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Meine Creepypastas

Paranormale (Horror) Geschichten
von

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Die Hütte am See

Seit ich denken kann, existiert diese rätselhafte Hütte am See. Sie stand schon immer da, wahrscheinlich schon bevor die ersten Menschen hierher kamen. Keiner kann sich daran erinnern, wann sie gebaut wurde und sie sieht ganz unscheinbar, wenn nicht sogar recht hässlich aus. Ein Häuschen mit grauem Anstrich, einem Ziegeldach und mit Brettern zugenagelten Fenstern. Eigentlich sieht sie nicht anders aus, als eine Art Miniaturausgabe dieser hässlichen grauen Betonklötze in den Großstädten. Doch was mir aufgefallen ist, das ist der Zustand der Hütte. Normalerweise bildet sich aufgrund des feuchten Wetters ein grüner Belag an den Wänden. Moos wächst auf den Ziegeln von Waldhütten, die nicht bewohnt werden und wachsen irgendwann zu. Aber die Hütte an unserem See ist anders. Sie ist in einem beinahe neuen Zustand, als wäre sie erst vor kurzem gestrichen worden. Dabei ist sie viel älter als mein Großvater und ich kann mich nicht entsinnen, dass sich irgendjemand in unserer Stadt um dieses Ding scheren würde. Es erscheint mir eher, als würde die Natur vor der Hütte zurückschrecken. Selbst Unkraut will nicht wachsen und der Boden um die Hütte herum ist ausgetrocknet und verdorrt, so als würde etwas alles Leben entziehen. In der Schule hatte man sich immer wieder unheimliche Spukgeschichten erzählt, die ich aber nie ernst genommen habe. Geschichten über Menschen, die in die Hütte gegangen waren, um sich dort gegenseitig einer Mutprobe zu unterziehen und dann dem Wahnsinn verfallen waren. Manche hatten sogar Selbstmord begangen. Ich selbst habe sie nie betreten und ich habe auch nicht vor, etwas daran zu ändern. Das sagte ich auch meinem Kumpel Mike, mit dem ich zusammen zur High School ging. Mike war ein abenteuerlustiger Charakter. Neugierig und risikofreudig, also das genaue Gegenteil von dem, was ich verkörpere. Ich persönlich bin eher ein Bücherwurm, ich vermeide Gefahren lieber und setze mich nicht irgendwelchen unnötigen Risiken aus. Extremsport und Mutproben waren Dinge, die nur Vollidioten machten, um sich cool zu fühlen oder um zu einer Gang dazuzugehören. Wir waren im Grunde so verschieden, dass ich mich manchmal fragte, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass wir Freunde wurden.

„Warum willst du nicht zu der alten Hütte? Lässt du dir etwa von den ganzen Gruselgeschichten etwa Angst einjagen?“

„Ich habe keine Angst Mike. Ich habe nur ein verdammt mieses Gefühl und was du da vorhast, ist gefährlich“, entgegnete ich mit etwas genervter Stimme und wandte meinen Blick von Mike ab und sah stattdessen aus dem Fenster. Dass ich keine Angst hatte, das war gelogen aber ich wollte mir vor Mike keine Blöße geben. Es reichte schon, wenn er mich einen langweiligen Bücherwurm nannte. Manchmal ging er mir auf die Nerven, dass er immer der Bessere und Coolere war. Er, der immer sportlich gekleidet war und dem die Mädchen reihenweise zu Füßen lagen und ich, der unscheinbare Kerl, der für andere praktisch unsichtbar war. Eigentlich hieß es ja, dass sich Gegensätze anziehen würden, aber wenn ich mit Mike aneinander geriet, weil er mich zu irgendwelchen gefährlichen Stunts und Abenteuern überreden wollte, dann konnte ich dieser Behauptung einfach nicht zustimmen. Die Hütte am See hatte, das wusste jeder in unserer Stadt, etwas Unheimliches an sich. Man konnte es nicht genau beschreiben oder erklären. Hätte irgendein Monster da drin gehaust, das uns angriff und in Stücke riss, sobald wir ihm zu nahe kamen, dann hätte man etwas Stichhaltiges gehabt, aber hier hatte man es mit einem Phänomen zu tun. Ich selbst habe mich gerade mal bis zur Tür gewagt und nicht weiter. Schon auf einem Meter Entfernung konnte man deutlich ein Gefühl des Unbehagens verspüren. Eine Art klaustrophobisches Gefühl, als wäre man in einem so engen Raum gefangen, dass man nicht einmal Arme und Beine bewegen konnte. Das Gefühl, deswegen nicht mehr atmen zu können und die Angst…. Dieses Erlebnis wollte ich nicht noch einmal machen.

„Wenn du zur Hütte gehen willst, mach es mit Rudy oder Kyle, aber nicht mit mir. Man sollte schlafende Dämonen besser nicht wecken.“

„Du bist viel zu abergläubisch, Jake! Ich glaube erst an ein Gespenst oder an ein Monster, wenn ich es wirklich sehe und es auch eindeutig da ist. Du musst ja auch nicht hineingehen. Es reicht, wenn du zumindest mitkommst und die Zeit stoppst. Ich will nämlich einen Rekord aufstellen. Ich will es länger in dieser ollen Hütte aushalten als jeder andere.“

„Ich halte das für keine besonders gute Idee.“ Aber Mike hörte nicht einmal zu und obwohl ich mehrmals betonte, er könne gerne ohne mich gehen, entschied ich mich doch anders. Die Sorge, dass Mike vielleicht etwas zustoßen könnte, war am Ende größer als meine Angst vor der Hütte und widerwillig ging ich am nächsten Tag mit ihm mit.

Der See lag in der Nähe unserer Wohnsiedlung. Man konnte ihn am schnellsten erreichen, wenn man durch das Maisfeld lief, das im Moment unbestellt war. Nachdem wir es durchquert hatten, mussten wir den Hügel hinauf, der an einigen Stellen sehr steil war und wenig Halt bot, sodass man schnell abrutschen konnte. Nur wer schon seit seiner Kindheit hierher kam, der wusste, welche Stellen rutschig waren und wo man sich am besten festhalten konnte. Im Winter war der Hügel ein idealer Rodelberg und wenn der Schnee besonders hoch lag, dann kamen die Kinder aus der Nachbarschaft hierher um Schlitten zu fahren.

Der Aufstieg war anstrengend, aber als wir oben angekommen waren, konnten wir hinter ein paar Bäumen den See sehen. Der Abstieg verlief fast genauso schwierig wie der Aufstieg und als ich eine besonders ungünstige Stelle erwischte, da ging es mit mir abwärts. Mike lachte laut, als er meine dreckige Hose sah, während sich bei mir der Unmut langsam zu Wut aufstaute. Ich schwor mir, es Mike heimzuzahlen, wenn er seine verdammte Mutprobe endlich hinter sich hatte. Der würde noch sein blaues Wunder erleben. Tja, ich sollte mehr Recht bekommen, als mir eigentlich lieb war.

Wir erreichten den See nach einem fünfminütigen Marsch und bevor wir uns der Hütte näherten, ging ich zum Steg nicht weit davon entfernt, tauchte meine Hände in das eiskalte Wasser und begann den Dreck von meiner Haut und meiner Kleidung abzuwaschen. Letzteres gelang leider nicht und an meinem Gesäß blieb ein großer Dreckfleck zu sehen. Mike indes erklärte mir, was ich für eine Rolle bei seinem „Rekordversuch“ zu spielen habe. Er gab mir eine Stoppuhr, wie sie unser Sportlehrer immer bei den Sportwettkämpfen gebrauchte und er selbst nahm eine Kamera mit, eine dieser supermodernen Camcorder, die zusammengeklappt nicht größer als ein flacher Fotoapparat waren. Damit wollte er Aufzeichnungen machen um sie ins Internet zu stellen oder sonst irgendetwas damit zu machen. Da ich keine Lust hatte, so lange zu warten, bot er mir zehn Dollar an, damit war die Sache geklärt. Vom Steg aus gesehen, lag die Hütte weiter links in der Nähe des Ufers. Sie war seit damals, als ich sie das erste Mal gesehen habe, unverändert geblieben. Mike ermahnte mich, die Stoppuhr erst zu starten, wenn er die Tür hinter sich geschlossen habe. Sonst wäre es ja nicht fair. Noch ein letztes Mal warnte ich ihn und hoffte insgeheim, ihn zur Vernunft bringen zu können. Genauso gut hätte ich jedoch mit einer Wand reden können. Und so musste ich ein Stück weit hilflos mit ansehen, wie Mike im Inneren der Hütte verschwand. Kaum war die Tür zugefallen, da drückte ich den Knopf, mit dem die Uhr die Zeit zu zählen anfing. Absolute Stille trat ein, nur der schneller und lauter schlagende Rhythmus meines Herzens war zu hören. Meine Augen ruhten starr und fest auf der Tür, jeder meiner Muskeln war angespannt. Die Sekunden wurden zu Minuten und die Minuten zu schier endlosen Stunden. Und ich war darauf gefasst, dass jeden Moment ein Unglück geschehen würde. Zwei Minuten verstrichen und nichts geschah. Als dann vier Minuten auf der Uhr angezeigt wurden, ließ meine Anspannung allmählich nach und ich glaubte schon fast, dass Mike Recht haben könnte. Dann jedoch ertönte ein tiefes und kaum hörbares Dröhnen aus dem Inneren der Hütte, das sogar die Erde unter meinen Füßen leicht zittern ließ. Ich schrak heftig zusammen und ein eiskalter Schauer jagte mir über den Rücken. „Mike!“ rief ich. „Mike, ist alles in Ordnung? Verdammt noch mal, antworte endlich Mike!!!“ Aber es kam keine Antwort. Das Dröhnen schien ein wenig lauter und noch tiefer zu werden und ich machte mir ernsthaft Sorgen um meinen besten Freund. Ich ging auf die Hütte zu, blieb aber stehen, als das Dröhnen urplötzlich verstummte. Gespannt hielt ich den Atem an und merkte nicht einmal, dass mein ganzer Körper wie verrückt zitterte. Mit einem Male wurde die lastende Stille von einem lauten Schrei unterbrochen. Es war Mike und er schrie wie verrückt um Hilfe, als ging es ums nackte Überleben. „Lasst mich raus, lasst mich raus! Ich will nicht sterben!!!“ Etwas schlug heftig gegen die Tür. Mike versuchte in Panik die Tür einzutreten, aber sie bewegte sich nicht einen Zentimeter. Ich ließ sofort die Stoppuhr fallen und eilte zur Hütte hin. Ich ergriff die Klinke und zerrte mit aller Kraft daran. „Mike, was passiert da drin? Mike!!!“ Obwohl die Tür aussah, als würde sie jeden Moment aus den rostigen Angeln fallen, schienen unglaubliche Kräfte dagegenzuwirken, als hätte sie jemand zugeschlossen. Während Mike in Todesangst da drin schrie, als würde er jeden Moment von etwas unvorstellbar Schrecklichem geholt werden, ergriff die Angst nun auch von mir Besitz. Ich mobilisierte all meine Kräfte, um diese Tür aufzubekommen, die wahrscheinlich Mikes einzige Rettung sein könnte. Aber selbst mit der Kraft von zwei Jugendlichen bewegte sich das Ding nicht einen Zentimeter. Doch dann, mit einem Ruck sprang sie auf und ich fiel nach hinten auf den Rücken. Noch immer hörte ich Mikes Schreie und kaum war ich wieder aufgestanden, eilte ich ins Innere der Hütte, wo mein bester Freund auf dem Boden lag. Wie ein Häufchen Elend kauerte der mutigste Draufgänger unserer Stadt auf dem Boden, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen und er zitterte am ganzen Leib. An seinen Händen klebte Blut und drei Fingernägel fehlten ihm. An der Innenseite der Tür klebte ebenfalls Blut. Mike hatte in seiner Angst versucht, sich durchs Holz frei zu kratzen und hatte sich dabei die Fingernägel ausgerissen.

Mike wurde ins Krankenhaus gebracht und seine Verletzungen wurden schnell verarztet. Jedoch war er nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Er stand unter Schock. Wenig später gab es dann im Krankenhaus einen Zwischenfall, der mich zutiefst entsetzte: Mike hatte versucht, sich den Hals mit seinen Fingernägeln aufzukratzen, nachdem er sich mit einer Nagelschere die Augen ausgestochen hatte. Und dabei soll er wie ein Verrückter gelacht haben. Mit schweren Verletzungen wurde er auf die Intensivstation verlegt. Als sein Zustand einigermaßen stabil war, wurde er in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Die Polizei stellte mir allerhand Fragen, auf die ich kaum Antworten wusste. Als man in die Hütte ging, um nach der Kamera zu suchen, fand man weitere beunruhigende Spuren. Die Polizei suchte nämlich nach weiteren Blutspuren und Fingerabdrücken um zu überprüfen, ob nicht noch jemand in der Hütte gewesen war. Es ergab sich, dass überall im Inneren der Hütte altes Blut war, das zum Teil bereits nicht mehr sichtbar war. Und es waren alles Abdrücke blutverschmierter Hände. An den Wänden waren Kratzer zu sehen und die Kamera lag zerstört auf dem Boden. Sie war hinuntergefallen und war schwer beschädigt, aber die Aufzeichnung konnte man noch retten. Man begann mit der Sichtung und später sah ich mir eine Kopie der Aufnahme an. Sie zeigte Mike, der zu Beginn der Mutprobe noch vollkommen gesund und normal war. Er sah in die Kamera und begann zu erzählen, was er vorhatte. Dabei verkündete er stolz, dass er die wohl größte Mutprobe der Stadt bestehen und damit der coolste Draufgänger von allen sein würde. Die ersten zwei Minuten zeigten nichts Außergewöhnliches. Zwar wurde Mike ein wenig unruhig und schien sich sogar ein wenig zu langweilen, aber es war anscheinend nicht nur Langeweile. Mike sah sich immer wieder um und glaubte sogar, hin und wieder ein Flüstern oder Ähnliches zu hören. Als das Dröhnen begann, traten erste Störungen ein. Das Bild verzerrte sich und flackerte, dem Dröhnen mischte sich ein Rauschen bei und Mikes Stimme wurde lauter. Er redete mit jemandem. Das Rauschen und die Bildverzerrung wurden immer stärker und als dann ganz plötzlich Mike zu schreien begann, brach die Aufnahme ab und was zu sehen war, das war ein rauschendes Schneien, wie man es vom Fernsehen her kannte, wenn der Empfang urplötzlich abbrach. Die Polizei glaubte, dass wohl nichts mehr folgen würde und unterbrach die Aufnahmesichtung. Man ging davon aus, dass Mike einen klaustrophobischen Anfall erlitten habe und dadurch Halluzinationen hervorgerufen wurden. Nun ja, dass wäre eine plausible Erklärung gewesen und fast jeder hätte sich damit zufrieden gegeben. Ich aber bezweifelte, dass ein klaustrophobischer Anfall Mike dermaßen in den Wahnsinn getrieben hatte. Und deswegen sah ich die Aufnahme bis zum Ende an. Das Schneien des Bildschirms hielt ganze zehn Minuten an, zwischendurch unterbrach es kurz und ein kurzes Bild war zu sehen, das den Boden und einen Teil der Wand zeigte. Da war die Kamera bereits hingefallen. Und wenn für den Bruchteil einer Sekunde das Bild der Hütte zu sehen war, kam ein lauter und hoher verzerrter Ton, der mich jedes Mal zusammenzucken ließ. Dann war die Aufnahme zu Ende.

Ich nahm die Fernbedienung und begann zu den Stellen zu spulen, wo für einen kurzen Moment das Bild der Hütte zu sehen war. Mich ließ nämlich das Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes war. Etwas, das nicht ins Bild passte. Es war mehr ein Gefühl als eine Gewissheit, wie oft ich diese Szenen auch wiederholte, ich konnte nichts erkennen. Dann aber versuchte ich es schließlich mit halber und dann mit einem Viertel der Normalgeschwindigkeit. Gleichzeitig zoomte ich noch weiter ran und tatsächlich konnte ich etwas erkennen: Einen schwarzen unförmigen Schatten, der anscheinend aus der dunklen Ecke trat wie Rauch. Ich sah mir die anderen Szenen an, wo wieder für einen kurzen Moment die Hütte zu sehen war. Mein Herz blieb fast stehen, als ich erkannte, dass der schwarze, rauchartige Schatten immer näher kam. Man sah dann nur noch Mikes Füße, die gegen die Kamera gestoßen waren und wie sie im schwarzen Rauch verschwanden. Und dann wurde es schwarz. Wie angewurzelt starrte ich wieder auf das Flimmern des Bildschirms und mir war so, als wäre es in meinem Zimmer plötzlich eiskalt geworden. Ich zitterte, fror innerlich und hatte nur noch Angst. Da war wirklich etwas in der Hütte gewesen und es wollte Mike töten, genauso wie es die anderen getötet hatte, von denen das Blut stammte. Aber die Aufnahme war noch nicht zu Ende. Sie ging weiter, selbst nachdem Mike befreit wurde.

Das Bild war schwarz, doch es war ein leises, kaum vernehmbares Geräusch zu hören. Ich drehte alles auf volle Lautstärke, doch selbst dann konnte ich immer noch nicht deutlich verstehen, was da war. Ich ging an die Lautsprecherbox und legte mein Ohr daran, da ich nicht lauter stellen konnte. Konzentriert lauschte ich auf das Rauschen und versuchte das verdächtige Geräusch herauszufiltern. Und dann endlich konnte ich es hören: Ein tiefes aber leises Atmen. Und wenn mich mein Gefühl mich nicht täuschte, dann kam es langsam näher. Immer näher und dann war es plötzlich nicht mehr vor mir. Nein. Jemand oder etwas atmete direkt hinter mir. Und dann spürte ich den Atem in meinem Nacken. Ich schrie entsetzt auf und drehte mich um, doch es war niemand zu sehen. In meinem Zimmer war niemand außer meiner Person. Und doch hätte ich schwören können, dass gerade etwas hinter mir war und hätte ich mich nicht umgedreht, dann hätte es mich genauso verschlungen wie meinen besten Freund. Ich nahm die DVD, zerbrach und verbrannte sie anschließend. Nie wieder würde mich irgendetwas in die Nähe dieser gottverfluchten Hütte bringen. Was immer Mike in dem schwarzen Schatten gesehen hatte, es war so grauenerregend und entsetzlich gewesen, dass es ihm den Verstand geraubt und ihn dazu gebracht hatte, sich selbst die Augen auszustechen, damit er es nie wieder sehen musste.

Steig nicht ein

Die Geschichte, die ich erzähle, trug sich wirklich zu und ist nicht bloß erfunden. Sie spukt mir immer und immer wieder im Kopf herum und wenn ich an diese Nacht zurückdenke, kann ich froh sein, auf die Anweisungen meiner Eltern gehört zu haben. Damals war ich noch neun oder zehn Jahre alt und lebte in einer kleinen Stadt, aus der ich nie wirklich herausgekommen bin. Viele Freunde hatte ich nie, da ich immer ein sehr schüchterner und zurückhaltender Mensch war. Außerdem hatte ich so meine Schwierigkeiten im Umgang mit anderen. Da ich auch zu Übergewicht neigte, gab es viele Kinder, die mich oft hänselten und mich zum Außenseiter machten. Nun war es aber so, dass meine Klassenkameradin Kathrin Gebler mich gefragt hatte, ob ich nicht bei ihr übernachten wollte. Das war für mich in dem Moment schöner als alles andere auf der Welt und ich nahm die Einladung dankend an. Die Geblers wohnten nicht weit von der Grundschule entfernt und nachdem meine Mutter mich mit dem Auto abgesetzt und geholfen hatte, Schlafdecken und Kissen ins Haus zu bringen, führte mich Kathrin in ihr Zimmer. Dieses war von vorne bis hinten vollgestopft mit Pferdesachen. Angefangen von Plüschpferden bis hin zu Pferdefiguren. Viele Mädchen in meiner Klasse liebten Pferde, ich hingegen konnte mit diesen Tieren nie etwas anfangen. Wir setzten uns an die Playstation Konsole und spielten ein Spiel, in dem wir unseren eigenen Themenpark errichten konnten. Ich stellte mich gar nicht mal so ungeschickt an, jedoch brannte ein Karussell ab und Kathrins Angestellte traten in Streik. Nicht gerade ein Spiel für Grundschüler. Wir spielten bis in den Abend hinein und ich bemerkte da noch nicht, dass wir ganz alleine waren. Die Geblers waren nämlich bereits gegangen und erst in der Nacht, als wir immer noch wach waren, merkte ich, dass wir ganz alleine waren. Kathrin hatte damit nicht sonderlich große Probleme, ich hingegen fühlte mich unwohl. Sie sagte, dass ihr großer Bruder schon bald kommen würde.

Doch ich war noch nie ohne Eltern nachts woanders und für ein 9-jähriges Mädchen ist das keine sonderlich schöne Erfahrung. Da ich mich in der Dunkelheit unwohl fühlte, setzten wir uns ins Wohnzimmer und schalteten die Lampen an. Von draußen hörten wir gegen 3 Uhr morgens Lärm und als wir ans Fenster gingen, sahen wir eine unheimliche schneeweiße Geisterfratze am Fenster auftauchen. Kathrin erschrak fürchterlich und ich war wie erstarrt. Die Haustür ging auf und wie sich herausstellte, war es nur Kathrins großer Bruder, der diese Ghostface Maske aus dem Scream Film trug, nur um uns zu erschrecken. Er war stark angetrunken und seine Freunde ebenfalls. Ich hatte genug und wollte endlich schlafen gehen. Doch dazu kamen wir nicht, denn Kathrins Bruder und seine Freunde feierten und tranken weiter und schließlich gerieten wir beide in einen Streit. Ich machte ihr Vorwürfe, dass sie nichts davon gesagt hätte, dass wir ganz alleine mit ihrem betrunkenen Bruder waren und dass ich lieber nach Hause gehen wollte. Da Kathrin mich offenbar nicht ganz verstehen wollte, packte ich kurzerhand meine Sachen zusammen und ging. Kathrin versuchte noch mich aufzuhalten, aber ich hielt es einfach keine Sekunde länger bei ihr aus.

Mit Mühe und Not schleppte ich die Sachen den ganzen Weg zu Fuß und war froh, dass wenigstens die Straßen genug beleuchtet waren. Und da wir sowieso in einer ruhigen Gegend wohnten, brauchte ich eigentlich nichts zu befürchten. Tatsache war, ich war furchtbar müde und sauer auf Kathrin und ihren Bruder. Ich dachte in dem Moment auch gar nicht über die unzähligen Gefahren nach, die in der Dunkelheit auf mich lauern könnten, denn ich war wie gesagt erst neun Jahre alt. Niemand trieb sich auf den Straßen herum, erst als ich fast die Straßenecke erreichte, die in die kleine Straße hineinführte, wo ich mit meiner Familie wohnte, hielt ein Auto an. Ein Mann saß am Steuer und kurbelte die Fensterscheibe der Beifahrerseite herunter. Ich war nicht nahe genug, um sein Gesicht besser erkennen zu können und ich wollte auch nicht näher herangehen, weil er mir unheimlich war. Ich erinnerte mich geistesgegenwärtig an die Warnung meiner Eltern, dass ich niemals zu Fremden ins Auto steigen oder Süßigkeiten annehmen, geschweige denn mit ihnen mitgehen sollte. Ich blieb stehen, als der Mann mich ansprach. „Was machst du um diese Zeit hier?“

„Ich hatte Streit mit einer Freundin und will nach Hause.“

„Soll ich dich mitnehmen? Ich kann dich ja nach Hause fahren.“

„Nein, ich bin sowieso gleich da.“ Das war ja nicht gelogen. Und sofort lief ich weiter, wobei ich meine Schritte beschleunigte. Ich hatte nämlich Angst, dass mir der Mann hinterherfahren könnte oder sogar aussteigen und mich ins Auto zerren würde. Ich bog nach links ab und eilte die restlichen Meter bis zu unserem Haus und klingelte. Mir wurde sofort geöffnet und noch während ich in den Hausflur hineinging, sah ich den Mann im Auto, wie er am Bordstein parkte und sah, wie ich im Haus verschwand. Meine Eltern nahmen mich in den Arm, als ich die Treppen hochstürmte, hinauf zur Wohnungstür. Ich wusste nicht, dass es bereits halb vier Uhr morgens war und ich erzählte ihnen aufgeregt, was passiert war. Davon, dass wir plötzlich alleine waren, dass Kathrins Bruder mit seinen Kumpels betrunken Krach gemacht und uns mit der Geistermaske erschreckt hatte. Von dem Mann im Auto erzählte ich zu guter Letzt und meine Mutter war einfach nur froh, dass mir nichts passiert war. Und sie ermahnte mich, nie wieder nachts alleine rauszugehen. Ich versprach es und ging müde und erschöpft ins Bett.
 

Zwei Tage später las ich einen Artikel in der Zeitung, der mich schockierte. Darin stand, dass ein 14-jähriges Mädchen in genau der gleichen Nacht in der gleichen Stadt wie ich unterwegs gewesen und dann zu einem Mann ins Auto gestiegen war. Man fand ihre Leiche in einem Müllcontainer, nachdem sie brutal vergewaltigt worden war. Es war nie ganz geklärt worden, ob der Mann, der mich angesprochen hat, derselbe gewesen war, der das 14-jährige Mädchen ermordet hatte. Aber ich war mir sicher, es war der gleiche Mann, denn es war in beiden Fällen ein roter Seat und das Mädchen verschwand im gleichen Bezirk wo ich unterwegs gewesen war.

Seit diesem Vorfall wage ich es nicht mehr, nachts alleine auf die Straße zu gehen. Denn jedes Mal muss ich mir vor Augen halten, dass mir das gleiche Schicksal hätte ereilen können, wie dem ermordeten 14-jährigen Mädchen.

Dreh dich um

Ich hatte noch nie wirklich ein großes Interesse an Smartphones oder sonstigen superschicken und teuren Handys gehabt. Es gab ja auch nicht viele Freunde, die ich anrufen konnte und wenn ich mal ein Handy brauchte, dann hauptsächlich nur, wenn ich mit dem Auto unterwegs war oder meine Eltern mich zum Einkaufen geschickt hatten. Es hätte ja sein können, dass ich noch schnell etwas besorgen sollte, das nicht auf der Einkaufsliste stand. Ich hatte ein ziemlich altes Nokiahandy, das ein wenig unhandlich war. Es war vom Typ RM-1, Modell 6630 mit einer Vodafone Sim-Karte. Es besaß winzige Tasten, die eigentlich zu klein für mich waren und von der Form her war es auch sehr unhandlich. Aber solange man damit telefonieren und SMS verschicken konnte, war ich zufrieden damit. Es war auch kein neues, sondern ein gebrauchtes von meiner jüngsten Tante mütterlicherseits. Sie hatte sich ein neues gekauft und da mein altes allmählich den Geist aufgab und außerdem der Akku kaputt war, schenkte sie mir ihr altes. Ich löschte alle Nummern, die sie auf dem Handy eingespeichert hatte und durfte auch die Vodafone Sim-Karte behalten. Meine Tante sagte, sie habe jetzt eine neue und nur Ärger mit der alten gehabt. Mir kam das ganz recht, so musste ich nämlich nicht eine neue kaufen. Also löschte ich auch die Nummern auf der Sim-Karte und speicherte alle, die ich selber brauchte. Die Handynummern meiner Eltern und Geschwister, die meiner Freunde als auch von meinem Arzt, von der Schule, auch von meinem Großvater und meinem Onkel und meiner Tante. Bis dahin funktionierten sie alle einwandfrei.

Nach ungefähr zwei Monaten hatte ich mich längst an das neue Handy gewöhnt und meist telefonierte oder schrieb ich nur, wenn es absolut notwendig war. Ins Internet ging ich damit nie und meist ließ ich es auch zuhause und vergaß es häufig. Meine Eltern machten mir das immer wieder gerne zum Vorwurf, dass ich nie erreichbar sei, obwohl ich doch extra ein Handy hätte. Irgendwann ging mir das so dermaßen auf die Nerven, dass ich es mir angewöhnte, mein Handy stets mitzunehmen, außer zur Schule.

Eines Tages jedoch begann es ein wenig merkwürdig zu werden. Ich erhielt immer wieder eine Mitteilung, dass jemand versucht hatte, mir eine SMS zuzusenden oder mich anrufen wollte. Die Nummer kam mir überhaupt nicht bekannt vor, wobei ich allerdings gestehen muss, dass ich Schwierigkeiten hatte, mir Telefon- und Handynummern zu merken. Da also kein Name angegeben war, musste es sich um eine fremde Nummer handeln, die nicht eingespeichert war. Ich versuchte es mit einer Antwort, indem ich eine SMS schicken wollte, um nachzufragen, wer mich zu erreichen versucht hatte. Doch das war nicht möglich. Ich erhielt die Nachricht, dass ein Fehler aufgetreten sei und die SMS somit nicht gesendet werden konnte. Auch die Nachricht, die der Unbekannte mir geschickt hatte, ließ sich nicht öffnen. Ich dachte mir nicht sonderlich fiel dabei. Es kam hin und wieder vor, dass mal eine SMS nicht verschickt oder empfangen wurde oder ein Fehler auftrat. Viel wichtiger war erst einmal, herauszufinden, wer mich zu erreichen versuchte. Ich fragte meine Eltern und zeigte ihnen die Nummer. Diese konnten nichts damit anfangen und so wandte ich mich an meine Schwester, die ja erst vor kurzem eine neue Sim-Karte gekauft hatte. Doch die konnte mit der seltsamen Nummer auch nichts anfangen und schlug mir vor, dass ich sie doch mal anrufen könnte, wenn schon das Verschicken der SMS fehlschlug. Ich ärgerte mich, dass ich noch nicht selbst drauf gekommen war und rief sie an.

Ein leiser Schauer überkam mich jedoch, als mir diese typisch elektronische Frauenstimme mitteilte, dass die gewählte Rufnummer nicht verfügbar ist und dass ich darum die Auskunft anrufen sollte. Merkwürdig. Warum zum Teufel schickte man mir irgendwelche Nachrichten, wenn die Nummer noch nicht einmal existierte? Das alles wurde immer seltsamer. Ich fragte in meinem gesamten Bekanntenkreis nach, jedoch konnte niemand etwas mit der Nummer anfangen.

Inzwischen häuften sich die Mitteilungen über fehlgeschlagene Anrufsversuche. Bis zu 27 Mal am Tag und ich versuchte sie allesamt zu ignorieren. Seltsamerweise jedoch klingelte mein Handy nicht ein einziges Mal. Nein, es kam nur ein Vibrieren, wenn eine Nachricht einging. Schließlich hörten die Versuche urplötzlich auf und irgendwann vergaß ich diesen merkwürdigen Vorfall. Dass etwas mit meinem Handy nicht stimmen könnte, das kam mir bis dahin nicht in den Sinn und ich glaubte lediglich, da würde irgendwer bloß keine anderen Hobbys haben, als stets und ständig Nachrichten an irgendeine Nummer zu schicken.
 

Schließlich kamen die Sommerferien und die meiste Zeit verbrachte ich damit, mit meiner besten Freundin Ausflüge zu machen oder ins Cafe zu gehen. An einem Tag verabredeten wir uns schließlich für einen späten Kinobesuch. Um acht Uhr sollte ein interessanter Film laufen und bis dahin wollten wir uns die Zeit vertreiben, um ein wenig zu shoppen. Der Film war packend, wir hatten viel Spaß und als er zu Ende war, wollten wir mit dem Zug zurückfahren. Ich hatte meinen Eltern versprochen gehabt, anzurufen, wenn ich im Zug saß. Obwohl ich fast erwachsen war, machten sie sich oft Sorgen, wenn ich noch spät abends unterwegs war. Nun gut, oft trieb sich am Bahnhof zwielichtiges Gesindel herum, da konnte ich ihre Sorge schon verstehen. Wir hatten es uns auf zwei Plätzen bequem gemacht, da holte ich mein Handy heraus und wählte aus dem Adressbuch „Mama“ heraus und schrieb ihr kurz und bündig folgende Nachricht.

„Bin im Zug. Bis gleich.“ Kurz darauf kam eine Antwort und ich rechnete eigentlich damit, dass meine Mutter nur schrieb, dass sie meine Nachricht erhalten habe. Aber stattdessen lautete der Inhalt der SMS „Wer bist du?“

Ich verstand das nicht. Ich hatte doch alle Nummern korrekt abgespeichert und die meiner Tante komplett gelöscht. Es war unmöglich, dass ich mich verwählt hatte, denn sie hatten alle bis jetzt einwandfrei funktioniert. Nun, vielleicht hatte meine Schwester das Handy und unerlaubterweise die Nachricht gelesen. Oder aber es war mein Vater. Also schrieb ich einfach, dass ich es wäre und nannte dabei auch meinen Namen. Daraufhin kam die Antwort „Das kann nicht sein. Meine Tochter ist tot.“

Ich fuhr zusammen und ließ vor Schreck fast das Handy fallen. Wie konnte das sein? Warum sagte meine Mutter, dass ich tot bin? Ich verstand das einfach nicht und bekam allmählich Angst. „Was heißt das, sie ist tot?“ schrieb ich und hatte Angst vor der Antwort. Meine beste Freundin merkte mir meine Angst an und fragte, was los sei. Doch ich sagte nichts sondern wartete auf die nächste SMS. Diese folgte kurz darauf und bestand lediglich aus drei Wörtern. „Sie wurde ermordet“.

Immer wieder las ich diese drei Wörter und konnte mir einfach nicht erklären, was das bedeuten sollte. Es war eindeutig die Nummer meiner Mutter, aber ich verstand einfach nicht, warum sie mir so eine Nachricht schickte. Für einen Scherz war das viel zu makaber und meine Mutter war auch nicht der Typ Mensch, der solche Scherze machte. Mir machte diese Nachricht Angst und ich versuchte eine logische Erklärung zu finden. Es konnte ja genauso gut sein, dass meine Nachricht an irgendeine andere Nummer umgeleitet wurde. So und nicht anders musste es sein.

Doch leider befreite mich diese Erklärung nicht von meiner Angst. Mir wurde unbehaglich zumute und ich fühlte mich in diesem leeren Zug plötzlich beobachtet.

Eine Haltestelle vorher stieg meine beste Freundin aus und so fuhr ich die letzte Station alleine weiter. Im Zug war es nun völlig leer und das war nicht gerade aufmunternd. Schließlich begann mein Handy, das ich wieder in die Hosentasche gesteckt hatte, zu vibrieren und ich holte es heraus, um die Nachricht zu lesen, die ich nun erhalten hatte. Doch es war keine Nachricht meiner Mutter sondern wieder diese Mitteilung, dass jemand versucht habe, mir eine Nachricht zu schicken, der Versuch jedoch fehlgeschlagen sei. Und wieder war es dieselbe Nummer, die angeblich nicht existierte. Insgesamt waren es 57 Meldungen, die ich im Posteingang hatte. Sie alle ließen sich nicht öffnen und ich wollte sie gerade löschen, als der Zug hielt und sich die Türen öffnete. Ich steckte das Handy wieder ein und verließ den Zug. Auf den Bahngleisen war keine Menschenseele und es war stockfinster. Kein Wunder, denn die Uhr zeigte 2 Uhr morgens an. Ich verließ den Bahnhof und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Vom Bahnhof aus brauchte ich sowieso nicht länger als 10 bis 15 Minuten. Um mich ein wenig abzulenken, begann ich ein Liedchen zu summen und versuchte, an die coolsten Szenen aus dem Film zu denken. Doch kaum hatte ich eine dunkle Straßenecke erreicht, signalisierte mein Handy, dass ich noch eine Nachricht erhalten hatte. Eigentlich wollte ich gar nicht rangehen, aber es hätte ja sein können, dass es meine Eltern sein könnten und so sah ich mir die Nachricht an. Es handelte sich wieder um diese eine Nummer, die nicht existierte. Aber dieses Mal war die Nachricht zustellbar und ließ sich lesen. Wieder überkam mich die Angst und ich blieb stehen. Irgendwie hatte ich ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend und ich fühlte, wie meine Hände zu schwitzen begannen. Zitternd drückte ich auf „OK“ um die Nachricht zu öffnen. Und sie schockierte mich zutiefst. „Dreh dich um.“ Ich drehte mich nach allen Seiten um, konnte aber niemanden in der Dunkelheit ausfindig machen. Doch dann sah ich hinter mir, einige Meter entfernt eine schwarze Gestalt sehen, die sich in meine Richtung bewegte. In dem Moment lief ich los. Ich rannte bei rot über die Straße und blieb nicht stehen. Ich lief um mein Leben und spürte, dass mich diese Gestalt weiter verfolgte. Die Angst peitschte mich immer weiter voran. Ich wusste nicht, wer diese Gestalt war und ob sie mich wirklich töten wollte. Ich wusste nicht, ob die Nachricht meiner Mutter aus der Zukunft kam, genauso wie diese nicht existierende Nummer, die mich warnen wollte. Aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen und lief so schnell ich konnte. Als ich zuhause ankam, war ich völlig aus der Puste und rang nach Luft. Noch nie war ich so erleichtert, als ich die Haustür hinter mich geschlossen hatte und die Wohnung betrat.
 

Nach diesem Abend bekam ich nie wieder diese Nachrichten und seltsamerweise funktionierte auch die Nummer meiner Mutter wieder. Diese hatte an jenem Abend überhaupt keine Nachricht erhalten und wir konnten es uns beide nicht wirklich erklären. Das alles war viel zu seltsam. Ich begann in verschiedenen Internetforen nachzuforschen, ob es vielleicht jemanden gab, der ähnliche Erfahrungen gemacht hatte wie ich. Und tatsächlich fand ich in einem Forum einen, der zumindest jemanden kannte, der diese Erfahrung gemacht hat. Der Typ nannte sich im Forum „M. Essenger“ und er erzählte mir, dass sein Kumpel Mirko ebenfalls ein solches Nokiahandy besessen habe, mit dem er immer wieder Probleme hatte. Ständig hätte er Meldungen erhalten, dass jemand eine Nachricht geschickt hätte, die jedoch nicht zugestellt werden konnte. Und das bis zu 30 Mal am Tag, ungefähr vier Male in der Woche. Ich fragte ihn, ob auch Anrufe umgeleitet worden waren. „M. Essenger“ konnte mir diese Frage leider nicht beantworten und so fragte ich nach, ob er auch versucht habe, die Nummer zurückzuverfolgen. „Das hat er versucht, aber dann wurde ihm mitgeteilt, dass diese Nummer nicht existiert.“

„Und was hat er dann getan?“ fragte ich schließlich. Es dauerte dreieinhalb Stunden, bis ich schließlich die Antwort erhielt. „Er hat einfach eine neue Sim-Karte gekauft und dann hat er lange Zeit Ruhe gehabt. Dann jedoch hat er nur noch eine einzige Mitteilung bekommen.“

„Und was ist dann passiert?“

„Er ist ermordet worden. Er war noch spät nachts unterwegs und war auf dem Weg nach Hause. Als die Polizei ihn fand, war er mit dutzenden Messerstichen umgebracht worden. Den Täter hat man jedoch nie fassen können.“ Ich forschte daraufhin weiter und versuchte, noch mehr über diese rätselhaften Morde in Erfahrung zu bringen. Und tatsächlich fand ich in den verschiedenen Internetforen Personen, die ebenfalls versucht hatten, etwas über diese geheimnisvolle Nummer herauszufinden. Sie berichteten, dass sie versucht hatten, über den Nokia Kundendienst etwas über diese Fehlermeldungen in Erfahrung zu bringen, jedoch seien sie entweder abgewimmelt worden oder aber ihnen konnte nicht weitergeholfen werden. Als ich von meinen Erlebnissen erzählte, schilderten sie mir, dass ihnen das gleiche passiert wäre. Sie hatten das Gleiche versucht wie ich und hatten auch die letzte Nachricht gelesen, die doch noch zustellbar war. Und sie beinhaltete den gleichen Text: Dreh dich um. Dann hatten sie die Flucht ergriffen und konnten vielleicht somit ihrem Tod entfliehen. Auch hatten sie zuvor das Problem gehabt, dass bestimmte Nummern offenbar umgeleitet wurden, obwohl nichts dergleichen eingestellt war. Und auch die Meldung, dass das Gespräch oder die Nachricht umgeleitet wurde, war nicht aufgetaucht. Das alles wurde immer rätselhafter und ich fragte mich, ob sich dieses Phänomen lediglich auf dieses bestimmte Modell beschränkte. Ich begann weiterzusuchen und fand heraus, dass Nokia, kurz nachdem sie das Modell 6630 auf den Markt brachten, eine Rückrufaktion des Modells sowie auch der dazugehörigen Sim-Karten gestartet hatten. Die Gründe seien bestimmte Fehlfunktionen. Anrufe und Nachrichten würden durch einen Fehler in der Programmierung ohne dementsprechende Einstellung umgeleitet werden und es würden Fehlermeldungen über nicht zustellbare Nachrichten eingehen, die sich massiv häuften. Ich fand einen alten Online Medienbericht, in dem es hieß, dass Nokia sich zwar nicht offiziell zu diesen Störfällen äußern wollte, jedoch erklärten sie, dass ein unbestimmter Defekt am Handy und der Sim-Karte liegen würde. Man würde noch daran arbeiten, die genaue Ursache zu finden und bis dahin könnten alle, die solche Fehlermodelle gekauft haben, es jederzeit umtauschen lassen, auch ohne Kassenbon.

Das alles klang mir nach einer fadenscheinigen Ausrede, um von der Wahrheit abzulenken. Aber von welcher Wahrheit? Ich entschloss, selbst beim Kundendienst nachzufragen und wählte die entsprechende Nummer. Sofort meldete sich eine elektronische Stimme, die mich bat, in der Leitung zu bleiben, es würde sich gleich ein Mitarbeiter um mich kümmern. Diese elende Warteschleife dauerte fast sieben Minuten und ich war schon drauf und dran, aufzulegen, da meldete sich eine junge Frau. Ich erzählte ihr von meinem Problem und nannte ihr Typ und Modell des Handys. Die Mitarbeiterin fragte mich, ob ich die originale Vodafone Sim-Karte hätte und als ich die Frage bejahte, sagte sie, dass es sich wohl um eines der fehlerhaften Modelle handelte. Sie schlug vor, dass ich das Modell einschickte, dafür würde man mir ein neues liefern. Ich ließ mich allerdings nicht so leicht abspeisen und kam auf die Morde zu sprechen, die offenbar mit den umgeleiteten Anrufen und Nachrichten sowie der nicht existierenden Nummer in Verbindung standen. Hier hörte ich ganz deutlich die Verunsicherung der Mitarbeiterin, die sich entschuldigte und mich bat, in der Leitung zu bleiben. Sie würde mich mit einem Mitarbeiter verbinden, der mir weiterhelfen könnte. Ich ahnte jedoch, dass sie mich bloß loszuwerden wollte, doch bevor ich etwas sagen konnte, landete ich wieder in der Warteschleife. Ich hielt eine halbe Stunde durch, dann gab ich es auf und versuchte es noch einmal. Dieses Mal landete ich bei einem männlichen Mitarbeiter, der viel älter als die Frau von gerade eben klang. Jedoch hatte ich auch hier keinen Erfolg. Nachdem ich das Angebot ablehnte, das Handy im Austausch gegen ein neues Modell einzuschicken und stattdessen auf die Morde zu sprechen kam, reagierte er sehr abweisend. Er sagte, dass diese Morde rein gar nichts mit den fehlerhaften Modellen zu tun hätten und dann legte er einfach auf. Ich gab es irgendwann auf. Der Kundendienst war ganz offensichtlich darauf geschult worden, jeden abzuwimmeln, der diese Rückrufaktion näher hinterfragte. Ich werde wohl nie die ganze Wahrheit herausfinden. Ich weiß auch nicht, wie viel eigentlich meine Tante von der ganzen Sache wusste. Ich habe die alte Sim-Karte versteckt und eine neue gekauft und zu meinem Geburtstag auch ein neues Handy bekommen, ein Samsung mit Touchscreen.

Das alte Handy mit der angeblich defekten Sim-Karte habe ich immer noch. Es liegt versteckt in der untersten Schublade meiner Kommode, direkt am Kopfende meines Bettes. Ich wagte es nicht, es an jemanden weiterzureichen, um ihn einer möglichen Gefahr auszusetzen oder es wegzuwerfen. Der Akku war sowieso kaputt, sodass es nicht mehr funktionierte. Mit meinem neuen Handy habe ich keine Probleme, doch bis heute lässt mich diese unheimliche SMS nicht los, die ich angeblich von meiner Mutter bekommen hatte, nämlich dass ihre Tochter längst tot sei. Ich weiß nicht, wer da am anderen Ende der Leitung war und im Nachhinein bereue ich es sogar, dass ich nicht weiter nachgefragt habe. Vielleicht hätte ich so herausgefunden, wer diese Nachricht erhalten hatte und vielleicht hätte es eine alles erklärende Antwort gegeben. Aber es gab niemanden in meinem Umfeld, dessen Tochter ermordet worden war. Auch nicht die Eltern meiner Tante. Und jetzt werde ich es auch nicht mehr herausfinden. Vielleicht ist es ja auch besser, wenn ich nicht mehr weiß. Ich möchte jedenfalls nicht wissen, was passiert wäre, hätte ich diese allerletzte Nachricht nicht gelesen.
 

