Als der Halt zwischen den Ziegeln zu schwach wurde, brachen erst einzelne Stein ab, dann immer mehr, bis endlich ein fast rundes, 2 Meter großes Loch in der Mauer vor ihnen klaffte. „Na bitte, geht doch.“, sagte Ric hinter ihm und Vern musste die Zähne zusammen beißen, um den anderen nicht merken zu lassen, wie erschöpft er war. Immerhin hatte er zuvor schon ein Loch in der Außenmauer geschaffen und die diversen Kameras und andere Sicherungen außer Kraft gesetzt. Allerdings fürchtete er, was Ric tun würde, wenn er merkte, wie sehr die Ausübung seiner Fähigkeit Vern anstrengte. Im Moment hatte er jedoch glücklicherweise besseres zu tun. Mit einem scharfen Blick wandte er sich Vern zu und sagte: „Du bleibst hier!“, ehe er durch das Loch trat und sich auf die Suche nach dem Tresor machte. Da er die Kombination kannte, brauchte er dafür Verns Hilfe glücklicherweise nicht - was genau das war, worauf dieser gewartet hatte. Er kniete sich hin, griff in den Staub zu seinen Füßen, und warf in das Loch. Eine kurze Berührung mit seine Gabe, und der Staub erinnerte sich daran, dass er noch Minuten zuvor Jahre jünger und eine Mauer gewesen war. Einige Handvoll Staub mehr und die Bresche in der Außenmauer des Hauses war wieder geschlossen. Mit ein bisschen Glück würde Ric gefasst werden, aber selbst wenn der Verbrecher entkommen konnte musste er immer noch einen anderen Weg aus der Villa finden – Zeit genug für Vern, um abzuhauen. Zum ersten Mal seit langer Zeit wieder grinsend lief er zur Mauer und schwang sich hinüber. Dann verschwand er lautlos in der dunklen Gasse dahinter. Kapitel 19: 19.12.20XX ---------------------- 19.12.20XX Detective Carter betrachtete den Mann, der, zumindest Charles Xavier zufolge, der beste Mann für diesen Fall war, wie er begeistert grinsend auf der Gasse auf und abmarschierte. Er trug einen Mantel, unter dem er bei den Temperaturen hier fürchterlich schwitzen musste, wirkte aber nicht, als mache ihm das etwas aus. Tatsächlich schien er kaum etwas anderes zu bemerken als die Gebäude, die Straße und den ein oder anderen Hinweis – wobei Carter nicht sicher war, um was für Hinweise es sich handeln sollte; hätte der Mann, der auf den interessanten Namen Sherlock Holmes getauft war, nicht von Zeit zu Zeit sein Auf-und-Abgehen unterbrochen um hier etwas näher zu beschauen oder da eine ausholende, theatralische Geste zu machen, wäre sie der Meinung gewesen, alle Spuren hätten der Wind und das Wetter bereits beseitigt. Während sie jedoch verwirrt war – und die Beamten in ihrer Begleitung nicht weniger, konnten sie doch nicht verstehen, warum ausgerechnet für diesen Mann der Tatort für knappe zwei Wochen abgesperrt gewesen war – wirkte der Begleiter von Holmes recht lässig. Auch war er derjenige gewesen, der sich und Holmes vorgestellt und sich für das merkwürdige Verhalten seines Freundes im Voraus entschuldigt hatte, während Holmes nur darauf gebrannt zu haben schien, den Tatort zu Gesicht zu bekommen. Seine Kleidung – Jeans und ein rot-weiß-kariertes Hemd – war den herrschenden Bedingungen besser angepasst, allerdings schwitze er leicht. Dennoch ließ er seinen Freund keinen Moment aus den Augen. „Ist er wirklich so ein Genie?“, wandte sie sich endlich an Charles, der neben ihr stand und mit beinahe vergnügter Miene Holmes beobachtete. „Natürlich.“, sagte der leichthin. „Haben Sie nicht mit Ihren Londoner Kollegen gesprochen?“ Das hatte sie. Und die Antwort war sehr widersprüchlich ausgefallen. Denn während der zuständige Inspector den Mann über den grünen Klee hinaus gelobt hatte, waren sich doch alle einig, dass er menschlich gesehen zurückgeblieben war. Tatsächlich hatte einer der Detectives gemeint, Holmes am Aufspüren von Verbrechern zu beteiligen sei wie Hannibal Lector zum Aufspüren von Psychopathen zu benutzen. „Was macht Sie so sicher, dass er uns helfen kann?“, fragte sie grimmig. Immerhin hatte sie ihre Karriere aufs Spiel gesetzt, um Xaviers kleinen Schoß-Detektiv an den Tatort zu lassen. Charles lächelte, und tippte sich sanft mit dem Finger gegen die Stirn. „Seine Art zu denken ist … nun, ich würde sagen, einzigartig, hätte ich nicht seinen Bruder kennen gelernt. Aber belassen wir es doch dabei, dass er die Welt auf eine Art sieht, die sie sich nicht vorstellen können, und ich nicht nachmachen.“ „Also glauben Sie, er findet etwas?“ Carter war ein bisschen gereizt; wollte er etwa andeuten, dass sie dumm war? Xavier sah sie kurz an, lächelte dann noch einmal freundlich. „Oh, er hat bereits etwas gefunden. Mehreres sogar, und nichts davon wäre Ihnen oder mir oder sogar jenem jungen Mann“ Er nickte zu John Watson hinüber, der inzwischen dazu übergegangen war, beruhigend auf die Polizisten einzureden um sie davon abzuhalten, Holmes vom Tatort zu werfen. „aufgefallen. Sie können mir ruhig glauben: Der Fall, den Sherlock Holmes nicht knackt, ist noch nicht eingetreten.“ Carter verzog das Gesicht. „Wenn ich Ihnen nicht vertrauen würde, wären wir nicht hier, und Holmes erst Recht nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn das hier nicht klappt, machen meine Vorgesetzten mich einen Kopf kürzer.