Heute habe ich beim Aufräumen mein Handy wiedergefunden. Es sah ganz schön mitgenommen aus, ließ sich interessanterweise aber einschalten. Dabei war ich mir eigentlich sicher gewesen, dass der Akku Schrott war. Nachdem ich meine PIN-Nummer eingegeben hatte, erschien als Hintergrund ein Foto von einer Anime Convention, die ich vor zwei Jahren besucht hatte. Es dauerte eine Weile, bis das Telefonbuch als auch der Zugang zu den Einstellungen verfügbar war und aus reiner Neugierde durchforstete ich die alten Mitteilungen und begann die Fehlermeldungen nachträglich zu löschen. Im Anschluss sah ich mir die Fotos an, die ich mit der Kamera aufgenommen hatte und spürte plötzlich, wie mein Handy zu vibrieren begann. Ich hatte eine Nachricht erhalten. Seltsam, wer konnte mir denn noch auf der alten Nummer noch eine SMS schicken, obwohl doch jeder wusste, dass ich jetzt eine neue hatte? Offenbar war es eine alte, die erst jetzt gemeldet wurde. Ich schloss also das Menü um die SMS zu lesen. Ich erschrak, als ich wieder dieselbe Nummer las, die mich damals immer wieder zu erreichen versucht hatte. Aber dieses Mal lag keine Fehlermeldung vor sondern eine ganz normale Benachrichtigung, dass eine SMS eingegangen sei. Ich drückte nach einigem Zögern auf „OK“ und las die Botschaft, die mir zugeschickt wurde:
 

„Dreh dich um“

Ein leises Rauschen

Ich wollte schon seit längerer Zeit eine Ausbildung zum Hörgeräteakustiker machen. Es ist ein Beruf mit Zukunft, wenn man bedenkt, dass die Menschen immer älter werden und sich die Jugendlichen mit der lauten Musik die Trommelfelle ruinieren. Tatsächlich gibt es kaum Arbeitslose in dieser Branche und man braucht selbst während der schwierigen Wirtschaftslage keine Zukunftsängste zu haben. Um mich besser auf diesen Beruf vorzubereiten, habe ich in meiner Heimatstadt ein vierwöchiges Praktikum angefangen. Das Hörzentrum hatte erst vergangenes Jahr dort eröffnet und so hatte ich wenigstens keinen langen Weg. Die anderen Akustiker in der Stadt nahmen leider keine Praktikanten an. Ich war dort auch nicht ganz so fremd. Zwei Jahre zuvor hatte ich in Walsum ein einwöchiges Praktikum während der Herbstferien gemacht und somit wusste ich zumindest, was mich erwarten würde. Die Leute waren dort sehr nett. Jessica war die Gesellin und Jonas der Auszubildende, der noch im ersten Lehrjahr war. Sie arbeiteten zusammen in der Filiale in meiner Heimatstadt und ich verstand mich auf Anhieb mit ihnen. Jessica war eine lustige Person, die für ihr Leben gerne Handyspiele zockte, witzige Videos schaute und immer einen frechen Spruch auf Lager hatte. Seit zwei Jahren arbeitete sie im Hörzentrum und verstand ihr Handwerk wie kein anderer. Jonas hatte zuvor im Filmgeschäft gearbeitet, jedoch hatte er eingesehen, dass es auf Dauer keine Zukunft in dieser Branche gab. Er wollte etwas Solides haben und war durch seinen Vater auf diesen Beruf gestoßen. Mit ihm konnte man sich wirklich wunderbar über Bücher und Filme unterhalten, aber auch über andere Dinge. Während Jessica den Schriftverkehr regelte, zeigte mir Jonas alles andere. Er zeigte mir, wie man Kommissions- und Lagergeräte einlagerte, wie man Hörwinkel austauschte und erklärte mir, wie man eine Otoplastik fräste. Kamen mal Kunden rein, schaute ich den beiden über die Schulter und wenn mal nichts los war, dann haben wir Hörgeräte voreingestellt oder ich habe mir die interessantesten Kundengeschichten angehört. Jonas zeigte mir, wie die verschiedenen Hörgeräte funktionierten und nannte mir alle technischen Eigenschaften. Auch brachte er mir bei, wie man Beratungsgespräche am besten führte und was man alles zu beachten hatte. Es war ziemlich viel auf einmal, aber ich begriff schnell und konnte mir alles wirklich gut merken. Die Wahrheit war leider, dass kurz nach Weihnachten der Hund begraben war. Die meisten Kunden ließen ihre Hörgeräte meist vor Heiligabend einstellen, um wenigstens die Verwandten zu verstehen. Darum war am Anfang des neuen Jahres nicht sehr viel los. Erschwerend kam auch noch hinzu, dass quasi vor der Ladentür eine große Baustelle war, wodurch sämtliche Parkplätze wegfielen. Das führt eben dazu, dass die ältere Kundschaft aufgrund mangelnder Mobilität nicht herkommen konnte. Da der Frühling partout nicht kommen wollte, zog sich das mit der Baustelle immer weiter in die Länge und es würde wahrscheinlich noch drei bis vier Wochen dauern, bis sie endlich fertig gestellt werden konnte.

Es war Mittwoch und an diesem Tag waren wir hauptsächlich auf Laufkundschaft angewiesen, da die HNO-Ärzte ihre Praxen nachmittags geschlossen hatten. Diese Zeit wurde oft genutzt, um Hausbesuche zu machen. Jessica war also im Altenheim unterwegs, ich saß mit Jonas allein im Laden und schaute ihm zu, während er die Kundendaten aktualisierte, Kommentare verfasste und Geräte für den nächsten Tag voreinstellte. Insgesamt war es sehr ruhig. Wir plauderten viel und es geschah bis 16 Uhr nichts. Dann aber betrat um ungefähr 16:50 Uhr eine Kundin den Laden. Sie war schon recht alt, geschätzte 82 Jahre, bucklig und sie war auffallend dürr. Ihr Haar war zerzaust und sie wirkte ein klein wenig verwirrt. Sie sah irgendwie ein bisschen wie Grandma Death aus dem Donnie Darko Film aus. Kaum öffnete sich die Ladentür, standen wir sofort auf und verließen die Kabine. Wir gingen in den Empfangsbereich und begrüßten die Kundin. Sie stellte sich als eine gewisse Roswita Großmann vor und Jonas rief sofort die Daten auf. Tatsächlich war die gute Dame 84 Jahre alt und trug Chilis. Das sind natürlich keine Chilischoten, es sind Powerhörgeräte für besonders schwere Fälle. Sie sind ziemlich groß, nicht sehr hübsch anzusehen und auch manuelle Kassengeräte. Jonas fragte nach, was mit den Geräten nicht in Ordnung sei und begann währenddessen, das Gehäuse zu reinigen und entfernte die Otoplastik, da diese aufgrund der Verschmutzung im Ultraschallbad gereinigt werden musste. Diese Aufgabe teilte er mir zu und während ich im Labor verschwand, führte Jonas die Kundin schon mal in die Kabine. Die Reinigung dauerte nicht lange und nachdem die Ohrstücke trocken waren, ging ich in die Kabine. Dort erfuhr ich, dass Frau Großmann ein seltsames Rauschen hörte und es auch störend sei. Jonas begann damit, die Hörgeräte noch mal neu einzustellen. Er begann zuerst damit, die hohen Töne zu senken und dafür die tiefen Töne zu heben. Dadurch wurde alles viel dumpfer und normalerweise sollte das Rauschen auch aufhören. Zumindest dachte Jonas so. Aber als er vorsichtig ins Hörgerät reinhörte, war immer noch ein Rauschen wahrzunehmen. Egal wie viel Jonas auch an den Einstellungen änderte, er bekam das Rauschen nicht weg. „Das Rauschen kommt wohl vom Gerät her.“ Jonas legte die Hörgeräte in die Messbox, wo es auf Eigengeräusche getestet werden sollte. Jedes Hörgerät hatte ein Eigenrauschen und je nach Marke durfte es eine gewisse Obergrenze nicht überschreiten. Für das Chili galt eine Obergrenze von 27 dB. Für einen normal Hörenden zu laut, aber für Frau Großmann, die ohne Hörgeräte so gut wie taub war, waren diese 27 dB gar nicht zu hören. Jonas hatte die arge Vermutung, dass das Gerät defekt war und das Eigenrauschen die Obergrenze überstieg. Doch die Messbox zeigte an, dass das Eigenrauschen in einem gesunden Normbereich war. Mit dem Gerät war wohl alles in Ordnung. Da Jonas mit seinem Latein am Ende war, machte er für die Kundin Leihgeräte fertig, die sie tragen konnte, während ihre Geräte in Reparatur waren. Jessica kam schließlich wieder, kurz nachdem die Kundin den Laden verlassen hatte. Sie war müde und auch ein wenig frustriert, weil es wohl nicht ganz so gut gelaufen war, wie sie gedacht hatte. Nachdem wir sie mit einem Kaffee zufrieden gestimmt hatten, erzählte Jonas ihr von dem merkwürdigen Eigenrauschen, welches das Hörgerät von sich gab und dass die Messbox nichts Ungewöhnliches angezeigt hatte. Also testeten wir es noch mal in der Messbox der Nachbarkabine. Doch auch hier war nichts festzustellen. „Warum hörst du nicht mit dem Stethoskop rein?“ fragte ich, während ich den beiden bei der Arbeit zusah. Jessica zog die Augenbrauen hoch und sah zu mir. „Weil das Gerät so laut eingestellt ist, dass uns sofort die Trommelfelle reißen würden, wenn ein Nebengeräusch ertönt. Sandra hat den Fehler mal gemacht und danach hatte sie einen Tinnitus oder einen Hörsturz gekriegt. Ich weiß nicht mehr genau, was von beiden, aber jedenfalls hat sie sich damit das Gehör ruiniert.“ Um also ins Hörgerät reinhören zu können, ohne gleich taub zu werden oder einen Tinnitus zu bekommen, musste es an ein Gerät angeschlossen werden, wodurch die Lautstärke auf ein normales Maß reduziert wurde. Wir hörten alle rein und konnten tatsächlich ein Rauschen wahrnehmen. Jessica begann nun, an den Einstellungen zu basteln, um das Rauschen reduziert zu bekommen, aber egal was sie auch machte, es ging nicht weg. „Wegschicken, Neugerät anfordern, fertig!“ Das war alles, was sie dazu zu sagen hatte. Für sie war das Gerät einfach kaputt und da es ein Kommissionsgerät und somit ein Leihgerät des Herstellers war, konnte es einfach wieder umgetauscht werden. Da die Gesellin entschieden hatte, hörte auch Jonas auf und bereitete alles für den Versand vor. Ich für meinen Teil verstand nicht so wirklich, wie das Gerät rauschen konnte, ohne dass es von der Messbox angezeigt wurde. Also fragte ich nach, aber auch Jonas und Jessica konnten sich das nicht erklären. Sie gingen einfach davon aus, dass die Messbox nicht richtig gearbeitet hatte. Schließlich verschwand Jessica mit Jonas im Labor, um ihm noch mal das Fräsen richtig zu zeigen, während ich mir den Katalog noch mal anschauen sollte. Aber ich hatte eigene Pläne. Ich wollte noch mal in das Hörgerät reinhören. Da ich den Regler nicht bedienen konnte, musste ich mit dem Stethoskop hören. Ich hatte natürlich keine Lust, einen Hörschaden zu erleiden, also musste ich vorsichtig sein. Dazu ging ich in die schallisolierte Kabine und nachdem ich das Stethoskop angelegt und das Hörgerät angeschlossen hatte, knickte ich den Schlauch ab, um den Schallfluss zu regulieren. Ein Trick, den mir Jessica gezeigt hatte. Um mich herum war es totenstill. Das Einzige, was zu hören war, war höchstens mein Atem oder mein Herzschlag. Ich löste vorsichtig den Knick und das Rauschen wurde immer lauter. Schließlich hatte es die Lautstärke von einem laut gestellten Fernseher erreicht und je lauter es wurde, desto mehr bekam ich das Gefühl, dass da ein ganz bestimmtes Geräusch zu hören war. Ich schloss angestrengt die Augen und löste den Knick vollständig. Das Rauschen war inzwischen richtig laut geworden und tatsächlich konnte ich etwas hören. Es klang seltsam, sehr blechern und leise. Als würde meine Schwester ihre Hörbücher auf ihrem Handy hören. Zuerst glaubte ich, dass ich trotz der Schallisolierung Geräusche aus dem Laden hören würde und so ging ich nachsehen. Aber… der Laden war leer und sowohl Jessica als auch Jonas waren immer noch im Labor und auch sie waren nicht zu hören. Ein Schauer lief mir über den Rücken und so ging ich zurück, schloss die Tür und hörte noch mal in das Gerät rein. Unverändert ein superlautes Rauschen und etwas Leises im Hintergrund, das sich wie ein Flüstern anhörte. Ich legte das Hörgerät wieder zurück und glaubte erst, dass ich mir das bloß eingebildet hatte. Wenig später kamen Jessica und Jonas wieder zurück und gingen wieder an die Arbeit. Ich erzählte nichts davon, dass ich heimlich in die Hörgeräte reingehört hatte. Nicht, dass ich dafür Ärger bekommen hätte. Ich wollte nur nicht, dass beide von mir dachten, ich würde mir irgendetwas Verrücktes zusammenspinnen. Schließlich sprach ich Jonas noch mal auf das Chili an und fragte ihn, ob ihm so etwas schon mal passiert sei. „Nun, eine ähnliche Geschichte ist Mirco, dem Azubi aus Walsum bei einem Hausbesuch passiert. Eine Kundin hatte über ein Rauschen geklagt und egal wie oft er die Hörgeräte neu eingestellt hatte, die Kundin hatte es immer noch gehört. Also hatte er mal das Hörgerät ausgeschaltet und die Kundin sagte, sie hörte es immer noch. Sie war schon etwas senil…. Aber ich habe da noch eine viel verrücktere Geschichte: Kurz, nachdem wir den Laden hier eröffnet hatte, bekamen wir eine Kundin rein, die eine spezielle Legierung für ihre Hörgeräte haben wollte.“

„Wofür denn eine Legierung?“

„Weil sie behauptet hatte, sie würde über ihre Hörgeräte Stimmen hören.“

„Was waren das für Hörgeräte?“

„Hm… mal nachsehen.“ Damit öffnete Jonas die Kundendaten und sah nach. „Das waren Chilis. Also Hörgeräte für schwerere Fälle.“

„Und… war das Hörgerät, das Mirco ausgetauscht hat, auch ein Chili?“

„Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich denke schon.“
 

Das war ein wenig seltsam, zugegeben. Mir ließ diese Story einfach keine Ruhe und nachdem ich wieder ungestört war, schnappte ich mir die Hörgeräte erneut und verschwand wieder in der schallisolierten Kabine. Ich wollte ein allerletztes Mal in die Hörgeräte reinhören. Nur, damit ich endlich Ruhe vor meiner regen Fantasie hatte. Ich legte das Stethoskop an, befestigte das Hörgerät an den Schlauch und hörte wieder das laute Rauschen. Um mich besser auf mein Gehör konzentrieren zu können, schloss ich die Augen und atmete leiser. Ich hörte wieder Rauschen und meinen Atem. Dann hörte ich es tatsächlich: Ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern. Ich musste mich wirklich mit aller Macht darauf konzentrieren, um wenigstens ein oder zwei Wörter heraushören zu können. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nichts Verständliches heraushören. Und trotzdem konnte ich heraushören, dass da eine Stimme etwas Flüsterte.

Happy Sally

Schon immer fand ich diese Disney Filme großartig. Vor allem Klassiker wie „Schneewittchen“, „Die Schöne und das Biest“, aber auch Filme wie zum Beispiel „Tarzan“, die zur etwas neueren Generation gehören, haben einen großen Teil meiner Kindheit geprägt. Dabei hat mich immer die musikalische Unterhaltung mitgerissen und ich konnte einfach nicht anders, als so manche Lieder mitzusingen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich abends gegen 18 Uhr vor dem Fernseher gesessen habe, nur um die Walt Disney Serien zu sehen. Dazu gehörten auch diese ganz alten Kurzfilme wie etwa die Silly Symphony Geschichten. Micky selbst habe ich nie leiden können, weil er immer derjenige war, der stets Glück und Erfolg hatte, aber er hatte trotzdem etwas Sympathisches an sich. Meine Lieblingsfiguren waren Goofy und Donald, wobei ich Donalds schlechte Charakterzüge, wie etwa seine Eifersucht auf Micky nicht mochte. Aber ich hatte Mitleid mit ihm, weil er immer von Pech verfolgt war und Goofy war zwar einfältig, aber auch eine liebenswerte Figur.

Jahre später bin ich aus manchen Filmen herausgewachsen und schaue sie mir nicht mehr an, weil sie meiner Meinung nach Filme für Kleinkinder sind. Hingegen scheinen mich so manche Filme magisch anzuziehen, indem mir Erinnerungsfetzen durch den Kopf schwirren und mich so lange heimsuchen, bis ich endlich den entsprechenden Film gefunden und ihn angesehen habe. So habe ich mich jahrelang an einen dicken König erinnert, der durch seinen Garten tanzte und die Blumen berührte, die dabei zu Gold verwandelt wurden. Ich war damals ungefähr fünf oder sechs Jahre alt gewesen und erst im Alter von 21 Jahren gelang es mir, dank der zuverlässigen Suchmaschinen herauszufinden, dass es sich dabei um die Silly Symphony Episode „The Golden Touch“ handelte, dich ich mir als englische Version auf Youtube anschauen konnte.

Eines Tages bekam ich Besuch von meinem Cousin, der in Hollywood als Praktikant im Disney Studio arbeitete und genau wie ich ein leidenschaftlicher Fan war. Er zeigte mir stolz die Fotos, die er geschossen hatte und erzählte mir, welche Berühmtheiten er getroffen hatte. Wir verbrachten fast den ganzen Tag damit, Fotos zu sichten und zu erzählen, was hier oder in Amerika alles gewesen war. Irgendwann schließlich kam mein Cousin auf das „Museum“ zu sprechen, wie die Mitarbeiter das Archiv nannten, in der allerhand Anfangsfilme des Studios verwahrt und bei passender Gelegenheit wieder hervorgekramt wurden. Uralte Schinken, an die sich höchstens noch unsere Großeltern erinnern könnten. Ein paar davon hatte sich mein Cousin ansehen können und hauptsächlich waren es diese typischen Schwarzweißszenen, in denen musiziert und fröhlich getanzt wurde. Heute würde sich so etwas niemand mehr ansehen, aber damals war das natürlich der absolute Renner gewesen. Im Moment bestünde der Großteil seiner Arbeit darin, die ganzen uralten Filme auf DVD zu spielen, da die alten Filmrollen mit der Zeit kaputt gingen und überhaupt zu viel Platz wegnahmen. Einen Film hatte er gefunden, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Es war eine Arbeit von Fred Moore gewesen, dem längst verstorbenen Disneyzeichner, der auch bei der Produktion „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ dabei gewesen war. Fred Moore war der jüngste Character Animator, der jemals für die Studios gearbeitet hatte und leider hatte er auch nicht lange gelebt. Gerade mal 41 Jahre wurde er alt. Was ihn so berühmt gemacht hatte, war sein Talent dafür, Emotionen perfekt darstellen zu können. Aber er hatte wohl auch das Hobby gehabt, nackte Frauen sowohl im Trickfilmstil als auch lebensecht zu zeichnen. Seine Fähigkeiten haben Disneyfilme bis heute stark geprägt und man konnte schon sagen, dass Moore ein Genie war. Aber wie mir mein Cousin erzählte, hatte Moore auch seine Schattenseiten. Er musste unter anderem wegen einiger Flops entlassen werden, die Disney an den Rande des Ruins getrieben haben. Zwei Jahre später wurde er wieder eingestellt, aber es dauerte keine vier Jahre, bis er an den Folgen eines Autounfalls starb. Moore hatte ernsthafte Alkoholprobleme und wahrscheinlich sogar schwere Depressionen. Eine seiner frühesten Arbeiten war „Happy Sally“ und der Streifen befand sich in einem fürchterlichen Zustand. Die Filmrolle war fast völlig zerstört worden, als hätte jemand versucht, sie mit einem scharfen Gegenstand zu zerstechen. Der Großteil davon war unbrauchbar und nur ein Bruchteil des Filmmaterials konnte gerettet werden. Es sah aus, als wäre die Filmrolle schon vor langer Zeit zerstört worden. Die Fragmente, die man noch retten konnte, hatte mein Cousin auf DVD überspielt und eine Kopie angefertigt, die er mir als besonderes „Geschenk“ mitbringen wollte. Und diese Entscheidung hatte sich wohl als richtig erwiesen, denn als er von der Mittagspause wieder ins Archiv zurückkam, hatte irgendjemand die DVD in Teile zerbrochen und zusammen mit der Filmrolle verbrannt. Ich wusste nicht so recht, ob mir mein werter Cousin nur einen Bären aufbinden wollte und ich wollte auch nicht an diesen übersinnlichen Scheiß glauben. Das mit diesen uralten Filmen, die plötzlich wieder auftauchen und Leute in den Wahnsinn treiben, so etwas gab es doch nicht. Da hatte einfach jemand zu viele Gruselgeschichten und Internetlegenden gelesen. Außerdem war mein Cousin jemand, der oft gerne große Töne spuckte. Ich sagte ihm „Das hast du doch bloß von dieser Suicidemouse.avi Story abgeguckt. So etwas gibt es gar nicht.“

„Eben das wollte ich mit dir herausfinden. Ich hatte nämlich noch keine Gelegenheit gehabt, die Filmausschnitte anzusehen. Was meinst du? Wollen wir mal einen Blick riskieren?“

„Hm… na gut. Aber wehe da steckt irgend so eine miese Verarsche dahinter. Dann kannst du dich auf was gefasst machen!“ Wir gingen ins Wohnzimmer und legten die DVD ein, die mit „Happy Sally Scenes“ beschrieben war. Die Frage, was wir gleich zu sehen bekommen würden, war wirklich zu interessant, als dass ich dieses Angebot hätte ausschlagen können. Statt eines typischen Titelbildes, der für die alten Schwarzweißcartoons üblich war, sahen wir nur einen schwarzen Bildschirm, bis schließlich der Titel „Happy Sally“ in weißen Buchstaben erschien. Keine Musik, nur ein leises Rauschen und sonst nur Stille. Das war ein wenig befremdlich für einen Disneyfilm und es wurde noch seltsamer, als schließlich der Film begann. Zu sehen war eine sehr detaillierte Stadtszene. Ein Mädchen mit lockigem schwarzen Haar, einer Schleife und einem schwarzen Kleid mit weißen Punkten stand direkt zentral im Vordergrund. Seltsam war, dass das Mädchen nicht in diesen typischen Cartoonstil gezeichnet worden war, den man von Disney kannte. Sie sah schon fast lebensecht aus. Im Hintergrund fuhren Autos, Menschen liefen umher und die Wolken bewegten sich. Alles schien sich ungewöhnlich schnell abzuspielen, wie in Zeitraffer. Das Mädchen, das offensichtlich Sally war, sah direkt in die Kamera und lachte. Sie lachte ausgelassen und glücklich und eine schrille und verzerrt klingende Music Box begann zu spielen. Sie klang lebhaft und fröhlich, doch die durch die verzerren Töne war es doch ein wenig… unheimlich. Das Mädchen lachte und lachte, während alles im Hintergrund rasend schnell vorbeizog. Es wurde allmählich dunkel im Hintergrund, so als würde der Tag zu Ende gehen. Schließlich endete die Szene abrupt und der Bildschirm wurde für knapp eine Minute schwarz. Es wurde still, aber dann war ein hohes und manisch klingendes Gelächter zu hören und wieder wechselte die Szene zu „Sally“, deren Augen nun schwarze klaffende Höhlen waren, aus denen eine dunkle Flüssigkeit tropfte. Der Tag war wieder angebrochen und die ganze Stadt hinter ihr lag in Trümmern. Die Menschen schrieen, Detonationen waren in der Ferne zu hören und Sally stand unbewegt im Vordergrund und lachte fröhlich in die Kamera. Aber sie wirkte nicht mehr so fröhlich wie zuvor. Ihr Lächeln sah mehr wie eine grinsende Fratze aus und auch ihr Lachen hatte etwas Unheimliches angenommen. Die Szene verschwamm und ein lautes Dröhnen im Hintergrund ertönte. Immer mehr Menschen schrieen, eine Frau lief über die Straße und brannte am ganzen Körper. Ein Kind weinte und torkelte über die Straße und ihm fehlte ein Arm. Fassungslos sahen wir dieses Video an und konnten nicht glauben, was wir da sahen. Eines der Häuser stürzte in sich zusammen und überall brach Feuer aus. Was uns aber am meisten verstörte, war dieses kranke Lachen.

Wieder brach die Szene kurz ab. Man hörte Geschrei, aber ganz deutlich war das einer Frau zu hören. Sie schrie, als würde sie gleich sterben. Und dann war wieder Sally’s Lachen. Der schwarze Bildschirm wechselte zu einer Realaufnahme, in der man das Auge einer Person sehen konnte, deren Lider von Klammern festgehalten wurde. Ein Skalpell wurde näher an das Auge herangeführt und ein Schnitt ins Fleisch wurde angesetzt, um das Auge herauszuschneiden. Entsetzt wollte ich den Blick abwenden, da wurde eine zweite Szene eingeblendet, die mehrere Menschen zeigte, die barfuß über die Straße liefen und in Panik wegrannten. Ein kleiner Junge fiel zu Boden und schrie vor Schmerz, während ihm das Fleisch von den Knochen schmolz. Die Kamera wurde auf den Horizont gerichtet, wo eine riesige Rauchwolke zu sehen war. Wieder brach die Szene ab und es kehrte Totenstille ein. Vier Minuten geschah nichts, dann wurde das Bild wieder auf Sally und die Stadt gelenkt. Sally hatte inzwischen aufgehört zu lachen, sie starrte schweigend in die Kamera und die Stadt im Hintergrund lag in Trümmern. Nein, Sally starrte nicht in die Kamera. Sie sah uns an. Die Music Box, die ganz am Anfang gespielt hatte, ertönte wieder, war aber viel langsamer als vorher und die Melodie klang schrecklich schrill und verzerrt. Erst, nachdem wir genauer hinsahen, erkannten wir, dass die Leute aus der Stadt tot waren. Manche von ihnen waren zu verkohlten Mumien verbrannt, andere sahen schrecklich entstellt aus und einigen waren die Bäuche aufgeschlitzt und die Gedärme entfernt worden.

Schließlich begann Sally wieder zu grinsen und kicherte. Dann legte sie den Kopf ein wenig zurück und schlug ihre Fingernägel in den Hals. Sie kratzte sich tief unter die Haut, sodass Blut aus den Wunden spritzte und wieder begann sie zu lachen. Ihr Lachen hörte sich nun nicht mehr fröhlich, sondern wie das einer Wahnsinnigen an. Immer tiefer arbeitete sie sich mit ihren Fingernägeln in den Hals hinein und das Blut floss nun in Strömen. Das Gelächter wurde zu einem erstickten Gurgeln, dann wurde wieder eine neue Szene eingeblendet. Es zeigte ein kleines Mädchen, von vielleicht sieben oder acht Jahren. Lediglich ihr Kopf war zu sehen, der mit Gurten fixiert war, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Ein Drahtgestell hielt ihren Mund weit geöffnet und in ihren Augen war die Angst zu sehen. Tränen liefen ihre Wangen hinunter und sie wimmerte. Ein kreischendes Surren ertönte und eine Art spitzer Bohrer mit einem zylinderförmigen Kopf mit rasiermesserscharfen winzigen Klingen wurde in ihren Mund gefahren. Das Mädchen schrie und wehrte sich nach Leibeskräften, doch dann wurde es zu einem erstickten Gurgeln, als ihr die Zunge nach und nach zerschnitten wurde. Ein letztes Mal wechselte das Geschehen wieder zu Sally. Geschwächt vom Blutverlust ließ sie Arme und Schultern hängen, Blut floss ihr aus Hals und Mund und sie rang nach Luft, während sie im Sterben lag. Mit letzter Kraft hob sie noch mal den Kopf, grinste und lachte ein letztes Mal, bevor sie auf dem Boden zusammenbrach und in ihrer eigenen Blutpfütze lag.

Die Kamera schwenkte wieder nach oben und zeigte die Trümmern der Stadt aus der Ferne. Rauch stieg auf, die Musik verstummte und wieder wurde es still. Dann plötzlich sprang Sally laut kreischend auf und stürzte sich auf die Kamera. Wir erschraken und ich hatte schon Angst, dass sie gleich aus dem Fernseher springen könnte, doch dann wurden die Credits eingeblendet. Überall tauchte nur ein Name auf: Fred Moore.

Wir starrten eine Weile auf den schwarzen Bildschirm und versuchten das zu verdauen, was wir gerade gesehen hatten. Aber ehrlich gesagt konnte ich nicht wirklich verstehen, was ich da eigentlich gesehen habe. Wir beide wussten, dass Fred Moore ein ernsthaftes Alkohol- und Depressionsproblem gehabt hatte. Aber das hier überstieg all unsere Vorstellungen. Und jetzt konnten wir auch endlich nachvollziehen, was es mit den mysteriösen Todesumständen Moores auf sich hatte. Seine Kollegen hatten ihn nicht sterben lassen, weil sie verhindern wollten, dass er sich von dem Geld Spirituosen kaufte. Sie wollten verhindern, dass die Öffentlichkeit jemals etwas von dieser dunklen Seite von Fred Moore erfuhr.

Das zweite Heller-Bergman Experiment

Im Jahre 1953 führten der Arzt Morris F. Heller und der Neuropsychologe Moe Bergman ein Experiment in einem schalltoten Raum durch, um mehr über das Tinnitus-Phänomen herauszufinden. Dieses Experiment war revolutionierend für das Verstehen von Ohrgeräuschen im Bereich der Hörakustik. Man kann das Heller-Bergman Experiment in die Suchmaschine eingeben und zahlreiche Verweise finden. Man wird lesen, dass eine Zahl von normal hörenden Testpersonen in einen schalltoten Raum eingeschlossen und dann beauftragt wurde, alles aufzuschreiben, was sie hören konnten. 94% gaben bereits nach zwei Minuten an, ein leises Piepen im Ohr zu hören, als hätten sie plötzlich einen Tinnitus bekommen. Heller und Bergman gingen davon aus, dass jeder Mensch einen nicht hörbaren Tinnitus hat. Tatsächlich hat jeder Mensch schon mal für ein paar Sekunden ein plötzliches Pfeifen oder Rauschen im Ohr, das dann auch wieder verschwindet.

In den frühen Anfangsstadien der Tinnitus-Forschung durchtrennte man Testpersonen die Hörnerven, um so festzustellen, inwieweit das Innenohr betroffen ist. Tatsächlich gab es Fälle, die trotz allem noch ein Rauschen wahrnahmen. Folglich also entsteht Tinnitus irgendwo im Gehirn und ein akuter Tinnitus tritt durch eine Fehlfunktion im Gehirn oder eine Erkrankung des Innenohres oder durch Veränderung der Blutgefäße ein, wodurch man sich einbildet, Geräusche durch das Ohr zu hören. Das Experiment führte zu einigen neuen Erkenntnissen. Aber der Öffentlichkeit ist bis jetzt nicht bekannt, dass ein zweites Experiment durchgeführt wurde. Hinweise darauf wird man durch die schwankende Anzahl der Versuchspersonen finden. Einige Quellen berichten von 80, jedoch sprechen wenige von 100 Personen. Tatsächlich führten Heller und Bergman mit den verbliebenen 20 Kandidaten ein ähnliches Experiment durch. Das Ziel des zweiten Experimentes war es jedoch mehr, das Verhalten der Personen zu erforschen, wenn sie sich über einen Zeitraum von 24 Stunden in einem schalltoten Raum aufhielten und wie es sich auf ihre akustische Wahrnehmung auswirkte. Für das zweite Experiment wurden dieses Mal zwei schalltote Räume vorbereitet. Der erste war mit Lampen ausgeleuchtet und mit Kameras und Mikrofonen versehen. Der zweite Raum hingegen besaß keine Lichtquellen und nur Mikrofone, da zu der damaligen Zeit weder Kameras mit Nachtfilter noch Wärmebildkameras existierten. Heller und Bergman führten dieses Experiment zusammen durch und übernahmen jeweils einen Raum, um das Verhalten der Testpersonen zu analysieren. Die erste war Lindsay K, 22 Jahre alt und Aushilfskraft in einem Cafe. Beim zweiten Subjekt handelte es sich um einen 35-jährigen Afroamerikaner namens Jerome S, der als Versicherungsvertreter arbeitete und sportlich sehr aktiv war. Jedes der 20 Testsubjekte wurde vor Beginn des Experiments fachärztlich untersucht und musste eine Einverständniserklärung unterschreiben, dass er oder sie über den Verlauf dieses Experiments absolutes Stillschweigen bewahrte. Im Gegenzug wurde ihnen Anonymität sowie eine angemessene Aufwandsentschädigung zugesichert.
 

Jerome S. wird dem beleuchteten Raum zugewiesen, Lindsay K. dem Dunkelraum. Der erste Test beginnt am 15. Januar 1952 um 8:30 Uhr. Während dieser Zeit gibt es in diesen Räumen weder Geräuschquellen, noch befand sich Mobiliar im Raum. Die Stimmung beider Subjekte schlägt bereits in den ersten beiden Stunden um. Das Pfeifen hatte bereits zu Anfang der Testphase eingesetzt und sowohl Jerome und Lindsay wurden zunehmend nervöser und unruhiger. Jerome durchwandert den Raum und reagiert gereizt und aggressiv auf Fragen der beiden Ärzte. Lindsay verfällt in Angst und bildet sich ein, die Präsenz einer zweiten Person im Raum wahrzunehmen. Sie ruft immer wieder nach dieser Person und wird mit jeder Minute ängstlicher. Nach dem ersten Drittel der Zeit wird den Testsubjekten Verpflegung angeboten. Jerome reagiert sehr ausfallend, laut und aggressiv, da ihm das Ohrpfeifen zu schaffen macht. Lindsay K. fleht darum, endlich freigelassen zu werden. Das Experiment wird jedoch ungeachtet dieser heftigen Reaktionen weiter fortgesetzt. Den Testpersonen wird durch eine Klappe in der Tür ein Tablett mit Essen und Getränken zugeschoben. Beide beruhigen sich für kurze Zeit, jedoch verfällt Jerome um 16:33 Uhr in Rage, da das Ohrpfeifen immer lauter zu werden scheint. Lindsay K. nimmt das Ohrpfeifen nicht mehr so stark wahr wie zu Anfang, bildet sich aber ein, Schritte und andere Geräusche im Raum zu hören. Sie gerät in Panik und fängt laut zu schreien und weinen an. Trotz Dr. Hellers Besorgnis um das Wohl der Testpersonen, will Dr. Bergman das Experiment weiter fortsetzen.

Lindsay K. und Jerome S. finden aufgrund der störenden Ohrgeräusche die ganze Nacht hindurch keinen Schlaf und sind somit stark übermüdet, erschöpft und nervlich sehr angeschlagen. Lindsay K. hat die ganze Nacht hindurch geweint und die nicht vorhandene zweite Person im Raum angefleht, sie in Ruhe zu lassen. Jerome S. erleidet einen Wutanfall und beginnt zu randalieren. Mit Fäusten schlägt er auf die Tür ein und droht damit, den „scheiß Hurensöhnen die Schädel einzuschlagen“. Die Situation eskaliert um 6:57 Uhr, als Lindsay hyperventiliert, nachdem sie eine erneute Panikattacke erlitten hat. Sie ist sich sicher, dass jemand oder etwas sie am Arm berührt hätte und dass sie den Atem eines anderen im Nacken gespürt habe. Der Test wird an dieser Stelle abgebrochen und Lindsay K. wird von Sanitätern ins Krankenhaus gebracht. Sie steht unter Schock und muss behandelt werden. Auch Jerome S. wird an dieser Stelle aus seiner Kammer herausgeholt. Da er gewalttätig wird, muss er mit Beruhigungsmitteln ruhig gestellt werden. Lindsay K. verstirbt drei Tage später durch den Schock. Dies wird jedoch als Einzelfall abgetan und das Experiment weiter fortgesetzt.
 

Für den zweiten Test am 18. Januar werden dieses Mal zwei männliche Testsubjekte ausgewählt. Für die Dunkelkammer ist der 28-jährige Asiate Kim Y. vorgesehen. Sonstige Bemerkungen: Chinesische Nationalität, Arbeitskraft in einem chinesischen Imbiss, keine lebenden Verwandten. Der 38-jährige arbeitslose Larry G. wird der Hellkammer zugewiesen. Aus den medizinischen Gutachten geht hervor, dass Larry G. unter Adipositas leidet und bereits eine Operation am Knie hatte. Kim Y. leidet unter Laktoseintoleranz, ansonsten sind keine weiteren Erkrankungen bekannt, die den Test in sonstiger Weise beeinträchtigen könnten. Nach Unterschreiben der Einverständniserklärung und Aufklärung über Sinn und Verlauf des Tests, wurden die beiden Testpersonen in die jeweiligen Kammern gebracht. Im Gegensatz zu Kim Y. hört Larry G. nach sieben Minuten ein Klingeln in den Ohren, welches zwar leise, aber dennoch deutlich hörbar ist. Bei Kim tritt kein solches Geräusch ein. Bis 13:55 Uhr ist keine Verhaltensänderung bei Larry G. aufgetreten. Jedoch reagiert er sehr empfindlich auf die Durchsagen von Dr. Heller, da sich sein Gehör inzwischen an das Klingeln und an die Stille gewöhnt hat. Es hat sich eine Hyperakusis eingestellt. Das Gleiche ist auch im Falle von Kim Y. zu beobachten, der nun auch wie Lindsay K. glaubt, Geräusche wie etwa ein Rascheln oder das Geräusch von Stoffreibung zu hören. Diese akustischen Halluzinationen beginnen ihn langsam zu beunruhigen.

Nach Verabreichung der Mahlzeit klagt Larry G. über einen starken Druck auf den Ohren, jedes kleinste Geräusch bereitet ihm starke Schmerzen und er reagiert sofort aggressiv, wenn Geräuschquellen auftreten. Außerdem ist er sehr schreckhaft geworden. Kim Y. spricht in seiner Landssprache, weshalb ein Dolmetscher zu Rate gezogen werden muss. Das Subjekt scheint mit einer nicht existierenden Person zu sprechen, die sich offenbar auf Chinesisch mit ihm unterhält. Im folgenden Gespräch erfragt Kim, wer diese Person sei und was sie von ihm wolle. Eine Antwort erhält er scheinbar nicht. Er klingt beunruhigt. Um 18:21 Uhr scheint sich etwas Neues im Falle Kim Y. zu tun: Nachdem er mit einer eingebildeten Stimme gesprochen hat, stellt er die Frage „Wer ist da noch in diesem Raum?“ Offenbar hört er eine zweite Stimme, die sich allerdings in einer für ihn unbekannten Sprache unterhält. Larry G. beklagt sich über Kopfschmerzen, die Schmerzen im Ohr werden für ihn unerträglich. Zum Dröhnen und Klingeln kommt ein lautes Rauschen hinzu, welches ihn nach eigener Aussage „verrückt“ macht. Das Testsubjekt beginnt zu weinen und bittet, dass es aufhören solle. Die Kopfschmerzen steigern sich und Larry G. beklagt sich über zu grelles Licht und Übelkeit. Eine Migräne scheint sich einzustellen.

Um 3:00 Uhr morgens hat Larry G. trotz der Kopfschmerzen und der lauten Ohrgeräusche etwas Schlaf finden können. Die Erschöpfung war offenbar zu groß. Kim Y. hat nun aufgehört, mit den Stimmen sprechen zu wollen, die er hört und sagt, dass er sich die Ohren zuhalte, um sie nicht mehr hören zu müssen. Jedoch sei dies zwecklos, da sie immer noch präsent seien. Trotz seiner Bitten, endlich zu verschwinden, seien die Stimmen nach wie vor da. Die chinesische Stimme spreche wiederholt von Tod, Krieg und Zerstörung und über das bevorstehende Ende der Welt. Sie habe jedoch weder jemals mit ihm, noch mit dieser fremdsprachigen Stimme gesprochen, die Kim Y. zu hören glaubt. Bis jetzt hat diese Testperson noch keinen Schlaf gefunden. Auch bis 7:30 Uhr hat Kim nicht schlafen können. Jedes noch so kleine Geräusch versetzt ihn in Alarmbereitschaft und versetzt ihn in einen Zustand, der an Todesangst angrenzt. Larry G. leidet unter Atembeschwerden und zeigt erste Symptome der Klaustrophobie, ebenso wie Kim Y. Beide werden um 8:30 Uhr zum Ende des Tests aus den Kammern geholt und von einem Sanitätsteam untersucht. Kim Y. zeigt eine sehr starke Empfindlichkeit aufgrund der starken Licht- und Geräuschentwöhnung und ist körperlich sehr geschwächt. Die Angst, die er in der Dunkelheit erleiden musste, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Larry G. reagiert sehr gereizt, als Dr. Heller ihn zum Ende des Tests begrüßt und beschimpft ihn. Eine ärztliche Untersuchung verweigert er schroff und will „so schnell wie möglich nach Hause“.
 

Für den nächsten Test am 20. Januar sind dieses Mal zwei weibliche Personen vorgesehen: Die 44-jährige Hausfrau und zweifache Mutter Evelyn P. und die 18-jährige High School Schülerin Kayleigh R. Für das Dunkelzimmer wird Kayleigh R. ausgewählt. Diese Entscheidung beruht auf einem Zufallsprinzip. Nach Erledigung der Formalitäten bestätigten beide Frauen, dass sie weder unter Klaustrophobie litten, noch dass sie Angst vor der Dunkelheit hätten. Kayleigh R. reagiert sogar sehr aufgeregt und hält das Ganze für eine sehr einfache Art, an Geld zu kommen. Evelyn P. scheint mehr auf eine Erholung aus zu sein, um sich von dem Geschrei und dem Lärm ihrer Familie distanzieren zu können.

Um 12:00 Uhr ist bei Evelyn P. keine Gemütsveränderung feststellbar. Zwar höre sie in unbestimmten Intervallen ein Rauschen oder einen Piepston, jedoch störe sie dies nicht weiter. Um sich die Zeit zu vertreiben, liest sie ein Buch. Sie sieht jedoch hin und wieder von ihrer Lektüre auf, da sie glaubt, leise Geräusche zu hören, die jedoch nicht von ihr selbst verursacht werden. Kayleigh R. singt seit zwei Stunden, da sie die Stille, wie sie selbst sagte, nervös mache. Dies ist an ihrer Stimme deutlich hörbar. Um 13:48 Uhr erschrickt sie plötzlich, da sie sich einbildet, trotz vollkommener Dunkelheit eine Bewegung im Raum gesehen und gehört zu haben. Sie hat nun aufgehört zu singen und reagiert abwechselnd ängstlich und aggressiv. Evelyn P. scheint die vollkommene Stille und das Ohrgeräusch gut verarbeiten zu können, auch wenn sie letzteres als sehr lästig bezeichne. Inzwischen hat sie ihre Lektüre beiseite gelegt und nimmt ihre Mahlzeit ein. Nach 15 Uhr ist aber auch bei Evelyn P. eine Veränderung bemerkbar. Sie reagiert zunehmend schreckhafter, da sie sich einbildet, aus Nachbarzimmern Schritte zu hören oder dass sie jemanden im Raum atmen höre. Sie beginnt daraufhin den Raum zu durchwandern, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein sei. Kayleigh R. wird zunehmend ängstlicher und schreit lauf auf, da sie glaubt, jemand stünde hinter ihr und würde ihr ins Ohr flüstern.

18:33 Uhr: Kayleighs psychischer Zustand verschlechtert sich dramatisch. Sie hat Angst und bittet darum, dass der Test abgebrochen wird. Auch Evelyn P. wird zunehmend nervöser, obwohl es noch nicht so schlimm um sie steht wie Kayleigh R. Gegen 23:40 Uhr erleidet Kayleigh eine Panikattacke, da sie glaubt, Stimmen im Raum zu hören. Sie wird hysterisch und sucht panisch nach der Tür. Ihr Geschrei wird lauter und angstvoller. Dr. Heller und Dr. Bergman brechen den Test vorzeitig ab, um Kayleigh rauszuholen. Als sie sie auffinden, hat sie sich ihre Trommelfelle mit einem angespitzten Bleistift durchstoßen und sie weint immer noch hysterisch. Die Sanitäter bringen sie auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus. Der Test mit Evelyn P. wird weiter fortgeführt. Gegen 2:33 Uhr erwacht Evelyn aus dem Schlaf und ist zunächst orientierungslos. Sie leidet unter einem Alptraum, der sie noch nach dem Aufwachen ängstigt. Ans weiterschlafen ist für sie nicht mehr zu denken und in ihrer Übermüdung beginnt sie weiterhin, akustische Halluzinationen wie zum Beispiel Schritte, Rascheln oder Atemgeräusche wahrzunehmen. Die restliche Zeit versucht sie, sich mit Lesen zu vertreiben, doch sie bringt nicht mehr die Konzentration zum Lesen auf. Das Unwohlsein wächst und sie sucht sich immer wieder neue Plätze im Raum, wo sie sich sicherer fühlt (vorzugsweise in Ecken). Um 8:30 Uhr wird der Test beendet. Nach eigenen Aussagen fühle sich Evelyn P. gesundheitlich „ganz normal“, jedoch würde sie nie wieder freiwillig in diesen Raum gehen, um sich dort über längere Zeit aufzuhalten. Eine ärztliche Untersuchung oder eine Einweisung ins Krankenhaus ist somit nicht nötig.
 

Am 23. Januar werden wie zu Beginn des ersten Testes ein männliches und ein weibliches Subjekt ausgewählt: Die 32-jährige Bürokauffrau Samantha Z. und der 21-jährige afroamerikanische Ghettobewohner Mike T. Der Afroamerikaner wird dem Dunkelraum zugewiesen. Der Test beginnt um Punkt 8:30 Uhr. Bereits nach den ersten zehn Minuten hören beide in unregelmäßigen Intervallen ein Piepen auf einem Ohr bzw. auf beiden. Das auftretende Ohrgeräusch wird gegen 10:34 Uhr für Samantha Z. chronisch und löst bei ihr zunehmende Aggressivität und Reizbarkeit aus. Sie presst die Hände auf die Ohren und versucht anderweitig, dieses „nervtötende Pfeifen“ abzustellen.

Gegen 13:30 Uhr werden die Testpersonen mit Wasser und Nahrung versorgt. Samanthas gereiztes Verhalten ist u.a. auch auf die Eintönigkeit und verspürte Langeweile zurückzuführen. Auch Mike T. wird zunehmend unruhiger, die Stille und die Dunkelheit machen ihm immer mehr zu schaffen. Er versucht seine Angst mit aggressiven Gebärden und vulgärer Sprache zu kompensieren.

Um 15:21 Uhr beginnt Mike T. Geräusche zu hören. Er ist sich sicher, das Meer zu hören und dass ihn jemand aus der Ferne ruft. Samantha Z. beginnt sich nervös an den Armen zu kratzen, da sie einen heftigen Juckreiz verspürt.

16:12 Uhr: Samantha hat sich die Arme blutig gekratzt und verliert die Nerven. Sie gerät in Panik, da sie glaubt, dass die Wände sich bewegten. Ähnliches durchlebt auch Mike T, der sich einbildet, der Boden würde schwanken. Er befürchtet, dass es ein Erdbeben sei und schreit auf. Um 16:45 Uhr verschlimmert sich der Zustand der Frau. Diese kratzt sich immer tiefer ins Fleisch und schreit, dass es nicht aufhört zu jucken. Sie lässt schließlich von ihren Armen ab und kratzt sich am Hals. Die Fingernägel reißen tiefe Wunden und Samantha wird aus der Kammer befreit und ins Krankenhaus gebracht. Ihre Verletzungen müssen genäht werden, außerdem hat sie viel Blut verloren.

Bis 21 Uhr ist bei Mike T. keine weiteren Veränderungen feststellbar.

23:42 Uhr: Mike T. gibt an, dass das Rauschen des Meeres immer lauter wird und er das Schreien von Kindern hört. Das mache ihm Angst. Gegen 0:00 Uhr beginnt auch das verbliebene Testsubjekt zu schreien. Auf Fragen von Dr. Heller und Dr. Bergman reagiert er nicht bzw. gibt er keine Antwort. Plötzlich ertönt aus der Dunkelkammer lautes Angstgeschrei, welches fast zwei Stunden andauert. Schließlich verfällt Mike T. in Schweigen und reagiert nicht auf Fragen der beiden Ärzte. Als seine Kammer um 8:30 Uhr geöffnet wird, findet man nur noch seine Leiche vor. Todesursache ist Herzversagen, verursacht durch einen plötzlichen Schock.
 

Zwei Tage später wird ein weiterer Test durchgeführt, dieses Mal werden wieder zwei männliche Testsubjekte gewählt: Der 19-jährige Student Andrew A. und der 34-jährige Mechaniker Eric C. Da Eric C. angab, in dunklen Räumen schnell einen „Anfall“ zu bekommen, erklärte sich Andrew bereit, seinen Platz einzunehmen. Nach Erledigung der Formalitäten werden beide Männer in ihre Kammern gebracht. Andrew A. zeigt sich gut gelaunt und amüsiert. Selbst als das Pfeifen im Ohr eintritt, zeigt er sich gut gelaunt. Eric C. hingegen ist zuerst beunruhigt über das Pfeifen und fragt nach, ob er jetzt einen Tinnitus hätte. Dr. Heller antwortet über die Lautsprechanlage, dass das Pfeifen nichts zu bedeuten habe. Weiterhin solle Eric C. berichten, falls er etwas anderes höre. Um 10:30 Uhr beginnt Eric C. ein leises Schlagen oder Klopfen zu hören. Er versucht die Quelle des Geräusches zu orten, was jedoch keinen Erfolg bringt. Andrew A. ist ins Schweigen versunken und antwortet auch nicht auf Fragen. Schließlich reagiert er, als um ein Zeichen gebeten wird, dass er wohlbehalten ist. Um 13:30 Uhr erfolgt die Versorgung der beiden Männer. Andrews Stimmung ist rapide gesunken. Er ist depressiv und schluchzt laut, während er um Gnade fleht. Wiederholt entschuldigt er sich bei jemandem, spricht mit nicht existierenden Personen.

16:47 Uhr: Andrew A. bricht in ein manisches Gelächter aus und redet wirr. Eric C. bereiten die eingebildeten Geräusche immer mehr Angst und er beginnt panisch zu werden. Mit Fäusten schlägt er gegen die Tür und verlangt, sofort aus der Kammer geholt zu werden. Er beklagt sich über mangelnden Sauerstoff im Raum und Atemschwierigkeiten. Der Lachanfall des ersten Testsubjekts dauert bis 18 Uhr an, bis er in einen Tobsuchtsanfall endet, der sich über zwei Stunden erstreckt. Schließlich ist ein lautes Poltern zu hören, der darauf schließen lässt, dass Andrew A. das Bewusstsein verloren hat und auf dem Boden zusammengebrochen ist. Dr. Bergman ordnet an, ihn sofort aus der Kammer zu holen und von Sanitätern untersuchen zu lassen, da ist wieder ein lautes Gelächter zu hören. Dabei wiederholt er immer wieder die Worte „Wir werden alle krepieren!“ Das Gelächter dauert bis 3:25 Uhr morgens an und verstummt abrupt. Eric C. erleidet eine Panikattacke, nachdem er deutliche Symptome von Klaustrophobie aufweist. Unter Tränen bittet er, befreit zu werden. Da Gefahr besteht, dass er sich etwas antut, wird dieser Bitte stattgegeben und beide werden aus ihren Kammern geholt. Eric C. hat einen Nervenzusammenbruch, er wird ins Krankenhaus gebracht. Andrew A. hat sich selbst die Pulsadern aufgekratzt und mit Blut „Die Hölle existiert!“ auf den Boden in der Mitte der Kammer geschrieben. Dies wirft einige Fragen auf, da es keinerlei Lichtquellen gibt und es ihm somit äußerst schwer gefallen sein müsste, das Zentrum des Raumes zu finden, geschweige denn, fehlerfrei diesen Satz zu schreiben. Trotz des schweren Blutverlustes bricht er wieder in wahnsinniges Gelächter aus und wird auf die Intensivstation gebracht. Wie Dr. Heller und Dr. Bergman später erfahren, hat Andrew A. die Krankenpfleger attackiert, den Stationsarzt getötet und ist auf der Flucht.
 

Aufgrund dieser Vorfälle wird die Testreihe erst am 5. Februar fortgeführt. Trotz zahlreicher Bedenken beschließen Dr. Heller und Dr. Bergman, das Experiment weiter fortzusetzen. Änderungen werden nicht vorgesehen und so werden die restlichen zehn Testpersonen auf die zwei Kammern verteilt. Jeder Test liefert das gleiche Bild: Nach nur wenigen Stunden geraten die Testpersonen in Panik, leiden unter akustischen Halluzinationen, anschließend verschlechtert sich die Psyche. Vier der fünf Subjekte, die für den beleuchteten Raum vorgesehen waren, erlitten klaustrophobische Anfälle, glaubten die Präsenz eines anderen Wesens im Raum zu spüren und insbesondere die Männer zeigten erhöhte Reizbarkeit. Die Frauen zeigten eine deutlich höhere Anfälligkeit und wurden depressiv und hysterisch. Eine junge Frau verlor schließlich den Verstand und kratzte sich die Augen aus, wobei sie wie verrückt lachte. Ein 35-jähriger Familienvater glaubte, sein Kind zu hören, das in Todesangst schrie und stieß seinen Kopf mehrmals gegen die Absorberkeile, bis er schließlich an der Verletzung starb.

Unter Berücksichtigung der Vorfälle mit Andrew A. hatte das Experiment fünf Tote, zehn Schwerverletzte und sieben Menschen unter Schock zu verzeichnen. Von den zehn Schwerverletzten starben zwei an den Folgen und die Überlebenden hatten schwere Traumata erlitten. Dieses Experiment sorgte für einen Skandal unter den Medizinern und wurde vor der Öffentlichkeit vertuscht. Die Mitwissenden bewahrten absolutes Stillschweigen, die Testpersonen wurden mit einem großzügigen Schmerzensgeld zum Schweigen gebracht. Dr. Heller und Dr. Bergman präsentierten lediglich ihr erstes Experiment der Öffentlichkeit und vernichteten sämtliche Beweise, die auf den blutigen Skandal schließen ließen. Aber manchmal hat die Zeit so ihre eigenen Wege, sodass sich in der modernen Generation des Internets Gerüchte sammelten, es hätte in Wahrheit 100 Testpersonen gegeben und dass mysteriöse Notizen über ein zweites Experiment ihren Weg in die Hände einiger Sucher gefunden hätten.

Das verbotene Buch

Der berühmte Horrorschriftsteller H. P. Lovecraft hat mit seinen Geschichten über mystische Wesen aus anderen Welten, untergegangenen Kulten und über ein geheimnisvolles Buch eine regelrechte Lawine ausgelöst. Seine Art, den kosmischen Schrecken zu beschreiben, ist einzigartig und bis heute gelten seine Romane über den sagenumwobenen Cthulhu-Mythos als hochwertiger Lesestoff. Was jedoch am meisten in seiner Fangemeinde für Diskussion gesorgt hat, war das Buch des geisteskranken Arabers Abdul Alhazred: Das Necronomicon. Der Titel setzt sich aus dem Griechischen Worten „Nekros“ (Leichnam), „Nomos“ (Gesetz) und „Eikon“ (Ebenbild, Bild)zusammen, woraus sich die Bedeutung „Ein Abbild des Gesetzes der Toten“ ergibt. Obwohl die Etymologie vom Autor selbst stammt und somit die richtige wäre, existieren noch andere Übersetzungen. Das Necronomicon wurde erstmals 1922 von Lovecraft namentlich in der Erzählung „The Hound“ erwähnt, die allerdings erst zwei Jahre später veröffentlicht wurde. Dieses Buch stellt von Anfang an in Lovecrafts Romanen und Geschichten ein Mysterium dar. Es werden niemals ganze Textausschnitte zitiert, sondern nur Andeutungen zum Inhalt gemacht. Lovecraft bezeichnet diese immer als monströs, verboten, schrecklich und gefährlich. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde er mit Fragen nach dem Necronomicon überflutet und musste „gestehen“, dass er das Necronomicon bloß erfunden habe. Später wurden jedoch posthum Briefe an seine Brieffreunde und Schriftstellerkollegen wie z.B. Clark Ashton Smith veröffentlicht, in denen Andeutungen gemacht wurde, dass das Buch des verrückten Arabers tatsächlich existiere. Dieses Gefühl wird vor allem durch Lovecrafts Buchpassagen verstärkt, in denen die Ausgaben des Necronomicon als „Raritäten“ bezeichnet wurden, die nur im Besitz sehr weniger Bibliotheken sind und die Protagonisten der Romane den Inhalt des Necronomicon sehr ernst nehmen.
 

Abdul Alhazred war ein verrückter Lyriker aus Sanaa in Jemen, der ca. 700 n. Chr. lebte. Er beschäftigte sich mit der Erforschung der vergangenen Kulturen von Ägypten und Babylon und durchwanderte zehn Jahre die innerarabische Wüste. Mythen zufolge soll er bis in das sagenumwobene Irem, die „Stadt der Säulen“, vorgedrungen sein und unter den Ruinen einer Wüstenstadt die Aufzeichnungen und Geheimnisse einer Rasse gefunden haben, die lange vor der Menschheit lebte. In seinem Wahn hatte er nichts für den Islam übrig, sondern verehrte unbekannte Wesen, die er Yog-Sothoth und Cthulhu nannte. Nach seiner Wanderung ließ er sich in Damaskus nieder, wo er 730 n. Chr. an dem Manuskript des „Kitab Al’Azif“ arbeitete. Über sein Ende bzw. sein Verschwinden gibt es keine klaren Erkenntnisse. So erzählt Ebn Khallikan, ein Biograph aus dem 12. Jahrhundert, dass Alhazred im vollen Tageslicht von einem unsichtbaren Grauen verschlungen wurde, während die Zeugen des Geschehens vor Angst gelähmt nur zusehen konnten.
 

Das arabische Original bzw. eventuelle Kopien waren einer Bemerkung im Vorwort der lateinischen Übersetzung nach bereits im 13. Jahrhundert verschollen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts soll jedoch eine Kopie in San Francisco aufgetaucht sein, die aber bei einem Feuer zerstört wurde. Die Geschichte des „Azif“ setzt sich bis ins europäische Mittelalter fort. Zu dieser Zeit wurde es unter der Hand der Philosophen weitergereicht und 950 n. Chr. heimlich von Theodorus Philetas von Konstantinopel ins Griechische übersetzt. Von ihm stammt auch der der Titel „Necronomicon“. Davon müssen mehrere Manuskripte existiert haben, die auch viele der Abbildungen sehr genau reproduzierten. Ein Jahrhundert lang führte dies zu schrecklichen Experimenten, bis das Necronomicon um 1050 vom Partriarchen Michael verboten und verbrannt wurde. Weiterhin wird berichtet, dass es eine in Italien gedruckte Kopie gab, die zwischen 1500 und 1550 erstellt wurde und im Jahre 1692 bei einem Bibliotheksbrand in Salem zerstört wurde. Seitdem gelten die verbliebenen griechischen Fassungen als verschollen, jedoch hielt sich das Gerücht, dass die Familie Pickman eine griechische Ausgabe aus dem 16. Jahrhundert besessen habe, die aber zusammen mit dem Künstler R. U. Pickman im Jahre 1926 spurlos verschwand.
 

1228 übersetzte Olaus Wormius eine der griechischen Fassungen ins Lateinische. Papst Gregor IX. habe kurz nach dem Erscheinen der lateinischen Versionen sowohl diese, als auch die griechische Ausgabe verboten. Gerüchten zufolge soll sich eine lateinische Fassung allerdings heute noch im Besitz des Vatikans befinden. Weitere zwei Auflagen des lateinischen Maniskripts tauchten zuerst im 15. Jahrhundert in Deutschland als Frakturschrift und danach einmal im 17. Jahrhundert in Spanien auf. Die Ausgabe aus dem 15. Jahrhundert liegt im British Museum unter Verschluss, während die Druckfassungen des 17. Jahrhunderts in der Bibliotheque Nationale in Paris, der Widener Library in Harvard, der Bibliothek der Miskatonic University in Arkham und der Bibliothek der Universität in Buenos Aires aufzufinden sein sollen. Eine weitere Ausgabe aus dem 15. Jahrhundert befindet sich in der Sammlung eines bekannten amerikanischen Millionärs. Außerdem sollen noch weitere Kopien im Verborgenen liegen.

Eine englische Übersetzung soll der englische Hofmagier Dr. John Dee im Jahre 1586 angefertigt haben. Diese war jedoch niemals gedruckt worden und nur noch in Bruchstücken erhalten sein.
 

Das Necronomicon enthält eine Art dämonische Kosmologie sowie Zauberanleitungen. Das schließt Informationen über die „älteren Wesen“ und ihre Zivilisation zur Zeit der Entstehung, Schlangenmenschen und verschiedene Kultstätten im nahöstlichen Raum mit ein. Zudem beinhaltet das Buch die Kulte der Götter Azathoth, Cthulhu, Nyarlathotep, Shub-Niggurath, Tsathoggua und Yog-Sothoth, die das Zentrum von Lovecrafts Geschichten bilden. Das Necronomicon behandle jedoch nicht nur die Herkunft und die Geschichte dieser Götter, sondern beinhalte auch zahlreiche Zauberformeln und Rituale zur Anrufung dieser „Großen Alten“. Das Buch enthält etwa 1000 Seiten voller verschlüsselter Andeutungen sowie Doppeldeutigkeiten, in denen verschiedene magische Anweisungen verborgen sind. Die meisten Bedeutungen und Zaubersprüche gingen jedoch mit den verschiedenen Stufen der Übersetzungen verloren.
 

Das Necronomicon enthält Symbole, Flüche, Hierarchien der Dämonen, Auflistung der Herrscher, Generäle, Könige und Heerführer, Beschwörungs- und Zauberformeln sowie Portale zu anderen Dimensionen.
 

Sollte das Buch jemals in die Hände eines Menschen geraten, der die schwarzen Künste beherrscht, so könnte er mit dessen Hilfe über die Dämonen gebieten und sich ihre Fähigkeiten zu Nutze machen. Es wird ihm möglich, durch Portale in andere Dimensionen zu schlüpfen oder sogar Tote zum Leben zu erwecken. Doch allein schon das Lesen dieses Buches kann verheerende Konsequenzen haben. Und nicht selten hat das Necronomicon seinen Leser um den Verstand gebracht.

Sally Lebt

1. Blogeintrag vom 13. November 2012, 16:57 Uhr
 

Seit Anfang des Jahres kursieren im Internet immer mehr Gerüchte über ein Video des verstorbenen Disneyzeichners Fred Moore. Es heißt „Happy Sally“. Dieser Film entstand ungefähr in den 30ern, das genaue Datum ist zwar unbekannt, jedoch wird es zu Moores früheren Werken gezählt. Der Film ist ein Ein-Mann-Projekt gewesen und soll zum Teil sehr verstörende Szenen beinhalten. Da die Filmrolle schwer beschädigt worden war, konnte nur ein Teil des Films gerettet und auf DVD gespielt werden. Zu sehen ist ein Mädchen in einem gepunkteten Kleid und einer Schleife im Haar, das in die Kamera schaut und lacht, während im Hintergrund eine Stadt in Trümmern liegt. Es sollen zwischendurch Szenen eingeblendet werden, in denen Frauen und Kinder brutal gefoltert werden. Hierbei handelt es sich nicht um eine Animation, sondern um reale Aufnahmen. Die Existenz von „Happy Sally“ wurde zum ersten Mal der Öffentlichkeit bekannt, als ein Praktikant die sichergestellten Filmszenen auf Youtube stellte. Dieses Video wurde jedoch gesperrt, der Account gelöscht. Diese kurze Zeitspanne reichte allerdings aus, um weltweit eine Flut von Gerüchten auszulösen, in denen über die Echtheit des Videos diskutiert wurde. Die Meinungen über „Happy Sally“ sind zweigeteilt. Allgemein wird vermutet, dass es sich bei dem Video bloß um eine Fälschung handelt. Viele sind auch der Meinung, dass der Film gar nicht existiere und dass es sich lediglich um einen Scherz handle, den sich zwei Spinner ausgedacht hätten. Aber ich hegte ernsthafte Zweifel an dem Gerücht, „Happy Sally“ sei eine Fälschung. Fred Moore, der von seinen Kollegen und seiner Familie immer nur „Freddie“ genannt wurde, war diese dunkle Seite durchaus zuzutrauen. Fred Moore war mein Großonkel und ich habe nicht sehr viel Positives über ihn gehört. Meine Eltern beschrieben ihn als ein wenig exzentrisch, was aber bei einem Genie wie ihn nicht sehr ungewöhnlich war. Aber der Stress und der Druck, der auf ihn lastete, hatten ihn wohl verändert. Freddie hatte ein ernsthaftes Alkoholproblem, nachdem er entlassen wurde und wie mir mein Vater erzählte, war er auch depressiv. Natürlich hatte er immer noch hervorragende Arbeit geleistet, trotz dieser Probleme, aber seine Kollegen beobachteten, dass Freddie immer merkwürdiger wurde. Die Abgründe der Menschheit faszinierten ihn mehr, als fröhliche Zeichentrickfiguren. Wahrscheinlich hat er den Film „Happy Sally“ gar nicht in den 30ern erstellt, sondern kurz vor seinem Tod. Wenn dem so war, dann war „Happy Sally“ erst zwanzig Jahre später entstanden. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Freddie den Film kurz vor seinem Tod abgeändert hat. Das wäre sogar wahrscheinlicher. Das würde auch gleichzeitig die Frage aufwerfen, ob noch weitere Filme wie „Happy Sally“ existieren. Wie ich aber von dem Praktikanten erfuhr (sein Name wird anonym bleiben), war die angefertigte DVD während seiner Abwesenheit zusammen mit den Filmrollen verbrannt worden. Lediglich die Kopie konnte gerettet werden. Demnach muss es noch Mitwisser im Disney Studio geben, die über Freddies Neigungen Bescheid wussten und Beweise vernichten wollten. Was mich außerdem noch beschäftigt, sind diese Folterungsszenen. Wenn diese tatsächlich echt sind, woher stammen sie dann?

Ich werde meine gesammelten Erkenntnisse in diesem Blog hier veröffentlichen, damit ein für alle Mal diese verdammten Gerüchte aufhören und meine Familie nicht mehr belästigt wird. Bleibt nur zu hoffen, dass auch nicht diese Einträge in den Weiten des Internets verschwinden oder gesperrt werden.

Ich habe seit Tagen übrigens mehrfach versucht, den Praktikanten zu kontaktieren, der den Film „Happy Sally“ ausgegraben und veröffentlicht hat. Doch er ist weder über E-Mail noch über Telefon und Handy zu erreichen, weshalb mir nichts anderes übrig blieb, als seine Cousine anzurufen, die den Film ebenfalls gesehen hat. Sie verstand mich aber leider nur sehr schlecht am Telefon, weil sie die englische Sprache eher mehr in Schrift beherrsche. Deshalb bat sie mich, ihr eine E-Mail zu schreiben. Nachdem sie diese erhalten hatte, bekam ich einen groben Bericht über das, was geschehen war. Zum Teil war dieser auch sehr schwierig zu entziffern, da die Cousine, wie bereits erwähnt, die englische Sprache nicht sehr gut beherrscht. In ihrer Mail schrieb sie, dass ihr Cousin knapp zwei Wochen, nachdem er die Filmfragmente auf Youtube gestellt hatte, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Er sei auf dem Gelände des Disneystudios von einem heranfahrenden Wagen erfasst und überrollt worden. Vom Unfallauto und vom Fahrer fehlten jedoch jede Spur. Seine Cousine habe sich daraufhin bei den Betreibern des Studios erkundigt, allerdings scheint dort niemand etwas bemerkt zu haben. Oder zumindest will dort niemand etwas bemerkt haben. Sowohl die Cousine und ich haben da unsere eigene Theorie. Es ist zudem auch noch ein wenig seltsam, dass der Praktikant genauso wie mein Großonkel Fred Moore an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben ist. Diese Parallelen haben wir beide gesehen und nun fürchtet die Cousine um ihre eigene Sicherheit. Solange sie sich in ihrem Heimatland aufhält, sehe ich eigentlich keinen Grund zur Sorge. Aber trotzdem hat sie Angst, die DVD mit dem Film zu behalten. Ich habe ihr schließlich vorgeschlagen, mir die DVD zu schicken. Nur durch Zuspruch konnte ich sie davon überzeugen, mir den Film per Post zu schicken. Allerdings wird es noch dauern, bis es hier ankommen wird. Ich werde als Nächstes die ehemaligen Kollegen meines Großonkels aufspüren, in der Hoffnung, dass noch welche am Leben sind und mir Auskunft geben können.
 

Update vom 20. November 2012, 20:55 Uhr
 

Es ist mir gelungen, einen ehemaligen Tontechniker und Cutter ausfindig zu machen, der schon im Altenheim lebt. Er ist inzwischen schon 95 Jahre alt und auch nicht mehr ganz so fit im Kopf wie vor zwanzig Jahren. Er hat in den 30ern und 40ern mit meinem Großonkel zusammengearbeitet und er erklärte sich bereit, mit mir zu sprechen, nachdem ich ihm sagte, dass ich Freddie Moores Großnichte bin. Mr. Smith (Namen der Beteiligten werden zu ihrem Schutz geändert) lebte, wie bereits gesagt, in einem Altenheim und war auch bereits auf einem Auge blind. Er war so zittrig und gebrechlich, dass ich mir schon ernsthaft Sorgen machte, dass die Fred Moore Geschichte vielleicht zu anstrengend für ihn werden könnte. Aber wie sich herausstellte, war er fitter, als es den Anschein machte. Mit etwas heiserer Stimme begrüßte er mich und bot an, die ganze Sache bei einer Tasse Tee zu besprechen. Mr. Smith wirkte auf mich etwas einsam und ich befürchtete, dass er nur sehr selten Verwandtenbesuch bekam und darum sehr froh war, mit jemandem sprechen zu können. Ein wenig tat er mir schon Leid. Mr. Smith war ein sehr zuvorkommender Mann, aber er hörte bereits sehr schlecht und musste seine Hörgeräte lauter stellen, um mich zu verstehen. Ich stellte mich erneut als Fred Moores Großnichte vor und bei der Erwähnung seines Namens zuckte Mr. Smith unmerklich zusammen, als würde er sich an etwas Unangenehmes erinnern. Mein Gespür sagte mir, dass ich mich an den Richtigen gewandt hatte. Doch ich musste es langsam angehen, ich wollte den alten Mann nicht überfordern. Bevor wir mit dem Interview begannen, holte ich das Aufnahmegerät heraus, um auch alles aufzuzeichnen. Ich fasse im Großen und Ganzen die wichtigsten Teile des Gesprächs zusammen:
 

„Also Mr. Smith, könnten Sie mir etwas über meinen Großonkel erzählen? Nehmen Sie sich ruhig die Zeit, die Sie brauchen.“
 

„Danke Miss Moore. Also ich hab den alten Freddie gut gekannt, ich habe schon des Öfteren mit ihm zusammengearbeitet. Vielleicht kennen Sie den Film „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. Daran haben Freddie und ich ebenfalls gearbeitet. Der Kerl war schon immer ein genialer Zeichner gewesen, aber er war nicht so ganz richtig im Kopf. Er hat sich sehr für die damalige deutsche Regierungsform und die politische Gesinnung interessiert.“
 

„Sie meinen, er war Nazi-Sympathisant?“
 

„Nein, es ging ihm einzig und allein um die menschlichen Abgründe… um das Elend, das die Menschen in den Konzentrationslagern erleiden mussten. Es ist schwer zu erklären… er war wie besessen. Das war schon fast unheimlich.“
 

„Freddie soll einen Zeichentrickfilm namens „Happy Sally“ gemacht haben. Was wissen Sie darüber?“
 

„Oh Gott, „Happy Sally“. Wie könnte ich dieses Teufelswerk bloß vergessen? Freddie nannte es sein Meisterwerk. Er war besessen von Sally und hat immer mit ihren Zeichnungen gesprochen, als wäre es seine Tochter. Die ganzen Wände waren mit Zeichnungen tapeziert. Solch ein Engagement hatte er nicht einmal für seine anderen Werke gezeigt. Schließlich hat er mir seinen Film stolz präsentiert und immer wieder davon gesprochen, dass es sein größtes Meisterwerk sei. Der Film war ein einziger Alptraum.“
 

„Wer hat ihn noch gesehen?“
 

„Fast all seine anderen Kollegen. Die Reaktionen können Sie sich nicht vorstellen. Einige hatten Tränen in den Augen, andere mussten sich übergeben bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Und seit diesem Tag verfolgt uns Sally.“
 

„Was meinen Sie damit?“
 

„Manchmal, wenn es still ist, kann ich ihr Gelächter hören. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie deutlich vor mir sehen, wie sie mich anlacht. Seit über sechzig Jahren geht das so und auch jetzt kann ich sie lachen hören. Manchmal glaube ich sogar, sie für einen Augenblick am Fenster zu sehen, wie sie mich angrinst mit diesen unheimlichen Augen. Ich stand oft kurz davor zu glauben, ich würde verrückt werden.“
 

„Ein Praktikant hat die Filmrolle gefunden und angesehen. Er und seine Cousine scheinen nicht von Sally verfolgt zu werden.“
 

„Sie haben ja auch nicht den ganzen Film gesehen. Es gab weitaus schlimmere Szenen als jene, die die Leute gesehen haben. Ich will gar nicht darüber sprechen, was das war. Es war einfach zu schrecklich. Und während wir fassungslos auf die Leinwand gestarrt haben, lächelte Freddie voller Stolz und grinste wie ein kleines Kind am Weihnachtsabend. Er war verrückt und zum ersten Mal hatten wir Angst vor ihm.“
 

„Was war mit dem Unfall, den er erlitten hatte?“
 

„Dazu möchte ich nichts sagen. Aber seien Sie versichert: Es war das Beste für alle Beteiligten und wir wollten unbedingt dieses Teufelswerk loswerden. Ich nahm ein Messer und stach auf diese verfluchte Filmrolle ein. Wir wollten sie verbrennen, aber sie verschwand plötzlich und selbst als wir alles auf den Kopf stellten, fanden wir sie nicht. Und jetzt ist sie nach all der Zeit wieder aufgetaucht und mit ihr ist auch Sally wieder zurückgekehrt.“
 

„Sie reden von Sally, als sei sie real, ein lebendiges Wesen.“
 

„Pah, Sie haben ja keine Ahnung Miss Moore. Sie haben nicht die geringste Ahnung. Wenn Sie einen guten Rat von mir hören wollen: Lassen Sie die Finger von dem Film. Sonst wird Sally Sie auch noch um den Verstand bringen.“
 

Das Gespräch zog sich ungefähr zwei Stunden hin und Mr. Smith machte auf mich irgendwie den Eindruck, als sei er auch irgendwie besessen von dieser Sally-Geschichte. Er sprach die ganze Zeit von ihr, wie von einer lebendigen Person. Dabei war sie nur eine Filmfigur, ein Zeichentrickcharakter und nicht mehr. Wahrscheinlich war er auf seine alten Tage ein wenig verschroben geworden. Es war ausgeschlossen, dass irgendwelche Teufel oder Geister mit dieser Sache zu tun hatten. „Happy Sally“ mochte zwar einiges sein, aber es war weder das personifizierte Böse noch das Werk des Teufels. Trotz dieser verstörenden Inhalte war es im Grunde nur ein Film! Auf meine Fragen, woher mein Großonkel diese Folterszenen hatte, konnte mir Mr. Smith keine Antwort geben. Er vermutete aber, dass Freddie mit sehr üblen Subjekten verkehrt habe, von denen er wahrscheinlich das Material hat. Trotz dieser unheimlichen Worte von Mr. Smith werde ich weitersuchen und rein logisch an die Sache rangehen.
 

Update vom 1. Dezember 2012, 22:30 Uhr
 

Die DVD mit dem Film ist mit der Post angekommen und ich habe sie mir direkt angesehen. Ich kann kaum in Worte fassen, was ich gesehen habe. Allein schon die Vorstellung, dass dies nur einen Teil von dem Schrecken darstellt, von dem mir Mr. Smith erzählt hat, macht mir Angst. „Happy Sally“ ist, ohne Übertreibung, das Unheimlichste und Verstörendste, was ich jemals in meinem Leben gesehen habe. Nachdem der Film endlich zu Ende war, habe ich die ganze Nacht nicht schlafen können und wenn ich mal für drei Stunden eingeschlafen war, hatte ich schreckliche Alpträume. In meinem Traum sah ich Sally, wie sie inmitten einer zerstörten Stadt stand und mich anlachte. Schließlich jedoch erstarb ihr Gelächter und sie sah mich mit einem unheimlichen Gesichtsausdruck an. Ein schiefes Grinsen spielte sich auf ihre Lippen und sie sagte mir „Warum so ernst? Lach doch, Jesus liebt dich!“ Ich schrieb der Cousine des verstorbenen Praktikanten eine E-Mail, erhielt aber keine Antwort und versuchte, sie telefonisch zu erreichen. Von der Familie erfahre ich, dass sie Selbstmord begangen habe. Kurz nachdem sie die DVD verschickt hätte, habe sie sich mit einer Nagelschere die Augen ausgestochen und dabei wie wahnsinnig gelacht. Der Fall „Happy Sally“ beginnt bereits eine blutige Spur zu ziehen. Mit Freddie sind inzwischen zwei Tote zu verzeichnen und mich beschleicht das Gefühl, als würden es nicht die letzten Opfer dieses unheilvollen Filmes sein. Ich habe die DVD fürs erste im Laufwerk meines Laptops gelassen und wollte im Internet weitere Recherchen zu der Herkunft der Folterszenen betreiben. Die Chance, jemals eine Antwort zu finden, war gering, aber ich wollte sie nicht ungenutzt lassen.
 

Ich habe soeben eine E-Mail erhalten, die zuerst im Spam-Ordner gelandet ist. Den Absender der Mail habe ich nicht erkennen können, aber der Inhalt erklärte so einiges:

„Sally lebt“

Ich fragte Steve, einen Kollegen um Rat, ob er nicht vielleicht den Absender dieser E-Mail aufspüren könnte, aber wie sich herausstellte, ist sie anonymisiert. Das bedeutet, dass es mir unmöglich ist, den Kerl aufzuspüren, der mir diese Nachricht geschickt hat. Ich gehe einfach mal davon aus, dass es irgendein Spaßvogel war, der meine Einträge gelesen hat und sich nun einen Scherz mit mir erlauben will. Ich sage nur: Sehr witzig… Idiot. Ich habe die Mail gelöscht und konzentrierte mich wieder auf mein eigentliches Ziel: Die Erbsachen meines Großonkels. Wenn er wirklich so besessen von Sally war, dann müssen noch Zeichnungen von ihr existieren. Ein Zeichentrickfilm lässt sich nun mal nicht ohne Storyboard und anderen Hilfsmitteln erstellen und so wie ich die Sache einschätze, muss der ganze Krempel noch irgendwo gelagert sein. Also fragte ich meinen Großvater, ob er vielleicht wüsste, wo die Sachen seines Bruders zu finden seien. Wie sich aber herausstellte, waren die meisten Sachen entweder verkauft oder weggeworfen worden. Es war einfach zu viel, als dass man hätte alles aufbewahren können. Also spezifizierte ich meine Frage und erkundigte mich, ob Freddie nicht vielleicht etwas in einem Testament festgelegt hätte. Und tatsächlich existierte solch ein Testament. Es war ziemlich einfach gehalten, denn Fred Moore hatte trotz seines Erfolges nie ein großes Vermögen besessen. Das Meiste sei sowieso für seine Sauferei draufgegangen, erklärte mir mein Großvater mit einem leisen Vorwurf im Unterton. Hauptsächlich ging es in dem Testament um einen Koffer, der um nichts in der Welt weggeworfen oder vernichtet werden durfte. Er enthalte seine wichtigsten Besitztümer und niemand dürfe sie jemals sehen. Da aber schon fast sechzig Jahre seit dem Tod seines Bruders vergangen waren, erklärte sich Großvater bereit, mir den Koffer für meine Recherchen auszuhändigen. Ich holte das gute Stück bei Gelegenheit ab und öffnete mit ihm zusammen den Koffer, da er auch interessiert war, was sein werter Bruder da bloß verwahrte. Zum Vorschein kamen Skizzenblöcke und Notizen, Zeichnungen und eine alte Filmrolle. Auf all diesen Zeichnungen war Sally zu sehen, wie sie lachte, aber die Skizzenblöcke waren ein wenig anders. Sie zeigten Sally, wie sie die Straße entlang ging oder sich mit Seilspringen und Ballspielen beschäftigte. Die Skizzen waren sehr detailliert, zu detailliert für eine einfache Zeichentrickszene. Als hätte mein Großonkel einen echten Menschen gezeichnet. Ich nahm die Bilder näher unter die Lupe und konnte etwas Interessantes ausmachen: Ein Ladenschild, wo drauf stand „Müllers Änderungsschneiderei“. Es musste sich um einen deutschen Namen handeln. Aber welchen Grund sollte mein Großonkel haben, eine Szene im damaligen Nazi-Deutschland zu zeichnen, wenn es doch viel einfacher war, örtliche Szenen zu zeichnen? Es war schon ein wenig merkwürdig, denn zu der damaligen Zeit war das Hitlerregime für ausländische Filmemacher und Zeichentrickproduzenten ein eher unangenehmes Thema. Allein schon der Cartoon mit Donald Duck in Nazi-Deutschland hatte für einen Skandal gesorgt, besonders als er den Hitlergruß machte. Zwar wurden Jahre später immer mehr Filme zu diesem Thema gedreht, aber da war auch schon ein wenig Gras über die Sache gewachsen und man ging auch heutzutage ganz anders mit dem Thema um. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Mr. Smith, der mir sagte, dass Freddie fasziniert vom damaligen Hitlerregime war. Ich fragte meinen Großvater, ob er vielleicht wüsste, ob sein Bruder jemals verreist wäre. Tatsächlich gab er an, dass Freddie sich für ein paar Wochen im Jahre 1933 in Deutschland aufgehalten hätte. Und während dieser Zeit musste auch seine Obsession begonnen haben. Kann es vielleicht sein, dass die Vorlage zu Sally auf einer lebenden Person basierte? Wenn ja, dann hatte Sally damals wirklich existiert. Aber was an ihr hat meinen Großonkel so fasziniert, dass er solch eine Obsession entwickelte? Der Sache werde ich auf jeden Fall in den nächsten Tagen nachgehen.
 

Update vom 22. Dezember 2012, 09:50 Uhr
 

Ich schreibe von Deutschland aus, nachdem ich einen günstigen Nachtflug buchen konnte. Eigentlich hätte ich schon gestern geschrieben, aber aufgrund von Wetterturbulenzen hat sich der Flug um drei Stunden verspätet. Das Wetter ist kalt und verschneit. Ich habe mir ein recht billiges Hotelzimmer in einer Kleinstadt gebucht und bin also eigentlich schon seit gestern hier. Dummerweise sind bald die Weihnachtsfeiertage und das erschwert mir die Suche. Die Zeichnung, die mir den Hinweis auf Deutschland gab, habe ich schon vor meiner Abreise eingescannt und eine Internetsuchaktion gestartet, in der Hoffnung, dass jemand die Örtlichkeit wieder erkennt. Schließlich bekam ich den Tipp, mich im ländlichen Teil von Nordrhein-Westfalen umzusehen. Momentan ist die ganze Gegend aber zu stark eingeschneit, als dass ich vernünftig vorwärts komme. Also bleibt mir momentan nur das Internet. Die Filmrolle, die ich im Koffer von Freddie fand, habe ich auf DVD gespielt, um sie mir in aller Ruhe auf meinem Laptop anzusehen. Ich wollte sie lieber nicht in der Anwesenheit meines Großvaters ansehen. Auf seine alten Tage wollte ich ihm so etwas nicht zumuten. Bei passender Gelegenheit werde ich sie mir ansehen.
 

Update 10:30 Uhr
 

Irgendetwas Merkwürdiges geht mit meinem Handy vor sich. Ich habe gerade ein Dutzend SMS bekommen und sie alle erhielten nur ein Bild, nämlich das von „Happy Sally“. Und es werden immer mehr. Ich dachte zuerst, das wäre ein ziemlich mieser Scherz, aber wer sollte mir diesen Scherz denn spielen? Außer meiner besten Freundin, meiner Familie und meinem Chef habe ich sonst niemandem meine Nummer gegeben. Auch mein Spam-Ordner ist brechend voll mit merkwürdigen E-Mails, die allesamt Bilder von der lachenden „Happy Sally“ enthalten. Da mir das für einen harmlosen Scherz schon ein wenig suspekt erscheint, habe ich mich umgehört und tatsächlich scheint es einige Fälle zu geben, die immer wieder Bilder von Sally erhalten.
 

Update 15:22 Uhr
 

Ich habe mir den Film angesehen und ehrlich gesagt wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Es war der vollständige Film von „Happy Sally“, offenbar eine Kopie, die Freddie damals angefertigt hat. Ich kann nur sagen, dass diese Szenen all das übertreffen, was die Öffentlichkeit bis jetzt gesehen hat. Es gab nämlich noch mehr Folterszenen, die noch entsetzlicher waren, als das herausgeschnittene Auge oder die zerstückelte Zunge. Ich habe gesehen, wie Kinder bei lebendigem Leibe gehäutet wurden, abgemagerte Frauen in Gaskammern verendeten und Männern bei vollem Bewusstsein ihre Organe entnommen wurde. Und die ganze Zeit hörte ich dieses schreckliche Lachen von Sally. Als der Film zu Ende war, habe ich nur noch geweint. Jetzt verstehe ich auch die Worte von Mr. Smith, der Freddies Unfalltod als notwendig bezeichnete. Wer so einen Film anfertigt, der ist einfach nur krank. Dieser Film lässt mich einfach nicht mehr los, immer wieder sehe ich vor meinem geistigen Auge diese schrecklichen Bilder und höre Sallys Lachen. Mir ist schlecht und ich kann nichts essen, obwohl das letzte Sandwich schon 12 Stunden zurückliegt.
 

Update 24. Dezember 2012, 05:20 Uhr
 

Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht und finde auch jetzt keine Ruhe. Dieses verdammte Video geht mir einfach nicht aus dem Kopf und es vergeht wirklich keine Minute, wo ich nicht dieses Gelächter höre. Ich werde versuchen, ein wenig Schlaf zu finden.
 

Update 27. Dezember, 09:33 Uhr
 

Seit ich diesen Film gesehen habe, kann ich nicht mehr schlafen. Immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich diese entsetzlichen Bilder… und Sally. Ihr Lachen spukt in meinem Kopf herum und bringt mich noch um den Verstand, wenn das so weitergeht. Sallys Gesicht grinst mich überall an. Manchmal bilde ich mir sogar schon ein, dass sie direkt hinter mir steht. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Film dermaßen fertig machen kann. Selbst jetzt muss ich heulen, weil ich einfach fertig mit den Nerven bin. Ich hab mir in der Apotheke Tabletten gekauft, um endlich mal ein wenig Ruhe zu finden. Lange halte ich das nicht mehr durch. Allmählich glaube ich, dass ich überall von Sally verfolgt werde. Fast schon stündlich erhalte ich dutzende von E-Mails mit Nachrichten wie „Sally lebt“ oder „Sally sieht dich“ und „Sally will spielen“. Selbst auf dem Handy bekomme ich ständig diese Nachrichten. Ich habe sogar schon meine E-Mailadresse geändert und auch eine neue Sim-Karte gekauft, doch das hat nicht geholfen. Selbst mitten in der Nacht bekomme ich Nachrichten. Vor knapp drei Minuten habe ich schon wieder eine SMS bekommen. Und wieder begrüßte mich dieses unheimliche Bild der lachenden Sally. Die Nachricht darunter lautet wortwörtlich: „Sally kommt zu dir“. Allmählich bezweifle ich, dass das bloß ein Scherz ist. Da will mich irgendjemand fertig machen und egal wer es ist, er steckt wirklich viel Energie rein.
 

Update 29. Dezember 2012, 14:20 Uhr
 

Endlich habe ich mal für ein paar Stunden ein Auge zumachen können. Aber Sally verfolgt mich schon in meine Alpträume. Ich kann nicht mehr… ich will, dass es endlich aufhört! Sally, bitte verschwinde endlich und lass mich in Ruhe.
 

Update 15:15 Uhr
 

Ich… ich habe sie gesehen. Sally stand auf der anderen Straßenseite und grinste mich direkt an. Sie starrte mich mit diesen zwei leeren, blutigen Höhlen an und blutete aus dem Mund und aus dem Hals. Ihre Bewegungen waren unbeholfen und ein wenig starr. So wie die einer Puppe, die man zum Leben erweckt hat. Ich war so vor Angst erstarrt, dass ich weder weglaufen noch schreien konnte. Dann begann sie zu sprechen und sagte mir „Hey, warum denn so ein entsetztes Gesicht? Lach doch, Jesus liebt dich!“ Und dann war sie plötzlich verschwunden. Mit einem Augenschlag war sie einfach weg, als wäre sie nie da gewesen. Diese kranke Scheiße macht mich allmählich verrückt. Ich weiß nicht, ob sie jetzt wirklich da gewesen ist, oder ob ich mir das alles bloß eingebildet habe. Bin ich die Einzige, die sich verfolgt fühlt oder spielt mir mein Verstand Streiche? Auch mit meinem gesundheitlichen Zustand steht nicht zum Besten. Meine Kopfschmerzen werden immer schlimmer (wahrscheinlich durch den Schlafmangel) und mir ist schlecht. Ob ich vielleicht krank werde? Vielleicht sollte ich die ganze Sache einfach abblasen und nach Hause zurückkehren. Aber ich habe mich jetzt extra hierher bemüht und zig Stunden Flug in Kauf genommen, also wäre es doch Quatsch, jetzt einfach aufzuhören. Da das Wetter sich deutlich gebessert hat und der Schnee endlich schmilzt, werde ich mich auf die Suche machen. Hoffentlich hab ich mehr Erfolg, auch wenn die Aussichten eher schlecht sind.
 

Update 23:12 Uhr
 

Ich bin erst vorhin wieder zurückgekommen und sehe, dass die DVD verschwunden ist. Sie ist weg! Einfach weg! Das ganze Zimmer habe ich auf den Kopf gestellt, aber sie ist nirgendwo. Dabei habe ich sie extra im Laptoplaufwerk gelassen, damit ich sie nicht verliere. Seltsamerweise wurde sonst nichts gestohlen. Mein Laptop sowie mein Schmuck ist noch da, wo ich ihn zurückgelassen habe und Einbruchsspuren gibt es auch nicht. Wer immer auch eingebrochen ist, er hatte es auf die DVD abgesehen. Was meine Suche betrifft, so habe ich im Stadtarchiv etwas Interessantes gefunden: Ein Foto, welches ein Mädchen zeigt, das Sally bis aufs Haar gleicht. Aber was das Unheimlichste an diesem Foto ist, das ist das Motiv! Sally schaut in die Kamera und lacht, während hinter ihr die Stadt in Trümmern liegt. Das Foto stammt vom 13. April 1934 und das wirft die Frage auf, warum die Stadt in Trümmern liegt, wo doch der zweite Weltkrieg erst zehn Jahre später beginnt? Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sally etwas mit all dem zu tun hat, auch wenn dies jeglicher Logik entbehrt. Mein Großonkel muss während seiner Deutschlandreise etwas herausgefunden haben, was ihn regelrecht besessen machte. Und Sally hat damit wahrscheinlich mehr zu tun, als es den Anschein hat. Ich werde das Foto ins Netz stellen. Falls jemand von euch ähnliche Bilder schon mal irgendwo gesehen hat, der kann mich gerne anschreiben.
 