“ „Oh, es klappt.“, beruhigte sie eine Stimme mit britischem Akzent. Sie blickte auf und sah direkt in John Watsons Gesicht. „Sherlock ist ein gewöhnungsbedürftiger Zeitgenosse, das gebe ich zu, aber er hat noch nie einen Fall nicht geknackt. Ich wette mit Ihnen, dass er Ihren Täter vor Weihnachten hat.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Auch wenn es ein … ist.“ Sie sprach das Wort nicht aus, ließ nur die Pause wirken. Watson grinste, was ihn gleich zehn Jahre jünger erscheinen ließ. „Sherlock muss Weihnachten mit seinem Bruder und seiner Mutter feiern; sie bestehen darauf. Wenn er den Täter bis dahin nicht hat, geht ihm nur die heiße Spur verloren. Und das wird er nicht zulassen.“ Erneut grinsend wandte er sich zu Holmes um, der noch immer inmitten der Gasse stand, sich dann umwandte und ihnen brüsk zunickte. „Er hat etwas.“, übersetzte Watson leise. Kapitel 20: 20.12.20XX ---------------------- 20.12.20XX Es konnte doch nicht so schwer sein, eine Nummer zu wählen?! Ein paar Zahlen drücken, dann die Taste mit dem kleinen grünen Hörer und mehr war nicht dabei. Nur, dass er jetzt schon den dritten Tag dastand und es nach dem X. Versuch noch immer nicht geschafft hatte. Er konnte doch nicht ewig so zögern, nur weil er beim letzten Mal so angefahren worden war! War er denn nun sechs Jahre alt oder über sechzig? Entschlossen ergriff er sein Handy, tippte die Nummer ein und wählte. Es klingelte einmal. Es klingelte zweimal. Dreimal. Beim fünften Mal war er drauf und dran, wieder aufzulegen, als sich doch noch jemand meldete. „Eric.“, sagte Charles kühl. „Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, dass ich dich nicht mehr sprechen will.“ Die Erleichterung, dass er sich gemeldet hatte, zusammen mit Charles' beherrschtem Tonfall reizte seinen Zorn. „Sei gewiss, ich wollte auch nicht noch einmal anrufen.“, knurrte er in den Hörer – obwohl das nun ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach. Charles ließen seine Worte offensichtlich nur noch kälter werden. „Und warum belästigst du mich dann einmal mehr?“, fragte er kühl wie die Arktis. „Vielleicht, weil ich etwas habe, das dir gehört, und von dem ich dir sehr verbunden wäre, würdest du es abholen?“ Ein Schweigen, das ihm umso länger erschien, da er jeden Moment fürchten musste, der andere würde auflegen. Endlich: „Und was wäre das?“ „Nun, ich dachte, du hättest es bereits vermisst.“, sagte er spöttisch. „Ist dir nicht aufgefallen, dass du die letzten Tage nicht mit pathetischen Äußerungen überhäuft wurdest?“ „Nicholas.“, sagte Charles; es war mehr ein Stöhnen. „Oh, du wusstest davon? Ich hätte nicht gedacht, dass du für einen derartig dummen Plan deinen Namen hergeben würdest.“ „Ich wusste, was er plante. Ich habe gedacht, irgendjemand würde es ihm ausreden.“ Ein dumpfes Geräusch, so als habe Charles seinen Kopf gegen die Tischplatte gestoßen. „Was willst du?“ „Möchtest du ihn denn wirklich zurück?“ Wieder kam es spöttisch heraus – und ohne dass seine Zunge sein Gehirn nach einer Meinung gefragt hätte. Aber manches musste einfach ausgesprochen werden … „Was willst du?“ Kalt, jedes Wort deutlich betont. Wahrscheinlich sprühten seine Augen jetzt Funken – sichtbar nur für jene, die mutig genug waren, ihm jetzt noch in die Augen zu sehen. Er ignorierte die Gänsehaut auf seinem Rücken, auch wenn er diese Stimme nicht mehr gehört hatte, seit Charles ihm die Erlaubnis gegeben hatte, ihn Eddie zu nennen – direkt, nachdem er sein Leben gerettet hatte. Zögernd, jedes Wort gut abwägend, antwortete er: „Das habe ich dir schon einmal gesagt: Feiere Weihnachten mit uns.“ Er wusste nicht, was er erwartete. Wütende Drohungen, Beleidigungen – wobei das bei Charles unwahrscheinlich war – oder das laute Knacken des aufgelegten Hörers. Er bekam nichts davon. Lachend erwiderte Charles: „Ist das nicht ironisch: Da versucht Nicholas alles, um mich von dir fern zu halten – und dann ist er der Grund dafür, dass ich doch tatsächlich einen Abend mit dir verbringen muss!“ Eric wagte kaum zu atmen. „Dann kommst du?“ Schweigen, gestört nur durch das langsame, rhythmische Atmen des anderen. „Ja, ich komme.“ Kapitel 21: 21.12.20XX ---------------------- 21.12.20XX Er beobachtete amüsiert, wie der Inspector versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ganz offensichtlich war Carter gar nicht mit ihnen einverstanden, hatte aber auf Xaviers Drängen hin nachgegeben. Allerdings war sie nicht die einzige, die recht aufgewühlt war. Während sie zum nächsten Tatort gefahren waren hatte John sowohl sie als auch den Professor beobachtet und dabei festgestellt, dass der gelassene freundliche Mann auf einmal recht hibbelig und abwesend wirkte. Seine Kleidung saß wie immer korrekt und selbst sein Hinken war nicht stärker als normal – um genau zu sein: es fiel weniger auf als Mycrofts, allerdings hatte er ja auch einige Jahrzehnte Übung während Mycroft sich erst vor einigen Wochen den Fuß gebrochen hatte -, dennoch war er irgendwie … nicht ganz bei der Sache. So wie jetzt, als Carter auf ihn einredete und er zwar immer wieder nickte, seine Augen allerdings ins Leere gerichtet schienen. Was war bloß los mit ihm? Seit Sherlock ihn John vor einigen Jahren vorgestellt hatte, hatte John ihn niemals anders als gefasst und kontrolliert erlebt. Außer … „Sind die Anwohner gefragt worden, ob sie etwas gesehen haben?