Update 23:37 Uhr
 

Verdammt, ich habe gerade gesehen, dass der Film ins Internet gestellt wurde. Offenbar hat jemand vor, Sally über die ganze Welt zu verbreiten. War das etwa der wahre Grund gewesen, warum die Kollegen meines Großonkels die Filmrollen mit aller Macht vernichten wollten? Um zu verhindern, dass sich Sally über die ganze Welt verbreitet? Noch schlimmer ist aber die Tatsache, dass es von meinem Laptop aus hochgeladen wurde! Das bedeutet, dass der Einbrecher nicht nur die DVD gestohlen, sondern auch meinen Laptop benutzt und den Film hochgeladen hat. Ich muss es sofort löschen, bevor es noch jemanden erwischt.
 

Update 30. Januar, 00:02 Uhr
 

Ich habe wirklich alles versucht, aber aus irgendeinem Grund habe ich keinen Zugriff mehr auf meinen Account. Sowohl mein Passwort als auch meine E-Mail Adresse wurden geändert und darum kann ich das Video nicht mehr selbst löschen. Ich habe mich daraufhin an die Betreiber der Seite gewandt, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste. Zum Glück reagierten sie sofort und sperrten das Video. Eigentlich sollte ich erleichtert darüber sein, aber kurz darauf erhielt ich eine SMS, in welcher stand „Sally ist verärgert!“ Inzwischen glaube ich nicht, dass Mr. Smith verrückt war, als er von Sally wie von einer lebenden Person sprach. Langsam beginne ich auch zu glauben, dass Sally wirklich existiert. Und ihr Ziel ist es offenbar, sich über die ganze Welt zu verbreiten. Wer oder was genau ist Sally wirklich? Je näher ich der Antwort komme, desto aggressiver wird sie und ich fürchte, dass ich noch einen sehr hohen Preis zahlen würde, wenn ich mich weiterhin mit ihr beschäftigte.
 

Update 14:57 Uhr
 

Ich habe vor knapp einer Stunde eine Nachricht von einem gewissen Jack E. erhalten, der sich ebenfalls mit Sally zu beschäftigen scheint. Er erzählte mir, dass es noch andere Bilder mit Sally gebe. Jedoch seien sie nicht allein in Deutschland gemacht worden. Diese schickte er mir als E-Mail Anhang und er erwähnte außerdem, dass er diese Bilder von seiner Großmutter hat. Sie sei zwar inzwischen längst verstorben, jedoch haben sich unzählige Fotos in ihrem Nachlass gefunden. Viele stammen sogar noch von ihrer Mutter und waren dementsprechend uralt, als der Fotoapparat vielleicht noch in den Kinderschuhen steckte. Es waren insgesamt sieben Fotos. Das erste war datiert mit „San Francisco 1908“. Es zeigte zerstörte Häuser, Rauch in der Ferne und überall Verletzte. Und ich sah Sally. Sie stand etwas weiter im Hintergrund und wirkte fröhlich und ausgelassen. Sie hatte die Arme ausgebreitet und schien zu tanzen, inmitten dieser Zerstörung. Das zweite Foto zeigte ein Schlachtfeld, Soldaten mit Gewehren, die wehrlose Zivilisten durch die Stadt jagten und niederschossen. Sally stand seelenruhig am Straßenrand, lachte und beobachtete das Geschehen. Aber niemand auf dem Foto schien sie zu beachten… oder zu sehen. Alle Bilder zeigten entweder Kriegs- oder Katastrophenszenarien und in allen war Sally zu sehen. Es scheint, als würde sie immer dort auftauchen, wo ein großes Unglück von gewaltigem Ausmaße stattfand. Und das Sally-Phänomen scheint sich global zu erstrecken. Demnach müsste es noch mehr Fotos von ihr geben. Doch warum ist sie ausgerechnet auf solchen Fotos zu sehen? Zieht sie der Anblick von Chaos, Elend und Zerstörung magisch an oder steckt vielleicht mehr dahinter? Fakt ist, dass niemand auf den Fotos sie zu sehen scheint und auf allen ist sie am Lachen, als bereite ihr das alles großen Spaß. Der Gedanke liegt nahe, dass diese Fotos auch genauso gut gefaked sein können. Aber um ehrlich zu sein, zweifle ich immer weniger daran, dass sie echt sind. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es Dinge gibt, die über unseren gesunden Menschenverstand hinausgehen und die man wohl nicht logisch erklären kann. Zu Anfang dieser Suche war ich noch fest der Überzeugung gewesen, dass Sally bloß das Fantasieprodukt meines Großonkels war oder zumindest, dass sie mal wirklich gelebt hat. Vielleicht hat sie tatsächlich mal gelebt, doch warum zieht es sie so sehr an solche Schauplätze und warum will sie unbedingt, dass sich ihr Film verbreitet?
 

Update 18:16 Uhr
 

Soeben habe ich eine weitere E-Mail erhalten, die wieder ein Foto von Sally enthält. Aber dieses Mal ist es anders. Es zeigte im Hintergrund mein Hotelzimmer. Irrtum ausgeschlossen! Zum ersten Mal habe ich es richtig mit der Angst zu tun bekommen und daraufhin sofort ausgecheckt. Ich werde keine Sekunde länger mehr in diesem verdammten Hotel bleiben, jetzt wo ich weiß, dass Sally hier sein könnte. Noch heute werde ich sofort einen Flug buchen und nach Hause zurückkehren.
 

Update 3. Januar 2013, 04:12 Uhr
 

Ich schreibe diesen Eintrag von meinem Handy aus. Soeben bin ich mit dem Flugzeug angekommen und noch nie war ich so froh, wieder zuhause zu sein. Diese Sally-Sache wird mir langsam zu unheimlich und ich habe keine Lust, mich noch länger diesem Terror auszusetzen.
 

Update 04:15 Uhr
 

Soeben habe ich eine SMS erhalten: „Sally weiß, wo du bist.“ Ich habe Angst und will einfach nur noch zu meiner Familie.
 

Update 10:34 Uhr
 

Meiner Familie habe ich noch nicht konkret gesagt, was wirklich los ist. Sie hätten mir das Ganze sowieso nicht geglaubt und so habe ich ihnen nur gesagt, dass ich seit geraumer Zeit gestalkt werde und dass ich deswegen Angst hätte. Die Fenster sind geschlossen, die Jalousien unten und ich habe mich vollkommen verbarrikadiert. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das auch wirklich ausreichen wird, um mir Sally vom Hals zu halten.
 

Update 10:36 Uhr
 

Gerade habe ich eine weitere SMS erhalten: „Du kannst nicht vor Sally weglaufen“. Sally, lass mich endlich in Frieden! Ich will das nicht mehr. Bring es endlich zu Ende aber hör bitte mit diesem verdammten Terror auf!
 

Update 16. Februar 2013, 17:23 Uhr
 

Entschuldigt, dass ich erst wieder schreibe. Ich habe dringend eine Auszeit gebraucht, sonst wäre ich noch verrückt geworden. Falls ihr euch Sorgen gemacht habt, dann bitte ich, mir dies zu verzeihen, aber ich wollte mich einfach nicht mehr mit diesem Thema beschäftigen. Seit meinem letzten Eintrag habe ich nichts mehr von Sally gehört und sie scheint sich vollständig zurückgezogen zu haben. Zumindest ist es in meinem Falle so. Ich weiß nicht, wie es um all die anderen steht, die Sallys Video gesehen haben und daraufhin von ihr heimgesucht wurden. Angeblich soll es seitdem mehrere Selbstmorde oder Zwangseinweisungen in Nervenheilanstalten gegeben haben, aber ich hoffe, dass dies bloß nur Gerüchte sind. Ich weiß auch nicht, ob es nur die Ruhe vor dem Sturm ist und uns noch etwas viel Schlimmeres bevorstehen wird, oder ob es wirklich das Ende ist. Auch wenn ich das Geheimnis um Sally noch nicht vollständig lösen konnte, will ich dieses Thema nie wieder auffassen. Zum Schutze meiner Familie und meiner selbst habe ich die Filmrolle mit Sally Film verbrannt. Aber die DVD ist nach wie vor verschwunden und es steht zur Befürchtung, dass sie eines Tages wieder ihren Weg an die Öffentlichkeit finden wird. Sally findet immer einen Weg. Bis es soweit ist, werde ich alles vernichten, was mit ihr zu tun haben könnte. Auch die DVD, die der Praktikant erstellt hat, habe ich ebenfalls verbrannt und ich hoffe inständig, dass dieser Spuk vorbei ist.
 

Update 17. März 2013, 19:38 Uhr
 

Ich habe mir die Fotos von unserem gestrigen Familientreffen angesehen. Auf allen Fotos ist Sally zu sehen. Sie winkt in die Kamera und grinst mich durch das Foto an. Sie...
 

Letztes Update 19:39 Uhr
 

Sally ist hier

Dathan

Ich war noch an der High School, als ich Dathan Lumis Kinsley das erste Mal traf. Er sah unheimlich und düster aus. Wie jemand, der in kürzester Zeit in der Schule einen Amoklauf plante und jetzt schon überlegte, wen er als ersten umbringen sollte. Um ehrlich zu sein, hat er mir allein schon vom Aussehen her Angst eingejagt. Kein Wunder, denn Dathan trug stets einen Mundschutz, wie ihn die Chirurgen bei einer OP trugen. Seine roten Augen schienen wirklich jeden Menschen mörderisch anzufunkeln und dieser raue Emo Look beschönigte diese Tatsache auch nicht besonders. Dathan war ein sehr schweigsamer Typ, der nicht sehr viele Freunde hatte. Besonders nicht in seiner Klasse. Nur dieser neue Mitschüler Koishi Kazami, dessen Eltern aus Japan hierher gezogen waren, verstand sich sehr gut mit ihm und schien seine Eigenheiten zu akzeptieren. Ich hatte ihn als einen sehr stillen und missmutigen Schüler kennen gelernt, der sehr gute Noten aber ein sehr miserables soziales Betragen innerhalb der Klasse hatte. Dabei engagierte er sich sogar sozial und half am Wochenende in der Suppenküche im Obdachlosenheim. Es war dieser Kontrast zu seiner unheimlichen und bedrohlichen Erscheinung und seinem sozialen Engagement für die Ärmsten, die mich an ihn so faszinierte. Und das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich ihn diesen einen Tag ansprach, als er gerade dabei war, seine Tasche aus dem Schließfach zu holen. Allein schon der Blick, mit dem er mich mit diesen roten Augen anstarrte, hätte selbst einen Kampfhund in die Flucht gejagt. Doch irgendetwas in mir wollte ihn weiter kennen lernen. Ich wollte mehr über ihn wissen, dabei wusste ich nicht mal warum. Als ich ihn ansprach, habe ich ziemlich gestottert und mir wäre fast das Herz in die Hose gerutscht. So wie er mich anstarrte, dachte ich gleich: Jetzt nimmt er den Mundschutz ab und dann beißt er mir den Kopf ab wie einer Fledermaus. Doch überraschenderweise riss er mir nicht den Kopf ab sondern stellte sich mir mit dieser rauen und tiefen Stimme vor, die sich fast so schlimm wie die von Jeff the Killer aus diesen Hörspielen anhörte. In dem Moment lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, als er sprach aber ich freute mich, als er mir anbot, gemeinsam mit ihm und Koishi in der Schulkantine zu essen. Gerne nahm ich das Angebot an und obwohl ich für gewöhnlich nie in der Kantine esse, da das Essen fürchterlich schmeckt, trafen wir uns später an einem relativ kleinen Tisch. Dathan saß immer alleine an diesem Tisch, weil die meisten Schüler Angst vor ihm hatten. Ja sogar die Lehrer fürchteten sich vor ihm, auch wenn sie das niemals offen zugeben würden. Es dauerte auch eine Weile, bis wir endlich ins Gespräch kamen. Ich musste schon den Anfang machen und beschwerte mich darüber, wie mies das Kantinenessen doch sei und sowohl Dathan und Koishi pflichteten mir bei. Die beiden schienen es wohl nicht gewohnt zu sein, dass sich ein Mädchen zu ihnen gesellte. Schließlich aber schaffte es Koishi, ein vernünftiges Gespräch aufzubauen. Er erzählte mir, dass er und seine Familie vor knapp vier Jahren hier eingewandert seien, nachdem sein Vater in Japan seinen Job verloren hatte. Sich an ein neues Land und an eine neue Sprache zu gewöhnen, war für ihn nicht sonderlich schwer gewesen. Schon seit er ein kleiner Junge war, hatte er für die USA und besonders für Kalifornien geschwärmt und außerdem war er ein kleines Sprachtalent. Was ihm jedoch erhebliche Schwierigkeiten bereitete, war die Klasse. Die meisten waren ausländerfeindlich und hatten ziemlich viele Vorurteile gegen Asiaten, insbesondere gegen Chinesen und sie wollten nicht wirklich kapieren, dass Japan mit China nichts am Hut hatte. Deswegen hatte er außer Dathan keinen Freund an dieser Schule. Dabei war Koishi echt sympathisch, um nicht zu sagen niedlich. Er war ziemlich klein, gerade mal 1,55m und neben Dathan, der fast an 1,90m rankommt, wirkt er schon fast wie ein Zwerg. Er war auch ganz anders als Dathan. Koishi hatte immer ein liebenswürdiges und niedliches Lächeln auf den Lippen, war höflich und hilfsbereit und er liebte Ausdruckstanz. Dathan hingegen schien eine Art dunkle Aura wie ein dichter Nebel zu umgeben, die wirklich jeden auf Abstand hielt. Ein bisschen erinnerten mich die beiden an die zwei aus „The Mighty“, wobei Dathan aber kein beschränkter Riese und Koishi auch kein kränkliches Genie war….

Meist waren es Koishi und ich, die zusammen quatschten, Dathan seinerseits hielt sich mehr abseits. Entweder war er etwas schüchtern oder er wusste einfach nicht, worüber er mit mir reden sollte. Im Nachhinein denke ich eher, dass es an seiner Angst lag. Auch wenn er überhaupt nicht danach aussah, hatte er Angst, auf andere Menschen zuzugehen und ihnen zu vertrauen. Vielleicht, weil er so oft enttäuscht worden war. Nach der Mittagspause mussten wir wieder in unsere Klassenräume gehen. Hier trennten sich unsere Wege und ich bot Dathan und Koishi an, dass wir uns mal fürs Kino verabreden könnten. Die beiden haben mich so komisch angesehen, als hätte ich sie nach einer schnellen Nummer auf der Toilette gefragt. Das war das erste Mal, dass ich Dathan so überrascht gesehen habe und ehrlich gesagt, fand ich das irgendwie liebenswert an ihn, trotz dieses rauen Erscheinungsbildes.

Tatsächlich trafen wir uns direkt nach der Schule im alten Kino, welches bereits ziemlich heruntergekommen war, wo man aber noch sehr preiswert Filme sehen konnte. Dathan verspätete sich ein wenig, da er Schwierigkeiten hatte, noch auf die Schnelle einen Babysitter für seine kleine Schwester zu finden. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch gar nicht, dass er überhaupt Geschwister hatte. Als ich ihn aber danach fragte, wich er mir nur aus, so als wolle er mir keine persönlichen Fragen beantworten und mir blieb nichts anderes übrig, als dies zu akzeptieren. Der Film, den wir uns ansahen, war schon etwas älter aber da er mit Brad Pitt und Morgan Freeman war, dachte ich eigentlich, dass es ein richtig cooler und spannender Thriller wird. Oder zumindest ein guter Actionfilm aber wie sich herausstellte, war es ein ziemlich deprimierender Film mit dem Titel „Sieben“. Er erinnerte mich ein Stück weit an „Schweigen der Lämmer“, nur war die Atmosphäre so bedrückend und das Ende so furchtbar traurig, dass ich mir im Nachhinein gewünscht hätte, wir hätten einen lustigeren Film gesehen. Geheult habe ich zwar nicht, was bei sehr ergreifenden Filmen wie etwa Forrest Gump oder Hachiko mit Richard Gere ziemlich oft passiert, aber danach wollte ich einfach nur nach Hause und meine Eltern in den Arm nehmen.

Da es ziemlich spät war und Dathan mit dem Bus gekommen war, bot ich ihm an, ihn nach Hause zu fahren. Ich hatte das Glück, dass mir meine Eltern ihren Wagen geliehen haben und ich wollte mich auch ein Stück weit erkenntlich zeigen, weil Dathan die Getränke spendiert hatte. Wieder zögerte er, aber dann stieg er doch ein und lotste mich durch die Stadt bis zu einem gemütlichen kleinen Hafen, wo doch tatsächlich ein Hausboot stand! Ein richtiges und dazu auch noch unverschämt schickes Hausboot. Dathan erzählte, dass er es von seinen Eltern geerbt habe, die vor knapp einem halben Jahr bei einem Flugzeugabsturz verunglückt waren. Seitdem lebe er mit seiner vierjährigen Schwester Christie und seiner Cousine Clarissa auf dem Hausboot. Clarissa war eine junge Architektin und unverschämt hübsch. Sie sah Dathan überhaupt nicht ähnlich, ganz im Gegensatz zu der kleinen Christie, die ebenso wie ihr großer Bruder rote Augen und schwarzes Haar hatte. Christie kam sofort den Steg heruntergeeilt und lief mit ausgestreckten Armen auf Dathan zu. Die Kleine war einfach goldig und da sie offenbar unbedingt wollte, dass ich mit ins Haus kam, parkte ich den Wagen etwas weiter vom Steg entfernt und sah zum ersten Mal ein Hausboot von innen.

Das Hausboot war ungewöhnlich groß und schick, es sah auch nicht ganz so wirklich wie ein Boot aus sondern wie eine Art große Hütte auf einem Floß. Außerdem war es ein klein wenig… altmodisch und schlicht, doch das Innere hat mich schließlich völlig überzeugt. Es gab Strom, ein Badezimmer, Zimmer für jeden, eine Küche und was sonst noch nötig war (außer einem Dach und einem Keller natürlich). Okay, es gab ein Dach, aber keines dieser Ziegeldächer. Es war eher eine Dachterrasse, wo man im Sommer sitzen und frühstücken konnte.

Für den Winter war man auch gut vorbereitet. Das Hausboot wurde beheizt und hier wohnten Dathan, seine kleine Schwester und seine Cousine das ganze Jahr über. Und wenn sie mal Tapetenwechsel brauchten, dann konnten sie jederzeit mit dem Haus davonschwimmen. Das musste ein wirklich tolles Gefühl sein.

Die kleine Christie präsentierte stolz die Zeichnungen, die sie gemacht hatte (die ich aber leider überhaupt nicht entziffern konnte) und sagte immer wieder „Tulu“ oder so. Dathan erklärte mir ein wenig verlegen, dass seine kleine Schwester ein Wesen namens „Cthulhu“ meint. Dieses Ding sei Hauptbestandteil einer ganzen Romanreihe, die er gerade las. In seinem Zimmer hing auch ein Poster von diesem Vieh. Es sah aus wie ein Fischmensch mit Tintenfischkopf und Drachenflügeln auf den Rücken. Ein etwas seltsamer Geschmack für einen Teenager, wo doch die meisten Jungs aus unserem Jahrgang bloß Football und Bumsen im Kopf hatten. Dathan schien zu bemerken, dass ich mit diesen Sachen nicht wirklich viel anzufangen wusste, also versuchte er schnell das Thema zu wechseln und bedankte sich für den netten Nachmittag und dass ich ihn nach Hause gebracht hatte. Ich nahm seine Hand und sagte ihm „Ich würde gerne wieder vorbeikommen und dich besuchen.“

Tatsächlich kamen wir uns in den nächsten Wochen etwas näher und ich schaffte es, Dathan ein wenig gesprächiger zu machen. Wir trafen uns immer öfter und manchmal, wenn Clarissa zu einer Präsentation musste, passten wir gemeinsam auf Christie auf. Ich gebe es offen zu, ich habe mich schließlich ein wenig in Dathan verliebt. Vielleicht war ja auch das der Grund, warum er mich so faszinierte. Im Nachhinein ist das schwer zu sagen aber ich denke, es lag ein Stück weit daran. Und was Koishi betraf, so freundeten wir uns beide auch an, wobei es bei ihm um einiges einfacher war als bei Dathan. Aber egal in welcher Situation wir auch waren, er nahm niemals seinen Mundschutz ab. Er schien ihn immer zu tragen, wenn er nicht alleine war. Ich war mir auch nicht sicher gewesen, ob ich ihn darauf ansprechen sollte, da ich Sorge hatte, dass er sich sofort wieder verschließen würde. Also nahm ich in der Pause Koishi beiseite und ging mit ihm in eine Ecke, wo wir ungestört miteinander reden konnten. „Sag mal Koishi, warum trägt Dathan eigentlich dieses Ding im Gesicht?“

„Dathan wurde auf seiner alten Schule schwer misshandelt und im Gesicht entstellt. Und das will er verstecken, damit die Leute nicht noch mehr Angst vor ihm haben.“ Koishi selbst wusste leider nicht viel über Dathans Vergangenheit. Lediglich, dass Dathan zuvor auf eine katholische Grundschule ging und von den Lehrern als auch von den Schülern gemobbt und schwer misshandelt wurde wegen seiner roten Augen. Schließlich hätten sie ihm Lauge oder Säure ins Gesicht geschüttet und einen Teil seines Gesichts und seines Körpers verätzt. Seitdem verstecke er auch sein Gesicht, weil er sich schämt. „Der einzige Halt, den er noch hat, ist seine kleine Schwester Christie. Dathan liebt sie über alles und deswegen ist auch seine Cousine hierher gezogen, damit sie sich um die Kleine kümmern kann.“ So wie ich von Koishi erfuhr, liebte Dathan kleine Kinder überhaupt und hatte mal vorgehabt, Erzieher zu werden. Doch da alle Menschen Angst vor ihm hatten, würde sich dieser Traum wohl niemals für ihn verwirklichen. Es musste wirklich schwer für Dathan sein, ein normales Leben zu führen mit dieser Entstellung und diesen Augen. Ich fasste mir schließlich ein Herz und besuchte Dathan am Wochenende in seinem Hausboot. Clarissa war in ihrem Arbeitszimmer beschäftigt und die kleine Christie spielte gerade mit einem komischen Stofftier, das ein wenig wie dieses Fischmenschmonster aussah, welches als Poster an Dathans Zimmerwand hing. Als ich Dathan darauf ansprach, wurde er ein wenig verlegen. „Christie mag Cthulhu und deshalb habe ich ihr dieses Stofftier genäht.“

„Du kannst nähen? Das ist ja cool. Ich krieg noch nicht mal einen Knopf angenäht.“

„Es ist nichts wirklich Besonderes….“ Dathan war ein schrecklich bescheidener Mensch. Aber das war es auch, was ich an ihm so sympathisch fand. Schließlich fanden wir uns in seinem Zimmer wieder, wo ich seine Regale unter die Lupe nehmen durfte. Sein Musikgeschmack war mehr als breit gefächert, kann ich sagen. Angefangen von „Skillet“ über „Simple Plan“ bis hin zu „The Birthday Massacre“ und Songs von „Porcelain Black“. Seine Büchersammlung hingegen ließ sich in zwei Kategorien einordnen: Lovecraft und Stephen King. Er war wirklich ein leidenschaftlicher Sammler von Horrorgeschichten und wie er mir im Vertrauen erzählte, faszinierte ihn dieser Mythos aus Lovecrafts Geschichten. Seine Familie sammle seit langer Zeit nicht nur die Lovecraftgeschichten sondern habe auch eine Kopie des „Kitab Al’Azif“ seit langer Zeit im Familienbesitz. Ich konnte mit dem Namen nichts anfangen und musste deshalb nachfragen. Dathan erklärte mir, dass das „Kitab Al’Azif“ das arabische Original zum Necronomicon sei, welches ein geisteskranker Araber geschrieben hat. Mit dem Buch könne man Dämonen beschwören und Tote zurückholen. Außerdem enthalte es alle Informationen über verschiedene Götter und Dämonen. Also eine Art Satansbibel auf Arabisch. Dathan wollte es mir jedoch nicht zeigen, da er in dieser Hinsicht etwas abergläubisch war. Er war der Ansicht, dass man so ein Gefahrengut besser nicht anrühren sollte, da es sonst schlimme Konsequenzen haben würde. Diese Ansichten werde ich wohl niemals mit ihm teilen, weil ich nicht an übernatürliche Dinge glaube. Ich glaube auch nicht, dass ein Fischmenschmonster tief im Atlantik schläft und in 10.000 Jahren die Welt ins Chaos stürzen wird. Dazu müsste ich erst mal an einen Gott glauben, was ich auch nicht tue. Wenn Dathan Spaß daran hat, dann soll man ihm das auch gönnen.

Ich blieb das ganze Wochenende bei ihm und wenn wir nicht gerade redeten, dann schwammen wir ein wenig im Wasser und spielten mit Christie. Normalerweise würde ich ja lieber eine Shoppingtour oder ein Cafebesuch vorziehen, aber aus Rücksicht auf Dathan verzichtete ich lieber darauf. Er ließ sich nicht gerne in der Öffentlichkeit blicken und ein Cafebesuch würde automatisch bedeuten, dass er den Mundschutz abnehmen und damit seine Entstellungen zeigen musste und das wollte ich ihm lieber nicht antun. Selbst vor mir nahm er niemals den Mundschutz ab. Das änderte sich schließlich, als wir nach vier Monaten ein Paar wurden und wir uns das erste Mal küssten. Sein Gesicht war von Narben bedeckt, die wie Geschwüre aussahen, seine Haut war wie Leder und von seinen Lippen war auch nicht viel übrig geblieben aber um ehrlich zu sein war mir das egal. Ich liebte ihn so wie er war und deshalb liebte ich ihn auch mit diesen Narben, die er im Gesicht, aber auch am Hals und auf der Brust hatte. Es tat mir unendlich in der Seele weh, all diese Verbrennungen und Narben zu sehen, die er von seiner alten Schule davongetragen hatte. Ich konnte auch nicht fassen, wie grausam Menschen sein konnten und umso sprachloser war ich, dass Dathan das einfach so hinter sich lassen konnte. Er schien wirklich alles ertragen zu können. Die kalten Blicke in der Schule, die Tatsache, dass er von manchen Leuten mit Steinen beworfen wurde und dass die Kinder Gerüchte über ihn erzählten, dass er ein gefährlicher Psychopath wäre. Über all das konnte er hinwegsehen und die Schikanen ertragen, solange er noch seine Familie hatte. Doch dann geschah etwas Schreckliches, was sowohl Dathans Leben als auch aller anderen für immer veränderte. Etwas, das das Fass endgültig zum Überlaufen brachte und die Schikanen gegen Dathan auf den Höhepunkt trieb. Eines Tages erhielt ich die Nachricht, dass sich ein schrecklicher Unfall auf dem Hausboot ereignet hatte und dabei Koishi als auch Clarissa und die kleine Christie ums Leben gekommen waren. Dathan, der verzweifelt versucht hatte, seine kleine Schwester zu retten, war selbst mit nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Als ich ihn im Krankenhaus besuchen ging, erzählte er mir unter Tränen, dass die Jungs aus seiner Klasse die Leine gekappt und das auf dem Wasser treibende Hausboot angezündet hätten. Clarissa und Koishi waren von den Flammen eingeschlossen worden, nur Christie hatte er noch aus dem Haus retten können. Sie waren ins Wasser gesprungen und wollten an den Steg hochklettern, doch die Jungs hatten sie immer wieder zurückgestoßen und schließlich gewaltsam unter Wasser gedrückt. Dathan hatte schließlich das Bewusstsein verloren und später erfahren, dass Christie ertrunken war. Und während er mir das erzählte, vergoss er unzählige Tränen und konnte selbst nicht fassen, was passiert war. Dann aber, für einen kurzen Moment sah ich etwas in seinen rubinroten Augen aufblitzen, das mir wirklich Angst einjagte: Brennender Zorn. In diesen Moment spürte ich, dass bei Dathan nun die goldene Grenze überschritten war und er sich diese Schikanen nicht mehr gefallen lassen würde. Und genau das machte mir Sorgen. „Dathan“, sagte ich und nahm seine Hand. „Was hast du nun vor?“

„Sie werden für das bezahlen, was sie getan haben. Sie alle werden dafür bezahlen.“ Zuerst schreckte ich einen Moment zurück, doch dann nahm ich seine Hand nur noch fester in die meine. „Bitte Dathan, sei vernünftig und überlasse das besser der Polizei. Du machst dich nur selbst unglücklich.“ Doch dann sah er mich mit einem kühlen und zugleich leeren Blick an, nahm seinen Mundschutz ab und fragte mich ganz ruhig und langsam „Ich habe diese Hölle lange genug erduldet. Mir war es egal, solange sie die Finger von meiner kleinen Schwester und meinen Freunden lassen. Jetzt reicht es….“
 

Dathan kam die nächste Woche nicht zur Schule und auf meine Anrufe reagierte er nicht. Er schrieb mir per SMS, dass er alleine sein wollte und eine Auszeit brauchte, um das alles zu verarbeiten. Ich konnte das verstehen, aber ich machte mir Sorgen um ihn, besonders nach diesen Worten, die er im Krankenhaus zu mir gesagt hatte.

Ungefähr zwei Wochen nach dem Brand starben drei Schüler aus Dathans Klasse unter sehr merkwürdigen Umständen. Colin Reery rutschte in der Dusche auf dem nassen Boden aus und schlug sich dabei den Hinterkopf so heftig an der Duscharmatur, dass er dabei starb. Josh Dragson fiel betrunken in den Goldfischteich und ertrank, während Michael Grimes einen elektrischen Schlag bekam, als er sich in der Badewanne rasierte. All diese Unfälle waren selbstverschuldet und Fremdeinwirkung war völlig ausgeschlossen. Trotzdem kam mir sofort der Gedanke, dass Dathan etwas damit zu tun haben könnte. Immerhin hatten all diese Unfälle mit Wasser zu tun und seine kleine Schwester war ertrunken. Ich rief Dathan noch mal an und bat ihn, sich mit mir zu treffen. Wir verabredeten uns im Eiscafe und ich war entsetzt, als ich sah, in welchem Zustand Dathan war. Er war ziemlich blass, hatte dunkle Augenringe und er hatte zudem deutlich abgenommen. „Dathan, wie geht es dir?“

„Es ging schon mal besser…. Aber ich glaube, ich werde nicht mehr in die Schule gehen. Nicht zu diesen Leuten.“

„Das verstehe ich. Aber sag mal, hast du schon gehört, dass drei von ihnen bei Unfällen ums Leben gekommen sind?“

„Ja… aber das ist mir auch völlig egal. Sie alle bekommen die Strafe, die sie verdienen.“ Dathan war alles andere als gesellig und gesprächig sowieso nicht. Deswegen endete unser Treffen früher als geplant und so musste ich wohl oder übel wieder nach Hause gehen. Aber ein schlechtes Gewissen hatte ich schon dabei. Am nächsten Tag erfuhr ich von Beverly Higgins, dass Kathy und Ronny bei einer gemeinsamen Bootstour verunglückt und ertrunken wären, weil sie keine Rettungswesten dabei hatten. Und genau am selben Tag war Ashley im strömenden Regen vor einen LKW überfahren worden. Die Todesfälle häuften sich immer weiter. Die Polizei ermittelte schon in dem Fall, aber wie sollten sie gegen irgendjemanden ermitteln, wenn all diese Todesfälle Unfälle ohne Fremdverschulden waren? Für mich stand fest, dass Dathan irgendwie darin verwickelt war. Nur wie zum Teufel hatte er das bloß angestellt? In den nächsten Tagen erreichte ich Dathan weder auf dem Handy, noch über Telefon. In der Schule ließ er sich nicht blicken und meine schlimmste Befürchtung war, dass er inzwischen auf der Flucht vor der Polizei war. Die Unfallserie in der Klasse nahm kein Ende. Beverly bekam eine Lungenentzündung und erstickte, als sich in der Lunge Wasser sammelte. Kira ertrank im Schwimmbad, als sie einen Wadenkrampf bekam und die Clique, bestehend aus Roy, Johnny, Ricky und Thomas ertranken, als sie im Vollsuff ihren Wagen ins Meer steuerten und die Wagentür nicht öffnen konnten. Schließlich waren alle aus Dathans Klasse verstorben und die Polizei war völlig ratlos. In der Schule lief eine Trauerfeier zu Gedenken der 30 verstorbenen Schüler, einschließlich Dathan und Koishi. Aber ich konnte einfach an nichts anderes denken, als daran, dass Dathan etwas mit diesen Todesfällen zu tun haben könnte. Auch wenn die Autopsieberichte etwas anderes sagten, ein Teil von mir war sich sicher, dass Dathan Rache genommen hat für den Tod von Christie, Clarissa und Koishi. Eines Tages erhielt ich eine SMS von Dathan, in der er mich bat, zum alten Kino zu kommen, wo wir uns das erste Mal verabredet hatten. Es war bereits dunkel, als ich das Kino erreichte, trotzdem sah ich, in welch schlechter Verfassung Dathan eigentlich war. Er sah aus, als hätte er seit längerer Zeit nichts mehr gegessen, geschweige denn, dass er überhaupt geschlafen hatte. Wir fielen uns sofort in die Arme und ich konfrontierte ihn sofort mit dem Tod all seiner Klassenkameraden und verlangte zu wissen, was eigentlich passiert war. Doch Dathan schüttelte nur den Kopf und sah mich traurig an. „Es tut mir Leid, aber ich muss von hier verschwinden.“

„Ist etwa die Polizei hinter dir her? Haben sie dich etwa in Verdacht?“

„Ich will nicht, dass du in irgendwas mit hineingezogen wirst. Deswegen müssen wir uns voneinander verabschieden.“

„Das… das kannst du doch nicht tun. Dathan, wir finden sicher irgendeine Lösung aber lauf nicht davon.“

„Tut mir Leid, aber ich kann einfach nicht länger hier bleiben.“ Dathan holte eine Kette hervor, die als Anhänger einen silbernen Schmetterling hatte. Diese war sein letztes Geschenk an mich. Er verabschiedete sich und verschwand dann in die Nacht. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen, geschweige denn etwas von ihm gehört. Als ich nach Hause zurückkehrte, wartete dort meine Mutter mit der Polizei. „Schatz, diese Herren sind von der Polizei und sie möchten dir ein paar Fragen stellen.“

„Wir haben erfahren, dass Sie eine Beziehung mit Dathan Kinsley hatten, ist das richtig?“

„Ähm ja… ist etwas passiert?“

„Es sind nur ein paar Fragen, keine Sorge.“

„Verdächtigen Sie etwa Dathan, dass er etwas mit den Unfällen seiner Mitschüler zu tun hat?“ Der Polizist sah mich überrascht an, was mich ein wenig verunsicherte. „Wieso sollten wir? Dathan Kinsley ist tot. Man hat seine Leiche zusammen mit der seiner kleinen Schwester gefunden. Sie sind beide im Meer ertrunken.“

The Valentine Killer

Auszug aus einer Tageszeitung:
 

„Serienmörder immer noch auf freien Fuß. Obwohl keine drei Tage seit dem letzten Mord des Valentine Killers vergangen sind, tappt die Polizei immer noch im Dunkeln. 6 Menschen sind ihm bereits zum Opfer gefallen und der Täter geht immer nach dem gleichen Muster vor. Trotzdem ist es der Polizei bislang noch nicht gelungen, ihn zu überführen. Der Täter sucht seine Opfer in Lokalen, Diskotheken und anderen öffentlichen Plätzen und setzt alles daran, seine Opfer zu verführen. Der Valentine Killer beginnt eine krankhafte Zuneigung zu seinen Opfern zu entwickeln, reagiert sehr aggressiv auf potentielle Nebenbuhler und scheut weder vor Stalking noch vor Gewalt, Entführung oder Mord zurück. Dies treibt er so lange, bis seine Liebe in Hass umschlägt und er seinen Opfern nach dem Leben trachtet. Die Polizei hat bis jetzt noch keine Stellung bezogen, welche Auslöser die Ursache für diese Veränderung verantwortlich sein könnten. Sie warne jedoch ausdrücklich vor verdächtigen Personen in Lokalen. Junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren sollten nicht leichtfertig ihre Telefonnummer oder Adressen preisgeben. Sollten Sie sich bereits gestalkt oder ernsthaft bedroht fühlen, dann wenden Sie sich umgehend an die Polizei unter der unten angegebenen Nummer.“
 


 

Für Kenny war es Liebe auf den ersten Blick, als er sie das erste Mal in der Kneipe getroffen hatte. Sie saß ein wenig abseits und hatte einen Honeymoon bestellt. Obwohl blonde Frauen eigentlich nicht sein Jagdgebiet waren, so hatte sie solch ein Feuer in den Augen, das ihn auf der Stelle verzauberte. Sie war wie eine Schlange, die mit ihrem Blick ihre Beute hypnotisierte. Und diese prallen purpurroten Lippen, die wie eine voll erblühte Rose aussahen…. Kennys Hormone arbeiteten auf Hochtouren, er wollte sie unbedingt haben. Dabei hatte er solch einen Gedanken über den Besitz einer Frau noch nie gehabt, denn immerhin waren Frauen keine Objekte, das hatte seine emanzipierte Mutter oft genug eingetrichtert. Und seine Ex hatte ihn das auch spüren lassen. Doch bei dieser Frau war es anders. Sie war wie ein Juwel, das er unbedingt haben wollte, um jeden erdenklichen Preis. Sein Herz begann zu rasen, als sie ihn mit ihren glänzenden blauen Augen schüchtern ansah und seinem Blick sofort wieder auswich. Er sah, wie ihren Cocktail durch den Strohhalm schlürfte und das allein erregte ihn schon. Das erschreckte selbst ihn, da er eigentlich nicht der Typ Mensch war, der so schnell von einer Frau erregt wurde. Aber verdammt, dieses Mädchen war echt der Hammer! Kenny wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, so cool wie möglich auszusehen. Nur nicht nervös wirken, die übliche Tour fahren und immer schön charmant sein. Keine dumme Machotour! „Hallo, ist dieser Platz bereits besetzt?“ Sie war allerhöchstens 20 Jahre alt, also genau sein Beuteschema. Nicht zu alt, aber auch nicht zu jung und unerfahren. Ein wenig schüchtern wickelte sie sich eine Locke um ihren Finger und wurde sogar ein wenig rot um die Wangen. „Nein, aber ich freue mich gerne über nette Gesellschaft.“ Kenny setzte sich mit seinem charmantesten Lächeln und rief sich immer wieder die Worte seines älteren Bruders ins Gedächtnis „Sei kein Macho, so was hassen die meisten Frauen und dann halten sie dich für einen großkotzigen Höhlenmenschen. Sei nett und charmant, komm natürlich rüber und schon kriegst du sie garantiert.“ Und dieser alte Weiberheld musste wissen, wovon er da sprach. Sonst hätte er bei den Frauen nicht so ein verdammtes Glück. Wenn er schon mit seiner Ex keine zehn Monate durchgehalten hat, dann wollte er es bei dieser Frau. „Mein Name ist übrigens Kenny, Kenny Coleman.“

„Ich heiße Janice.“

„Bist du öfter hier?“

„Manchmal. Aber in der letzten Zeit öfter. Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht, da brauche ich ein wenig Ablenkung.“ Sie war Single! Innerlich feierte Kenny eine ganze Parade für diese Nachricht. Auch davon hatte ihm sein Bruder Kevin oft genug erzählt. Frische Singles versuchen oft, sich von ihrer gescheiterten Beziehung abzulenken. Entweder, indem sie sich auf ihre Zukunft konzentrierten oder indem sie gleich wieder auf die Jagd gingen. Hoffentlich traf Nummer zwei zu. „Wie kann jemand so eine Hübsche bloß abservieren?! Der Kerl muss blind gewesen sein.“

„Es ging ihm weniger ums Aussehen, sondern mehr um die Fingerfertigkeiten. Ich hab den Scheißkerl mit einer Masseuse erwischt und sie hat nicht seinen Rücken massiert!“ Kenny kam ziemlich gut ins Gespräch mit Janice und er bot ihr schließlich seine Nummer an. Sie gab ihm schließlich ihre und tatsächlich trafen sie sich noch ein paar Male abends in Bars, tranken zusammen einen Cocktail oder gingen in die Disko, bis sich schließlich mit der Zeit eine richtige Beziehung zwischen ihnen entwickelte.

Nun waren er und Janice knapp zwei Monate zusammen, alles lief wunderbar zwischen ihnen und Kenny konnte sich sogar schon vorstellen, die nächsten paar Jahre mit ihr zu verbringen. Sie führten eine richtige Bilderbuchbeziehung, aber natürlich gab es dann einen einzigen Tag, an dem das Männerherz schwach wurde und alles aufs Spiel setzte. Besonders schwach wurde es, als Alkohol ins Spiel kam. Da Janice an diesem einen Tag einen dicken Schnupfen hatte und deswegen nicht in die Disko gehen konnte, hatte Kenny seinen älteren Bruder Kevin und seine beiden Kumpel Tyler und Jason eingeladen. Es wurde gefeiert und vor allem getrunken. Kenny hatte schon gar nicht mehr zählen können, wie viele Drinks er gehabt hatte, aber es genügte, um alle Gedanken an Janice auszulöschen. Er war in Partylaune, betrunken und sein Gehirn machte gerade Pause. Darum hatte er sich auch sofort zu der hübschen June gesellt, die da so wunderschön tanzte und ihn mit diesen verführerischen Augen anblitzte. Sie war ganz anders als Janice. Sehr schön, sexy und attraktiv, aber wild und frech. Im Vergleich zu Janice, die eher ein scheues Kätzchen war, verkörperte June einen Panther. Das war sicher auch der Grund, warum er ausgerechnet sie ausgewählt hatte. June hatte wild frisiertes violett gefärbtes Haar, volle Lippen und lange Wimpern, die vermutlich nicht ganz so echt waren. Aber das war ihm egal. Er war sternhagelvoll, sie war sexy und sie schien auch an ihm Interesse zu haben. Und so kam es, wie es in solch einer vertrackten Situation nun mal kommen musste: Nach einer wilden Knutscherei auf der Toilette landeten sie schließlich bei ihr zuhause im Bett. Am nächsten Morgen hatte Kenny selbstverständlich einen fürchterlichen Kater und keine Ahnung, wo er eigentlich war. Alles, was er sah, waren lila Tapeten, weiße Möbel und seine Klamotten auf dem Boden. Mit einem verführerischen Lächeln kam June herein, die bereits fertig angezogen und geschminkt war. Sie trug eine Jeans, High-Heels und ein lila-weiß gestreiftes Shirt. In ihrer Hand trug sie ein Tablett, auf dem sie das Frühstück vorbereitet hatte. Sogar an eine Rose hatte sie gedacht. „Guten Morgen, Langschläfer. Das war ja eine etwas wilde Nacht gestern. Ich hoffe, du hast wenigstens gut geschlafen.“

„Shit, wie spät ist es eigentlich?“

„Halb elf. Ich hab mir die Freiheit genommen, dir schon mal Frühstück zu machen. Gegen den Kater hab ich dir auch noch Aspirin mitgebracht.“ Doch daran war jetzt gar nicht zu denken. Momentan war Kennys größte Sorge Janice. Wenn sie von diesem peinlichen Ausrutscher erfuhr, dann machte sie mit ihm Schluss und das wollte er auf gar keinen Fall! Sofort suchte er seine Sachen zusammen und zog sich an. „Du kannst gern das Bad benutzen“, bot June an, die völlig die Ruhe selbst war und seine Hektik ignorierte. Stattdessen setzte sie sich auf die Fensterbank und beobachtete Kenny mit einem verführerischen Lächeln. „Wir können das gerne wiederholen.“ Dabei schien sie gar nicht zu bemerken, dass er ihr nur mit einem Ohr zuhörte. „Das ist nett, aber ich denke, daraus wird nichts. Das hätte niemals so passieren dürfen und ich bin auch bereits vergeben.“

„Dann scheinst du nicht ganz so glücklich zu sein, wenn du schon fremdgehst.“

„Ich war betrunken, verdammt! Vergiss diese Nacht einfach, ich muss jetzt verschwinden.“ Und kaum, dass Kenny sich angezogen hatte, eilte er schon zur Wohnungstür raus und fuhr mit einem Taxi nach Hause. Seine größte Sorge war, dass Janice Verdacht schöpfen könnte, wenn sie erfuhr, dass er die ganze Nacht weg war. Zum Glück hatte sein Bruder ihm ein Alibi verschafft, indem er ihr erzählte, er hätte Kenny mit nach Hause genommen, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte. Aber zumindest ihn musste er einweihen, das war er ihm schuldig. Zuerst war Kevin schon ein wenig ungehalten, weil sein kleiner Bruder so eine tolle Freundin betrog, aber andererseits war er auch stolz auf ihn, dass er ein ganzer Kerl war und sich das nahm, was er wollte. Als Janice sich wieder von ihrem Schnupfen erholt hatte, suchte das junge Paar eine Bar auf, um wieder zu feiern, nur leider wurde die Stimmung durch Junes Anwesenheit getrübt. Sie saß am Tresen, trank einen Bloody Mary und sah immer wieder zu Kenny herüber. Dieser wurde sichtlich nervös und entschuldigte sich kurz, um heimlich mit June in der Toilette zu sprechen. „Was zum Teufel machst du hier?“

„Das ist ein freies Land, also darf ich doch hingehen, wohin ich will.“

„Wenn du Janice auch nur ein Wort erfährt, dann…“

„Ach so, Janice heißt die Kleine also. Wie süß… nur bin ich nicht diejenige, die von uns beiden fremdgegangen ist. Und mal im Ernst: So eine langweilige blonde Tussi findest du doch an jeder Straßenecke. Mit mir wirst du alle Male glücklicher.“ Kenny wurde sauer und stieß June weg, die einen Annäherungsversuch gewagt hatte. „Ich weiß ja nicht, was du dir einbildest, aber ich bin mit Janice zusammen und das mit uns beiden war bloß ein Versehen!“ Doch anstatt, dass June die Bar verließ, setzte sie sich wieder an ihren Platz und begann mit dem Barkeeper zu plaudern. Kenny hoffte inständig, dass dies nur ein einmaliger Zufall war, dass er June hier begegnet war, aber leider sollte sich das als Irrtum herausstellen. In den kommenden zwei Monaten war sie jedes Mal in derselben Bar, in der gleichen Disko und in derselben Kneipe und saß immer am Tresen, von wo aus sie ihn beobachtete. Und als wäre das nicht schon genug, fand er jeden Morgen mindestens ein dutzend Liebesbekundungen im Briefkasten und sogar die Windschutzscheibe war mit violettem Lippenstift mit den Worten „I Love You“ beschmiert. Zwar trugen all diese Briefe keine Namen, aber Kenny ahnte, dass June dahinter steckte. Allein schon der violette Lippenstift war Beweis genug. Sie war ja total verrückt nach dieser Farbe.

Richtig unheimlich wurde es aber, als er eines Tages von der Schule nach Hause kam und auf seinem Bett eine Rose lag, zusammen mit einem Foto, wo er eigentlich zusammen mit Janice drauf zu sehen sein müsste. Jedoch war das Bild wohl überarbeitet und durch Junes Kopf ersetzt worden. Daraufhin wandte sich Kenny an seine Eltern und erzählte ihnen von seinem Problem mit dieser June. Sein Vater war natürlich sauer, dass er so dumm war und sich einfach so auf einen One Night Stand eingelassen und dabei nicht einmal an Verhütung gedacht hatte. Im schlimmsten Falle könnte June sogar schwanger sein und dann müsste er sich um das Kind kümmern. Sein Vater riet ihm, mit Janice über diesen Ausrutscher zu reden und alles richtig zu stellen. Das kam für Kenny aber nicht in Frage, da Janice so oder so total durchdrehen würde. Nein, er musste June irgendwie loswerden und das am Besten so diskret wie möglich. Also ging er an diesem Abend wieder in die Bar und wie immer saß June bereits am Tresen und wollte ihn schon zu einen „Purple Nurple“ einladen, doch Kenny lehnte ab. „Jetzt mal im Ernst June: Lass mich endlich in Ruhe. Ich bin mit Janice zusammen und so wird das auch bleiben!“ Und überraschenderweise sagte June „Okay, kein Problem.“ Und tatsächlich hörten urplötzlich die Liebesbekundungen auf und das war schon ein wenig unheimlich. Vielleicht hatte June endlich einen anderen gefunden und somit das Interesse an ihm verloren. Kenny war froh darüber und er dachte, es würde endlich Ruhe einkehren. Tat es aber nicht. Denn es dauerte keine fünf Tage, da erwischte er Janice mit einem Mann in der Disko, wie sie mit ihm herumknutschte und sie ganz offensichtlich dabei noch ihren Spaß hatte. Kenny konnte einfach nicht fassen, was Janice ihm da angetan hatte. Sie hatte ihn mit einem dahergelaufenen Typen in fliederfarbenem Hemd betrogen, obwohl sie selbst tierisch eifersüchtig sein konnte.

Alle Gespräche mit ihr blockte er ab, für ihn war die Sache vorbei. Dabei verschwieg er aber, dass er sie ebenfalls betrogen hatte. Denn er war besoffen gewesen, sie hingegen vollkommen nüchtern. Um seinen Frust hinter sich zu lassen, ging er immer häufiger mit seinen Kumpels feiern und wieder traf er auf June. Sie benahm sich nicht mehr so aufdringlich wie zuvor, sie sah sogar besorgt aus und hörte geduldig zu, als er ihr sein Herz ausschüttete. „Diese Janice weiß gar nicht, was für ein Glück sie mit dir hatte. Dieses kleine Flittchen sollte sich wirklich schämen.“

„Ja schon, aber ich hab sie doch auch…“

„Du hast es aber bereut, hat sie etwa ihren Seitensprung bereut? Sicherlich nicht, sonst hätte sie es längst wieder gerade gebogen.“ Kenny hätte nicht gedacht, dass er sich so gut mit June unterhalten konnte. Sie war viel lockerer als andere Frauen, sie schien ihn zu verstehen und sie wusste genau, was in seinem Kopf vorging. Die Raubkatze war dabei, ihre Beute zu fassen und sie nicht mehr loszulassen. Schließlich konnte June ihn überreden, mit ihm ein wenig feiern zu gehen. Sie hatte eine völlig ungezwungene Art, war schnell für neue Dinge zu begeistern und besaß eine etwas verrückte Art. Und so dauerte es tatsächlich nicht sehr lange, bis Kenny seinen Liebeskummer vergessen hatte und Junes Charme erlegen war. „Was soll’s“, dachte er während er mit ihr tanzte. „Ich bin noch jung genug und deshalb habe ich noch alle Zeit der Welt. Und eigentlich passt June sowieso viel besser zu mir als Janice.“ Tatsächlich verstand es June ziemlich gut, Partystimmung zu verbreiten und sie tat wirklich alles für Kenny. Sie brachte ihm Frühstück ans Bett, sie nervte ihn nicht mit Frauensachen und sie verstand sich super mit seinen Freunden. Manchmal hatte sie aber schon eine seltsame Art, ihm ihre Liebe zu zeigen. Sie schrieb ihm dutzende SMS, rief ständig auf seinem Handy an und wollte überall mit hin, wo er hinging. Außerdem hatte er manchmal den Eindruck dass, wenn sie mal bei ihm war, ein paar Dinge von ihm fehlten. Sei es eine Zahnbürste, ein benutztes Handtuch oder ein durchgeschwitztes T-Shirt. Außerdem tauchte sie manchmal urplötzlich bei ihm zuhause auf, wenn seine Eltern gerade nicht da waren und hatte bereits Essen gekocht. Besonders unheimlich wurde es eines Samstages, als er mal lange ausschlafen wollte und seine Eltern mal wieder den halben Tag arbeiten waren. Kaum hatte er die Augen geöffnet, da stand June an seinem Bett und schaute ihn erwartungsvoll an, so als hätte sie die ganze Nacht an seinem Bett gestanden. Sie war hilfsbereit und zuvorkommend, das war nicht von der Hand zu weisen, aber sie rückte ihm immer dichter auf die Pelle. Und selbst das tat sie auf solch eine unschuldige und gleichzeitig so selbstverständliche Art, als gehöre das zu einer Beziehung dazu. Seine Eltern hatten sie recht schnell ins Herz geschlossen, besonders als June für sie kochte und dabei genau ihren Geschmack traf. Sie war zudem nicht so aufreizend angezogen und bewies sowohl Charme als auch Humor und Redegewandtheit. Und doch machte sie Kenny manchmal Angst. Insbesondere weil sie einfach unangemeldet im Haus auftauchte und offenbar auch nichts Falsches daran sah. Was den Sex betraf, so war June da ein wenig mehr zurückhaltend und wollte es langsamer angehen. Sie sagte, sie sei auch in dieser einen Nacht ziemlich betrunken gewesen und wollte erst wieder mit ihm schlafen, wenn sie sich auch ganz sicher war. In dieser Hinsicht war sie da ein wenig prüde.

Doch dann geschah eines Tages etwas, das Kenny klar machte, dass June nicht zu Unrecht unheimlich sein konnte: Nämlich als er June erzählte, dass er krank im Bett läge, sich in Wahrheit aber mit seinen Kumpels getroffen hatte. Ihm war es eiskalt den Rücken hinuntergelaufen, als er sah, dass June bereits am Tresen auf ihn wartete. Wie sich jedoch herausstellte, war das erst die Spitze vom Eisberg. June begann ihm nun wirklich ausnahmslos überall hinzufolgen. Sie folgte ihm stets auf sicheren Abstand, sei es zur Schule oder ins Sportstudio. Als dann ans Tageslicht kam, dass sie in seinem Zimmer Überwachungskameras angebracht hatte, kam es zum großen Krach. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und Kenny schrie alles heraus, was ihn über June so aufregte. „Lass mich in Ruhe June, ich will dich nicht mehr sehen.“ Damit setzte er sie vor die Tür und er ignorierte all ihre Anrufe und Nachrichten. Zwei Wochen herrschte völlige Funkstille, bis June auf dem Anrufbeantworter eine sehr besorgniserregende Nachricht hinterließ, in der sie sogar von Selbstmord sprach. Sie war so sehr am Weinen, dass Kenny sich sofort auf den Weg zu ihr machte, um sie abzuhalten. June hatte sich derweil im Bad eingeschlossen und versuchte sich, die Pulsadern aufzuschneiden. Erst durch Kennys tröstende Worte und der Gewissheit, dass er ihr verzieh, kam sie wieder zur Vernunft. Sie waren wieder zusammen und das beunruhigte besonders Kennys Bruder Kevin. Inzwischen hatte er geschnallt, dass June eine Stalkerin mit Kontrollwahn war, aber sie hatte Kenny schon so sehr unter ihrer Fuchtel, dass er gar nicht mehr an ihn herankam. Zusammen mit Janice, die ebenfalls ein paar Worte mit ihr zu reden hatte und immer noch Kenny liebte.

June begrüßte sie in ihrer Wohnung und führte sie ins Wohnzimmer. „Wollt ihr zwei Hübschen was zu trinken? Ich wollte nämlich gerade meine neue Espressomaschine einweihen.“

„Nein danke, wir wollen es kurz machen: Lass deine dreckigen Pfoten von Kenny und verzieh dich aus seinem Leben!“ Janice war auf Konfrontationskurs gegangen, da sie wusste, dass man nicht anders mit June reden konnte. Doch diese schien sie überhaupt nicht ernst zu nehmen. Stattdessen setzte sie sich achselzuckend auf die Couch und sah die beiden mit einem provokanten Lächeln an. „Wer gibt euch denn das Recht, mir in meine Beziehung mit Kenny reinzureden? Wir beide sind glücklich, das ist alles, was zählt.“ Doch so einfach ließ sich Janice nicht abservieren. „Du stalkst Kenny und drohst sogar mit Selbstmord, wenn er nicht nach deiner Pfeife tanzt. Du bist krank, du gehörst in die Klapse! Und ich werde nicht zulassen, dass du ihn weiterhin mit dieser kranken Scheiße um den Finger wickelst.“ Nun hatte Janice bei June einen empfindlichen Nerv getroffen, da diese sie nun mit einem bösen Funkeln in den Augen ansah. June stand auf und ging langsam auf Janice zu. „Du kleines Miststück willst mir meinen Kenny wegnehmen? Ich lasse mir von niemandem in die Beziehung reinreden. Das mit uns beiden ist etwas Besonderes. Wir sind füreinander geschaffen, davon hast du Flittchen keine Ahnung.“ Bevor Janice etwas sagen konnte, hatte June unter ihrem Pullover ein Messer hervorgeholt und stieß es ihr direkt in den Bauch. Sofort sprang Kevin auf und wollte June überwältigen, um ihr das Messer zu entreißen, doch diese war schneller und rammte ihm die Klinge in den Hals. Das Blut spritzte wie eine Fontäne aus der klaffenden Wunde und tropfte auf Junes Kleidung. Das Letzte, was Kevin noch wahrnahm, bevor er starb, war Junes eiskaltes Lachen. Sie stach immer wieder auf ihn ein, bis sie sich sicher war, dass er auch wirklich nicht mehr lebte. Dann stürzte sie sich auf Janice und begann damit, sie auszuweiden. Auf dem Boden breitete sich eine riesige Blutpfütze aus und der schwere Geruch von Eisen hing in der Luft. June keuchte und sah auf die beiden Leichen zu ihren Füßen. „Geschieht euch ganz recht. Ihr hättet mir niemals in die Quere kommen dürfen!“ Aus der Besenkammer holte sie mehrere schwarze Müllsäcke und nachdem sie die Leichen zerstückelt hatte, stopfte sie die Teile in die Säcke. Sie musste gleich dringend hier sauber machen und die Kleider waschen, bevor es noch Flecken gab. Schnell verschwand sie ins Bad, zog sich die mit Blut besudelten Klamotten aus, duschte sich gründlich und begann, sich zu schminken. Jeden Tag machte sie diese Prozedur und das war ihre liebste Tätigkeit. Lidschatten, Augenbrauenstift, falsche Wimpern, Lippenstift, usw. Schließlich frisierte sich June noch die Haare und nickte zufrieden. Jetzt war sie wieder ansehnlich und hübsch. Hübsch für ihren geliebten Kenny. Nachdem sie die riesige Blutpfütze im Wohnzimmer beseitigt hatte, schleppte sie den Leichensack ins Schlafzimmer und versteckte ihn solange im Kleiderschrank. Das musste fürs Erste reichen. Schließlich nahm sie ihr Handy und wählte Kennys Nummer. Nach einer Weile ging er ran und fragte, was los sei. „Hey Kenny… sag mal, hast du heute Abend vielleicht Zeit?“

„Na klar, soll ich um acht vorbeikommen?“

„Gerne. Ich warte auf dich. Ich habe sogar eine Überraschung für dich.“

„Au super. Du weißt ja, ich liebe Überraschungen.“ Ein Lächeln spielte sich auf Junes Lippen und ihr Blick wanderte zum Leichensack. „Ich bin mir sicher, dass du dich freuen wirst.“ Für die ganz große Überraschung am Abend bereitete June alles akribisch vor. Sie suchte die romantischsten Kuschelrocksongs aus, wechselte die Bettwäsche und ging zum Weinhändler, um einen besonders edlen Tropfen zu holen. Geld durfte dabei keine Rolle spielen. Als nächstes brauchte sie noch Duftkerzen und noch ein paar Zutaten, für Kennys Lieblingsgericht: Steak mit Thymiankartoffeln. Da war das Beste gerade mal gut genug! June hatte, wenn sie Kenny mal nicht verfolgt oder überwacht hatte, diverse Kochkurse besucht, um ihn richtig verwöhnen zu können. Inzwischen kannte sie den Guten in und auswendig. Sie kannte seinen Tagesablauf, seine Telefon- und Handynummern als auch seine E-Mail Adressen oder Chatnamen. Immerhin hatte sie ihn unter den Namen „CherryGirlxxx“ auf die Probe gestellt um sicherzugehen, dass er sie nicht betrügen würde. Sie kannte seine Kontodaten, hatte Übersicht auf seine Kontoaktivitäten, sie wusste was er gerne aß und sie kannte all seine Hobbys und was er nicht gerne mochte. Sie kannte seine Krankengeschichte, mit welchen Mädchen er bis jetzt zusammen war und wie diese Beziehungen in die Brüche gegangen waren. Sie wusste auch, dass er einen so tiefen Schlaf hatte, dass ihn nichts auf der Welt aufwecken konnte. Immerhin hatte sie ihn unzählige Male nachts besucht und fotografiert. Sie hatte auch bei ihm gelegen und sich an ihn gekuschelt, er war einfach nicht aufgewacht. Es konnte aber vielleicht auch ein wenig am Schlafmittel liegen, das sie ihm heimlich untergejubelt hatte.

Na was soll’s. Es ging jetzt darum, den perfekten Abend für ihren Liebsten vorzubereiten.
 

Um kurz vor acht Uhr stand Kenny an der Tür und war wie immer hübsch gekleidet. Er staunte nicht schlecht, als er June in einem richtig schicken schwarzen Kleid antraf. Sie trug schwarze auf Hochglanz polierte High-Heels und schien Beine zu haben, die gar nicht mehr enden wollten. Sie führte ihn in die Küche, wo sie den Tisch bereits gedeckt hatte. Das beste Geschirr hatte sie hervorgeholt und die Kerzen brannten auch. „Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.“

„Hast du etwa gekocht?“

„Ja. Es gibt dein Lieblingsgericht.“ June holte die Steaks aus dem Backofen, befreite sie aus der Alufolie, legte sie zusammen mit den nun fertigen Thymiankartoffeln auf den Teller und garnierte alles mit fein gehackter frischer Petersilie. Dann schenkte sie den Wein ein und setzte sich Kenny gegenüber. Schließlich erhob sie ihr Weinglas und Kenny tat es ihr gleich. „Auf unsere Beziehung.“

„Auf uns beide!“ Kenny war begeistert von dem Essen, das June gemacht hatte. Er hatte nirgendwo ein so saftiges und zartes Steak gegessen und auch die Thymiankartoffeln waren perfekt. Und das alles hatte June für ihn getan. „Es gibt auch einen kleinen Nachtisch“, sagte June mit einem verführerischen Glanz in den Augen und zwinkerte ihm zu. „Allerdings nicht hier sondern im Schlafzimmer.“ In diesem Moment kochte Kennys Libido und er fühlte sich wie im Paradies. Leckeres Essen, guter Wein, romantische Stimmung und jetzt noch ein paar heiße Stündchen im Bett. Beinahe willenlos folgte er June und öffnete bereits die Knöpfe seines Hemdes. Im Schlafzimmer war alles hübsch hergerichtet und überall brannten Kerzen, auch ein paar Duftkerzen, die ein angenehmes Lavendelaroma verströmten. June legte sich lasziv aufs Bett, damit Kenny sie ausziehen konnte. Statt, dass er mit Feingefühl ranging, stürzte er sich förmlich auf sie und öffnete den Reißverschluss an ihrem Kleid. Zu seinem Erstaunen kam aber keine nackte Haus zum Vorschein sondern ein Korsett. „Seit wann trägst du ein Korsett?“

„Damit ich schönere Kurven habe.“ Nun begann Kenny es aufzuschnüren und tatsächlich besaß June keine sehr schöne Taille. Sie war nicht pummelig, aber ihr fehlten einfach die weiblichen Rundungen. Aber das störte ihn nicht im Geringsten. Was ihn aber dann doch erschrak war, als June schon mal den oberen Teil ihres Kleides entfernte und den BH entblößte. Anstatt, dass da zwei schöne, wohl geformte Brüste waren, befanden sich im BH kleine Kissen als Ersatz. June hatte gar keine Brüste, gar keine weiblichen Rundungen. Sie hatte den Oberkörper eines schmächtigen Jungen. Sofort sprang Kenny auf und wich vom Bett zurück. „Was zum Teufel… was hat das zu bedeuten June?“ June selbst war verwirrt über Kennys Reaktion und schien nicht zu verstehen, warum er so erschrocken aussah. „Warum regst du dich so auf Kenny? Ich dachte, du liebst mich so wie ich bin.“

„Mal im Ernst June: Bist du ein Kerl oder was?“

„Für dich bin ich alles. Eine Frau, ein Mann… was immer du auch willst. Wir lieben uns doch und deswegen ist es auch egal, dass ich ein Junge wie du bin.“

„Es ist nicht egal verdammt. Ich bin keine Schwuchtel, ich steh nicht auf Kerle! Das ist ja abartig, du hast mich die ganze Zeit verarscht. Oh Scheiße, wenn ich daran denke, dass wir in der einen Nacht… oh Fuck!!!“ Kenny begann hastig im Zimmer auf und ab zu laufen, während er laut fluchte und einfach nicht fassen konnte, dass June in Wahrheit ein Mann war. June selbst brach in Tränen aus und konnte selbst nicht fassen, dass Kenny auf einmal so grausam war. Er war doch sonst immer so liebevoll gewesen und jetzt war er auf einmal so angewidert. Dabei hatte er als June alles getan, damit Kenny ihn liebte. Er hatte alles für ihn getan und jetzt behandelte er ihn wie ein Monster. Das durfte es einfach nicht sein. „Ich habe für dich doch alles getan. Ich habe sogar dieses Flittchen und deinen Bruder getötet, damit wir zusammen sein können!“

„Du… du hast was getan?“ June ging zum Kleiderschrank, öffnete den Leichensack und holte den abgehackten blutverschmierten Kopf von Janice raus und präsentierte ihn wie einen Medusakopf. Entsetzt taumelte Kenny zurück und erbrach auf den Boden. „Oh Scheiße… scheiße…“

„Ich habe das getan, weil ich dich liebe. Sie wollten uns auseinanderbringen, sie haben uns unser Liebesglück nicht gegönnt, deswegen musste ich sie töten.“ June steckte den Kopf wieder in den Sack und ging zu Kenny, doch der stieß ihn weg.

"Und dieser Kerl, der mit Janice..."

"Ich habe es für dich getan. Du wärst mit ihr niemals so glücklich geworden wie mit mir. Ich habe es für uns getan. Wir sind für einander bestimmt. Das weißt du auch!"

„Fass mich ja nicht an du kranker Psycho!!!“ Und damit verließ Kenny taumelnd das Schlafzimmer, um auf dem schnellsten Weg aus der Wohnung zu verschwinden. Zitternd kauerte „June“ auf dem Boden und vergoss Tränen. Das Make-up verschmierte bereits. „Ich dachte, du liebst mich auch als Jamie. Hättest du mich wirklich geliebt, dann würdest du mich auch so akzeptieren.“

„Lass mich ja in Ruhe du Freak!“ Etwas in Jamie machte „Klick“ und schaltete seinen Verstand aus. Ein Schalter legte sich bei ihm um und all die Liebe, die er vorher für Kenny verspürt hatte, schlugen in blanken Hass um. Wie konnte er nur so mit ihm reden, wo er doch alles getan hatte? All die Mühen, all die Opfer und dieser Mistkerl dankte es ihm, indem er ihn einen Freak und einen Psycho nannte? Dieses elende Schwein hatte mit seinen Gefühlen gespielt und dafür sollte er bezahlen.

Verrecke, verrecke, verrecke du elender Bastard! Du sollst verrecken!!!“ Jamie nahm eine Vase von der Fensterbank und warf sie mit aller Kraft nach Kenny und traf ihn am Hinterkopf. Er fiel zu Boden und verlor das Bewusstsein. Jamie eilte in die Besenkammer und holte einen schweren Holzprügel hervor. Damit ging er zu Kenny zurück und wartete, bis er wieder bei Bewusstsein war. Immer noch mit Tränen in den Augen, aber das Gesicht vor Wut verzerrt, stand er über ihn gebeugt und hielt den Holzprügel schlagbereit. „Du hättest mich einfach lieben sollen…“ Das waren die letzten Worte, die Kenny noch in seinem Leben hörte, bevor der Prügel auf ihn niedersauste und unzählige Schläge ihm die Knochen zertrümmerten, bevor ihn ein letzter Schlag den Schädel zermalmte.
 

Jamie hatte sich schön geschminkt und trug wie immer etwas Lilafarbenes. Lila war seine absolute Lieblingsfarbe, denn immerhin war es eine Mischung aus rot und blau. Rot für die Frauen, blau für die Männer. Und er hatte beides. Seine Augen waren betont aber nicht zu stark geschminkt und wie immer saß er am Tresen. Der Barkeeper kam auf sie zu und reichte ihm einen „Purple Nurple“. „Wem darf ich den Drink servieren?“

„Mein Name ist Delilah, ich bin neu in der Stadt.“

„Na dann wünsche ich noch einen schönen Abend.“

„Vielen Dank, den werde ich sicherlich haben.“ Jamie begann den Strohhalm im Drink zu rühren und sah sich in der Bar gut um. Und tatsächlich hatte er bereits jemanden im Visier: Einen hübschen Schwarzhaarigen, gut gebaut und ganz offensichtlich alleine unterwegs. Jamie trank seinen Drink aus und ging zielgerade auf ihn zu. „Hallöchen, so ganz alleine hier?“ „Bis gerade eben ja. Hey, ich heiße Johnny.“

„Delilah. Wie wär’s mit einem kleinen Tänzchen?“ Sofort erklärte sich Johnny einverstanden und schon tanzten sie beide zusammen auf der Tanzfläche, wobei Johnnys Hände immer öfter zu Jamies Hüften glitten und die Distanz zu ihnen immer kürzer wurde. Jamie hatte sein neues Opfer gefunden und es wusste nicht, wie tief es sich bereits im Netz der Spinne verfangen hatte. Es war die Liebe auf dem ersten Blick. Wie unzählige Male bereits zuvor.

Die Sally Parabel

Diese Geschichte wurde von einem User namens "I.M.Sally" online gestellt. Es ist zurzeit die berühmteste Geschichte, die zum Sally-Mythos existiert und die vermeintlich wahren Begebenheiten zur Entstehung dieses Mythos behandelt:
 

Dies ist die Geschichte eines kleinen Mädchens namens Sally.

Sally lebte auf einer kleinen Farm zusammen mit ihrer Familie auf dem Land. Weit und breit gab es nichts, außer anderen Farmen, einer großen Ranch und einem kleinen Dorf. Es war eine sehr friedliche Gegend und Sally hatte zwei ältere Brüder: Joseph und Marcus. Joseph war bereits volljährig und würde bald die Farm seiner Eltern übernehmen. Er war ein sehr fleißiger und christlicher Mensch und er liebte seine kleine Schwester Sally und sie liebte Joseph auch sehr. Als sie klein war, hatte er immer auf sie aufgepasst, wenn die Eltern nicht da waren. Marcus hingegen wollte eines Tages Lehrer werden und in der Stadt leben, darum sparte er auch für sein Studium. Sally hingegen wollte weiter auf der Farm leben und eines Tages den Sohn eines anderen Farmers heiraten. Hier auf dem Land war ihr Zuhause und sie liebte es, mit den süßen Tierchen zu spielen. Eines Tages, als Joseph mit den Eltern auf dem Feld arbeitete und Sally sich derweil um die Hühner kümmern musste, kam ihr eine lustige Idee zu einem neuen Spiel. Sie eilte ins Farmhaus und holte aus einer alten Truhe die alte Schleuder von Marcus. Es wäre doch interessant zu sehen, wie gut sie auf die Tauben zielen konnte und was wohl passierte, wenn sie sie am Kopf treffen würde. Nachdem Sally die Eier aus dem Hühnerstall eingesammelt und das Futter verteilt hatte, nahm sie einen kleinen Kieselstein vom Boden und sah auch schon eine Taube auf dem Zaun sitzen. Zufrieden lächelte die kleine Sally und begann zu zielen. Das Federvieh beachtete sie gar nicht, sondern begann sein Gefieder zu putzen. Sally biss sich auf die Unterlippe, was sie sehr oft tat, wenn sie sich konzentrierte und visierte die Taube an. Dann ließ sie los und der Kieselstein schoss davon. Er traf die Taube in die Brust, welche dann mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel und keinen Ton von sich gab. Sie zuckte nur ein wenig und ihre Augen schauten Sally an. Diese hatte die Schleuder zur Seite gelegt und sah die Taube schweigend an. Das Vögelchen sah aus, als würde es große Schmerzen haben. Nur schade, dass es nicht schrie, dachte Sally und war ein wenig enttäuscht. Sie hätte sich das ein wenig spektakulärer vorgestellt. Die Taube lag einfach stumm auf dem Rücken und zuckte ein wenig. Wenn sie sie einfach hier ließ, würde sie verhungern, oder die Katze würde sie fressen. Joseph hatte ihr beigebracht, dass man Tiere nicht leiden lassen sollte. Viel mehr sollte man ihr Leiden schnell beenden. Also holte die kleine Sally einen großen Stein, der die Größe ihrer Faust hatte. Er war schwer und es kostete sie Mühe, ihn mit einer Hand zu heben, also packte sie ihn mit beiden Händen. Schließlich hob sie ihn über ihren Kopf und ließ ihn dann auf die Taube niedersausen. Es gab ein leises Knacken und unter der Wucht des Schlages begann Blut zu spritzen. Als Sally den Stein wieder hob, war die kleine Taube tot, aber der zerschmetterte Körper weckte Sallys Interesse. Wie er wohl nach einem weiteren Schlag aussähe? Also hob Sally den Stein ein weiteres Mal und schlug ihn erneut auf die Taube, dieses Mal kräftiger. Wieder spritzte es Blut und Sally kniff die Augen zusammen, damit nichts hineinspritzte. Nun war außer Fleisch, Gedärmen, Knochen und Federn leider nicht mehr fiel übrig. Da Sally wusste, dass Joseph böse wurde, wenn er tote Tiere auf dem Farmgelände fand, grub sie mit ihren Händen ein Loch in den Boden, warf die tote Taube hinein und bedeckte das Ganze mit Erde. Damit es auch bedeckt blieb, stampfte Sally das Ganze mit Erde fest und verschwand schnell mit der Schleuder. Das nächste Mal würde sie etwas anderes nehmen, als einen Vogel. Diese machten einfach nicht genug Lärm, wenn sie Schmerzen hatten.

Schnell schnappte sich Sally den Korb mit den gesammelten Eiern und brachte ihn ins Haus. Die meisten Eier würden verkauft werden, aber für jeden aus der Familie würde es ein Ei zum Frühstück geben. Sally selbst mochte keine Eier. Am Abend kamen ihre Brüder zusammen mit ihrem Vater und den Knechten vom Feld zurück und zusammen gingen sie ins Farmhaus, um zu Abend zu essen. Schließlich wandte sich Sally an ihren großen Bruder Joseph und fragte „Warum gibt es eigentlich keine Wurst mehr?“

„Weil wir dafür erst einmal ein Tier schlachten müssen. Du musst dich bis morgen gedulden. Dann wird nämlich ein Schwein geschlachtet.“ Als Sally das hörte, klopfte ihr Herz schnell vor Aufregung. Ihre Augen wurden ganz groß und sie fragte „Darf ich da mithelfen?“ Sie hätte so gerne mitgeholfen bei der Schlachtung. Allein der Gedanke, einer großen Sau die Kehle durchzuschneiden und sie ausbluten zu lassen, machte sie ganz aufgeregt. Umso trauriger war sie, als ihr Vater sagte „Erstens bist du dafür zu klein, zweitens ist das Sache der Männer. Ein kleines Mädchen wie du hat da nichts verloren.“ Ihr Vater war ein sehr strenger Mann, der es nicht gerne sah, wenn Sally unartig wurde. Vor zwei Wochen, als sie dem Nachbarhund Tollkirschen zu fressen gegeben hatte, weil er Tag und Nacht laut bellte und sie um ihren Schlaf brachte, hatte er sie zur Strafe 6 Stunden in den dunklen Keller eingesperrt. Außerdem hatte er sie mit dem Stock verprügelt, als Strafe dafür, dass sie unartig war. Ja, Sally war oft ein unartiges Kind, wie ihr Vater fand. Einst hatte ein böser Junge sie geärgert und schließlich in eine Pfütze geschubst, woraufhin ihr schönes Kleid schmutzig geworden war. Das hatte sich Sally natürlich nicht gefallen lassen und als der böse Junge auf dem Weg nach Hause war, hatte sie einen großen Ast genommen und ihm einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf verpasst. Anschließend hatte sie ihn in ein Fass gesperrt, Würmer und Insekten gesammelt und hineingeworfen. Dann machte sie das Fass zu und legte einen schweren Stein darauf, damit er sich nicht befreien konnte. Es dauerte einen Tag, bis ihn seine Eltern fanden und seitdem hatte er Sally nie wieder geärgert. Keiner hatte es seitdem mehr gewagt, Sally zu ärgern, bis zu diesem einen Tag, wo ein neuer Mitschüler in die Klasse kam. Dieser war sogar noch gemeiner gewesen, denn er klaute Sallys Taschengeld, ihr Pausenbrot und trat sie immer. Als sich die Gelegenheit bot, stieß Sally ihn in einen Brunnen und lief davon.

Nun war sie sehr enttäuscht, dass sie nicht bei der Schlachtung dabei sein durfte und sie bettelte noch eine lange Zeit, doch ihr Vater blieb hartnäckig. Traurig ging sie nach draußen und setzte sich auf die Schaukel, da kam ihr großer Bruder Joseph dazu, um mit ihr zu reden. „Sei nicht so traurig Sally. Wenn du alt genug bist, kannst du gerne helfen. Aber Vater hat Recht: Ein Mädchen in deinem Alter hat bei so einer Sache nichts zu suchen. Das ist ja auch kein schöner Anblick. Ich mache dir aber einen Vorschlag: Für Sonntag möchte Mutter Hühnersuppe kochen und dazu muss ich ein Huhn schlachten. Dabei darfst du ausnahmsweise helfen, wenn du auch schön artig bist.“ Sally versprach es und umarmte ihren Bruder. Um nichts in der Welt wollte sie das verpassen! Aber sie wollte auch dabei sein, wenn das Schwein geschlachtet wurde. Für Sally stand fest, dass sie das um jeden Preis sehen wollte und dafür hatte sie auch schon einen Plan.

Sally verhielt sich so anständig, wie sie nur konnte, damit ihr Bruder ihr erlaubte, bei der Huhnschlachtung zu helfen. Sie wagte es gar nicht erst, der nervigen Nachbarstochter eins auszuwischen und sie verhielt sich sogar in der Kirche brav. Als es endlich soweit war, rief ihr Bruder sie in den Anbau an der Scheune, wo ein großer Wetzstein stand, Messer von Haken an der Wand hingen und wo ein leichter Blutgeruch in der Luft hing. Joseph hatte ein Huhn am Hals gepackt und wies Sally an, das große Fleischerbeil zu holen und es zu bringen. Sie bettelte darum, es selbst zu machen und da Joseph seiner kleinen Schwester keinen Wunsch abschlagen konnte, gab er sein Einverständnis. „Halt das Huhn schön fest auf der Schlachtbank und schlag mit dem Messer so fest zu wie du kannst, damit es nicht leiden muss.“ Sally hielt das Huhn fest, nahm das Fleischerbeil und schlug mit aller Kraft zu. Das Beil trennte dem Huhn den Kopf ab und sah begeistert, wie das Blut herausspritzte und die Beine noch zuckten. „Sehr gut“, lobte Joseph und tätschelte ihr den Kopf. „Jetzt müssen wir nur noch warten, bis alles Blut herausgetropft ist, dann werden die Federn entfernt. Das kannst du übernehmen. Nein warte, nicht einfach hinlegen. Es wird kopfüber aufgehängt und die Federn werden dann in den Korb gelegt.“ Sally tat brav das, was ihr Bruder sagte und wartete geduldig, bis das Huhn ausgeblutet war. Dann nahm sie das Huhn wieder vom Haken herunter, legte ein Tuch auf ihr Kleid als sie sich setzte und begann das Huhn zu rupfen. Dabei fragte sie sich, wie ein Huhn reagiere, wenn man es lebendig und bei Bewusstsein rupfte. Das wäre doch interessant herauszufinden.

Als das Huhn fertig gerupft und damit kahl war, nahm Joseph das Fleischermesser, welches er vorher gut geschärft hatte und begann den Vogel auszunehmen. Begeistert sah ihm Sally zu und war ein wenig enttäuscht, wie wenig blutig das Ganze war. Aber andererseits… das Huhn war ja auch ausgeblutet und da war es logisch, dass das Ausnehmen nicht so blutig war wie erhofft. Schließlich, als sie fertig waren, säuberten sie alles und Sally brachte die Federn ins Haus, wo sie im heißen Wasser gesäubert wurden, bevor sie weiter verwertet werden konnten. Als die Schweinschlachtung anstand, hatte sich Sally auf eine Kiste gestellt und sah zum Fenster herein. Tatsächlich war die Tötung eines größeren Tieres viel spektakulärer als die eines Federviehs und das Schwein gab auch laute Schreie von sich, bevor es mit einem Hammer bewusstlos geschlagen wurde, bevor man ihm die Kehle durchschnitt. Aber trotzdem fehlte da etwas. Sally heckte bereits einen weiteren Plan aus.

Als am Sonntag nämlich die ganze Familie in die Kirche ging, gab Sally vor, krank zu sein und Magenschmerzen zu haben. Sie war alleine und das nutzte sie, um das Fleischermesser aus dem Anbau zu holen und damit ging sie in den Stall. Sie bekam schließlich eines der Ferkel zu fassen und rammte das Messer in den Bauch. Das Ferkel gab schreckliche Quieklaute von sich und wehrte sich nach Leibeskräften. Das war ganz nach Sallys Geschmack.

Sally begann nun immer öfter kleine Tiere lebendig auszunehmen. Meist Tauben und Mäuse, aber auch Hühner und das blieb natürlich nicht unbemerkt. Irgendwann merkten die Knechte und Mägde, dass es plötzlich weniger Tiere gab als vorher. Aber niemand kam auf die Idee, dass Sally etwas damit zu tun haben könnte. Nein, man begann zu glauben, dass ein Fuchs oder ein Wolf sein Unwesen treibe, darum hielt man das Gewehr bereit. Sally ihrerseits begriff, dass sie unmöglich die Hühner und Ferkel töten konnte. Darum machte sie Jagd auf Waschbären und anderen Tierchen. Doch irgendwann war ihr das Schlachten von Tieren nicht mehr genug. Irgendwann verlor sie die Lust daran und dann blitzte ein neuer Gedanke in ihrem Köpfchen auf: „Was, wenn ich es mal bei Menschen ausprobiere?“ Natürlich wusste sie, dass so etwas verboten war. Ihre Mutter und auch ihr Vater hatten ihr mehr als genug eingebläut, dass man Menschen nicht verletzen darf. Und Töten war eine Sünde, für die man in die Hölle kam. Aber das war Sally nicht so wichtig. Sie glaubte weder an einen Gott noch an einen Teufel. Dementsprechend glaubte sie nicht an Himmel und Hölle. Das durfte sie aber auf keinen Fall laut aussprechen, da besonders ihre Mutter streng gläubig war und sowohl sie als auch ihr Vater hatten zum Teil extreme Ansichten. Immer, wenn Sally unartig war, wurde sie für sechs Stunden in den Keller gesperrt und musste beten. Das tat sie meist gar nicht und wenn, dann nur weil sie überwacht wurde. Sally besaß überhaupt im Allgemeinen weder so etwas wie Schuldbewusstsein noch Reue. Ihr war es egal, ob die Menschen und Tiere, die sie zu quälen beliebte, litten oder nicht. Im Gegenteil, es machte ihr sogar großen Spaß. Es war alle Male interessanter als mit Puppen zu spielen. Die Frage stellte sich nur, wen sie denn töten sollte. Den Nachbarsjungen? Nein, viel zu nahe liegend. Es musste jemand sein, mit dem man sie nicht in Verbindung bringen würde. Schließlich entschied sich Sally für einen Jungen namens Thomas, dessen Eltern an Typhus gestorben waren und der seitdem bei seiner Tante wohnte, die sich nicht gut um ihn kümmerte. Als er gerade in der Gegend umherstreifte, schlug sie ihn mit einem Stein nieder und schleppte ihn in den Anbau. Sie zog ihn komplett aus, schnürte ihn auf der Schlachtbank fest. Dann steckte sie ihm noch einen Knebel in den Mund, damit ihn niemand schreien hören konnte.

Ihr Vater kam herein, als Sally gerade dabei war, Thomas auszunehmen und als er das Blutbad sah, war er so entsetzt, dass er erst keinen Ton herausbekam. Sally ihrerseits wusste, dass es dieses Mal nicht bloß bei Kellerarrest bleiben würde. Denn sie hatte einen Menschen getötet. Sie wollte nicht in den Keller und so ergriff sie das Messer und tötete ihren Vater mit zehn Stichen und je öfter sie auf ihn einstach, desto mehr spürte sie die Aufregung, die Anspannung und die Freude. Ja, es machte ihr Spaß, ihren eigenen Vater zu töten. Mehr noch als diesen dahergelaufenen Jungen. Sally taumelte zurück, als sie ihren Vater tot auf dem Boden liegen sah, ließ das Messer fallen und war zunächst über sich selbst erschrocken, dass sie es so genossen hatte. Doch die Euphorie, die sie in dem Moment verspürt hatte, als das Messer sich seinen Weg ins Fleisch bahnte, war überwältigend. Es war so überwältigend, dass sie sich setzen musste. Ihr ganzer Körper war noch am Zittern und Glücksgefühle stiegen in ihr hoch. Und dann begann sie zu lachen. Sie lachte wie noch nie zuvor und konnte sich kaum beruhigen. Von nun an wollte sie nicht mehr die kleine brave Sally sein. Nein, jetzt gab es nur noch die unartige Sally.