“, riss Sherlock ihn aus seinem Gedankengang. Seufzend blickte er auf und Carter an, die gereizt erwiderte: „Natürlich. Niemand hat etwas gesehen.“ Sherlock nickte – abfällig – und ging dann einfach weg. Offensichtlich stimmte er dem Inspector nicht zu, was John auch nicht anders erwartet hatte. In Sherlocks Privatuniversum waren Polizeibeamte Trottel, und normale Leute sogar noch dümmer, wenngleich manchmal nützlicher. Wie John selbst zum Beispiel. Während er seinem Freund und Arbeitskollegen folgte hörte er hinter sich kurzes Gemurmel, dann folgten Xavier und Carter langsam. Sherlock ignorierte sie. Stattdessen hielt er direkt auf ein Hinterhaus zu, das von der Bank aus kaum zu sehen war. Eiliges Klackern, dann hatte Carter zu ihnen aufgeschlossen. „Wir haben bereits alle Bewohner der umliegenden Häuser befragt. Was glauben sie, bei einer erneuten Befragung herauszufinden?“ Sherlock wandte nicht einmal den Kopf. „Die Wahrheit.“ Sie standen bereits fast vor der Haustür, als er kurz den Kopf zu den Fenstern hob, als wolle er etwas überprüfen, dann zum Klingelschild schritt und zielsicher einen Knopf drückte. Carter öffnete noch einmal protestierend den Mund, aber ehe sie etwas sagen konnte ertönte der Summer. Sherlock sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wolle er sagen Siehst du?, dann war er an ihr vorbei ins Treppenhaus geschritten. John musste ein Lächeln unterdrücken – und seine widerstreitenden Gefühle. Einerseits eine große Portion Mitgefühl, dass sie es mit Sherlock überhaupt zu tun hatte, andererseits ein bisschen Häme. Wenigstens war er nicht der einzige, dem Sherlock das Leben schwer machte. Im dritten Stock stand eine junge Frau auf dem Treppenabsatz und blickte auf sie herunter. Sherlock sah sie stumm an, dann fragte er: „Was haben sie gesehen?“ Sie zögerte, ihr Blick huschte über ihre Gesichter – und blieb an Xavier hängen. „Sie sind wie ich.“, sagte sie nach einer scheinbaren Ewigkeit. Ihre Anspannung machte ihren Akzent sehr deutlich. Xavier nickte. Mit einem Male wirkte sie nicht mehr halb so verstört und winkte sie herein. „Bitte passen sie auf, wo sie langgehen. Das ist die Wohnung von meinem Freund.“ Sie setzten sich schließlich ins Wohnzimmer, und nachdem sie ihnen Erfrischungen angeboten hatte setzte sie sich schließlich hin, atmete tief durch und sagte: „Er hat die Wand verschwinden lassen.“ Kapitel 22: 22.12.200X ---------------------- 22.12.20XX Nachdem sie das Mädchen gefunden hatten – bzw. nachdem Xaviers Freund das Mädchen gefunden hatte – hatte es nicht lange gedauert, bis sie auch den Rest herausgefunden hatten. Oder, um es genauer auszudrücken: Bis Holmes den Rest herausgefunden hatte. Es fuchste sie immer noch, dass sie das Mädchen nicht entdeckt hatten. Carter hatte alle Akten zu dem Fall durchsucht und nur eine kurze Eintragung gefunden, die überhaupt auf die Existenz des Mädchens hindeutete. Allerdings hatte der zuständige Beamte es offenbar nicht für notwendig gehalten, sie auch zu verhören, was sie für gleichzeitig sehr merkwürdig und sehr nachlässig hielt. Hätte Xavier sie nicht darauf hingewiesen, dass das Mädchen – Mica - ebenfalls eine starke Mutantin war und ihre Fähigkeit darin lag, sich zu verbergen, sie hätte den zuständigen Beamten ohne zu zögern gefeuert. Allerdings war das nicht das einzige Merkwürdige gewesen. Denn sobald das Mädchen ihnen von ihren Beobachtungen erzählt hatte, hatte Holmes einen kurzen Anruf getätigt und ihnen im Anschluss daran verkündet, wen sie suchen mussten – und wo. Carter schüttelte den Kopf, während sie einen weiteren kurzen Blick auf das Foto in ihrem Schoß warf. Richard Smith sah nicht aus wie jemand, der in Banken einbrach. Genaugenommen sah er auf diesem Foto eher aus wie jemand, dem diese Banken gehörten. Wie Holmes darauf gekommen war, diesen Mann überhaupt zu verdächtigen … Nun ja. Er hatte es ihnen natürlich in allen Einzelheiten dargelegt – mit einer Miene, als spreche er zu einer Gruppe Kleinkinder – und sie dann gedrängt, sich zu beeilen, sonst wäre er oder aber sein Komplize – und der Rest der Bande Krimineller, der er angehörte – schon längst wieder wie vom Erdboden verschluckt. Carter hatte ihn vermutlich einige Sekunden mit offenem Mund angestarrt. Sie war noch niemals jemandem wie ihm begegnet. Xavier war ebenfalls überrascht gewesen, aber mehr von der Schlussfolgerung als von der Tatsache, dass Holmes sie gezogen hatte. Watson hatte ebenso gleichmütig wie immer geblickt und angesichts ihres Erstaunens nur mit den Schultern gezuckt und gemeint: Nach ein paar Jahren gewöhnt man sich daran. Sie schüttelte den Kopf und sah aus dem Autofenster hinüber zu dem riesigen schmiedeeisernen Tor, hinter dem sich die Villa des Anführers der Bande befand. Nach allem, was ihre Beamten in den letzten 24 Stunden zusammen getragen hatten, war es offenbar eine Gruppe, die sich dem Ziel verschrieben hatten, eine Elite – Menschen, die hübscher, klüger, sportlicher oder auch einfach nur reicher als andere waren – zu unterstützen und im Endeffekt die Welt zu beherrschen. Carter fragte sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machten. Eigentlich waren es doch die Reichen und Berühmten denen die Welt gehörte. Allerdings war ihnen das offensichtlich nicht genug gewesen und so hatten sie sich zusammen gerottet und mit legalen und illegalen Bemühungen versucht, die Welt in den Abgrund zu stürzen – um dann als strahlende Retter und Sieger daraus hervorzugehen. Ein lauter Knall lenkte sie ab und ihren Blick erneut zu dem Tor hin. Vor einiger Zeit waren Männer der mobilen Einsatztruppe sowie Scharfschützen hineingeschickt worden – sie als Agentin im Innendienst, wie sie es ja offiziell war, hatten natürlich im Wagen warten müssen – und anscheinend lief nicht alles wie geplant. Große Überraschung. Es kostete sie Mühe, nicht von einer Seite zur anderen zu zappeln, aber der spöttische Blick, der sie traf, wann immer sie sich nicht ausreichend kontrollierte, half. Sie mochte diesen Holmes wirklich nicht. Endlich knackte ihr Kommunikationsgerät und der Einsatzleiter teilte ihr mit, dass die Lage unter Kontrolle gebracht und niemand verletzt worden war. Außerdem hatte man Richard Smith festgenommen. Einen Mann, auf den die Beschreibung der zweiten Person passte, hatte man nicht gefunden. „Polizisten.“, sagte Holmes von ihrer Rückbank. Das kratzte an Carters Berufsehre. Bei ihm klang es wie Versager. Kapitel 23: 23.12.20XX ---------------------- 23.12.20XX Diese Idioten! Ich habe ihnen ihre Täter praktisch auf dem Silbertablett serviert – und was machen sie? Sie lassen sie laufen! Kannst du dir das vorstellen?!“ Sherlock schritt aufgebracht vom einen Ende der Halle zum anderen. Charles musste grinsen. Das Genie war noch immer darüber erzürnt, dass einer der beiden Täter – der Mutant – hatte entkommen können. Dass immerhin der gesamte Rest der Bande jetzt hinter Gittern saß und sang angesichts des Wissens, das Mutanten zu ihren Häschern gehörten – und diese nicht nur harmlose Steintricks drauf hatten, so wie Vern -, hätte ihn kaum weniger interessieren können. Es fehlte eigentlich nur der Satz: Einmal mit Profis arbeiten. Allerdings konnte sich wohl auch Sherlock dem Einfluss von Carters Blick nicht entziehen. Der Inspector saß auf einer Bank ziemlich in der Mitte der Halle und funkelte Charles‘ Freund wütend an. Wahrscheinlich hätte sie sich schon längst auf ihn gestürzt, wenn nicht John sich kurz nachdem sie aufgetaucht war – und Sherlock mit seiner Schimpftirade angefangen hatte, so als wolle er sie aufstacheln – mit ihr unterhalten hätte. Charles hatte nicht gehört, was er gesagt hatte – und war zu höflich gewesen, ihre Gedanken zu belauschen -, aber es hatte sie bisher auf ihrem Sitz und ihren Mund verschlossen gehalten. Wenn nun endlich auch ihr Flug aufgerufen wurde, kamen sie vielleicht sogar ohne Blutvergießen hier heraus. Charles blickte zu Logan und Shuichi hinüber, die ihn zum Flughafen begleitet hatten. Offiziell natürlich nur, um Holmes zu verabschieden, der sich als ungemein nützlicher Verbündeter erwiesen hatte. In Wirklichkeit wohl eher, um ihn, Charles, im Auge zu behalten, damit er nicht noch mehr Unsinn anstellte. Aus irgendeinem Grund waren sie nicht sehr erbaut gewesen, als er ihnen von seiner Absicht, Weihnachten mit Eric zu verbringen, erzählt hatte. Nicht einmal, als er ihnen klargemacht hatte, dass er nur widerwillig ging, und nur, um Nicholas auszulösen. Charles wollte sich gar nicht vorstellen, wie sie reagieren würden, gäbe er zu, dass er sich darauf freute, Raven und Rahel wiederzusehen. Und Bobby. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, und er war froh, als genau in diesem Augenblick der Flug der beiden Engländer aufgerufen wurde. Sie verabschiedeten sich voneinander – Carter sehr kühl, aber höflich; genau wie Sherlock -, dann waren die beiden schon wieder auf dem Weg in die Heimat. Sie waren fast durch die Kontrolle durch, als John sich umdrehte und einem Mann zunickte, der einen Schalter weiter damit beschäftigt war, seine Sachen auf eines der Tabletts zu legen. Er blickte nicht auf, schien Johns Gruß gar nicht mitzubekommen. Charles schüttelte grinsend den Kopf. Offenbar war Mycroft wirklich daran gelegen, seinen Bruder an Weihnachten zu Hause zu haben. Dann kam der Moment, sich auch von Carter zu verabschieden. Ein bisschen bedauerte sie, immerhin lebte sie alleine und da ihre Familie tot war, würde sie Heiligabend einsam Dienst schieben. Oder vielleicht doch nicht ganz so einsam; in seinen Gedanken blitzte ein Bild von einem nicht unattraktiven jungen Mann auf, der Weihnachten offenbar auch auf