Und so war sie auch nicht mehr lieb zu der Mutter. Nein, Sally schüttete Unmengen von Salz in den Kuchenteig, warf die Milchkübel um und quälte die Tiere. Die armen Kälbchen prügelte sie mit dem Besen, den Knecht Robert erschlug sie mit der Axt. Als die Magd Irma das sah, rannte sie zu Sallys Mutter und erzählte ihr von den bösen Dingen, die Sally da machte. Oder zumindest wollte sie es tun, denn Sally war ein wenig schneller als sie und schubste sie die Treppen hinunter. Es gab ein hässliches Knacken und das Genick der Magd brach. Der kleinen Katze, die immer die Mäuse jagte, zog die kleine Sally das Fell über die Ohren und dem Hund band sie einen Stein um den Hals und warf ihn in den Brunnen. Marcus, der zweitälteste Bruder merkte von alledem gar nichts. Er hielt sich zurzeit in der Großstadt auf, um dort zu studieren. Die Mutter jedoch ahnte bereits, was da vor sich ging und holte das Gewehr, um Sally zu töten. Sie hatte Angst vor dem Mädchen und war sich sicher, dass sie vom Teufel besessen sei. Doch als sie das Gewehr laden wollte, fehlten bereits die Patronen. Diese hatte Sally vorsichtshalber versteckt, damit die Mutter sie nicht fand. Als die Mutter gerade im Stall war, um nach Sally zu suchen, hatte das kleine Mädchen bereits auf sie gewartet und stieß ihr die Sense, die der Vater für die Feldarbeit nutzte, in den Rücken. Sofort fiel die Mutter tot um, sie schrie noch nicht einmal als sich die Sense in ihren Rücken bohrte. Sie stieß bloß ein leises Stöhnen aus, mehr nicht. Nun aber stand Sally vor einem kleinen Problem: Ihr großer Bruder Joseph war noch übrig und eigentlich hatte sie ihn sehr lieb. Aber andererseits würde er sicher böse werden, wenn er merkte, dass sie wieder unartig war. Was sollte sie also tun? Sie musste gut darüber nachdenken, was zu tun war. Ihr Vater hatte immer gesagt „Wenn du ein Problem hast, dann rede mit jemandem darüber.“ Ja, sie sollte besser mit Joseph darüber reden, vielleicht konnte der ihr helfen. Er war ja so schlau und wusste immer alles. Also schleifte Sally ihre tote Mutter in den Anbau und legte sie zu den anderen Leichen. Stolz betrachtete sie ihr Werk, das sie vollbracht hatte. All diese abgetrennten Arme und Beine, die entnommenen Organe an den Haken sahen fast so aus wie ein echtes Schlachthaus. Sicher würde Joseph nicht mehr behaupten, sie sei für das Schlachten von Tieren noch zu jung. Das alles sah hier doch sehr professionell aus und mit den Messern konnte sie jetzt auch wunderbar umgehen. In diesem Moment kam Sally eine Idee. Joseph und sie würden ganz alleine auf der Farm leben, nur sie beide und dann würden sie noch viel mehr Spaß haben. Ja, das war die beste Idee, die Sally jemals gehabt hatte. Zufrieden ging sie ins Haus und zog ihr Lieblingskleid, nämlich das schwarze mit den weißen Punkten an. Dazu band sie sich noch eine Schleife ins Haar und summte ein Lied dabei. Sie bürstete sich das Haar und wusch sich die Hände. Nun wartete sie auf ihren großen Bruder Joseph, bis er mit dem Wagen aus der Stadt kam. Als er in den Hof fuhr, eilte sie hinaus, wartete bis er ausstieg und fiel ihm direkt in die Arme. Joseph freute sich über die Begrüßung und hob Sally hoch. „Du hast dich ja hübsch gemacht, Schwesterchen.“

„Ja, ich wollte unbedingt mein Lieblingskleid anziehen.“

„Na hoffentlich sagt Mutter nichts dagegen. Du weißt ja, sie kann das Kleid nicht leiden.“

„Sie hat nichts dazu gesagt. Kommst du nachher auf die Veranda?“

Sally eilte schon mal vor und holte ein Bier aus dem Keller. Sie wusste, dass Joseph gerne ein Bier nach der anstrengenden Arbeit trank und dabei auf der Veranda saß, wo er den Sonnenuntergang betrachtete oder die Zeitung las. Ungeduldig saß sie auf dem Stuhl und wippte leicht vor und zurück. Etwas später kam Joseph und setzte sich zu ihr. „Sag mal, wo sind eigentlich Mutter und Vater?“

„Im Anbau, sie sind gerade sehr beschäftigt.“

Joseph nahm einen Schluck und lehnte sich weit in den Stuhl zurück. Er hatte so eine einmalige Art, seinen Feierabend zu genießen. Immer, wenn er den ersten Schluck Bier nahm, lehnte er sich zurück, seufzte zufrieden und sagte „Ach ist das Leben schön“. Als er es wieder tat, musste Sally kichern. Joseph blickte zu ihr rüber. „Und was hast du heute Schönes gemacht?“ „Ich habe viel Spaß mit Mama gehabt.“

„Warst du auch schön brav?“ Sally nickte und lachte. Sie lachte gerne, Joseph sagte immer, sie habe ein wirklich süßes Lachen. Sie lachte sehr viel, egal ob sie glücklich oder ängstlich war. Als sie klein war und sich im Dunkeln gefürchtet hatte, sagte Joseph zu ihr „Du brauchst keine Angst zu haben. Lache einfach, denn Jesus wird dich beschützen, weil er dich lieb hat.“ Genauso wie ihr großer Bruder Joseph war sie immer sehr fröhlich, wohingegen Marcus eher ein ernster Junge war. Er kam da mehr nach seinen strengen Eltern. In diesem Moment dachte Sally an die Schlachtraum, wo die Leichen der Eltern und Knechte lagen. Joseph hatte nichts mitbekommen, da er ein paar Tage in der Stadt gewesen war und viele Dinge zu erledigen hatte. Er musste die Einkäufe organisieren, Bestellungen aufgeben und noch vieles mehr tun. Also wusste er auch nicht, dass seine jüngste Schwester unartig gewesen war. Schließlich, als Joseph sein Bier ausgetrunken hatte, stellte Sally ihm eine Frage. „Hast du mich eigentlich lieb?“

Erstaunt sah Joseph seine kleine Schwester an und verstand erst nicht, warum sie dies fragte. Dann aber lachte er und tätschelte ihr den Kopf. „Natürlich habe ich dich lieb, du bist doch meine kleine Schwester.“

„Hast du mich auch lieb, wenn ich unartig war?“

„Natürlich. Warum fragst du? Hast du etwa was angestellt?“

„Nein, ich wollte es nur wissen. Joseph, kommst du kurz mit? Ich wollte dir etwas ganz Tolles zeigen. Etwas, das ich ganz alleine gemacht habe!“ Freudestrahlend und mit einem Herz, das vor Aufregung raste, führte Sally ihren großen Bruder zum Anbau in den Schlachtraum. Sie öffnete die Tür und sah ihn erwartungsvoll an, als er den Raum betrat. Doch anstatt, dass er stolz auf sie war und ihr den Kopf tätschelte, wie so viele Male zuvor, sah er entsetzt aus. Er war mit einem Male ganz blass und dann erbrach er sich auch noch. Sallys Freude schwand immer mehr. „Gefällt es dir nicht?“ Doch Joseph sah sie gar nicht an. Sein Blick war auf den toten Körper seiner Mutter gerichtet, in deren Hals ein Fleischerhaken steckte, der von der Decke baumelte. Dann erbrach er sich erneut und sah Sally fassungslos an. „Sally… was… was hast du…“

„Glaubst du immer noch, ich bin zu jung für so etwas? Ich habe das alles ganz alleine geschafft, ohne fremde Hilfe. Wie findest du es?“ Und während Sally sprach, ging sie ganz langsam zur Schlachtbank und nahm das Fleischerbeil, welches dort lag und versteckte es hinter ihrem Rücken. Dann trat sie auf Joseph zu, welcher an der Wand gelehnt stand und dem die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Noch immer sah er auf seine aufgespießte tote Mutter. Noch immer konnte er nicht fassen, was er da sah. Er war doch nur eine Woche weg gewesen und jetzt waren sie alle tot? Dann wanderte sein Blick zu Sally, die ihn immer noch anlächelte und kicherte. Doch es war nicht mehr dieses unschuldige Kinderlächeln. Es war das Grinsen des Teufels, dessen war er sich ganz sicher. Das war nicht seine Schwester sondern ein Dämon. „Wer… oder was… bist du?“

„Wie?“ fragte Sally und kicherte. „Ich verstehe die Frage nicht. Ich bin doch deine kleine Schwester.“ Dies sagte sie aber nicht mehr mit dieser zuckersüßen und unschuldigen Stimme, wie sonst auch immer. Nein, dieses Mal hatte es etwas Drohendes im Unterton, etwas Unheilvolles. Er musste etwas tun. Er musste sie töten, bevor sie die Chance dazu bekam. „Es ist wirklich sehr… schön geworden. Lass mich das mal näher ansehen.“ Vorsichtig ging Joseph an der Schlachtbank vorbei und bewegte sich unauffällig in Richtung der Messer. Sally lief ihm dicht hinterher und noch immer sah sie ihn mit diesen großen Augen eines unschuldigen Kindes an. Noch ein kleines Stück. „Bruderherz“, sagte Sally schließlich und hielt seine Hand fest. Er selbst blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Warum hast du gelogen?“

„Wie bitte?“

„Warum nur hast du gesagt, dass du mich noch lieb hast, wenn ich unartig war, wenn es sowieso nicht stimmt? Du bist ein ganz gemeiner Lügner. Weißt du, ich hatte wirklich gehofft, dass dir meine Arbeit gefällt. Ich hatte gehofft, dass wir beide zusammen noch mehr Spaß haben werden, aber du hast mich enttäuscht. Tut mir Leid, aber ich muss dich jetzt töten!“ Damit hob Sally das Fleischerbeil und schlug ihrem Bruder mit einem kräftigen Hieb die Hand ab. Die kleine Sally wusste nämlich, dass ein Mensch sich nicht mehr so gut zur Wehr setzen konnte, wenn man ihm die Hände abhackte. Und da Joseph sie belogen hatte, brauchte er auch gar nicht mehr zu leben. Sie brauchte ihn gar nicht mehr als Bruder. Er war jetzt wertlos. Sally hieb immer wieder mit dem Fleischerbeil auf ihn ein und riss tiefe Wunden. Schließlich traf sie ihn mitten auf den Kopf und als er dann in die Knie ging, schlug sie ihm das Beil in den Hals. Nun war auch Joseph der Lügner tot. Aber das machte nichts. Jetzt hatte sie genug Ruhe, um ausgelassen zu spielen.

Es traf sich schließlich ein paar Tage später, als Sally etwas Neues entdeckte, das ihr einen großen Spaß bereitete. Sie hatte nämlich die Streichholzschachtel gefunden, die ihre Mutter in der Schublade aufbewahrte, um die Kerzen am Hausaltar anzuzünden. Der Hausaltar beinhaltete eine Art kleine Bank zum Knien, ein Bild der Maria und ein Jesuskreuz. Drum herum standen viele Kerzen, die sie immer anzündete, wenn sie betete. Diese kleinen Flämmchen tanzen zu sehen war unglaublich faszinierend und jedes Mal, wenn ein Licht angezündet wurde, leuchteten ihre Augen. Daraufhin hatte Sally angefangen, Papier oder Stroh über dem Kerzenlicht zu verbrennen. Und es hatte ihr so gut gefallen, dass sie schließlich den Kanister mit dem Petroleum über den Leichenberg verschüttete, der sich aus ihrer Familie und den Knechten und Mägden zusammensetzte, und ihn schließlich anzündete. Ein weiteres Streichholz warf sie ins Stroh der Scheune und beobachtete, wie alles in Flammen aufging. Um die Tiere brauchte sie sich auch nicht zu kümmern. Die waren alle schon tot. Die Hühner wie auch die beiden Pferde, die Schweine wie die Kühe. Schnell huschte die kleine Sally aus der Scheune und lief in Richtung Wald. Sie musste sich verstecken, bevor die Farmer aus der Nachbarschaft kamen. Mit großen Augen sah sie voller Staunen auf das riesige Feuer, die schwarze Rauchsäule und hörte das wütende Fauchen und Zischen der Flammen. Und wieder konnte sie nicht anders als laut zu lachen. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. Sie lachte, bis die Leute sie fanden, mitnahmen und in die Stadt brachten. Zunächst glaubten sie, dass Sally lache, weil sie unter Schock stünde. Doch dann kam heraus, dass sie ihre Familie, die Arbeiter und die Tiere getötet und dann die Farm in Brand gesteckt hatte. Die Lehrerin konnte es nicht fassen. „Sally war doch immer so ein braves Mädchen“, sagte sie.

Sally hörte selbst dann nicht auf zu lachen, als ihr der Prozess gemacht wurde. Sie war zwar ein kleines Mädchen, aber die Verbrechen, die sie begangen hatte, waren ungeheuer. Und sie zeigte noch nicht einmal eine Spur von Reue. Man verurteilte sie schließlich zum Tode durch den Strick. Selbst als man sie ins Gefängnis sperrte, hörte sie nicht zu lachen auf. Die Leute aus der Stadt hielten sie für verrückt. Sie musste den Verstand verloren haben. Die Lehrerin, die immer noch beteuerte, dass Sally eigentlich ein braves Kind sei, versuchte den Richter zu überzeugen, das Mädchen in ein Irrenhaus einweisen zu lassen. Sie sei nicht bei Sinnen und man solle doch genügend Moral im Leibe haben, um davon abzusehen, ein Kind aufzuknüpfen. Man entschied, dass Dr. Walden das Kind untersuchen sollte. Wenn sie wirklich verrückt war, dann konnte man sie nicht zum Tode verurteilen. Das verbot der christliche Verstand.

Dr. Walden besuchte Sally in ihrer Zelle und begann sie nach dem Mord an ihrer Familie zu befragen. Sally kicherte und grinste den Psychologen an. Sie gab die Morde sofort zu und sagte, dass sie selten solch einen Spaß bei diesem Spiel gehabt hatte. Dann brach sie wieder in Gelächter aus und zeigte sich völlig unbeeindruckt davon, dass sie zum Tode verurteilt würde. Schließlich ergriff sie die Hand des Psychologen und sagte „Ich würde jederzeit wieder dieses Spiel spielen. Es ist doch total lustig, wenn das rote Zeug aus einem herausspritzt!“ Es war pure Bosheit, die Dr. Walden in diesem Augenblick in den Augen des Mädchens sah und ein solches Inferno flammte in ihren Augen auf, dass er für einen Moment glaubte, die Hölle zu sehen. Schnell bekreuzigte er sich und wich erschrocken vor ihr zurück. Noch nie hatte Dr. Walden eine so große Angst vor einem Kind gehabt wie vor ihr. Sally hingegen kicherte boshaft und grinste ihn an. „Warum so ernst? Lachen Sie doch, Jesus liebt Sie!“

„Du… du Teufelsausgeburt!“ So schnell er konnte, flüchtete Dr. Walden aus dem Gefängnis und berichtete den anderen Bewohnern von seinem Gespräch mit Sally. Es wurde schließlich entschieden, dass Sally nicht durch den Strick, sondern durch Gewehrkugeln ihr Ende finden sollte. Am Tag ihrer Hinrichtung wurde Sally an einen Mast gebunden, die Augenbinde lehnte sie ab. Fünf Männer zielten mit ihren Gewehren auf das kleine Mädchen, welches immer noch lachte. Der Dorfpfarrer hielt seine letzte Predigt und fragte Sally, ob sie noch vor ihrem Tode etwas sagen wolle. In dem Moment hörte Sally zu lachen auf und starrte die Männer mit demselben abgrundtief bösen Blick an wie Dr. Walden. Selbst diesen tapferen und hart gesottenen fünf Männern lief ein Schauer des Entsetzens über den Rücken und all die Schaulustigen, die sich um den Platz versammelt hatten, bekamen Angst vor Sally. Diese kicherte und sagte wie schon zu Dr. Walden „Warum so ernst? Lacht doch, Jesus liebt euch!!!“
 

Als Sallys älterer Bruder Marcus zu Beginn des darauf folgenden Tages von seinem Studium in das kleine Städtchen zurückkehrte, fand er alles zerstört vor. Überall lagen zum Teil verbrannte Leichen, manchen fehlten Gliedmaßen, die Häuser aus Holz brannten und die aus Stein lagen in Trümmern. Die ganze Stadt lag in Schutt und Asche. Die meisten Toten fanden sich jedoch auf dem Platz wieder, wo der große Holzmast stand. Es sah so aus, als hätte hier eine Hinrichtung stattgefunden. Jedoch war dort niemand am Mast festgebunden und es sah danach aus, als hätten die Männer einfach drauf los geschossen. Marcus machte sich sofort auf dem Weg zur Farm, doch er fand nur noch verbrannte Ruinen wieder. Dort, wo mal der Schlachtraum war, fand man später einen Haufen verbrannter Leichen. Alle Farmen in der Nähe der Stadt waren ebenfalls niedergebrannt und von Sally fehlte jede Spur. Marcus suchte alles nach ihr ab und glaubte schließlich, sie sei im Farmhaus oder in der Scheune verbrannt. Doch dann fand sich ein Überlebender in der Nähe der Raleigh Farm, der unter Schock stand und nur unverständliches Gestammel hervorbringen konnte. Er wiederholte immer und immer wieder dieselben Worte „Sally… Teufel…“

Man suchte wirklich überall nach Sally, aber von ihr fehlte jede Spur. Dafür aber fand Marcus in der Nähe des Hinrichtungsplatzes ein Foto, welches ihn mehr als beunruhigte. Es zeigte Sally, die in die Kamera lachte und im Hintergrund lag die Stadt in Trümmern. Sally trug ihr Lieblingskleid und ihre Schleife im Haar. Aber etwas war anders an ihr. Ihre Augen fehlten. Sie zeigten zwei schwarze Höhlen aus denen Blut floss. Als der Überlebende das Foto sah, schrie er auf und beging schließlich Selbstmord, indem er sich das Gewehr eines Toten nahm, sich den Lauf in den Mund steckte und schoss. Die Polizei aus dem Nachbarort kam in die Stadt und untersuchte den Fall, jedoch wurde nie geklärt, wie es zu der Zerstörung kam und wer alle 846 Einwohner getötet hatte. Marcus kehrte in die Großstadt zurück, um sein Studium wieder aufzunehmen. Er konnte immer noch nicht wirklich glauben, dass seine liebe kleine Schwester etwas mit diesem Massaker zu tun haben könnte. Sie war doch immer so ein braves Mädchen gewesen. Aber wo war sie denn dann, wenn nicht unter den vielen Leichen? War sie vielleicht doch zusammen mit der Familie verbrannt? Oder war sie davongelaufen? Marcus hatte nichts mehr. Keine Eltern, keine Geschwister, kein Zuhause…. Er hatte alles verloren. Alles, was er noch besaß, waren seine wenigen Habseligkeiten und dieses unheimliche Foto, wo seine augenlose Schwester zu sehen war. Manchmal, wenn er das Foto ansah, glaubte er sogar, ihr munteres Gelächter zu hören. Dann weinte er und presste das Foto fest an seine Brust.

Er saß traurig in seinem kleinen Studierzimmer, welches er zur Miete bewohnte und konnte sich nicht aufs Lernen konzentrieren. Immerzu musste er an seine arme Familie denken, an seine zerstörte Heimatstadt und er fragte sich, was passiert war, dass alle tot waren. Schließlich aber setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, um zu lernen, da hörte er plötzlich eine Stimme. „Willst du mit mir spielen?“ Erschrocken fuhr Marcus zusammen und drehte sich um. Mitten im Zimmer stand Sally. Sie grinste ihn an und wie auch auf dem Foto fehlten ihre Augen. Statt ihrer klafften da zwei schwarze Löcher, aus denen sie blutete. Doch das schien ihr nichts auszumachen. Im Gegenteil: Sie lachte. Seine zuerst empfundene Erleichterung wich der Angst vor diesem Wesen, das wie Sally aussah und sprach und Marcus fiel rücklings zu Boden als er nach hinten stolperte. Er versuchte etwas zu sagen, doch er brachte nur ein ängstliches Wimmern hervor. Sally trat einen Schritt näher auf ihn zu und sagte „Wir beide werden noch sehr viel Spaß miteinander haben. Genauso wie ich mit allen anderen Spaß hatte.“

„Nein… das… das kann doch nicht…“ Marcus versuchte zu schreien, aber in dem Moment versagte ihm die Stimme. Er war wie vor Angst gelähmt. Dieses Ding, das wie seine Schwester aussah war unheimlicher als alles, was er jemals gesehen hatte. Und er konnte einfach nicht fassen, was er da sah. Schließlich trat Sally noch ein paar Schritte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand. Wieder lachte sie und ihr Grinsen wurde zu einer monströsen Fratze. „Warum so ängstlich? Lach doch, Jesus liebt dich!“

Das Hans Bender Projekt

Am 14. Dezember 20xx wurde das Hans Bender Forschungsinstitut vollständig zerstört und insgesamt 135 Mitarbeiter und Sicherheitskräfte kamen dabei ums Leben. Aus den Trümmern wurden mehrere Tonbänder geborgen, die sämtliche Informationen über das gleichnamige Projekt enthielten. Die Aufzeichnungen wurden zusammengefasst und durch anonyme Quellen veröffentlicht.
 

Was wissen wir über den Tod und das, was darüber hinausgeht? Für uns Menschen wird er immer ein Mysterium bleiben, das letzte große Geheimnis. Er ist etwas Endgültiges und Unbekanntes, doch es kommt immer wieder vor, dass manche Menschen ihm entkommen und ins Leben zurückkehren können. Für einen kurzen Augenblick erleben sie den Tod und jeder beschreibt sein Erlebnis anders. Sei es, dass er vor Gottes Pforten stand, seine verstorbenen Anverwandten gesehen hat oder einfach ins Nichts verschwunden ist. Unser Institut hat zwei außergewöhnliche Fälle aufzeichnen können, die an ein paranormales Phänomen angrenzen. Zwei Menschen haben in völlig verschiedenen Zeitperioden ihren Tod gefunden und doch verschwanden ihre Leichen und sie kehrten wieder ins Diesseits zurück. Die Rede ist von Dathan Lumis Kinsley und einem Mädchen, welches nur unter dem Namen Sally bekannt ist. Der Familienname konnte bis zum heutigen Tag nicht festgestellt werden können. Dathan Kinsley starb vor knapp zwei Monaten zusammen mit seiner Cousine Clarissa, seinem Klassenkameraden Koishi Kazami und seiner 4-jährigen Schwester Christie, als seine Mitschüler das Hausboot mit Molotow-Cocktails bewarfen. Koishi Kazami und Clarissa Kinsley verbrannten im Haus, Dathan und Christie ertranken im Hafenwasser. Kurz darauf kamen all seine Klassenkameraden durch diverse Unfälle ums Leben, bei denen Fremdverschulden ausgeschlossen ist. Dathan war zu dem Zeitpunkt bereits tot und kommt damit nicht als Täter in Betracht. Allerdings verschwand sein Körper aus der Leichenhalle und seine Freundin berichtete, dass sie noch nach dem Tod aller 30 Schüler mit ihm gesprochen hätte. Dathan Lumis Kinsley konnten wir schließlich in der Nähe eines alten Fabrikgeländes in Gewahrsam nehmen, wo er sich sein Nachtlager eingerichtet hatte. Er leistete keinerlei Widerstand und befolgte all unsere Anweisungen. Nachdem sichergestellt wurde, dass er keine Bedrohung für das Team darstellt, sperrten wir ihn in die Sicherheitszelle 33-B, um ihn zum späteren Zeitpunkt einigen Tests zu unterziehen. Objekt „Sally“ war um einiges schwieriger einzufangen. Es benötigte insgesamt 9 Versuche und dabei verloren wir insgesamt 20 Leute. Sally ist extrem gewalttätig, aggressiv und als höchstgefährlich einzustufen. Darum wird sie in Zelle 01-Z untergebracht.
 

Details zu den Forschungsobjekten:
 

Dathan Lumis Kinsley ist 17-jährig, männlich und 192cm groß. Markant sind seine roten Augen und durch Säure entstandene Brandnarben an Hals, Brust, am linken Arm und in der unteren Gesichtshälfte. Dathan trägt darum einen Mundschutz um seine Entstellungen zu verbergen. Seine Eltern starben vor 9 Monaten bei einem Flugzeugabsturz, es wird vermutet, dass er für den Tod der 30 Schüler verantwortlich ist. Eine Krankheitsgeschichte ist nicht bekannt. Soweit wir wissen, wurde Dathan im Alter von 10 Jahren mit einer schweren Kopfverletzung und einer Armfraktur ins Krankenhaus eingeliefert, als ihn seine Schüler aus dem Fenster des zweiten Stockwerks stießen mit der Absicht, ihn zu töten. Der Charakter ist als schüchtern, ängstlich und zurückhaltend einzustufen. Dies kann sich aber sehr schnell ändern, wenn er in eine Extremsituation gerät, die ihn an seine vergangenen Traumata erinnert. Erfahrungen haben gezeigt, dass sich das Objekt sehr friedlich verhält, wenn man ihm freundlich und mitfühlend begegnet.
 

Über Sallys Alter ist derzeit nichts bekannt. Es liegt schätzungsweise zwischen 9 und 12 Jahren. Sally besitzt ein weitaus größeres Machtpotential als Objekt „Dathan“ und ist mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Sie wird für die vollständige Zerstörung ihrer Heimatstadt im Jahre 1812 und das dort stattgefundene Massaker verantwortlich gemacht, bei dem fast 900 Menschen starben. Die derzeitige Opferzahl ist noch nicht bekannt, aber Experten schätzen die Zahl auf weit über 1200. Warum Sally die Stadt zerstörte, konnten wir nicht in Erfahrung bringen, allerdings kursieren unzählige Gerüchte darüber. Zum Beispiel, dass Sally wegen mehrfachen Mordes, sowie schwerer Brandstiftung und Tierquälerei und anderer Delikte zum Tode verurteilt wurde. Vermutlich ereignete sich die Zerstörung in dem Moment, als Sally hingerichtet wurde. Das Objekt besitzt keinen festen Körper und kann unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen, wenn es will. In den meisten Fällen erscheint Sally ohne Augen und ist bekannt dafür, dass sie ihre Opfer in den Wahnsinn treibt und sie somit zum Selbstmord drängt. Der Charakter ist als extrem sadistisch, hochaggressiv, gewaltbereit und antisozial einzustufen. Es ist interessant, wie unterschiedlich diese beiden Objekte sind, obwohl sie zur gleichen Art gehören.

Die Fähigkeit der beiden Objekte ist auf der ganzen Welt einzigartig und noch gänzlich unerforscht. Sie konzentriert sich hauptsächlich auf die Manipulation des Todes. Sie scheint nicht vererbbar zu sein, außerdem scheint sich die Kraft erst nach dem Tode der Person zu manifestieren. So haben weder Dathan noch Sally zu Lebzeiten auffällige Merkmale gezeigt, die auf nekromantische Fähigkeiten schließen lassen. Auch die Tatsache, dass sich diese beiden Individuen von ihrer physischen Beschaffenheit und der Art ihrer Existenz unterscheiden, lässt darauf schließen, dass es sich hier um zwei verschiedene Fälle derselben Art handelt. Nach der Kategorisierung von Agrippa von Nettesheim handelt es sich bei Objekt "Sally" um einen Scyomanten. So wurde nur ihr Geist wieder zurückgeholt, während es über ihren physischen Körper keinerlei Auskunft gibt. Als Scyomant (oder auch Psychomant) ist Sally nicht an die physischen Gesetze gebunden und kann sich auf beliebige Medien übertragen. Allerdings scheint es in ihrem Falle Grenzen zu geben. Denn bis jetzt wurden nur Personen von ihr heimgesucht, die den von Fred Moore gedrehten Film „Happy Sally“ gesehen haben. Darum ist das Objekt auch fixiert darauf, diesen Film ins Internet zu stellen, um seinen Einfluss global auszubreiten. Sallys Tötungsweise bleibt immer gleich: Jeder, der sich den Film ansieht, wird von ihr heimgesucht und in den Wahnsinn getrieben. Nur mental sehr starke Menschen können ihr Widerstand leisten und dem Selbstmord entkommen, in welchen Sally ihre Opfer treiben will. Sie beschränkt sich allein auf psychische Folter. Dathans Morde stehen hingegen immer in Verbindung mit Wasser. Seien es Autounfälle bei strömenden Regen, elektrische Schläge in der Badewanne durch elektronische Geräte oder Ertrinken in Pools durch Krämpfe in den Beinen. Die Vermutung liegt nahe, dass Dathan dieses Element in seine Morde mit einbezieht, da er selbst ertrunken ist. Im Gegensatz zu Sally handelt es sich bei diesem Objekt um einen Nekyomanten, da der gesamte Körper des Verstorbenen ins Leben zurückgekehrt ist. Trotzdem ist der Wiedergänger mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Normalerweise ist der Nekyomant an seinen Meister gebunden, doch da Dathan aus eigener Kraft zurückgekehrt ist, existiert kein Diener-Meister-Verhältnis. Demzufolge muss die Nekromantie erst im Augenblick des Todes angewandt worden sein. Ob die Objekte überhaupt das Wissen über diese Gabe zu Lebzeiten besaßen, ist ausgeschlossen. Befragungen von Dathan haben ergeben, dass er nicht gewusst hatte, dass er über diese Fähigkeiten verfüge. Er beschrieb es als „Instinkt“, durch den er ins Leben zurückgefunden hatte. Er sei einer Stimme gefolgt, die ihn zurückgeführt habe. Demnach haben die Betroffenen keinerlei Zugriff auf diese Fähigkeit, bis sie den Tod am eigenen Leib erfahren und die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits überschritten haben.

Für das erste Experiment wurden fünf Testpersonen benötigt. Dazu wurden uns verurteilte Sträflinge aus der Todeszelle zur Verfügung gestellt. Da es sich bei Dathan aufgrund seiner Fähigkeiten nicht mehr um einen gewöhnlichen Menschen handelt, haben wir die uneingeschränkte Befugnis, ihn jeglichen Versuchsreihen zu unterziehen, die im Normalfall gegen die Menschenwürde verstoßen würden. Der ersten Testperson trugen wir auf, Dathan mit einem Messer anzugreifen und ihn zu töten. Der Boden der Zelle wurde knöcheltief mit Wasser gefüllt und als einziges Hilfsmittel gedacht. Dathan wurde im Unklaren gelassen und war somit ahnungslos, als Testperson 1 die Zelle betrat und sich mit dem Messer auf ihn stürzte. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung, in der es Dathan schließlich schaffte, seinem Kontrahenten Wasser ins Gesicht zu spritzen und ihn auf diese Weise so lange außer Gefecht zu setzen, um ihm das Messer wegzunehmen und zu töten. Da es aber nicht zur geforderten Anwendung der Nekromantie kam, musste eine weitere Versuchsperson angeordert werden. Der Test wurde abgebrochen und der nächste Versuch eingeleitet. Dathan wurde bestraft, indem er zwei Stunden lang einer Elektroschockfolterung unterzogen wurde. Testperson 2 wurde dieses Mal ohne Waffe in die Zelle geschickt, Dathans Hände waren mit Handschellen gefesselt. Erneut war der Raum knöcheltief mit Wasser gefüllt. Dieses Mal sollte Testperson 2 Dathan mit bloßen Händen töten. Diese begann nun, auf das Objekt einzuprügeln und auf seinen Kopf einzutreten, als plötzlich Testperson 2 zusammenzuckt und unter Krämpfen zusammenbricht. Sie fällt mit dem Gesicht vornüber ins Wasser und ist nicht imstande, aufzustehen und ertrinkt somit. Ursache für diese wilden Zuckungen war ein plötzlicher epileptischer Anfall. Da das Objekt innere Blutungen erlitten hat, wird das nächste Experiment vertagt und Dathan auf der Krankenstation behandelt. Insgesamt wird Dathan für eine Woche unbrauchbar sein, weshalb die Versuchsreihe mit Objekt Sally gestartet wird. Diverse Tests haben ergeben, dass Sally durchaus eine feste Gestalt annimmt, sobald ihr die Hauptenergiequelle entzogen wird: Der Strom. Nachforschungen haben ergeben, dass Sally ihre Kraft durch elektrische hauptsächlich internetfähige Geräte wie Computer, Fernsehgeräte und Handys bezieht, um somit ihren Einfluss zu stärken. Entzieht man ihr diese Kraft, so verliert sie die Fähigkeit, ihr Erscheinungsbild zu verändern, oder sich physischen Attacken zu entziehen. Für diese Versuchsreihe werden ebenfalls fünf Todeszellenverurteilte angefordert und damit beauftragt, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen und zu töten. Hilfsmittel werden nicht zur Verfügung gestellt. Einer Testperson erhielt zuvor eine Axt, mit der er das Mädchen erschlagen sollte. Kaum haben sich die fünf Testpersonen in einem Umkreis von 1,5m von Sally entfernt befunden, brachen alle tot zusammen. Todesursache ist ein plötzlicher Herzstillstand. Dr. Roze geht davon aus, dass Sally in der Lage ist, die körpereigene Elektrizität und damit sowohl magnetische, als auch elektrische Felder beliebig zu manipulieren. Dadurch hat sie die elektrischen Impulse in den Nervenzellen ihrer Angreifer verändert und das stärkste magnetische Feld des Körpers beeinflusst, das durch die Herzmuskelaktivität erzeugt wird. Das ermöglichte es ihr, den Herzschlag der Männer abrupt stoppen zu lassen und somit einen Herzstillstand zu verursachen. Weitere Versuche mit Todeszelleninsassen haben ergeben, dass Sallys Reichweite maximal einen Radius von 350cm hat. Weitere Tests zeigten, dass Sally das elektrische Feld im Inneren ihrer Opfer so stark erhöhen kann, dass es zu einer Überladung kommt. Den Betroffenen riss es Löcher in die Brust oder zerfetzte ihnen die Schädel, als wäre ein Sprengsatz explodiert. In einem weiteren Versuch wurden Schusstests mit verschiedenen Kalibergrößen an ihr durchgeführt. Als Erstes testete man eine Kolibri 2mm. Alle Schüsse gingen daneben, was darauf schließen lässt, dass Sally ihr körpereigenes Magnetfeld verstärkt und damit die Flugbahnen der Kugeln umgelenkt hat. Ebenso wenig Schwierigkeiten bereiteten ihr 45er Kaliber. Der letzte Test wurde mit einer .950 JDJ Patrone durchgeführt. Das Geschoss hat eine Länge von 101,6mm und ein Gewicht von 230g. Die Kraft von rund 54 Joule konnte Sally nur mit Mühe ablenken. Der Schuss riss eine tiefe Wunde in ihren Arm. Sally reagierte umso aggressiver und tötete den behandelnden Arzt auf der Stelle, als dieser die Wunde versorgen wollte. Alle elektrischen Geräte in ihrer Umgebung explodierten, Gläser zerbrachen und nur mit Mühe konnte das Objekt wieder in seine Zelle zurückgebracht werden. Sallys Verletzung war innerhalb eines Tages vollständig verheilt, allerdings wurden ihre Ausbrüche immer gefährlicher, sodass keine Versuche mehr an ihr durchgeführt werden konnten. Dathans Wunden verheilten ebenfalls schnell, aber dauerte der Heilungsprozess sechs Mal so lange wie bei Sally. Er wurde wieder in seine Zelle gebracht. Seine Bitten, ihn endlich freizulassen und mit den Tests aufzuhören, wurden ignoriert. Da er kein Mensch ist, sind wir sowieso nicht an die Gesetze gebunden.

Der nächste Test sieht vor, dass die Testperson einen Knüppel als Waffe erhält und Dathan erschlagen soll. Einziges Hilfsmittel für das Forschungsobjekt ist eine Wasserpfütze von ca. 40cm Durchmesser. Dathan tötete dieses Mal ohne zu zögern seinen Kontrahenten, indem er ihn ausrutschen und bei dem Sturz das Genick brechen ließ. Auch im nächsten Test zeigte sich Dathan weniger zurückhaltend als zuvor. Beim letzten Test wurde eine Zelle mit extrem hoher Luftfeuchtigkeit vorbereitet, die Dathans einziges Hilfsmittel sein sollte, den Kampf gegen seinen Kontrahenten zu überleben. Diesen ließ er in der stickigen und feuchten Luft kollabieren und an einen Herzkreislaufzusammenbruch sterben. Daraufhin zog sich Dathan in eine Ecke zurück und saß dort schweigend.

Als Dathan wieder in seine alte Zelle zurückgebracht werden sollte, reagierte er sehr aggressiv und wehrte sich nach Leibeskräften. Er bedrohte das Sicherheitspersonal und musste ruhig gestellt werden. Es scheint so, als hätte sich bei ihm ein Schalter umgelegt, der seine letzten Hemmungen vollständig auslöschte und ihn in einen ähnlich aggressiven und gewaltbereiten Zustand versetzte wie Sally. Dieser Anfall ließ jedoch bald wieder nach.
 

Die Tests ergaben, dass Sally als Scyomantin auch kinetisch begabt ist. Sie beherrscht sowohl Magnetkinese, da sie magnetische Felder kontrollieren kann, als auch teilweise Elektrokinese. Sie scheint beides miteinander zu kombinieren und gebraucht diese Fähigkeit, um ihrem „Körper“ Energie zuzuführen und auch, um ihre Angreifer auszuschalten. Der Vorfall im Hansington Einkaufszentrum hat aber auch gezeigt, dass Sally sehr wohl noch über psychokinetische Fähigkeiten verfügt, mit denen sie ihren Opfern Illusionen und Alpräume vor Augen führen und sie somit in den Wahnsinn treiben kann. Dathans Fähigkeiten sind hingegen noch sehr unausgereift und schwach ausgeprägt. Deshalb lässt sich auch nicht feststellen, über welche kinetischen Kräfte er verfügt. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die kinetischen Fähigkeiten weiter verfeinern und verbessern, je älter der Nekromant ist. Auch der Charakter scheint eine tragende Rolle zu spielen. Da Sally bereits zu Lebzeiten sehr sadistisch, gewaltbereit und skrupellos zu sein schien, sind ihre Fähigkeiten mindestens 30-mal stärker ausgeprägt als Dathan. Hinzu kommt, dass ihr Tod bereits knapp 200 Jahre und Dathans erst 3 Monate zurückliegt. Da Sally zudem über keinen sterblichen Körper mehr verfügt, ist ihrer Macht weniger Grenzen gesetzt. Trotzdem zeigt Dathan überaus großes Einfallsreichtum im Töten seiner Opfer und er scheut auch nicht davor zurück, sie eines langsamen und schmerzhaften Todes sterben zu lassen. Es ist schwer zu sagen, wie groß sein eigentliches Potential ist und ob er früher oder später Sallys Level erreichen wird, allerdings ist dies äußerst unwahrscheinlich. Immerhin ist Sally als Scyomantin nicht an einen sterblichen Körper gebunden und kann sich immer wieder auf neue Medien übertragen. So war ihr erstes ein altes Foto, dann die berüchtigte Arie des Wahnsinns des italienischen Komponisten Andrea Saria, bis sie sich schließlich auf Fred Moores Film „Happy Sally“ übertrug. Bis vor kurzem war ihr Medium noch eine Filmrolle, bevor der Film auf Computer gespielt und dann auf DVD gebrannt wurde. In dem Moment übertrug sich Sally auf das neue Medium und ein Teil von ihr ging ins Netzwerk über, wo sie nun auf eine Gelegenheit wartet, sich global auszubreiten. Was Dathan betrifft, so ist sich Dr. Roze noch unschlüssig, ob er ebenfalls zum Scyomanten wird, sobald sein sterblicher Körper unbrauchbar für ihn wird. Sollte das der Fall sein, dann wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich sein Potential deutlich erhöht und er tatsächlich auf dem gleichen Level wie Sally wäre.
 

Es sind inzwischen drei Wochen seit der Sicherstellung der beiden Forschungsobjekte vergangen. Sallys mentaler Zustand ist sehr instabil und sie versucht noch immer, mit aller Gewalt zu entkommen. Zudem tötet sie jeden, der in ihre Nähe kommt. Dathan hingegen ist in ein resigniertes Schweigen verfallen und reagiert gegenüber den Mitarbeitern des Forschungsinstituts sehr misstrauisch und äußerst feindselig. Er scheint aber ein freundschaftliches Verhältnis zu Dr. Lilly Marsh zu pflegen, die für seine medizinische Betreuung zuständig ist. Ihr gegenüber verhält er sich freundlich und kooperativ und macht keinerlei Anstalten, ihr etwas anzutun. Es scheint zwischen den beiden ein sehr enges Vertrauensverhältnis zu bestehen und sie verbringen auffällig viel Zeit miteinander.
 

Während der letzten Woche konnten seltsame Aktivitäten der beiden Forschungsobjekte beobachtet werden. Sally wurde zunehmend ruhiger und verhielt sich unauffällig, was uns große Sorgen bereitet. Sowohl sie als auch Dathan sind in Schweigen verfallen, so als würden sie gemeinsam auf etwas warten. Dr. Roze ordnete schließlich ein weiteres Experiment an, in welchem Dathan wieder vor eine Extremsituation gestellt werden würde, jedoch ohne entsprechende Hilfsmittel. Ziel ist es herauszufinden, ob Dathan auch über andere Fähigkeiten verfügt. Das Forschungsobjekt wird drei Tage vor dem bevorstehenden Experiment informiert und darüber aufgeklärt, dass es im schlimmsten Falle getötet wird. Der Kontakt zu Dr. Marsh wird dabei unterbunden.

Während der nächsten drei Tage verhält sich Dathan auffallend ruhig und resigniert. Er beginnt Selbstgespräche zu führen und durchwandert immer wieder den Raum, wobei er hin und wieder stehen bleibt und eine Hand an die Wand legt. Auch Sally ist ruhiger geworden, verhält sich kooperativ und macht keinerlei Anstalten, jemanden anzugreifen. Dr. Roze schließt nicht aus, dass beide Forschungsobjekte miteinander kommunizieren. Wenn dem so ist, dann ist es Dathan zu verdanken, dass Sally inaktiv geworden ist. Trotzdem macht uns die derzeitige Situation ernsthaft Sorgen. Es ist schwierig einzuschätzen, was beide Objekte planen und ob ihre Inaktivität in Wahrheit eine Vorbereitung für einen Ausbruch ist, oder ob sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden sofort verstärkt und es gilt höchste Alarmbereitschaft.

Als die Dreitagesfrist abgelaufen war, wurde Dathan in die Todeskammer gebracht, wo er von allen Seiten mit 45er Kaliber beschossen werden soll. Damit er keinen Widerstand leisten konnte, wurde er in einem Spezialbehälter transportiert. Dr. Marsh, die von dem Vorhaben erfahren hatte und das Forschungsobjekt mit Gewalt befreien wollte, wurde auf der Stelle von den Sicherheitskräften erschossen. Nachdem Dathan in der Todeskammer eingesperrt wurde, informierten wir ihn über Lautsprecher über den Tod von Dr. Marsh, in der Hoffnung, dass wir durch diese Provokation nun endlich sein ganzes Potential zu sehen bekommen würden. Dathan sah direkt in die Überwachungskamera und sagte, dass er dafür sorgen würde, dass alle Beteiligten bezahlen würden. Dr. Roze beschloss daraufhin, dass, wenn Dathan den Kugelhagel überleben sollte, Giftgas in die Kammer geleitet wird, um ihn zu töten. Da er sowieso eher schwach ausgeprägte Fähigkeiten besitzt, werden sich unsere Forschungen über die Parapsychologie nur noch auf Sally konzentrieren. Diese stellt sowieso den weitaus interessanteren Teil dar, weshalb wir für Dathan Kinsley keine Verwendung mehr haben.

Als die Beseitigung des minderwertigeren Forschungsobjekts beginnt, spielen sämtliche Überwachungskameras plötzlich verrückt. Es wird roter Alarm ausgelöst.

Wir haben keine Kontrolle mehr über die Schussanlage, geschweige denn über die Gasleitung. Die gesamte Elektronik hat eine Fehlfunktion und sofort wird die Evakuierung des gesamten Instituts eingeleitet. Die Türen lassen sich jedoch nicht mehr öffnen. Großer Gott, wir sitzen hier drin fest. Lediglich die Lautsprechanlagen scheinen noch zu funktionieren.
 

Wir bekommen die Meldung rein, dass Sallys Zelle offen ist. Alle Sicherheitsleute in der Nähe ihrer Zelle sind tot. Höchste Priorität hat jetzt Sallys Festnahme.

Die Überwachungskameras funktionieren zum Teil wieder, aber auf allen ist bloß Sally zu sehen. Es besteht akute Gefahr, dass sie die Kontrolle über die Computersysteme übernimmt, doch können wir sie nicht von der Stromleitung entfernen. Es droht Panik auszubrechen, wenn uns nicht schleunigst etwas einfällt. Ein Spezialteam wird losgeschickt, um Sally unschädlich zu machen. Wir müssen sie unbedingt von den Stromgeneratoren fernhalten, bevor sie noch das gesamte Institut zerstört. Das wäre eine Katastrophe!

Die Überwachungskameras fallen wieder aus und selbst Funkgeräte, Handys und Telefone sowie die Lautsprechanlagen funktionieren nicht. Eine Koordination der Mitarbeiter und Sicherheitskräfte ist somit nicht mehr möglich. Sally wurde zuletzt im Labor gesehen, wo sie die komplette Einrichtung mithilfe ihrer kinetischen Kräfte zerstörte. Bis jetzt ist von 16 Toten die Rede. Sally wurde vorhin in der Nähe der Todeskammer gesichtet. Dathan soll auf der Stelle erschossen werden, bevor Sally die Möglichkeit bekommt, ihn zu befreien. Eine Explosion ereignet sich in der Nähe der Stromgeneratoren und im gesamten Gebäude gehen die Sprinkleranlagen an. Jeder Versuch, sie abzustellen, scheitert. Die Tür zu Dathans Zelle öffnet sich. Das Feuer wird sofort eröffnet, aber sämtliche Kugeln werden umgelenkt. Sally taucht neben ihn auf und scheint ihn vor den Kugeln zu schützen. Ihre Wege trennen sich aber schließlich.

Seit die Sprinkleranlage läuft, gehen immer wieder Meldungen über Tote rein. Da es allerdings momentan nicht möglich ist, eine genaue Zahl festzulegen, schätzen wir die Zahl auf insgesamt 40 Tote. Dr. Roze versucht zusammen mit den Institutsleitern das Gebäude durch die Fluchttunnel zu verlassen, doch er wird von Dathan abgefangen und zusammen mit den Kollegen getötet. Sally hat inzwischen die Stromgeneratoren erreicht und wird nun wohl ihre Energie wieder aufladen. Noch immer versuchen wir, einen Fluchtweg zu finden, doch die Fenster sind aus Panzerglas und die Türen lassen sich nicht öffnen. Ich fürchte, wir werden hier drin sterben.
 

Es ist einem Team gelungen, Sally anzuschießen und festzunehmen, jedoch sterben die Männer auf den Weg zu den Zellen. Dathan taucht auf und nimmt die verletzte Sally auf den Arm. Nun steht wohl endgültig fest, dass beide zusammenarbeiten und gemeinsam das Institut zerstören wollen. Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich also bewahrheitet. Da Dathan einen gewissen Einfluss auf das Wasser hat, konnte er es Sally ermöglichen, somit den Strom besser zu leiten. Sie wiederum hat ihre kinetischen Kräfte eingesetzt, um die Sprinkleranlagen auszulösen und somit Dathan zu helfen. Ich gehe davon aus, dass Dathan dies von langer Hand geplant hatte und offenbar mittels eigenen kinetischen Fähigkeiten mit Sally kommunizieren und sie in seinen Plan einweihen konnte. Wir alle haben ihn gründlich unterschätzt…
 

Es sind nur noch wenige Momente, bis die Generatoren explodieren. Jede Möglichkeit, von hier zu fliehen, ist ausgeschlossen. Jeder Versuch, die beiden Forschungsobjekte zu eliminieren oder festzunehmen, endet mit dem Tod. Wir kämpfen nur noch um unser Überleben. Es ist nur eine Frage von wenigen Minuten, bis wir sterben werden. Wir hätten Dathan und Sally niemals unterschätzen dürfen. Wir hätten ihnen das nicht antun dürfen!!!
 

Ich habe mich unter einem Schreibtisch versteckt. Sämtliche Monitore sind explodiert und überall steht bereits das Wasser. Dathan und Sally sind nah. Oh nein, Sie stehen auf der anderen Seite der Tür und schauen durch das Glas hinein. Scheiße, sie wissen dass ich hier bin. Ich will nicht sterben… ich will nicht sterben.

Nein bitte! es tut mir Leid!!!
 

Ein lauter Schrei im Hintergrund, dann Stille. Dathans Stimme ist zu hören, der ins Aufnahmegerät spricht.
 

Ihr hättet das niemals tun dürfen. Ich habe euch nie etwas getan und das, was hier geschieht, ist allein eure Schuld. All die Jahre habe ich still ausgeharrt und all eure Grausamkeiten eingesteckt. Jetzt ist es genug. Sally und ich werden hier alles dem Erdboden gleichmachen und niemanden am Leben lassen. Ich bin kein Monster, aber ich lasse mich auch nicht wie eines behandeln. Wenn ihr ein Monster aus mir machen wollt, dann könnt ihr euer Monster gerne haben. Und dann habt ihr mit den Konsequenzen zu leben! Ich bin Dathan Lumis Kinsley und dies hier ist meine Warnung an die gesamte Bevölkerung: Vergesst niemals, dass all eure Handlungen Folgen haben und dass ihr mit euren unbedachten Aktionen sehr oft Menschen verletzen könnt. Und dann braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn diese sich gegen die Schikanen und Tyranneien erheben. Wir lassen uns nichts mehr gefallen.
 

Sallys Stimme im Hintergrund: „Dathan, komm schon bitte. Lass uns endlich von hier verschwinden. Ich will hier endlich weg."
 

Dathans Stimme: Keine Sorge, ich bin hier sowieso fertig. Komm, ich trag dich.
 