der Wache verbrachte. Ob sich da eine Romanze anbahnte …? Natürlich war er zu sehr Gentlemen, um eine Dame nach Details zu fragen. Erst recht, wenn er über dieses pikante Häppchen nur zufällig gestolpert war. Dennoch machte es ihn froh. Wieder zwei Menschen, die Weihnachten nicht allein waren. Und vielleicht war er es auch nicht dieses Jahr. Zum ersten Mal seit fast einem halben Jahrhundert. Kapitel 24: 24.12.20XX ---------------------- 24.12.20XX Felino war böse. Carter war dieser Meinung schon immer gewesen, aber niemand hatte auf sie gehört und so war der Kater, den einer der Officer von einem Streifengang mitgebracht hatte, noch immer bei ihnen, rollte sich auf Bürostühlen zusammen, tanzte auf Tastaturen, fraß Pausenbrote und stellte ohnehin allgemein nur Unsinn an. Selbst die immer mal wieder geäußerte Bemerkung, er könne Mäuse fangen, hatte sich als unsinnig erwiesen: Die einzigen Mäuse, die er jemals fing, waren über Kabel mit PCs verbunden. Und natürlich hatte er sich direkt auf Carters Stuhl zusammen gerollt, während sie kurz weggewesen war, um sich einen Kaffee zu holen. Mit zusammengebissenen Zähnen schob sie den Kater von dem Stuhl. Sie musste noch den Bericht über die Einbruchserie fertig machen – obwohl das kaum gelingen würde, ehe der Mutant nicht gefasst war; allerdings hatte Charles ihr versprochen, dass das nur eine Frage der Zeit war – und die Katze angemessen zu massakrieren würde sie nur Zeit kosten, die sie nicht hatte. Während sie Katzenhaare von der Sitzfläche wischte, sich niederließ und den angefangenen Bericht aufrief gab sie widerwillig zu, dass sie eigentlich nichts gegen Felino hatte. Und ihre schlechte Laune hatte auch nichts damit zu tun, dass es keinen Kaffee mehr gab oder dass sie Weihnachten auf der Wache war, während fast jeder andere Polizist zu Hause saß und Weihnachten feierte. Nein, es lag wohl eher daran, dass sie Weihnachten hier allein feierte und er … eben auch. Seufzend schob sie den Gedanken beiseite und widmete sich wieder der Bürokratie. Eben hatte sie den letzten Punkt unter ihren Bericht gesetzt, als plötzlich das Faxgerät piepste und dann einen Bogen Papier ausdruckte. Genervt lehnte sie sich über den Schreibtisch und angelte das Fax aus dem Gerät. Auf dem Papier stand lediglich ein einziger Satz in einer ihr fremden Schrift: >Kommen Sie sofort aufs Dach!< Einen Moment starrte sie das Schreiben verständnislos an, dann erinnerte sie sich, dass heute der neue Inspector Dienst hatte. Offenbar hatte er irgendeinen Blödsinn auf dem Dach angestellt und brauchte jetzt jemanden, den er anschreien konnte. Als sie sich aus dem Stuhl schälte, ihre Jacke überwarf – es mochte ja nicht gerade schneien, aber irgendwie waren die Temperaturen über Nacht auf unter 20°C gesunken und das war in den dünnen Uniformen doch recht kühl – und das Büro verließ, dachte sie, dass es kaum schlimmer werden konnte. Sie wurde bereits im Treppenhaus eines besseren belehrt: Jede zweite Lampe flackerte und der Rest ging gleich gar nicht. Auf dem obersten Flur angekommen musste sie feststellen, dass die direkte Verbindungstür offensichtlich klemmte (das war doch nicht etwa das Problem des Neuen?) und über den Flur zur nächsten laufen. Dann stieg sie – kaum außer Atem, dafür innerlich auf 180; wenn der Inspector nicht einen guten Grund hatte, sie bei diesem Wetter um diese Uhrzeit hinauf zu beordern konnte er etwas erleben, Rangordnung hin oder her – die letzte Treppe hinauf, stemmte sich gegen die Tür Und fand sich in einem Traum wieder. Das gesamte Dach des Polizeireviers war mit Tannenzweigen geschmückt, überall brannten Kerzen und Räucherstäbchen verbreiteten trotz des Windes einen angenehmen Duft. Irgendwo spielte ein Radio Last Christmas und inmitten dieser verrückten Pracht stand ein Tisch mit Tischtuch, gedeckt mit riesigen Kaffeebechern, einem gigantischen Berg Plätzchen und einer großen Schale voll Schokomousse. Sie starrte einen Augenblick darauf und drehte sich dann um. Rechts neben ihr stand Daniel und sah sie vorsichtig an. „Ich dachte, du wolltest vielleicht ein bisschen Weihnachten mit mir feiern.“, meinte er schüchtern. Sie starrte weiter, räusperte sich dann und rieb sich kurz über die Augen, die wegen des Weihrauchs zu Tränen begonnen hatten. „Mmmh, naja, ich schätze, das könnten wir schon.“ Als er zu strahlen begann schlug ihr Magen einen Salto und ihre schlechte Laune war plötzlich wie weggeblasen. Was soll das heißen, Mutter liegt im Krankenhaus?“ Schrecklich. Ich habe eine vollkommen irrelevante Frage gestellt. „Wie ist sie dahin gekommen?“ „Sie hat sich ein Bein gebrochen.“ Er bleibt natürlich ruhig. Gibt vor, den Ausrutscher nicht bemerkt zu haben. „Während du Verbrecher jagen warst, hat sie … nun, wie soll ich es ausdrücken …? Sie hat sich einer Aerobic-Gruppe zugewandt.“ Diese Dame verblüfft mich immer wieder. Ich dachte bereits als Fünfjähriger, ich hätte sie durchschaut, aber dem ist offensichtlich nicht so. Sie handelt vollkommen unlogisch. „Dann werden wir Weihnachten im Krankenhaus feiern?“ Sofern wir überhaupt je mit ihr feiern. „Natürlich. Sie ist unsere Mutter.“ Kurz und bündig. Mir ist trotzdem nicht klar, wieso wir Weihnachten mit der Frau feiern müssen, die uns geboren hat. Aber mein Bruder ist hartnäckig und ich habe früh gelernt, dass man ihm am besten seinen Willen lässt. Zumindest in solch kleinen Dingen. „Gut.“, sage ich und sehe aus dem Fenster. Mycroft hat mich vom Flughafen abgeholt. Sein Fahrer hat John vor dem Haus abgesetzt, jetzt fahren wir weiter zu Mutter. Es dauert fünfzehn Minuten, siebenundzwanzig Sekunden, das Krankenhaus zu erreichen, da am 24.12. nur wenig Verkehr herrscht. Er nickt der Dame am Empfang zu – sie ist offenbar nicht häufig genug hier, dass sie ihn kennt. Die Stationsschwester grüßt er. Sie grüßt zurück, streicht sich übers Haar. Findet ihn attraktiv, weiß nicht, dass er verheiratet ist. Zimmer 2-47. Die Frau liegt in ihrem Bett. Dunkelhaarig, zierlich. Alle Merkmale einer hübschen Frau, die sich ihres Charmes wohl bewusst ist. Flirtet gerade mit einem Pfleger, der bei unserem Erscheinen erschrocken aufspringt. Hat sie wohl noch nicht in Aktion erlebt. Sie wendet uns den Kopf zu. Sieht Mycroft an. Widerwillige Zuneigung und Respekt. Sieht mich an. „Oh, du hast den kleinen Grashüpfer ja doch mitgebracht.“ Komm schon, wir kennen uns jetzt seit zehn Jahren – du solltest wissen, dass ich das nicht mag!“ Storm drehte sich mit hochgezogenen Brauen zu Logan um. Der zuckte nur mit den Schultern und sagte trocken: „Du hast das Kartenspiel verloren, also darf ich aussuchen, was wir machen. Und wenn ich sage, wir gehen an Weihnachten ins Kino, dann gehen wir an Weihnachte ins Kino.“ „Ich habe keine Problem damit, ins Kino zu gehen.“, beschwerte sich Storm. „Ich habe ein Problem mit dem Streifen.“ Zumindest wenn der Streifen Väterchen Frost hieß, als Horror gekennzeichnet war und der Bösewicht auf dem Plakat wie Eric aussah. Das Wohnzimmer war weihnachtlich geschmückt, die Geschenke lagen unter dem Baum und flüsterten von noch ungekannten Freuden. Kerzen brannten überall und selbst der Weihnachtsbaum war nur ein bisschen an gekokelt von Sherians Fall zuvor. Der Pudding war gegessen, Sarahs Mutter hatte den Ring gefunden und sich natürlich darüber gefreut; sie ist ihren fünften Ehemann so leid, dass sie ihn nicht einmal zur Feier mitgebracht hatte, obwohl sie sich noch nicht haben scheiden lassen. Auch die Kinder von Sarahs alleinerziehender Schwester Luljetta strahlten mit dem Kerzenlicht um die Wette, während wir gemeinsam Spiele spielten und Rätsel rieten. Während ich mich so umsah in diesem Raum, unter diesen Menschen und in diesem Leben musste ich zugeben, dass mir dies alles nur wie Traum erschien. Ich hatte so viele Menschen, die mich liebten … Hicks! Sarah blickte auf und sagte trocken: „Gleich ruft dich der Misanthrop an.“ Summend zündete Vern ein Kerzchen nach dem anderen an in dem Versteck, das er nach seiner Flucht vor Ric aufgesucht hatte. Dabei murmelte er vor sich hin: „Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür. Und bis das 5. Lichtlein brennt, habe ich richtig ausgepennt.“ In dem sicheren Glauben, dass die Polizei ihn nicht an Heiligabend stören würde, legte er sich einige Zeit später schlafen. Das Taxi rollte einige Meter vor dem beeindruckend aussehenden Eingang aus. Schwarzer Türrahmen, auf beiden Seiten flankiert von Steinkübeln mit formvollendeten Nadelbäumen. Davor eine große, flache Treppe aus weißem Marmor. Und bis man die Treppe erst erreichte lief man über glänzende Steine, die eine weit geschwungene Anfahrt bildeten. Charles blickte nicht auf. Als sie das Tor passiert hatten hatte er einen kurzen Blick auf das Anwesen geworfen: Eine weiß gekalkte Fassade, die im Licht der untergehenden Sonne wie ein Spiegel blitzte. Schwarze, noch altmodisch hölzerne Fensterrahmen bildeten dunkle Kontraste, während sich die hier und da emporrankenden Weinreben wie Adern über das helle Antlitz des Hauses wanden. Aber nichts davon war einschüchternd oder gar finster; zwar mochten angesichts der Jahreszeit keine Blumen wachsen, doch gab es überall bunte Verzierungen, farbig angestrichene Metallstreben oder die Terrasse, auf der Lampions und Weihnachtsdekorationen um die Aufmerksamkeit des Betrachters wetteiferten. Und weiter hinten, fast außerhalb seines Blickfeldes, hatte er einen Wintergarten auszumachen gemeint, aus dem Rot, Violett und Orange leuchteten, als wäre bereits Frühling. „Brauchen Sie Hilfe beim Aussteigen?“, unterbrach der Taxifahrer seine Gedanken und Charles wurde klar, dass er bereits geraume Zeit auf seine Finger starrte und sich nicht rührte. Hastig schüttelte er den Kopf, stieß die Tür auf und griff nach seinem Stock. Sich des mitleidigen Blickes des anderen nur zu bewusst schaffte er es, bereits beim ersten Versuch auf die Beine zu kommen, und hinkte kaum merklich zur Beifahrertür. „72 Dollar 50.