Die Aufnahme endet

Parasit

Es hat vor ungefähr zwei Wochen angefangen, als ich zusammen mit meinen Eltern die Terrasse geputzt und die Spinnweben mit dem Besen entfernt habe. Ich möchte vorher noch sagen, dass ich schon immer eine Heidenangst vor diesen Krabbelviechern hatte, aber inzwischen kann ich meine Angst etwas unter Kontrolle halten. Solange sich die Spinnen nicht bewegen, die Insekten nicht urplötzlich hervorgeschossen kommen und auch nicht zu groß sind, bleibt es nur bei einem leisen Schrecken und ich kann mich zusammenreißen. Aber Spinnenweben zu entfernen, mit dem Wissen, dass ihr Konstrukteur noch da drin hockt und den Besenstil heraufgekrochen kommt, um auf meinen Arm zu gelangen, ist für mich die reinste Überwindung. Meine Eltern haben da nicht sehr viel Verständnis für diese Angst. Sie sagen immer nur „Jetzt stell dich mal nicht so an. So schlimm ist es ja nicht“. Dabei kriegen sie selbst einen Schrecken, wenn da so ein haariges, großes achtbeiniges Vieh ihnen vor die Füße krabbelt. Früher war es richtig schlimm gewesen. Da hatte mein Bruder noch eine riesige Gummispinne und die hatte er mir vor die Zimmertür gelegt. Ich hatte solch eine Angst, dass ich nicht das Zimmer verlassen konnte und mein Vater lachte sogar noch darüber. Den absoluten Höhepunkt hatten diese Demütigungen, als unsere Klasse einen Wandertag hatte. Im Museum war eine Spinnwebenausstellung und was bekamen wir zu sehen? Richtig, Spinnen! Ich dachte mir nur „Solange sie im Terrarium sitzen und nicht herauskommen, geht es ja noch.“ Aber dann kam dieser verdammte Kerl von der Museumsrundführung an und führte uns in den groß angelegten Garten. Dort bekam jeder eine Box und sollte Spinnen einsammeln. Das war für mich der absolute Todesschuss. Ich konnte schlecht vor versammelter Mannschaft sagen, dass ich furchtbare Angst vor Spinnen hatte. Immerhin wurde ich von meiner Klasse oft gehänselt und wenn sie von meiner Angst erfuhren, dann würde dieser Wandertag zum größten vorstellbaren Alptraum werden.

Also versuchte ich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich nahm meine Box und verkroch mich in eine abgelegene Ecke und tat so, als hätte ich mit meiner Suche überhaupt keinen Erfolg. Tatsächlich hatte ich Erfolg mit dieser Masche und keiner merkte etwas.

Allerdings kam es dann doch ganz anders, als wir unsere Ergebnisse präsentieren sollten. Manche hatten schwangere Weibchen gefunden und eingesammelt. Diese waren besonders fett und groß vor allem. Immerhin hatten die meisten von ihnen direkt nach dem Sex ihren Partner gefressen! Der Museumsrundführer wies uns an, dass wir uns in den Kreis setzen sollten. Da ahnte ich schon Böses und bereitete mich innerlich auf die Flucht vor, falls es zu dem kommen sollte, was ich bereits ahnte. Tatsächlich trat dieser Fall ein: Der Kerl nahm die größte und dickste Spinne auf die Hand, ließ sie ein wenig herumkrabbeln und reichte sie im Uhrzeigersinn weiter. Allein schon eine krabbelnde Spinne zu sehen, versetzte mich in Panik. Wenn sie wenigstens still bleiben würde, hätte ich noch damit umgehen können, aber eine sich bewegende Spinne zu sehen, stellt für mich einen der größten Alpträume dar. Ich wandte mich an meine Klassenlehrerin und sagte ihr, ich müsste dringend zur Toilette, aber diese sagte „Wir sind eh gleich fertig. Da kannst du auch noch warten.“ Ich konnte nichts machen. Die Spinne war jetzt bei Marcel und der saß direkt neben mir. Schließlich hielt er sie mir direkt vors Gesicht und als sie dann noch auf seinem Handrücken herumkrabbelte, setzte bei mir alles aus. Ich sprang auf und lief schreiend und weinend davon. Natürlich machten sich meine Klassenkameraden einen Spaß daraus, mir hinterherzulaufen und mir Plastikspinnen oder lebende Exemplare in die Haare zu setzen. Ich bekam Panik, als sich das Tier in meinen Haaren bewegte und schließlich vor meinem Gesicht baumelte. Die Lehrerin konnte sie mir schließlich entfernen und ich flehte sie an, dass ich doch bitte nach Hause gehen könnte. Ich wollte nicht noch eine Sekunde länger dort bleiben. Aber sie hatte da wenig Verständnis für meine Situation. Sie sagte nur „Stell dich nicht so an. Bleib noch eine Weile, es wird dir sicherlich noch Spaß machen.“ Im Nachhinein hätte ich ihr am liebsten die Plastikspinne in den Hals gestopft, damit sie aufhörte, so einen Schwachsinn zu reden.
 

Dieses Erlebnis habe ich bis heute nicht ganz verarbeiten können und ich konnte nie meine Angst vor Spinnen überwinden. Ich konnte sie höchstens kontrollieren, indem ich diese achtbeinigen Monster auf Abstand hielt. Alles, was ich dazu tun musste war, mich zu konzentrieren und nach diesen Tierchen Ausschau zu halten. Wenn ich sie rechtzeitig genug erspähte, konnte sie mich nicht überraschen. Aber leider gab es eine etwas dunkle Ecke und in der hatte es sich ein besonders großes Exemplar bequem gemacht. Und natürlich fiel sie sofort runter, als ich mit den Besen ranging. Sie fiel mir direkt auf den Kopf und ich spürte sofort dieses widerliche Kitzeln und Kribbeln, als würde sich etwas durch meine Haare bewegen. Ich schrie wie am Spieß und schüttelte meine Haare durch. Da sie sowieso nicht sehr lang waren, war sie schnell wieder draußen aber trotzdem hörte dieses Kitzeln nicht auf. Als würde sich da noch mehr Viehzeug auf meinem Kopf tummeln. Ich beugte mich sofort nach vorne und fuhr mir heftig durch die Haare, dass es mir die Frisur zerstörte. Doch es hörte immer noch nicht auf und so bat ich meine Mutter, dass sie mal nachsehen sollte. Sie sah auch gründlich nach, fand aber nichts Auffälliges. Keine Spinne, keine Fliege, keine Mücke, gar nichts. „Schatz, da ist nichts. Die Spinne ist raus. Versuch dich zu beruhigen, dann geht es weg.“ Aber das Kribbeln verschwand nicht.

Ich fuhr mir immer wieder durch die Haare, um auch wirklich tausendprozentig sicherzugehen, dass da nichts mehr war, doch ich wurde den Gedanken einfach nicht los, dass da etwas auf meiner Kopfhaut krabbelte. Und das machte mir Angst. Als es selbst nach zwei Stunden nicht verschwand, entschied ich mich dafür, meine Haare zu waschen, damit dieses Jucken endlich weggeht. Sollte sich tatsächlich ein winziges Tierchen festgekrallt haben, nachdem ich es unzählige Male vergeblich loszuwerden versuchte, dann würde es garantiert mit Wasser weggespült werden. Und wenn nicht, dann würde der Fön den Rest erledigen. Doch selbst nachdem ich meine Haare gewaschen und trocken gefönt hatte, blieb dieses Gefühl, als wäre da noch etwas auf meinem Kopf. Ich ging zu meiner Schwester und bat sie, mal nachzuschauen. Meine Mutter war weitsichtig und hatte mit Sicherheit irgendetwas übersehen. Doch selbst meine Schwester als auch mein Vater fanden nichts. Ich musste mich wohl oder übel damit abfinden, dass dieses Kitzeln und Kribbeln nur Einbildung war und dass da wirklich kein Tierchen mehr herumkrabbelte. Trotzdem machte mich der Gedanke fast verrückt, es könnte trotz allem etwas in meinem Haar sitzen. Was, wenn es so lange drin bleibt, bis es seine Eier abgelegt hat und sich dann ein ganzer Schwarm auf meinem Kopf tummelte? Was, wenn ich Läuse bekomme? Ich konnte mit diesem Gedanken keine Sekunde mehr ruhig bleiben und rief deshalb beim Arzt an. Dieser sollte einen professionellen Blick drauf werfen und mir endlich sagen, was Sache ist.

Immer wieder fuhr ich mir durchs Haar, kratzte mich an den Stellen, wo etwas kitzelte und wurde mit jedem Mal unruhiger. Den ganzen Tag hielt es so an und egal was ich tat, es ging einfach nicht weg. Im Gegenteil: Es wurde sogar noch schlimmer. Manchmal hatte ich auch auf meinen Armen das Gefühl, als wäre da ein Insekt, wenn auch nur ein winzig kleines. Ich gehe dann immer mit der Handfläche auf meinen Arm, um es wegzukriegen aber statt dass es aufhört, wird es manchmal sogar schlimmer. Es macht mich komplett verrückt und ich war deswegen heilfroh, als ich endlich den Termin beim Arzt hatte. Meine Arme sahen inzwischen nicht mehr schön aus. Ich hatte sowieso eine empfindliche Haut, die sofort rot wurde und anschwoll, wenn ich ein wenig kratzte. Inzwischen waren meine Arme so rot wie nach einem Sonnenbrand und überall hatte ich angeschwollene Stellen, als hätte mich eine Katze mit stumpfen Krallen in die Mangel genommen. Sie glühten und es schmerzte auch ein wenig, aber das Jucken war immer noch da. Inzwischen hatte ich auch Alpträume, in denen Insekten aus diesen angeschwollenen Stellen platzten und mir über den kompletten Körper krabbelten. Das machte mich total fertig und ich befürchtete schon, dass ich es mit Parasiten wie etwa Milben oder anderen Kriechtieren zu tun hatte. Während ich im Wartebereich saß, kratzte ich immer weiter und an manchen Stellen war die Haut bereits so wund, dass sie aufriss. Fr. Dr. Kentgens, meine Hausärztin, sah sich das an und riet mir, mich an einen Hautarzt zu wenden, der das näher überprüfen sollte. Einen Ausschlag hätte ich zwar nicht, aber man müsse natürlich sichergehen. Um den Juckreiz zu stoppen, verschrieb sie mir eine Salbe, die ich auf die wunden Stellen auftragen sollte. „Sind denn da wenigstens irgendwelche Krabbelviecher auf meiner Haut?“

„Nein, da können Sie ganz beruhigt sein. Aber was den Juckreiz betrifft, so muss der Hautarzt nachschauen.“

Mit gemischten Gefühlen machte ich einen Termin bei Dr. Wiland aus und hatte Glück: Ich konnte übermorgen in die Sprechstunde kommen.

Zuhause rieb ich meine Arme mit der Salbe ein und auch Hals und Brustkorb. Ich hoffte, dass damit endlich dieser verdammte Juckreiz aufhörte. Die Salbe brannte an den offenen Kratzwunden und das wohltuende Gel war wirklich ein Segen und meine Mutter begann direkt, die Unterarme zu verbinden, damit ich nicht mehr so viel kratzte und damit die Hautrötung verheilen konnte. Trotzdem hörte dieses furchtbare Kitzeln nicht auf und ich war mir sicher, dass da wirklich kleine Tierchen auf meinem Arm waren. Oder noch schlimmer: Unter meiner Haut, in meinem Körper drin. Was, wenn eine Mücke auf meinem Arm gelandet und ihre Eier in meinem Körper abgelegt hat, nachdem sie mir das Blut ausgesaugt hat. Bei dem Gedanken wurde mir ganz anders. Zitternd starrte ich auf meinen Handrücken und sah entsetzt ein leichtes Zucken, so als würde sich etwas von unten gegen die Haut drücken. Entsetzt schrie ich auf und nahm eine Rasierklinge. Ich schnitt genau an die Stelle, wo ich diese Bewegung gesehen hatte und begann darin herumzustochern. Wenn da wirklich ein kleines Tierchen war, dann musste ich es sofort herausholen, bevor es auswuchs und auch seine Eier in mir ablegte.

Doch alles, was zum Vorschein trat, war Blut. Das Tier musste sich ziemlich tief im Muskelgewebe befinden. Da ich aber nicht so einfach ins Muskelgewebe schneiden konnte, musste ich von der Idee ablassen, das Tier herauszuschneiden. Stattdessen rief ich noch mal beim Hautarzt an und sagte klipp und klar, dass da Parasiten unter meiner Haut sind. Die Sprechstundenhilfe seufzte und sagte nur, ich solle ins Wartezimmer gehen.

Nach zwei Stunden Wartezeit wurde ich endlich ins Behandlungszimmer geschickt und wartete dort eine halbe Stunde, bis der Arzt kam. Etwas ungeduldig und auch ein Stück weit gereizt zeigte ich ihm meine Arme, die immer noch sehr gerötet und zerkratzt aussahen. Wieder sah ich für einen kurzen Moment etwas unter meiner Haut aufzucken und war mir hundertprozentig sicher, dass da etwas war. Ich zeigte ihm die Stelle, wo ich die Bewegung gesehen hatte. „Sehen Sie? Sehen Sie? Da ist etwas unter meiner Haut. Da sind kleine Tierchen, Parasiten! Ich hab sie schon seit vorgestern und sie machen mich langsam verrückt. Dieses verdammte Kitzeln auf der Haut hört einfach nicht auf und ich hab schon Salbe draufgetan. Können Sie etwas erkennen?“ Der Arzt sah sich das sehr gründlich an, nur leider war aufgrund der starken Rötung nicht sehr viel zu erkennen. Schließlich erklärte er beiläufig. „Da ist nichts. Was den Juckreiz betrifft, so kann dies verschiedene Ursachen haben: Trockene Haut zum Beispiel. Haben Sie schon mal etwas von psychosomatischen Symptomen gehört?“

„Wollen Sie mir etwa sagen, ich bin verrückt?“

„Nein, das natürlich nicht. Aber bei vielen Leuten äußert sich Stress durch körperliche Symptome wie zum Beispiel durch Magen- oder Kopfschmerzen.“

„Aber diese Bewegungen unter meiner Haut bilde ich mir doch nicht ein.“

„Tut mir Leid, aber ich kann nichts dergleichen feststellen. Sie hätten sonst einen Hautausschlag oder andere Symptome. Haben Sie Schmerzen in den Armen oder in der Magengegend?“ Ich verneinte die Frage und der Hautarzt erklärte mir, dass sich die meisten Parasiten durch Muskelgewebe fressen und man dadurch oft Schmerzen hätte. Außerdem reagierte der Körper meist mit Fieber oder anderen Symptomen gegen einen Parasitenbefall. Es wäre also ausgeschlossen, dass ich mir einen Parasiten eingefangen hätte. Vor allem, weil wir in einer sehr sauberen Wohngegend lebten und auch im Haus alles in Ordnung war. Die Gefahr, sich Läusen, Milben und andere Tierchen einzufangen, sei damit sowieso ziemlich gering. Also verließ ich die Praxis und hatte das Gefühl, meine Zeit verschwendet zu haben. Irgendwie schien mich der Hautarzt überhaupt nicht ernst genommen zu haben. Stattdessen meinte er, ich sei verrückt!
 

In den nächsten Tagen wurde der Juckreiz immer schlimmer. Egal wie viel Salbe ich auftrug, es fühlte sich nach wie vor an, als krabbelten da kleine Insekten auf meinem Unterarm. Ich hatte versucht, es zu ignorieren und mich abzulenken, aber der Gedanke, dass eine Spinne oder etwas ähnlich Hässliches auf meinem Körper war, machte mir Angst. Ich konnte einfach nicht anders, als zu kratzen. Nachdem ich bei dem Hautarzt solch eine Enttäuschung erlitten hatte, machte ich mich am nächsten Morgen direkt auf den Weg zum Krankenhaus. Dort kam ich direkt ins CT, mit dem man sogar Bandwürmer erkennen konnte, aber auch da wurde nichts gefunden. Ich stand kurz vorm Durchdrehen. Ich bildete mir dieses Gekrabbel doch nicht ein.

Der Juckreiz hörte selbst nachts nicht auf und hinderte mich am Schlafen. Ich kratzte immer stärker und riss mit meinen Fingernägeln blutige Kratzer, bis meine Unterarme erneut bandagiert wurden. Doch es waren nicht nur die Unterarme, die wie wild juckten. Auch am Hals und im Gesicht war ich mich ständig am Kratzen und auch am Kopf war es nicht besser. Ich wurde nachts von Alpträumen geplagt und wusste nicht mehr, ob ich jetzt nur einen Juckreiz hatte oder ob tatsächlich etwas auf mir herumkrabbelte.

Die Panik ergriff mich schließlich, als ich trotz des Verbandes wieder das Gefühl hatte, da würde etwas in mir herumkriechen. Dieses Mal aber fühlte es sich an, als würden sich Würmer durch mein Gewebe fortbewegen. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch und konnte nicht aufhören zu weinen. Schließlich schnappte ich mir ein Messer und schnitt mir in den Arm, in der Hoffnung, dass sie endlich herausgekrochen kommen.

Ich schrie entsetzt auf, als sich ein langer Wurm aus der blutigen Wunde herauswand und mit einem leisen, naschen Klatscher auf den Boden fiel. Und es war nicht der Einzige. Als ich noch tiefer schnitt, kam ein zweiter zum Vorschein, dann ein dritter und schließlich ein Vierter. Ich erbrach mich, als ich sah, dass schließlich kleine weiße Maden herauskamen. Der Schmerz in meinem Arm war intensiv, aber ich wollte diese Biester endlich aus meinem Körper raus haben.

Ich schnitt mir ins Bein, wo kleine Spinnen herauskrabbelten und sich auf dem Boden tummelten. Mein ganzer Körper war voller Insekten und Parasiten. Meine Mutter war geschockt, als sie mein Zimmer betrat und mich mit dem blutigen Messer sah. „Schatz, was machst du da?“

„Mama, in meinen Armen sind Parasiten und Würmer. Bitte, ich muss sofort ins Krankenhaus! Ich will, dass sie endlich verschwinden. Ich will, dass sie sofort weggehen!!!!“ Da ich in diesem Moment völlig aufgelöst und durcheinander war, mussten meine Eltern einen Krankenwagen rufen. Alles, woran ich mich noch erinnern kann war, dass mir die Sanitäter eine Spritze gaben und ich daraufhin das Bewusstsein verlor. Ich wachte allerdings nicht in einem Krankenbett auf der Station auf, sondern in der psychiatrischen Abteilung. Meine Hände waren mit Gurten fixiert und bereits verbunden worden. Der Juckreiz war nicht mehr so intensiv wie zuvor, aber immer noch präsent. Und nach wie vor spürte ich, wie die Würmer sich durch meinen Körper bewegten. Unter meinem Gesicht, durch meine Arme und durch die Beine. Es war unerträglich und ich versuchte mit aller Macht, mich zu befreien, um diese Parasiten endlich aus meinem Körper zu entfernen. Ich rief nach dem Arzt, dieser kam knapp zehn Minuten später. „Warum bin ich hier und warum bin ich gefesselt wie eine Verrückte?“

„Sie haben sich selbst diverse Schnittwunden zugefügt, da Sie sich eingebildeten, es würden parasitäre Lebewesen in Ihrem Körper leben.“

„Da waren wirklich welche. Sie sind sogar auf den Boden gefallen, als ich sie herausgeschnitten habe. Fragen Sie doch meine Mutter.“

„Ihre Mutter hat gesagt, dass Sie halluziniert haben. Es gibt keine Parasiten in Ihrem Körper. Was Sie wirklich haben, ist eine Krankheit, die im Allgemeinen als Dermatozoenwahn beschrieben wird. Betroffene leiden unter Wahrnehmungsstörungen und bilden sich tatsächlich ein, in ihren Körpern würden Parasiten leben.“

„Das ist Schwachsinn! Ich bin nicht wahnsinnig, ich habe diese Scheißviecher doch mit eigenen Augen gesehen! Hören Sie auf damit mir einzureden, ich sei verrückt.“ Doch ich konnte so viel reden, wie ich wollte. Der Arzt hatte mich als Verrückte abgeschrieben. Sie alle hielten mich für verrückt, während mein Körper von unzähligen Parasiten zerfressen wurde. Schließlich wurden mir Tabletten verschrieben, die gegen die Wahrnehmungsstörungen helfen sollten. Ich nahm sie ein, wenn auch mit Protest. Schließlich wurden mir die Gurte wieder abgenommen und ich konnte mich wieder frei bewegen. Der Juckreiz wurde immer schwächer und ich konnte schließlich entlassen werden.
 

Zwei Wochen nach meiner Entlassung hatte ich die Tabletten zwar immer noch genommen, jedoch wollte ich einfach nicht einsehen, dass ich mir das bloß eingebildet hatte. Ich war nicht verrückt! Der Juckreiz hatte sich schließlich wieder verschlimmert und ich hatte wieder angefangen zu kratzen. Ich kratzte immer stärker, bis es blutete und dann sah ich es: In dem angesammelten Blut wand sich eine winzige kleine weiße Made.

Der Puppenmacher

Mein Vater hatte schon immer eine etwas seltsame Leidenschaft für Puppen aller Art gehabt. Irgendwann begann er selbst welche zu machen, vorzugsweise aus Porzellan. Dieses seltsame Hobby hatte ganz neue Dimensionen angenommen, als meine ältere Zwillingsschwester Alice von einem Auto überfahren wurde und daraufhin starb. Seitdem hatte er sich vollständig zurückgezogen und finanziert uns beide und sein Hobby durch den Verkauf seiner Puppen. Dabei hatte er als Chirurg ganz gut verdient und mit 18 Jahren bereits eine Ausbildung zum Prothesenmacher abgeschlossen. Aber irgendwann war er es Leid gewesen, von kranken und verstümmelten Menschen umgeben zu sein. Nach dem Tod von Alice hat er sich seine eigene Welt erschaffen. Eine Art eigenes Märchen, in dem er mit seinen über alles geliebten Puppen lebt. Mich selbst sieht er gar nicht mehr und wenn, dann spricht er immerzu von seinen Puppen. Manchmal macht mir das ein wenig Angst, denn hin und wieder hat er angedeutet, dass ich als eine Puppe viel mehr an Perfektion heranreichen würde als die Menschen. Inzwischen nennen die Leute in der Nachbarschaft unser Haus das „Puppenhaus“. Tatsächlich kann man nirgendwo hingehen, ohne von diesen unheimlichen Glasaugen beobachtet zu werden. Ich habe keine genaue Zahl, aber ich schätze, dass mein Vater ungefähr 1000 Puppen im Haus hat und wahrscheinlich sind es sogar noch mehr. Platz genug haben wir dafür. Nachdem Großvater nämlich gestorben ist, haben wir eine Villa geerbt, die inzwischen zu einer Art kleinen Schloss umgebaut worden ist. Alles sieht aus, als entstamme es dem Barock. Mein Vater ist fasziniert vom Barock und der Renaissance und ist auch ein Kunstliebhaber. Aber nichts übertrifft seine Leidenschaft zu Puppen. Manchmal habe ich schon fast das Gefühl, es ist eine Besessenheit von ihm. Immerhin zwingt er mich schon dazu, diese altmodischen Rüschenkleider zu tragen und mir die Augen zu schminken, damit sie schön groß aussehen. Er sieht es gerne, wenn ich mich wie eine Puppe kleide. Wenn ich mich hingegen wie ein normales Mädchen meiner Altersklasse kleide, dann ignoriert er mich die meiste Zeit und redet mit mir wie mit einer Fremden. Wenn ich hingegen diese Kleider anziehe und mich wie eine Puppe kleide, dann ist er liebevoll und fürsorglich zu mir. Also habe ich es mir angewöhnt, immer diese unbequemen Kleider zu tragen. Mein Vater hat seine eigene Werkstatt im Westflügel, welches er auch sein „Atelier“ nennt. Seine Puppen sind wirklich gefragt und er ist auch sehr geschickt. Er macht die besten Porzellanpuppen der Welt und er macht es mit solch einer Hingabe, dass es mich schon manchmal erschreckt.

In eine Schule darf ich nicht gehen, das hat mein Vater so beschlossen. Stattdessen werde ich von einem Privatlehrer unterrichtet und das Haus darf ich auch nicht verlassen. Naja, manchmal darf ich draußen im Garten spielen. Es ist schon manchmal etwas einsam, besonders wenn mein Vater in seinem Atelier ist und an seinen neuen Puppen arbeitet. Zu meinem letzten Geburtstag hat er mir auch eine Puppe geschenkt, der ich den Namen Beatrice gegeben habe. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit goldenen Stickereien und roten gerafften Saum. Da ich keine Freunde zum Spielen habe, wurde Beatrice zu meiner einzigen Freundin. Sie ist nicht die Einzige Puppe in meinem Zimmer. Insgesamt sind es zwanzig Stück und sie sitzen alle auf ihren Regalplätzen und starren ins Leere. Alle tragen Namen und haben ihre eigene Geschichte. Aber keine von ihnen liebe ich so sehr wie Beatrice. Mein Vater hat sie nämlich nur für mich alleine gemacht. Zusammen mit ihr, Loreley und Madeleine sitze ich oft am Tisch und trinke mit ihnen zusammen Tee. „Sag mal Amara, wollen wir nachher im Garten spielen?“ fragte mich Beatrice und sah mich mit ihren rehbraunen Augen an. Ich stellte die Teetasse ab und lächelte. „Gerne. Aber vorher kommt noch ein wichtiger Kunde für Papa und da wollte ich dabei sein.“

„Du meinst dieses komische Walross mit dem Monokel?“ fragte Loreley und kicherte. „Der sah ja wirklich ulkig aus.“

„Ein britischer Gentleman, wie er sagte. Er sieht irgendwie aus wie Mr. Monopoly, nur dass sein Schnurrbart wie der eines Walrosses aussieht. Und dann noch dieser dicke Bauch. Er spricht auch immer so komisch und schnauft immer wie eine Dampflok, wenn er die Treppen raufgeht.“ Loreley, Madeleine und Beatrice begannen zu lachen. Wenn wir zusammen bei einer Runde Tee saßen, tratschten wir gerne über die Kunden meines Vaters. Es war so ziemlich das Einzige, worüber wir reden konnten. Früher hatten wir noch über meine alten Stofftiere gesprochen, wie zum Beispiel den alkoholabhängigen Teddy Mr. Winky, der sich über das Leben beschwert. Als Mr. Winky sich aus dem Fenster stürzte und irgendwo in der Hecke verschwand, konnten wir nur noch über den kleptomanischen Stoffoktopus Prof. Oktavian oder über die manisch depressive Plüschkatze Miss Kitty von Catshire sprechen, die immer wieder neue Selbstmordversuche unternahm und alle bisher scheiterten. Dann aber warf mein Vater sie alle weg und jetzt habe ich nur noch die Porzellanpuppen. Selbst mein allerältestes Kuscheltier, den neurotischen Stoffelefanten Sir Benjamin, wurde entsorgt. Vater brauchte den Platz, weil er seine geliebten Puppen nicht in irgendwelche Kisten sperren wollte. Er hat sogar jemanden engagiert, der sich allein nur um die Puppenpflege kümmert.

„Warum schauen wir nicht mal im Atelier deines Vaters vorbei? Es ist doch sicherlich sehr interessant, ihm bei der Arbeit zuzusehen!“

„Eigentlich hat Vater mir das verboten. Aber wir können gerne mal vorbeischauen.“ Ich nahm Beatrice auf den Arm und ging mit ihr die Treppen hinunter und wollte gerade zum Atelier gehen, da klingelte es an der Haustür. Da mein Vater immer höchstbeschäftigt war, musste ich die Tür öffnen. Es war aber nicht der britische Kunde, der wie ein Walross aussah, sondern zwei Polizisten. Etwas erschrocken trat ich zurück und drückte Beatrice fester an mich. „Was kann ich für Sie tun?“

„Wir wollen uns gerne ein bisschen mit deinem Vater unterhalten. Wo finden wir ihn?“

„Er ist in seinem Atelier. Ich rufe ihn sofort.“ Ich nahm das Telefon an der Wand, mit welchem man direkt im Atelier anrufen konnte und sagte meinem Vater Bescheid. Das mit dem Telefon war seine Idee, da er fast 17 Stunden täglich im Atelier arbeitete und wirklich jeden verbot, seine Werkstatt zu betreten. Damit konnte er in aller Ruhe und völlig ungestört arbeiten und wusste auch sofort Bescheid, wenn Kunden oder sonstige Leute auf ihn warteten. „Sind Sie auch wirklich von der Polizei?“

„Nun, genauer gesagt sind wir vom FBI.“ Der etwas Jüngere, der ganz offensichtlich mexikanische Wurzeln hatte, beugte sich ein wenig runter, um mit mir auf Augenhöhe zu sein, dann zeigte er mir seine Marke. Ich wusste leider nicht, wie solche aussehen, aber warum sollten sie denn lügen? Nur eines machte mich doch stutzig. „Was will das FBI denn von Papa? Hat er etwas verbrochen?“

„Es sind nur ein paar einfache Fragen. Weißt du, in der letzten Zeit sind einige Kinder verschwunden und manche davon auch in dieser Gegend. Vielleicht hat dein Papa ja etwas gesehen und kann uns da weiterhelfen.“ Aber ich spürte sofort, dass das nur ein Teil der Wahrheit war. Diese Männer vom FBI waren nicht bloß auf der Suche nach Augenzeugen hier. Sie hatten meinen Vater im Verdacht, etwas mit den verschwundenen Kindern zu tun zu haben. Aber warum? Mein Vater war vielleicht ein wenig eigen und hatte eventuell ein psychisches Problem, aber er war ganz gewiss kein Mörder oder Entführer. Er hatte doch nur seine blöden Puppen im Kopf. Beatrice sah mich an und sagte „Die wollen deinen Vater ganz sicher mitnehmen.“

„Du hast ja eine reizende Puppe. Darf ich mal sehen?“ Zögernd gab ich dem FBI Agenten Beatrice und er sah sie sich an. Erstaunt hob er die Augenbrauen und murmelte „Wow, sogar mit echtem Haar. Sie ist sehr schön. Hat sie auch einen Namen?“

„Beatrice. Mein Vater hat sie mir zum Geburtstag geschenkt.“ Ich nahm Beatrice wieder zurück und wartete ungeduldig. Schließlich kam mein Vater den Korridor hinunter und hatte seine Schürze bereits abgelegt. Er sah ein wenig erschöpft und gestresst aus, aber ich kannte ihn schon so. Er reichte dem FBI Agenten die Hand und setzte sein charmantes Lächeln auf. „Was kann ich für Sie tun?“

„Wir hätten da ein paar Fragen bezüglich der verschwundenen Kinder aus der Nachbarschaft.“ Vater sah ein klein wenig irritiert aus, dann aber zuckte er mit den Achseln und sagte „Okay, kein Problem. Ich helfe Ihnen gerne weiter, wenn ich kann.“

„Würden Sie uns dann bitte begleiten?“ Damit wandte sich Vater mir zu. „Ich bin bald wieder da. Sei schön brav, während ich weg bin.“ Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, als mein Vater mit ihnen wegging. Es war, als würden sie ihn abführen und einsperren. Ich war zwar oft allein, aber dass zwei Männer vom FBI kommen würden, um meinen Vater zur Befragung mitzunehmen, war schlimmer für mich.

Erst am Abend kam Vater wieder zurück, aber er wollte mir keine expliziten Auskünfte über das Gespräch geben. Immer wieder, wenn ich ihn fragte, sagte er nur „Es waren nur ein paar Routinefragen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Doch ein Teil von mir war sich sicher, dass Vater mir etwas verheimlichte. Ich konnte nur nicht sagen was. Was, wenn mein Vater tatsächlich hinter dem Verschwinden der Kinder steckte? „Papa, wird der Entführer mich auch holen?“ Dabei sah ich ihm tief in die Augen und versuchte, seine Gefühle oder seine Gedanken zu erraten. Doch mein Vater besaß schon immer ein Pokerface und ich wusste nicht, was ihm gerade durch den Kopf ging. Schließlich lächelte er und tätschelte mir den Kopf. „Wenn du ein liebes Mädchen bist und tust, was dein Papa dir sagt, dann brauchst du keine Angst zu haben.“ In diesem Moment hatte ich irgendwie Angst vor ihm. Diese Antwort, die er mir gab, war etwas beunruhigend und mich ließ dieser Zweifel einfach nicht los.

Auch in den nächsten Tagen bemerkte ich ein seltsames Verhalten an meinem Vater. Er empfing so gut wie keine Besucher mehr und war ausschließlich nur noch über das Haustelefon zu erreichen. Außerdem konnte ich an ihm beobachten, dass er nur noch Augen für seine Puppen hatte. Ja er begann nun sogar mit ihnen zu sprechen, als wären es seine eigenen Kinder. Und er behandelte sie auch so. Ich bereitete mich schon innerlich darauf vor, dass bald die Männer in weiß kommen und ihn in eine Zwangsjacke stecken würden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dessen war ich mir sicher. Da mir die Sache mit den Kindern Kopfzerbrechen bereitete, begann ich nun regelmäßig die Zeitung zu lesen und die Nachrichten zu sehen. Erst da erfuhr ich, dass ca. 15 Kinder im letzten Jahr verschwunden sind und seit Anfang diesen Jahres genau die gleiche Anzahl. Darunter auch einige aus unserer Nachbarschaft. Da ich in der Villa sehr isoliert lebe, habe ich davon nichts mitbekommen und wusste dementsprechend also nichts Konkretes darüber. Bis jetzt gab es keinerlei Informationen zum Entführer und es tauchten weder Erpresserbriefe noch die Leichen auf. Deshalb ging man davon aus, dass die Kinder noch lebten. Oder ihre Leichen gut verscharrt waren. „Das ist ja beängstigend“, murmelte Beatrice, als sie zusammen mit mir die Tagesnachrichten sah. „Hoffentlich finden sie diesen Entführer bald.“

„Hoffentlich kommt er nicht hierher und nimmt mich auch mit.“

„Ach was. Dein Vater hat doch gesagt, dass du sicher bist, solange du auf ihn hörst. Dein Vater weiß, was er tut.“ Aber ich hatte das Gefühl, dass mein Vater mehr wusste, als er zugab. Und wenn er wirklich die Kinder entführt hatte, mussten sie sich irgendwo in diesem Haus aufhalten. Und mit Sicherheit waren sie in seinem Atelier, welches nicht einmal ich betreten durfte. Doch wollte ich das wirklich wissen? Wollte ich wirklich wissen, ob mein eigener Vater ein Entführer war? Und was sollte ich tun, wenn er tatsächlich die vielen Kinder gekidnappt hatte? So viele Fragen schwirrten mir durch den Kopf und ich hatte Angst um Vater, auch wenn wir nicht gerade das engste Vater-Tochter-Verhältnis hatten.

Schließlich traf es sich, dass zwei weitere Kinder verschwanden und mein Vater von den FBI Agenten noch einmal zur Befragung abgeholt wurde. Ich war wieder alleine und dieses Mal hatte ich Zeit und Gelegenheit, mir sein Atelier mal anzusehen und mich endgültig davon zu überzeugen, ob er hinter den Entführungen steckte oder nicht. Da ich nicht alleine gehen wollte, nahm ich Beatrice mit und machte mich zusammen mit ihr auf den Weg. Das Atelier befand sich in einem separaten Gebäude, welches man durch einen langen Korridor erreichen konnte. Es war mit einem speziellen Schloss gesichert, wo man ein Passwort eingeben musste. Ich versuchte es zunächst mit „Dollhouse“, doch es erwies sich als falsch, also versuchte ich es mit „Doll“ und „Puppet“. Immer wieder ein Fehlschlag, bis ich schließlich „Porcelain“ eingab, da er alle seine Puppen aus Porzellan anfertigte. Tatsächlich war es richtig und das Schloss wurde entriegelt. Ich öffnete die Tür und betrat zum ersten Mal in meinem Leben das Atelier.
 

Der Raum, den ich als erstes erreichte, war die Galerie, wo mein Vater seine ersten Werke in Glaskästen aufbewahrte. Es war eine Art kleines persönliches Museum, auf das er besonders stolz war. Hauptsächlich waren hier Puppen, aber im zweiten Raum bewahrte Vater die Prothesen auf, die er ab und zu für besondere Kunden herstellte. Tatsächlich trug auch ich eine Prothese. Bei einem Sturz brach ich mir nämlich das Bein und anstatt es zu operieren, amputierte mir der Chirurg es einfach. Vater hatte das Krankenhaus verklagt und mir dann eine Prothese aus Porzellan angefertigt. Sie war aus einem speziellen Porzellan, welches viel robuster und widerstandsfähiger, aber auch leichter war, als diese normalen Prothesen. Sie sah einfach viel schöner aus und war dementsprechend teuer. Die Idee war meinem Großvater gekommen, der damals vor langer Zeit da Prothesengeschäft in Bukarest geführt hatte. Zu den damaligen Zeiten herrschten dort große Unruhen und da Metall sehr teuer war und Holz viel zu schnell abnutzte und sich zudem nicht sehr gut eignete, war er schließlich auf die Idee gekommen, Porzellanprothesen anzufertigen. Diese Kunst wurde in der Familie weitergereicht und nun nutzte mein Vater diese Kenntnisse, um Puppen herzustellen. Die Prothesengalerie war genauso aufgebaut wie die für die Puppen: Alles in Glaskästen wie in einem Museum. Sogar eine Handprothese hatte mein Vater aus Porzellan gemacht. Doch als ich diesen Raum betrat, konnte ich einen sehr schwachen aber dennoch sehr unangenehmen Geruch wahrnehmen. Aber wie gesagt, er war sehr schwach und nur dann wahrnehmbar, wenn man sich darauf konzentrierte.

Als ich den Flur betrat, wurde er ein wenig stärker, aber ich konnte nicht genau abschätzen, aus welchem Raum er kam. Der nächste Raum war die Schneiderei, wo mein Vater die Kleider für die Puppen anfertigte. An der Wand hingen überall Skizzen, überall lagen Stoffballen und Miniaturmannequins, die bereits die neuesten Kleider trugen. Es gab eine Nähmaschine, alle möglichen Schneiderutensilien und auf einem Tisch lagen bereits ein paar Puppen, die Vater schon vorbereitet hatte. Sie waren blond, blauäugig und trugen weiße Sommerkleidchen mit roten Mustern, dazu noch passende Häubchen. Ich ging den Flur entlang zur nächsten Tür und fand mich schließlich in der Zweitwerkstatt wieder, wo die bereits gefertigten Puppenteile noch mal nachgeschliffen und dann zusammengebaut wurden. Mein Vater benutzte Kugelgelenke, damit die Bewegungen flüssiger waren. Ein ähnliches System nutzte er bei meiner Prothese. In den Regalen lagen ordentlich aneinandergereiht kahle Puppenköpfe, denen teilweise noch die Augen fehlten. Es gab einen großen Schrank mit diversen Schubladen. In denen fand sich Farbe für die Lippen, Lider und Augen, Schrauben und Federn und noch viele andere Dinge. Dieser Raum war genauso interessant wie die anderen zuvor, aber ich wusste, dass es noch eine andere Werkstatt gab. Nämlich die, wo das Porzellan gebrannt wurde. Also verließ ich die Puppenwerkstatt und betrat den nächsten Raum. Dort war der Geruch viel stärker, jedoch war der von Glut und Kohle deutlich dominanter. Hier befand sich der Ofen, in dem mein Vater die Puppenkörperteile brannte. In diesem Raum bewahrte er auch das Material dazu auf. Zu meinem Erstaunen besaß es aber keine flüssige sondern eine teils grobe Pulverform. Dabei dachte ich immer, das Material für Porzellan sei flüssig. Andererseits… ich konnte mich nur schwammig daran erinnern, dass mein Vater einmal erklärte, dass Porzellan aus Erde und Gesteinen gewonnen wurde, oder zumindest Teile davon. Außerdem spielte Kalk eine wichtige Rolle. Aber ein Porzellan war ganz speziell. Es galt als das feinste, edelste und weißeste Porzellan von allen: Fine Bone China. Nur wusste ich nicht mehr genau, was da noch mal drin war, was es so besonders machte. Beatrice war auch aus diesem Porzellan gemacht worden.

Da dieser Raum eine zu schlechte Luft hatte, sah ich ihn mir nicht weiter an und betrat schließlich den letzten Raum, der mit diversen Türschlössern gesichert war. Diese waren aber nicht abgeschlossen, da mein Vater wohl in Eile gewesen war. Durch die Fugen kam eine leichte Brise und als mir die um die Nase wehte, roch ich sofort, dass es die miefige Luft war, die ich schon in der Galerie gerochen hatte. „Halt besser die Luft an. Da drin scheint es fürchterlich zu stinken“, warnte mich Beatrice und dann öffnete ich die Tür. Der Geruch war so stark, dass er mich überkam wie eine Monsterwelle. Er war so widerlich, dass meine Augen bereits zu tränen anfingen und mir schlecht wurde. Und vor allem der metallische Geruch war furchtbar. Der Raum war deutlich anders als die anderen zuvor. Es gab hier keine Fenster, nur dicke Wände. An den Wänden hingen Sägen, Messer und noch andere Werkzeuge und es gab einen großen Tisch mit Stahlfläche. Dieser war sauber poliert, doch der Boden war voller dunkler, eingetrockneter Flecken. Außerdem klebten einige dunkle Spritzer am Waschbecken. In diesem Moment verspürte ich eine gewisse Beklemmung und drehte den Blick in eine Ecke. Dort war eine Art Bottich, in dem für gewöhnlich etwas abgekocht wurde. Er war groß, sehr groß sogar und das Wasser war noch heiß. Der Deckel war groß wie eine U-Bootluke und ließ sich nur sehr schwer öffnen. Sie war viel zu schwer und so gab ich es auf.

Schließlich entdeckte ich in der Nähe der Werkbank eine Art Falltüre wie aus dem Sweeney Todd Film. Sie ließ sich durch einen Fußschalter öffnen und führte in den Keller hinab. Von dort unten wehte ein bestialischer Gestank zu mir rauf und sofort ging ich vom Fußschalter runter. Was zum Teufel war bloß da unten, dass es so infernalisch stank? Auch wenn mir dabei unsagbar schlecht wurde, musste ich es mir ansehen.

Sofort verließ ich die Werkstatt wieder und stieg die Treppen hinunter in den Keller. Aufgrund meiner Prothesen brauchte ich für gewöhnlich länger als ein normaler Mensch und ich musste mich am Geländer festhalten, um nicht zu stürzen. Kaum hatte ich die letzte Stufe erreicht, sah ich schon eine große, schwere Metalltür. Sie ließ sich nur sehr schwer öffnen und ich musste all meine Kraft aufwenden, um sie aufzuziehen. Der Gestank raubte mir beinahe das Bewusstsein und ich konnte vor lauter Tränen kaum etwas sehen. Meine Augen brannten, meine Lunge ebenfalls und mir wurde schwindelig. Noch schlimmer aber wurde es, als ich wohl das Entsetzlichste in meinem Leben sah: Einen riesigen Metallbehälter, bis kurz unter den Rand gefüllt mit Organen und Kleidungsfetzen. Sie schwammen in einer dickflüssigen, braunroten Brühe, in der sie sich nach und nach aufzulösen schienen. Es war Säure. So schnell es mir meine Prothese erlaubte, flüchtete ich aus dem Keller und ging wieder zurück in die Werkstatt, um mir den Bottich näher anzusehen. Es gelang mir nur mit äußerster Anstrengung, die Luke zu öffnen und zu sehen, was sich da drin befand. Und was ich sah, bestätigte meinen entsetzlichen Verdacht. Es waren Knochen. Und nicht nur irgendwelche Knochen: Darunter befand sich der nackte Schädel eines Kindes. Jetzt erinnerte ich mich auch daran, was mein Vater über dieses hochwertige Fine Bone China sagte: Die wichtigste Zutat waren zu 53% Knochenmehl von Rindern. Doch mein Vater hatte in seinem kranken Wahn nicht irgendwelche minderwertigen Tierknochen genommen. Er hatte die Kinder entführt und aus ihren Knochen Puppen angefertigt. Entsetzt starrte ich auf Beatrice und erinnerte mich an die Worte des FBI Agenten…
 

Echtes Haar…
 

Ich schrie laut auf und warf Beatrice weg. Sie prallte gegen die Wand und zerbrach. Dann sah ich auf meine Prothese und brach in Tränen aus. Sie war auch aus Porzellan. Meine Prothese bestand aus den Knochen anderer Kinder.

„Ich dachte, ich hätte dir klipp und klar gesagt, niemals mein Atelier zu betreten.“ Ich drehte mich nicht um, als ich die Stimme meines Vaters von der Tür her hörte. Ich unternahm keinen Fluchtversuch oder versuchte, mit ihm zu reden. Der Schock saß einfach zu tief. Mir war klar, dass ich hier nicht mehr rauskommen würde. Mir war nun klar, dass mich mein Vater nun auch zu einer Puppe machen würde….

Das Hans Bender Projekt - Die wahre Begebenheit

Nach der Zerstörung des Hans Bender Forschungsinstituts für Parapsychologie deckte eine Untersuchungskommission den wahren Hergang der Ereignisse bis zur Explosion auf. Die Ergebnisse wurden zur Richtigstellung der illegal veröffentlichten Tonbandaufnahmen ebenfalls im Netz veröffentlicht. Dies galt vor allem zur Vermeidung einer landesweiten Massenhysterie und Verbreitung falscher Tatsachen.
 

Am 02. November 20xx führten die Parapsychologen Dr. Roze und seine Kollegin Dr. Stein das Hans Bender Projekt durch, nachdem sie Dathan Lumis Kinsley auf einem altem Fabrikgelände aufgegriffen und sichergestellt haben. Ziel dieses Projekts war es herauszufinden, wie es Dathan geschafft hatte, ohne medizinische Hilfe ins Leben zurückfinden und 30 Menschen durch Unfälle sterben zu lassen. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass Dathan sich in einer sehr schlechten mentalen Verfassung befand und sowohl psychischer als auch physischer Gewalt ausgesetzt wurde. Er erlitt schließlich einen Zusammenbruch und somit mussten die Versuchsreihen unterbrochen werden. In dieser Zeit wurde von einem bislang Unbekannten eine DVD zugeschickt und auf sämtlichen Monitoren im Institut abgespielt. Der Inhalt der DVD ist noch nicht bekannt, allerdings vermuten einige Experten, dass es sich hierbei um den von Fred Moore gedrehten Film „Happy Sally“ handelt, über den zurzeit diverse Gerüchte und Theorien existieren. Erst wirklich bekannt wurde der Film der Öffentlichkeit, als die Großnichte des verstorbenen Disneyzeichners Nachforschungen betrieb und in den Besitz des Originals gelangte. Diese nahm sich jedoch das Leben, einige Wochen, nachdem sie den Film gesehen hat. Zuvor wurde der Film bereits ins Netz gestellt.