“, sagte der Taxifahrer, und weil er nichts dafür konnte, dass Charles heute so neben sich stand, und seine Gedanken freundlich waren, winkte er ab, als der Fahrer ihm das Wechselgeld auf den 100$-Schein geben wollte. Der Fahrer blinzelte kurz, tippte sich dann dankend an die Mütze und fuhr fort. Charles blieb allein auf dem Vorplatz zurück. Allerdings sollte seine Einsamkeit nicht lange andauern; noch ehe er die wenigen Schritte bis zur Treppe getan hatte wurde die Eingangstür aufgerissen und mit einer Wucht an die Wand geschmettert, dass er meinte, das ganze Haus beben zu sehen. „Charlie!“, rief Raven freudestrahlend, sprang die Stufen herab und fiel ihm um den Hals. Er legte die Arme um sie und trat einen kurzen Schritt zurück, um das Gleichgewicht zu halten. Um nichts in der Welt hätte er diesen Moment missen wollen. „Oh Mann, Charlie!“, sagte sie, als sie sich endlich doch von ihm löste und zurückwich; verblüfft sah er, dass Tränen in ihren Augen standen. „Charlie, ich habe dich vermisst!“ Das letzte flüsterte sie beinahe, die Stimme von Gefühlen erstickt. Auch Charles musste sich erst räuspern, ehe er sprechen konnte, und seine leichthin geäußerten Worte täuschten sie beide nicht. „So lange ist das doch gar nicht her; wir haben uns doch erst vergangenes Jahr in New Jersey gesehen. Du erinnerst dich an die Ausstellung?“ Raven winkte ab. „Das zählt nicht.“ Sie zögerte, sagte dann: „Das letzte Mal, als wir uns wirklich gesehen haben, war damals, am Strand.“ Charles wandte sich ab, rieb unbewusst über sein Steißbein. Er wusste, von welchem Strand sie sprach – es war der Ort gewesen, wo sie erwachsen geworden war; der Ort, an dem er angeschossen worden war; der Ort, an dem sie sich plötzlich auf verschiedenen Seiten wiedergefunden hatten. „Du bist immer meine kleine Schwester geblieben.“, sagte er endlich.“ Sie lachte. „Und was sagen deine X-Men-Kollegen dazu?“ Er verzog das Gesicht angesichts des Namens, den die Filmleute ihnen gegeben hatten. Da war ihm sogar Monsterstreife lieber. Was allerdings ihre Frage anging … „Nun, die sind nicht sehr erbaut, aber ich muss es ihnen ja auch nicht auf die Nase binden.“ „Du wirst doch nicht plötzlich die Seite wechseln?“ Das war eine andere Stimme, tiefer, erfahrener. Eine Stimme, die etwas tief in ihm kribbeln ließ. Er hob den Kopf und sah Eric am oberen Ende der Treppe stehen. Natürlich hatte er gemerkt, dass er näher gekommen war. Nicht einmal Raven hätte ihn so sehr ablenken können, dass er das verpasst hätte – sogar mit seinem Anhänger, der seine Gehirnwellen vor Charles versteckte. Sein Blick wanderte an der vertrauten Gestalt empor – dunkle Schuhe, braune Cordhose, blau-orange kariertes Hemd über der muskulösen Brust, Gänsehaut auf den sehnigen Armen, offener Kragen, schlanker Hals, entschlossenes Kinn, gerade falkenartige Nase und Augen, so dunkel und tief wie die See bei stürmischem Wetter. Für einen Augenblick nur trafen sich ihre Augen und die Welt schien zu existieren aufzuhören. Stille rahmte sie ein, nahm sie aus dem Universum wie aus einem Bild und gab ihnen einen Platz, an dem niemand sonst existierte. Dann zwinkerte Charles und wandte den Kopf ab. „Hallo Eddie.“, sagte Eric weich, und Charles musste sich zwingen, um nicht gepeinigt die Augen zu schließen. Der andere hatte immer eine besondere Macht über ihn gehabt – hatte ihn sich jung fühlen lassen, und zügellos, obwohl er doch eine ebenso wichtige wie erfüllende Tätigkeit hatte. Und er konnte Charles dazu bringen zu lachen, obwohl ihm zum Weinen war, und zu verzweifeln, obwohl er noch eben gelacht hatte. „Bobby.“, sagte er. Sogar er selbst hörte die Gefühle darin schwingen. Für einen Moment schloss er die Augen und sammelte sich. Dann, mit einem absoluten Minimum an Gefühl: „Nicholas?“ „Hat am Tor gewartet. Das Taxi hat ihn mitgenommen.“ Ein spöttisches Lächeln. „Er war unverletzt, obwohl ich mich selbst – und ein paar andere auch – davon abhalten musste, ihm den Hals umzudrehen.“ Das Lächeln änderte sich, wurde einen Hauch bösartiger – und ... verlangender? „Außerdem war das einzige, wozu er nutze war, dich einzufangen.“ Charles lächelte. Diesen Tonfall kannte er; dieses Spiel kannte er. „Nun, zu etwas mehr ist er schon noch zu gebrauchen. Aber lassen wir das doch für den Moment beiseite: Raven friert, mit dir steht es auch nicht viel besser und mir wird auch etwas unbehaglich. Warum gehen wir also nicht einfach rein und setzen uns vor einen schönen warmen Kamin?“ Eric lächelte. „Nun, dann müssten wir uns einen anderen Ort suchen. Das Haus ist ja mit allen Schikanen ausgestattet – ein richtig funktionierender Kamin ist nicht darunter.“ „Aber eine Fußbodenheizung und eine Zentralheizung.“, sagte Raven bibbernd; ihre Lippen waren bläulich angelaufen und sie war ganz offensichtlich begierig, wieder ins Warme zu kommen. Eric beugte sich ihnen ohne ein Wort des Protests „Nach dir.“, sagte er, und deutete mit einer kleinen Verbeugung auf die Tür. Das Innere des Herrenhauses hielt, was das Äußere versprochen hatte, obwohl es vom Stil her nicht ganz passte; die Fassade war dem Interieur mehrere Jahrhunderte voraus. Die Wände waren hell gestrichen oder mit bunter Tapete verziert, überall standen Tischchen mit Blumenvasen und anderem Kleinkram, und durch diverse Türen konnten sie in Arbeits- und Wohnzimmer sehen. Was allerdings auffiel war die Abwesenheit von Menschen. Auf eine entsprechende Frage von Charles hin zuckte Eric mit den Schultern und erklärte, dass sie Weihnachten allein hatten verbringen wollen und daher alle anderen in Urlaub geschickt hatten. Charles fragte nicht weiter nach. So sehr er diese beiden Personen auch mochte – sie waren nun einmal seine Gegner. Eine andere Frage konnte er sich allerdings nicht verkneifen: „Wer macht hier eigentlich sauber?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen auf seinen Knien herumkroch und wischte, dennoch war nirgends ein Staubkorn zu sehen. Eric grinste. „Wir haben eine Putzfirma. CbJ oder so ähnlich.“ Wenig später erreichten sie eine größere Flügeltür, hinter der sich ein weiteres Wohnzimmer befand. Charles musste nicht fragen, wessen Wohnzimmer es war; die überall herumstehenden Metallfigurinen, das aus Mahagoni und Elfenbein gefertigte Schachbrett und die Kaktusplantage vor den Fenstern hatten es ihm längst verraten. Links von ihm saß in einem Sessel Laura und blickte schüchtern zu ihm auf. „Hallo Charles.“, hauchte sie, senkte dann scheu den Blick. „Tut mir Leid, dass ich dich nicht mit begrüßt habe.“, sagte sie leise. „Aber …“ Sie gestikulierte in Richtung ihres Fußes und Charles sah, dass er dick eingegipst war. „Hallo Laura. Schön dich zu sehen.“, erwiderte er. „Gebrochen?“ „Leider, ja.“, murmelte sie. Von dort, wo er stand, konnte er Raven die Augen verdrehen sehen und musste seinerseits ein lächeln unterdrücken. Als er sie gekannt hatte – als sie zusammen gelebt hatten – war Raven ebenso schüchtern gewesen wie Laura und das Drama, als sie in Eric verliebt war … „Gut.“, sagte Eric endlich und ergriff damit die Kontrolle, ehe sie alle verlegen herumstehen konnten. „Ich stelle hiermit ein paar einfache Regeln auf: Es wird nicht vom Geschäft gesprochen und alle amüsieren sich. Soweit alles klar?“ Sie nickten amüsiert, dann holte Raven den Rotwein aus dem Schrank, und noch ehe sie das erste Glas geleert hatten fühlte Charles sich in ihrer Runde so wohl, als hätten sie nicht das letzte halbe Jahrhundert damit verbracht, die Pläne des anderen zu durchkreuzen. Irgendwann forderte einer von ihnen einen anderen zum Schachspiel heraus, und nicht viel später diskutierten sie sich durch die Schachpartien alter Meister. Ein halbe Stunde darauf spielten sie selbst, während die dritte Rotweinflasche zur Neige ging und Laura mit Brandy auffüllte. „Du kannst doch nicht den König dorthin setzen. Dann muss bloß der Turm dahin rücken und der Bauer hierhin und schon stehst du im Matt!“ „Ich kann aber auch meine Dame hierhin setzen, und dann ist wieder alles offen.“ Mit einer schnellen Bewegung ließ Eric seinen Worten Taten folgen. „Und wenn ich jetzt hierhin setze …“ Abrupt wurde Charles die Stille bewusst und als er hochsah stellte er fest, dass Raven verschwunden war, während Laura auf dem Sofa lag und tief und fest schlief. Einen Moment blinzelte er verwirrt, dann sagte er: „Das war wohl ein bisschen viel Alkohol für sie.“ Bobby lachte. „Normalerweise rührt sie kaum ein Bier an.“, gab er zu. Ja, so ungefähr hatte er Laura in Erinnerung. Andererseits … „Sie ist kein Kind mehr. Und trotzdem …“ „Und trotzdem wollen wir sie beschützen.“ Charles wehrte sich nicht gegen das Wir. „Dabei ist sie fast so alt wie wir, relativ gesprochen.“ „Magst du noch ein Glas?“ Bobby hob eine Flasche Champagner an. Er versuchte sich zu erinnern, die wievielte Flasche es war, kam dann aber zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte. „Gern.“, sagte er. Er mochte Champagner, vor allem wenn er so wie jetzt in seinem Magen kribbelte. Leicht lehnte er sich nach vorn, sodass Bobby besser einschenken konnte, dabei stieß er leicht gegen eines der anderen Gläser, das umkippte und zu Boden fiel. „Ups!“, sagte er und beugte sich reflexartig runter, um es aufzufangen. Dabei stieß seine Hand gegen Bobbys, die sich plötzlich um sein Handgelenk schlang. Überrascht sah er auf – direkt in den sommerlichen Abendhimmel von Bobbys Augen. „Eddie.“, sagte Bobby; sonst nichts. Aber ganz plötzlich brauchte es keine Worte mehr. Als wären sie Magneten mit unterschiedlicher Ladung näherten sie sich einander … rutschten in ihrem Bemühen, den anderen zu erreichen, von den Stühlen auf den weichen Teppich bis sie sich endlich berühren konnten … berührten … küssten. Worte wurden überflüssig, als sie einander verschlangen und einen Hunger stillten, den sie bis eben nicht einmal registriert hatten. Hände auf fiebrig heißer Haut, sanfte Lippen und der ein oder andere Laut waren alles, was nötig war, um sich mitzuteilen. Irgendwann zog Bobby den Anhänger ab, der ihre wahre Einheit störte, und ein Gefühl brandete über Charles, das er unter Tausenden erkannt hätte, und das Tränen der Glückseligkeit in seine Augen trieb. Liebe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)