Es ist anzunehmen, dass „Happy Sally“ bestimmte Reize im menschlichen Gehirn auslöst und somit Halluzinationen hervorruft. Dies wäre die einzig logische Erklärung für diese Suizide und Fälle von paranoider Schizophrenie, die der Film verursacht. Genaue Ursachen können noch nicht geklärt werden, doch es ist äußerst unwahrscheinlich, dass tatsächlich ein lebendes Wesen oder ein Geist hinter der Zerstörung des Forschungsinstituts steckt. Nachdem nämlich ein Großteil der Wissenschaftler und Professoren das Filmmaterial gesichtet hat, begannen insbesondere Dr. Stein und Dr. Roze zu halluzinieren. Das Team um die beiden Doktoren begann nämlich mysteriöse Dinge zu sehen. Sie glaubten, ein kleines Mädchen zu sehen, welches auch im Film auftaucht und mehrere Leute umbringt. Ihre komplette Wahrnehmung begann sich zu verzerren und als sie die Todeszelleninsassen ins Institut beordert hatten, töteten sie sie und glaubten, Sally hätte es getan. Warum sich kaum einer der Beteiligten an die Sichtung der Filmaufnahmen erinnern kann, ist noch nicht vollständig geklärt. Fakt ist aber, dass insbesondere Dr. Stein, die die Aufzeichnungen erstellt hat, sich nie darüber geäußert hat, den Film gesehen zu haben. Dennoch war sie genauestens über den Inhalt informiert. Da sie den Film als abstoßend, brutal und entsetzlich beschrieben hatte, musste ihr Verstand die Erinnerung daran weitestgehend gelöscht oder verdrängt haben. Die Versuchsreihe bezüglich Dathan lief ab wie beschrieben, nur fehlen einige Inhalte, da die Tonbandaufnahmen schwer beschädigt waren, als sie aus den Trümmern geborgen worden waren. Es konnten höchstens 53% des Gesamtmaterials gerettet werden, dafür aber lag dem Aleister Michaelis Institut eine Kopie der Tonbandaufnahmen vor, welches sich ebenfalls auf Parapsychologie spezialisiert hat. Tatsächlich waren die aufgezählten Versuchsreihen an Dathan Kinsley unvollständig und um einiges grausamer und menschenverachtender, als bisher veröffentlicht wurde. Dathan wurde mehreren sehr schmerzhaften Operationen und Versuchen unterzogen, in welchem die Belastbarkeit seines Körpers getestet wurde. Sehr oft wurden diese Versuche ohne Anwendungen von Betäubungsmitteln durchgeführt, wodurch Dathan oft sehr starken Schmerzen ausgesetzt war, die ihn fast in den Wahnsinn getrieben hätten. Diese Versuchsreihen wurden jedoch urplötzlich unterbrochen, nachdem der „Happy Sally“ Film sich scheinbar im gesamten Institut verbreitet hat. Dathan wurde auf die Krankenstation gebracht und freundete sich dort mit der Ärztin Dr. Marsh an, die seine Wunden versorgte und großes Mitgefühl für ihn empfand. Aus Kameraaufzeichnungen geht hervor, dass Dr. Marsh Dathan heimlich aus dem Institut herausschaffen wollte, um ihn vor dem sicheren Tod zu retten. Doch er lehnte ab und erklärte, dass er sie nicht in Gefahr bringen wollte. Also wurde Dathan heimlich mit Schmerzmitteln versorgt, um die für ihn sonst kaum erträgliche Tortur zu ertragen, die ihn noch erwartete.

Doch die Versuchsreihe wurde nicht fortgeführt. Stattdessen begannen Dr. Stein und Dr. Roze sowie ihr gesamtes Team, immer stärker zu halluzinieren. Sie führten Schusstests in einer leeren Zelle durch und töteten die Todeszelleninsassen. Dr. Marsh berichtete Dathan daraufhin, dass die Verantwortlichen des Hans Bender Projektes glaubten, ein Mädchen namens Sally zu sehen, die jeden in ihrer Nähe töte und mit ihren kinetischen Kräften sowohl die Todeszelleninsassen als auch die Wärter tötete. Tatsächlich verhält es sich aber so, dass immer mehr Sicherheitskräfte, die unter Halluzinationen litten, Selbstmord begingen, bzw. den Verstand verloren und ihre Kollegen erschossen. Diese Todesfälle wurden Sally zugeschoben, die aber lediglich der Fantasie der Betroffenen entsprang.

Während die vermeintlichen Experimente an Sally durchgeführt wurden, existieren zu diesem Zeitraum kaum Informationen über Dathan. Jedoch geht aus Dr. Marshs Bericht hervor, dass er sich sehr abweisend und aggressiv gegenüber den Wissenschaftlern verhielt und sich sehr oft in den Schlaf weinte. Die Ärztin zeigte sich ernsthaft besorgt über Dathans Zustand und schloss auch nicht aus, dass er aufgrund dieser enormen psychischen und physischen Belastung suizidgefährdet sei. Ihre Anträge auf eine Freilassung Dathans wurden dennoch von Dr. Roze und Dr. Stein abgelehnt, da diese der Ansicht waren, dass ein „Wiedergänger“ bzw. Nekromant kein Mensch mehr sei. Folglich habe er auch keinerlei Anspruch auf Menschenrechte. Daraufhin beschloss Dr. Marsh, selbst etwas gegen die skrupellosen und verachtenswerten Versuchsreihen der beiden Wissenschaftler zu unternehmen und plante einen gewaltsamen Ausbruch. Sie installierte eine Zeitschaltuhr, mit der die Stromgeneratoren ausfallen sollten, damit sie Dathan ungehindert befreien konnte. Doch sie musste ihre Pläne ändern, als Dathan Kinsley in die Hinrichtungskammer gebracht wurde. Ihren Versuch, ihn gewaltsam mit einer Pistole zu befreien, zahlte sie mit ihrem Leben. Die Zeitschaltuhr wurde nicht entdeckt und somit blieb die gesamte Belegschaft im Unwissen über den bevorstehenden Stromausfall. Als Dathan getötet werden sollte, begannen die von Dr. Marsh geplanten Störfälle der Generatoren: Die Schussanlage fiel aus, die Computer reagierten nicht und auch die Gaszufuhr ließ sich nicht steuern. Damit gelang dem Gefangenen die Flucht aus der Todeskammer und die Massenpanik im Institut nahm ihren Lauf. Einen Beitrag dazu leistete Dathan, der nun auf Rache sann und seine Fähigkeiten nutzte, um jeden zu töten, der ihm in die Quere kam. Aus bisher noch ungeklärten Gründen wurde auf den verrückt spielenden Computern erneut das Sally-Video abgespielt und das war der Auslöser für das darauf folgende Massaker. Menschen töteten sich gegenseitig oder verloren den Verstand, bzw. wurden von Dathan getötet. Experten sind sich noch unschlüssig, warum die Notausgänge nicht benutzt wurden. Ein Zeuge aus dem Aleister Michaelis Institut sagte aus, dass er mehrfach versucht habe, Dr. Roze auf dem Handy zu erreichen. Er berichtet wie folgt:
 

„Wir hatten selbstverständlich gehört, dass es da einen Störfall im Hans Bender Institut gab, aber es konnte doch keiner von uns ahnen, was da wirklich geschah. Als ich Dr. Roze nicht erreichen konnte, versuchte ich es schließlich bei seiner Kollegin Dr. Stein. Sie war völlig hysterisch und aufgelöst und schrie regelrecht, dass Sally sie alle töten würde. Sie flehte mich an, die Polizei zu rufen, damit jemand sie befreien konnte, bevor es zu spät sei. Der Kontakt brach aber mitten im Gespräch einfach ab, dafür habe ich eine seltsame SMS erhalten: Es zeigte ein kleines Mädchen ohne Augen, das in die Kamera lachte. Darunter stand „Sally will spielen.“ Es wurde mir direkt von Dr. Steins Handy geschickt, aber ich konnte sie nicht mehr erreichen. Der Kontakt zum Institut war komplett abgebrochen.“
 

Die Expertenmeinungen über diesen Vorfall gehen weit auseinander. Es wird allgemein hin vermutet, dass „Happy Sally“ Szenen mit starker Reizüberflutung beinhaltet, die sich auf das Unterbewusstsein auswirken und optische als auch akustische Halluzinationen hervorrufen. Es ist zwar bewiesen, dass Reizüberflutung Gehirnkrämpfe auslösen können, die zu epileptischen Anfällen führen. Doch bislang ist nie ein Fall geschildert worden, in welchem ein Film solche Halluzinationen hervorruft. Diese Symptome werden vorläufig als das "Sally-Syndrom" zusammengefasst. Leider ging der Film während der Massenpanik im Hans Bender Institut verloren, weshalb kein hundertprozentiger Beweis für die Existenz des echten Fred Moore Films existiert. Solange wir das Original nicht sicherstellen können, wird es uns nicht möglich sein, herauszufinden, was an dem Film diese Halluzinationen und Wahnvorstellungen verursacht. Eine Möglichkeit wäre, die ins Netz gestellten Aufnahmen zu sichten und zu analysieren. Dass „Sally“ tatsächlich als lebender Mensch existiert, ist für uns ausgeschlossen. Sally ist nichts Weiteres als ein globales Phänomen und eine Legende. Es ist gefährlich, diesen Gerüchten und Geschichten vorschnell Glauben zu schenken und sich davon beeinflussen zu lassen. Auch Erzählungen wie z.B. „Die Sally Parabel“, die über den vermeintlich wahren Beginn des Sally-Mythos berichtet, entstammen hauptsächlich der Feder von begeisterten Internetusern, die zu ihrem eigenen Vergnügen halbwegs glaubwürdige Geschichten über ein Mädchen namens Sally verbreiten, welches durch Teufelswerk zu einem Geist oder Nekromanten wurde. Wir distanzieren uns gänzlich von diesen Legenden und Gerüchten und werden uns ausschließlich an die Fakten halten. Sally ist kein Nekromant mit kinetischen Fähigkeiten, sie ist auch kein Mensch, der vor seinem Tod einen Teufelspakt geschlossen hat. Es existieren keinerlei Beweise dafür, dass sie tatsächlich vor 200 Jahren gelebt hat und für die Zerstörung ihrer Heimatstadt verantwortlich ist. Die Stadt Shallow Graves existierte bis vor 200 Jahren tatsächlich, fand ihr Ende jedoch in einem schweren Orkan, welcher für die Vereinigten Staaten nichts Ungewöhnliches ist. Der Tod der fast 900 Menschen ist zwar nicht gänzlich aufgeklärt worden, allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass die Typhuswelle oder eine andere Seuche ihre Opfer gefordert hat und die Überlebenden vor der Krankheit geflohen sind. Somit starb Shallow Graves aus und es ist damit weitestgehend bewiesen, dass „Die Sally Parabel“ des Internetusers „I.M.Sally“ weder Hand noch Fuß hat und somit als unwahr zu werten ist. Ebenso ausgeschlossen ist es, dass Fred Moores Großenkelin Opfer eines bösen Geistes wurde, der sie heimsuchte und tötete.

Was die letzten Aufnahmen des Tonbandgerätes nach der Ermordung von Dr. Stein betrifft, so handelt es sich hierbei schlichtweg um eine Fälschung. Die sichergestellten Aufnahmen, die Dathans „Kriegserklärung“ als auch Stimmaufzeichnungen von Sally beinhalten, wurden von Amateuren erstellt und den realen Aufnahmen hinzugefügt. Ziel war es, falsche Beweise zu erstellen, die die Existenz von Sally untermauern sollen. Dathan ist es zwar tatsächlich gelungen, als Einziger lebend das Institut zu verlassen, doch Sprachexperte hat feststellen können, dass es sich bei den Stimmaufnahmen um zwei verschiedene Personen handelt.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Sally NICHT existiert und auch die es sich „lediglich“ um einen Film mit reizüberflutenden Inhalt handelt, der die Wahrnehmung der Betroffenen so stark verzerrt, dass diese sogar Morde begehen können bzw. in den Selbstmord getrieben werden. Wir werden alles daran setzen, den Film zu finden, zu analysieren und damit endlich den Sally-Mythos vollständig und wahrheitsgemäß aufklären können. Und dann werden wird auch das gefährliche "Sally-Syndrom" vollständig erforscht und heilbar sein.
 

Die Reaktion auf den Bericht der Untersuchungskommission zeigte sich in folgenden Leserkommentaren, die eine ebenso geteilte Meinung zum Sally-Mythos haben:
 

TimeRacer098: „Ich habe die Nase voll von dieser ganzen Sally-Scheiße. Echt Mann, dieser Bericht hier ist doch genauso gefaked wie die anderen Geschichten über sie. Und die Großnichte von Moore ist wahrscheinlich nicht mal tot bzw. existiert gar nicht, genauso wie das Video.“
 

ZionFreezer: „Ich glaube nicht, dass Sally überhaupt nicht existiert bzw. nur den Reizüberflutungen eines Filmes entspringt. Ich denke, an der Geschichte ist etwas dran, weshalb wird wohl sonst so ein Hype um diese Geschichte gemacht, wenn sie sowieso eine Lüge ist? Außerdem machen mich einige Sachen stutzig: Der Film taucht einfach im Institut auf, verschwindet urplötzlich wieder und keiner kann aus welchen Gründen auch immer aus dem Institut entkommen. Entweder waren sie so neben der Spur, dass sie gar nicht mehr klar denken konnten oder aber Sally existiert und hat sie alle gefangen gehalten.“
 

Ronald_Baxter: „Das Video existiert, das ist sicher aber dass da nicht mehr dahinter steckt, glaub ich nicht. Wahrscheinlich wollen uns diese Medienfritzen nur wieder hinters Licht führen.“
 

TimeRacer098: „Ich kann echt nicht fassen, dass manche Leute so bescheuert sind und diesen ganzen Blödsinn auch noch glauben. Allein schon die zensierte Datumsangabe spricht doch dafür, dass es eine plumpe Fälschung ist, genauso wie dieser Aufklärungsbericht.“
 

Ronald_Baxter: „Ich denke, man kann weder beweisen, dass es Sally wirklich gibt, bzw. sie nicht existiert. Und solange wird es wohl immer neue Stories geben, die sowohl das eine als auch das andere beweisen wollen. Solange man nicht selbst den Film gesehen hat, wird man nie die Wahrheit erfahren oder es wird schwer sein festzustellen, ob es dann auch echt ist oder nur eine neue Geschichte von irgendeinem User.“
 

Celestial601: "Oh Mann, ich würde echt zu gerne den Film sehen. Allein um herauszufinden, ob er wirklich verrückt macht oder ob das nur Schwachsinn ist. Schade, dass ich das Video nirgendwo finde..."
 

Lil_BlackwhiteGirl: „Es ist wirklich amüsant, sich diese ganzen Kommentare durchzulesen und eure ganzen Streitgespräche zu verfolgen. Ich bin erstaunt, wie schnell sich diese Geschichte über das ganze Netzwerk erstreckt hat und wie hitzig die Menschen darüber diskutieren. Es macht mir wirklich Spaß, euch dabei zuzusehen. Wenn ihr wirklich das echte Video gucken wollt, dann folgt einfach dem unten angegebenen Link. Wenn es euch gefällt, dann verbreitet es einfach, es hilft mir wirklich. Viel Spaß beim Anschauen.“
 

TimeRacer098: „Woher hast du das Video, falls es wirklich das Original ist?“
 

Lil_BlackwhiteGirl: „Ich hab es von Moores Großnichte erhalten. Leider wurde es bald wieder gelöscht, aber inzwischen habe ich doch noch eine Seite gefunden, wo ich es ungehindert ins Netz stellen kann.“
 

Ronald_Baxter: „Klasse, den Film guck ich mir heute Abend mal an. Bin echt gespannt, ob da zu Recht ein solcher Hype um Sally gemacht wird.“
 

ZionFreezer: „Werde mir den Film gleich mit einer Freundin anschauen. Hab echt Schiss, den allein zu gucken. Wenn der echt ist, muss ich den unbedingt meinen Kumpels zeigen. Mal sehen, ob er wirklich so übel ist, wie alle erzählen.“

Das Sally-Syndrom

Nachdem sich die Berichte häufen, dass immer mehr Menschen durch Blogs, über Kettenmails und Chatrooms den Link zu einer Seite zugeschickt wurde, die den von Fred Moore gedrehten Film „Happy Sally“ enthielt, häuften sich zunehmend die Fälle von psychischen Krankheiten. Diese stehen in direkter Verbindung zum Film und werden allgemein als „Sally-Syndrom“ zusammengefasst. Betroffene leiden unter optischen als auch akustischen Halluzinationen. Sie geben an, das Gelächter eines kleinen Mädchens zu hören und von „Sally“ verfolgt zu werden. Bis jetzt gibt es allein in den USA zweihundert gemeldete Fälle, die Dunkelzahl liegt aber noch um einiges höher. Weltweit schätzt die Untersuchungskommission mindestens 1300 Erkrankte und 913 Suizidfälle. Die Regierung reagierte auf das Sally-Syndrom, nachdem sich die Massenpanik im Hans Bender Institut ereignete und 135 Menschen ums Leben kamen. Ausgelöst wurde sie durch die Verbreitung des Films „Happy Sally“, dessen DVD im Institut auftauchte und ebenso wieder verschwand. Der Fall wurde als ernst eingestuft und die WHO versuchte dem Phänomen entgegenzuwirken, indem sie zunächst in Teilen der USA und Europa Aufklärungsseminare in Schulen veranstaltete, indem sie die Gefahr, die von dem Film ausging, nochmals verdeutlichen. Sie warnte vor den ernsthaften gesundheitlichen Schäden, die der Film zur Folge hat und legte den Jugendlichen nahe, diesen Film nicht anzuschauen, sollte jemand den entsprechenden Link geschickt bekommen. Stattdessen sollten sie Meldung bei der Polizei machen. Nachdem die Zahl der Neuerkrankungen weiterhin stieg, ließ der amerikanische Präsident in einer öffentlichen Ansprache verkünden, dass die Verbreitung des Films „Happy Sally“ als auch das Hochladen strafbar sei und mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden würde. Weiterhin würde sich das FBI darauf konzentrieren, die User zu identifizieren, die bereits den Film hochgeladen hätten. Bis dahin würden alle Betreiber von Foren und Onlineportalen dazu aufgefordert werden, die Videos sofort zu löschen oder zu sperren. Entsprechende Accountnutzer, die dabei ertappt werden, wie sie diese Videos hochladen oder verbreiteten, sollten umgehend gesperrt und der Polizei gemeldet werden.

Die Öffentlichkeit reagierte unterschiedlich auf diese drastischen Maßnahmen. Viele Menschen nahmen diese Bedrohung nicht ernst und sprachen von einer erneuten Panikmache, von einer makabren PR-Aktion oder von einer erneuten übertriebenen Aktion der Medien im Kampf um die Einschaltquoten. Eltern reagierten zunehmend besorgt um ihre Kinder und nahmen diese Maßnahmen sehr wohl ernst. Die Jugendlichen hingegen ignorierten zum Teil die Warnungen und waren umso mehr interessiert, sich den Film anzuschauen. Die Bemühungen der Polizei, die Verbreitung des Films aufzuhalten, erweisen sich bislang als wenig erfolgreich. Immer wieder tauchen in Foren völlig unbekannte Chatprofile auf und veröffentlichen weiterhin Links zum Video. Da die angegebenen Daten gänzlich gefälscht waren, erscheint es so gut wie unmöglich, den Verursacher des ganzen Problems zu finden. Einer der aktivsten Namen ist Lil_BlackwhiteGirl. Dieser User hat in bislang über 600 Chatforen und anderen Seiten Links zu einer Seite geschickt, auf der das Video veröffentlicht wurde. Bemühungen der Polizei, diese Seite zu sperren, blieben auf lange Hinsicht erfolglos, da sie gegen solche Zugriffe geschützt war. Auch konnte das FBI immer nicht in Erfahrung bringen, wer sich hinter dem Namen Lil_BlackwhiteGirl verbirgt. Man geht davon aus, dass es sich um einen sehr geschickten Hacker handelt, der seine IP-Adresse verbergen bzw. auf andere zugreifen kann.

Nachdem das FBI die Seite vorübergehend sperren konnte, nahmen sich drei Agents das Leben, zwei weitere wurden wahnsinnig und erschossen fünf Kollegen, bevor sie Selbstmord begingen. Auf den Rechnern der Selbstmörder fand man den Happy Sally Film, der kurz vor ihrem Tod durch Kettenmails verbreitet wurde. Aus ihren Abschiedsbriefen geht hervor, dass der Film nicht von ihnen hochgeladen wurde. Sie hatten die DVD ohne Absender per Post erhalten und ihn sich auf dem Laptop angesehen. Danach wurden die für das „Sally-Syndrom“ typischen Symptome beschrieben: Halluzinationen, Stress, Schlaflosigkeit, Paranoia, schwere Depression und Angstzustände. Sie erklärten jedoch, den Film niemals hochgeladen zu haben. Stattdessen war dies während ihrer Abwesenheit geschehen. Auch fehlte die DVD, die sie sicher verwahrt hatten. Darum gingen sie von einem Einbrecher aus, der es allein darauf abgesehen hatte, das Video zu verbreiten und die DVD anschließend zu entwenden. Außerdem wurden sämtliche Passwörter geändert, sodass die Betroffenen keinen Zugriff mehr auf ihre Accounts hatten. Dies alles geschah nach demselben Muster wie bei Regina Moore, der Großnichte des berühmten Disneyzeichners Fred Moore. Da die Suizidrate weiter ansteigt, richten kirchliche Institutionen derzeit Notfall-Hotlines ein, in denen Erkrankte sofortige Hilfe anfordern können und eine psychologische Betreuung zur Seite gestellt bekommen. Man hofft, durch eine sofortige und intensive Behandlung die Suizidrate einzudämmen und den Betroffenen helfen zu können.

Wie sich herausstellte, ist es kaum möglich, das Sally-Syndrom erfolgreich zu therapieren. Einzel- und Gruppentherapien zeigten bislang keine Erfolge und endeten stets mit dem Selbstmord des Erkrankten. Man setzte deshalb Hoffnung auf Psychopharmaka. Mehrere Testläufe wurden gestartet, in welchen sich Personen, die am Sally-Syndrom leiden, als Probanten zur Verfügung stellten. Doch die Medikamente erzielten nicht den gewünschten Effekt. Stattdessen verschlimmern sich die Symptome und die Probanten mussten in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden, um sie vor sich selbst zu schützen. Dennoch sterben alle durch einen schweren Schock, die Ursache konnte noch nicht festgestellt werden. Selbst nachdem die Fehler der Testmedikamente behoben wurden, verschlimmerten sich die Symptome und viele der Probanten wurden wahnsinnig. Sie brachen in ein wahnsinniges Gelächter aus und jeder von ihnen sagte „Warum so ernst? Lach doch, Jesus liebt dich.“ Eine Umfrage ergab schließlich, dass beinahe jeder der Erkrankten in seinen Halluzinationen Sally diesen Satz sagen hörte. Dies wirft ein neues Licht auf diese mysteriöse Krankheit, da im Film „Happy Sally“ dieser Satz niemals fiel. Und bei inzwischen über 3500 Infizierten ist dies auch kein Zufall mehr. Das Video wird von Spezialisten analysiert, die herausfinden sollen, was wirklich dahintersteckt und ob es sich tatsächlich lediglich um ein Syndrom handelt oder aber um weitaus mehr, als der menschliche Verstand begreifen kann. Doch die Filmanalyse bringt leider keine neuen Erkenntnisse. Es konnte bislang noch nicht festgestellt werden, was genau nun diese psychische Erkrankung verursacht und ob tatsächlich ein paranormales Phänomen vorliegt. Kurz nach Beendung der Analyse erkrankten die Spezialisten am Sally-Syndrom und wurden in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Es kommt immer häufiger zu gewaltsamen Übergriffen infizierter Personen und zu Randalen. Schließlich wurde eine seltsame Entdeckung gemacht, die neue Erkenntnisse über das Sally-Syndrom bringen. Die Lebensgefährtin eines Erkrankten konnte nämlich unzählige Nachrichten im E-Mail Briefkasten und auch SMS Nachrichten lesen, in denen mehrere Fotos von Sally gezeigt wurden. Auf allen Bildern lachte sie in die Kamera, allerdings zeigte der Hintergrund immer eine andere Szene. Unbekannte Landschaften, Straßen oder Städte, doch die letzten Bilder zeigten persönliche Räume wie etwas Büros, Schlafräume, etc. Und immer wurden den Bildern kurze Nachrichten zugeschickt, wie etwa „Sally sieht dich“ oder „Sally ist hier“. Befragungen der Erkrankten haben ergeben, dass alle diese Nachrichten erhalten, jedoch wurden ihre Aussagen bislang nicht ernst genug genommen, da sie unter Halluzinationen litten. Daraufhin wurden die Handys der Verstorbenen geprüft, aber es fanden sich keine solchen Nachrichten. Sie wurden alle nach dem Selbstmord des Erkrankten vollständig gelöscht und können auch nicht wiederhergestellt werden.
 

Die Hackergruppe „Ascarillo“ schaltete sich schließlich in den Fall ein und stimmte einer Kollaboration mit dem FBI zu. Ziel war es, den Unbekannten zu schnappen, der die Bilder über Handy verschickte und die Links in die Foren stellte. Mehrere Wochen arbeiteten die Hacker an der Aufspürung des Uploaders, aber es stellte sich heraus, dass Lil_BlackwhiteGirl von Regina Moores Laptop aus agiert, welcher sich bis heute im Besitz ihrer Familie befindet. Von ihrer Familie kommt niemand als Lil_BlackwhiteGirl infrage, da niemand über genügend Computerkenntnisse verfügt. Es scheint so, als hätte das Gerät eine Art Eigenleben entwickelt und würde von selbst das Video hochladen. Sowohl das FBI als auch „Ascarillo“ gehen von einem überaus begabten Hacker aus, der seine Spuren nahezu vollständig verwischen kann. Wiederum kursieren Gerüchte in Chatforen, dass Sally selbst hinter diesem Namen steckt und wahrscheinlich noch andere Usernamen besitzt und ihren Film auf der ganzen Welt verbreiten will. Die Geister spalten sich immer stärker. Fakt ist, dass der Film eine ernstzunehmende Gefahr ist und dass das Sally-Syndrom existiert. Es konnten immer noch keine erfolgreichen Heilungsmethoden entwickelt werden, dafür ist es dem FBI gelungen, den ominösen Mr. Smith aus Regina Moores Bericht aufzuspüren und ihn zum Film zu befragen. Mr. Smith brach in Tränen aus und erzählte, dass alle von damals, die sich das Video angeschaut haben, von Sally verfolgt werden. Der einzige Grund, warum bis jetzt nur eine sehr geringe Zahl von ihnen Selbstmord beging, bestand darin, dass sie fest entschlossen waren, die Menschen vor dem Film zu schützen. Fred Moore hatte damals vorgehabt, den Film in die Kinos zu bringen und das versuchten seine Kollegen zu verhindern, indem einer von ihnen Fred mit dem Auto anfuhr und man ihn an seinen Verletzungen sterben ließ. Sie wollten die Filmrolle um jeden Preis vernichten, aber dann verschwand sie schwer beschädigt und tauchte sechzig Jahre später auf. Die Filmrolle war durch die Beschädigung unvollständig, sodass der Praktikant, welcher sie veröffentlichte, nicht vom Sally-Syndrom befallen wurde. Inzwischen ist die unvollständige Version von Regina Moore vernichtet worden, allerdings tauchte eine Kopie auf. Diese wurde von Regina auf DVD gespielt, anschließend von einem Unbekannten ins Netz gestellt und dann gestohlen. Diese DVD ist bis heute nicht auffindbar, allerdings berichten einige Leute, die am Sally-Syndrom erkrankten, dass ihnen eine DVD per Post zugeschickt wurde. Diese verschwand auch wieder spurlos, nachdem sie vom Rechner des Empfängers aus weiter verbreitet wurde. Dieses Phänomen gleicht dem Vorgang eines Virus in einem infizierten Körper: Der Virus nistet sich in eine Zelle ein, verbreitet sich von dort aus weiter und lässt die zerstörte Zelle zurück. Exakt das gleiche Muster liegt auch beim „Sally-Syndrom“ vor. Es sind so viele Fragen, die bislang ungeklärt sind und die weiterhin den Glauben schüren, Sally gäbe es wirklich und dass sie ihre Opfer tatsächlich heimsuche:
 

1. Wer steckt hinter Lil_BlackwhiteGirl und warum hat er bzw. sie es darauf abgesehen, den Film unter allen Umständen zu verbreiten?
 

2. Wer ließ die Filmrolle vor sechzig Jahren verschwinden und wer verschickt bzw. stiehlt die DVDs, die den Film „Happy Sally“ beinhalten?
 

3.Warum wird der Film ausgerechnet von den Computern der Suizidopfer aus verbreitet?
 

4. Was hat es mit den unheilvollen SMS und den E-Mails auf sich, mit denen die Betroffenen tagtäglich konfrontiert werden und sie in den Wahnsinn treiben?
 

5. Warum konnte trotz intensiver Mühen bislang keine Heilung gegen das Sally-Syndrom erfolgen und was genau an dem Film löst das Syndrom aus?
 

Solange es keine Antwort auf all diese Fragen gibt, werden die Gerüchte und Geschichten niemals aufhören. Ob es sich wirklich nur um ein Syndrom handelt, oder ob sich doch ein paranormales Phänomen dahinter verbirgt, wird wohl niemals vollständig aufgeklärt werden. Internetnutzer auf der ganzen Welt werden ausdrücklich gewarnt, nicht auf verdächtige Mails oder Beiträge in Chatforen oder Kommentarenpostings zu antworten, die insbesondere von Lil_BlackwhiteGirl stammen. Folgen Sie nicht leichtfertig öffentlich zugängigen Links und sollten Sie solche Mails und Linkpostings geschickt bekommen, melden Sie dies umgehend der Polizei. Zu Ihrer eigenen Sicherheit sollten Sie weder auf die Mails reagieren, noch die Links öffnen und sich das Video auf der Seite ansehen. Falls Sie bereits das Video angeschaut haben und Sie bereits unter dem Sally-Syndrom leiden, finden Sie unten den Link zur Homepage der Untersuchungskommission sowie Telefonnummern der Notfall-Hotlines.

Die Rache der Außenseiter

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Sie können dich sehen!

Hast du auch schon oft das Gefühl gehabt, dass du beobachtet wirst, auch wenn du niemanden sehen konntest? Tatsache ist, du kannst sie nicht sehen. Sie hingegen können DICH sehen. Sie sind überall und allgegenwärtig. Tag und Nacht beobachten sie alles und jeden, sowohl dich als auch mich. Egal wo du bist, egal was du tust, ihnen entgeht nichts. Ob du in der Schule, auf der Arbeit oder im Zimmer bist, beobachten sie dich. Sie selbst ruhen niemals, sie brauchen keinen Schlaf und beschränken sich allein nur auf das Beobachten. Woher sie kommen? Ich weiß es nicht. Vielleicht sind sie erst vor kurzem gekommen, es kann aber auch sein, dass sie schon immer hier waren. Ich kann noch nicht mal die Frage beantworten, warum sie uns beobachten. Wahrscheinlich hat es nicht einmal einen höheren Zweck. Vermutlich um uns zu studieren wie Laborratten. Das erinnert mich an diese Ameisenfarm, die ich damals als Kind hatte. Ich liebte es, diesen kleinen Tierchen bei ihrer täglichen Arbeit zuzusehen, wie sie Nahrung beschaffen, Tunnelsysteme bauen und den Nachwuchs großziehen. Wer hat denn nicht als kleines Kind so eine Ameisenfarm gehabt und den Tierchen zugesehen? Wer starrt denn nicht gerne in ein Aquarium, um die schwimmenden Fische zu beobachten? Es liegt anscheinend in der Natur des Menschen, seine Umgebung genauestens zu beobachten und dadurch zu lernen. Wer hat denn nicht schon mal als Junge in die Mädchenumkleide geschaut oder den suspekten Nachbarn durch das Fernglas observiert? Aus reiner Neugier natürlich, nicht als perverser Spanner. Schon klar! Es ist aber so, dass wir sowohl Menschen als auch Tiere beobachten. Die Tiere ganz besonders. Wir versuchen, alles über sie durch Beobachtung zu lernen. Wir erforschen somit ihre Verhaltensweisen, ihren Charakter, ihre Lebensweise, einfach alles. Ist da die Vorstellung so abwegig, dass es noch etwas Größeres gibt, das uns vielleicht genauso beobachtet, als wären wir Tiere? Seien wir mal ganz ehrlich: Im Grunde sind wir nichts anderes als diese Ameisenfarmen. Wir leben ein Leben in einer kleinen Welt, in der wir uns nur um uns selbst kümmern und dabei nicht erkennen, dass wir selbst Ameisen sind. Wir sehen uns selbst als die höchste Stufe der Evolution, als Zentrum der Welt, die intelligenteste Lebensform. Und warum? Weil wir ein eigenständiges Bewusstsein haben und uns von unseren Instinkten gelöst haben. Indem wir uns anmaßen, wir seien die Götter dieser kleinen Welt, bemerken wir gar nicht, dass wir im Grunde winzige Ameisen sind. Und wir sehen nicht, dass wir schon seit langem beobachtet werden. Unsere Beobachter sind allgegenwärtig, wir können ihnen nicht entkommen, weil wir sie nicht sehen… weil wir nicht wissen, wer oder was genau sie sind. Ich fürchte, wir werden diese Antwort auch so schnell nicht herausfinden. Wer sie wie ich sehen kann, der wird sowieso nicht ernstgenommen. In den Augen der Menschheit bin ich verrückt, geisteskrank, schizophren und was weiß der Teufel noch was. Ich habe lange genug damit verbracht, sie loszuwerden. Das Schlimme jedoch ist, dass sie wirklich überall und so überaus zahlreich sind. Ich spreche von den Augen. Nicht die Augen, die wir im Kopf haben, nein die meine ich nicht. Gemeint sind die Augen um uns herum. Ihr könnt sie nicht sehen, ich aber schon. Sie sind an den Wänden, an den Zimmerdecken, an den Türen, auf den Tischen und an den Häuserwänden. Die ganze Welt ist voll davon. Es sind riesige Augen und sie alle starren uns an, ohne auch nur ein Mal zu blinzeln. Sie schließen sich nie, sie verschwinden auch nie. Sie tauchen nur dort auf, wo wir leben. Ich hab es selbst beobachtet. Als ich vor diesen Augen zu fliehen versuchte, reiste ich bis an einen völlig entlegenen Ort, wo ich mich in Sicherheit glaubte. Wo diese Augen mich nicht sehen würden. Doch sie hatten gesehen, wohin es mich verschlägt und so verfolgten sie mich. Ich hatte mich in einer kleinen Hütte versteckt und gebetet, dass ich endlich meine Ruhe vor ihnen haben würde. Es war vergeblich. Kaum hatte ich mich in der Hütte verbarrikadiert, tauchten sie wie aus dem Nichts auf und starrten mich an. Ich habe schließlich einen Wutanfall bekommen und geschrieen, sie sollen verschwinden und mich in Ruhe lassen. Es kam nie eine Antwort, geschweige denn eine Reaktion. Die Augen starrten mich weiterhin an. Schließlich wusste ich mir nicht mehr anders zu helfen und brannte die Hütte nieder. Tatsächlich verschwanden die Augen und kamen nie wieder. Ich hatte endlich ein Mittel gefunden, um diese verdammten Augen loszuwerden. In dem Moment, als ich endlich begriff, dass Feuer das einzig wirksame Mittel war, um sie loszuwerden, fasste ich einen Entschluss: Ich werde die Menschheit von den Beobachtern befreien. Ich werde nie wieder von diesen verdammten Augen beobachtet. Mit diesem Entschluss kehrte ich zurück und begann nun damit, die Häuser in Brand zu setzen. Zuerst mein eigenes, dann das meiner Eltern und die aus der Nachbarschaft. Alles, wo ich Augen sah, brannte ich nieder und ich wusste, dass es noch lange nicht genug war. Um die ganze Welt von den Augen zu befreien, musste man auch die ganze Welt in Brand setzen. Alleine würde ich das niemals schaffen, also rief ich im Web dazu auf, es mir gleich zu tun. Aber da niemand außer mir diese Augen sah, nahm mich niemand ernst. Die Menschen verschlossen ihre Augen einfach vor der Wahrheit. Genauso wie du. Du willst es doch auch nicht wahrhaben, dass du seit deiner Geburt rund um die Uhr beobachtet wirst. Warum solltest du auch? Du hast dein eigenes Zuhause, deinen eigenen Rückzugsort, deine Privatsphäre. Du fühlst dich sicher und geborgen und willst nicht, dass dir jemand dieses Gefühl nimmt. Ich verstehe das natürlich. Es ist für jeden eine wirklich schlimme Erfahrung, wenn er sich verfolgt und beobachtet führt. Opfer von Stalkern sind oft vollkommen traumatisiert und schotten sich ab. Sie fühlen sich massiv bedroht und bedrängt und haben das Gefühl, hilflos und ausgeliefert zu sein. Wem können sie noch trauen und an wen können sie sich wenden? Wird man sie überhaupt ernst nehmen? Glaub mir ruhig, ich kenne dieses Gefühl. Ich habe es oft genug erlebt und stand nicht selten an der Schwelle zum Wahnsinn. Aber jetzt habe ich endlich neue Kraft geschöpft, ich kann mich endlich zur Wehr setzen. Ich habe endlich einen Weg gefunden, um mich aus dieser beengten Situation zu retten und mir meine Privatsphäre zurückzuerkämpfen. Und ich werde nichts unversucht lassen, um diese Augen auszutreiben. Sollen mich die Menschen doch verurteilen, sie sind doch alle nur winzige Teile einer Ameisenfarm. Sie sind blind und taub gegenüber der Wahrheit.

Ich weiß noch nicht, wem diese Augen gehören und warum ausgerechnet wir beobachtet werden. Ich kann auch noch nicht sagen, was passieren wird, wenn die Augen endgültig verschwunden sind. Vielleicht werden wir dann ungestört in dieser kleinen Welt weiterleben können, im schlimmsten Falle wird sich der Besitzer dieser unzähligen Augen rächen. Aber ich gehe dieses Risiko ein. Ich ertrage es nicht länger, von allen Seiten angestarrt zu werden. Wenn ich nichts unternehme, verliere ich noch endgültig den Verstand. Ich halte diese schlaflosen Nächte voller Angst nicht mehr aus, ich kann diese Augen nicht mehr ertragen. Selbst die menschlichen Augen machen mich inzwischen fast verrückt. Ich habe sie schließlich aus sämtlichen Bildern herausgeschnitten oder mit einem schwarzen Stift übermalt. Egal wie viele Brände ich auch lege, von allen Seiten starren mich Augen an und ich muss sie alle loswerden. Sie sollen alle verschwinden. Mir wird klar, dass ich nicht nur die Augen vernichten muss, die andere Menschen nicht sehen können. Sie zu verbrennen wird nicht reichen. Was, wenn der Beobachter uns auch durch unsere eigenen Augen beobachten kann? Dann wären all meine Mühen umsonst. Ich habe keine andere Wahl. Ich werde alle Augen verschwinden lassen, die mich beobachten. Wenn ich den Menschen und Tieren ihre Augen nehme, dann werden sie nie wieder jemanden anstarren und beobachten. Wenn ich die Welt in Brand setze, werden auch die anderen Augen verschwinden. Ja, das ist es! Ich werde alle Augen dieser Welt zerstören. Dann ist der Beobachter blind und niemand wird uns mehr beobachten können. Wenn mein Werk vollbracht ist, werden wir in einer Welt leben, in der wir uns nie wieder beobachter fühlen müssen.

Gloomy Sunday

Es gibt einige Lieder, um die man sich viele Geschichten erzählt. Eine ganz berühmte Geschichte davon ist die Lavandia Musik aus der ersten Pokemongeneration, die angeblich schwere psychische Schäden bei Kindern verursacht und zum Suizid führt. Dass da etwas Wahres dran ist, halte ich eher für unwahrscheinlich. Ich meine, wer sollte denn bitteschön nur wegen eines Liedes Selbstmord begehen? Aber dann eines Tages erzählte mir ein Bekannter, dass es tatsächlich ein Lied gab, das damals mehrere Menschen in den Selbstmord getrieben habe. Das Lied hieß „Gloomy Sunday“ und wurde an einem Sonntag im Dezember 1932 vom ungarischen Komponisten Reszo Seress geschrieben. Seress war an diesem Tag besonders schwer getroffen, da seine Freundin urplötzlich die Verlobung aufgelöst hatte. In seiner tiefen Traurigkeit begann er plötzlich eine Melodie in seinem Kopf wahrzunehmen, die er sofort niederschrieb und „Gloomy Sunday“ nannte. Der dazugehörige Text erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen Freundin vor kurzem verstarb und er nun mit dem Gedanken spielte, Selbstmord zu begehen, um wieder mit ihr zusammen zu sein. Mit dem Lied hatte Seress leider keinen Erfolg bei den Plattenfirmen. Diese lehnten das Lied ab, da es viel zu melancholisch war. Eine meinte sogar, es wäre besser, die Menschen würden diese Melodie niemals hören. Und damit hatten die Leute nicht so unrecht, denn als das Lied schließlich doch noch veröffentlicht wurde, erhielt es bald den Ruf, die Menschen in den Selbstmord zu treiben. Der erste Fall ereignete sich zu Anfang des Jahres 1933, als ein Jugendlicher in einem Budapester Café saß und die Band bat, „Gloomy Sunday“ zu spielen. Nachdem sie das Lied gespielt hatten, ging er sofort nach Hause und erschoss sich dort. Tane Johnson berichtete in „The Unknown“ im Mai 1987 über die unheilvolle Geschichte dieses Liedes und über weitere Fälle, obwohl keiner der betroffenen Menschen namentlich genannt wurde. Unter den Opfern waren sogar Sänger, die diese Melodie in ihrem Repertoire hatten. In einem der aufrüttelndsten Fälle brachen sogar Nachbarn eine Wohnung auf, in welcher sie hörten, dass „Gloomy Sunday“ unaufhörlich gespielt wurde. Sie fanden dort die Leiche der Wohnungsbesitzerin, eine junge Frau, die eine Überdosis Schlaftabletten genommen hatte. Die Melodie wurde auf dem Grammophon gespielt. Ende der 30er Jahre hatte „Gloomy Sunday“ in der Öffentlichkeit eine solche Angst ausgelöst, dass die ungarische Regierung empfahl, das Lied nicht mehr öffentlich zu spielen. Viele Musiker zeigten sich deutlich erleichtert. Viele Radiosender, darunter auch die BBC, überlegten sogar ein Sendeverbot. Tatsächlich wurde dieses in einigen lokalen Stationen in den USA auferlegt. Mehrere Familien, in denen ein Selbstmord mit diesem Lied in Zusammenhang gebracht wurde (mehr als 200 insgesamt), versuchten ein völliges Verbot des Liedes zu bewirken. Leider ohne Erfolg. Die englische Version von „Gloomy Sunday“ stammte von Sam Lewis. 1941 brachte Billie Holliday eine Platte heraus, auf der dieses Lied enthalten war. Als zu dieser Zeit der zweite Weltkrieg im Gange war, nahm der schlechte Ruf des Liedes wieder ab. Durch den Krieg traten viel dramatischere Ereignisse ins Leben der Menschen. Das Lied verlor seinen schlechten Einfluss allerdings nicht vollständig.
 

Gordon Beck aus Salisbury, Wiltshire, der 1946 mit dem Bataillon 76 am britischen Luftwaffenstützpunkt Yervade in Indien stationiert war, erinnerte sich noch deutlich daran, dass einer der Piloten immer sehr unruhig wurde, wenn er das Lied „Gloomy Sunday“ hörte. Dabei handelte es sich um eine Version des Artie Shaw Orchestra mit einer Sängerin. Beck selbst dachte sich nichts dabei, bis er selbst zu fliegen begann und zu seinem Schrecken feststellte, dass ihm die Melodie des Liedes nicht mehr aus dem Kopf ging. Er hörte sie sogar trotz der dröhnenden Flugzeugmotoren. Beck spielte seitdem nie wieder „Gloomy Sunday“. Wie kann der unheimliche Effekt dieser Melodie erklärt werden? Vielleicht hatte Seress, wie Tane Jackson meinte, sein eigenes tiefes Trauergefühl so erfolgreich in das Lied umgesetzt, dass es sich bei Zuhörern, die ebenfalls sehr deprimiert sind, noch verstärkt wird und sie als einzige Möglichkeit, diese Traurigkeit zu vergessen, den Selbstmord sehen. Diese Annahme ist jedenfalls nicht ganz so abwegig. In „The Secret Power of Music“ schreibt David Tame, dass die Musik eine erstaunliche Wirkung auf die Menschen haben kann. Sie ist sogar in der Lage, Stress, Herzrhythmus, Stoffwechselvorgänge und das geistige und seelische Wohlbefinden zu beeinflussen.
 

Selbst die Menschen, die für das Entstehen von „Gloomy Sunday“ verantwortlich waren, konnten sich diesem unheilvollen Einfluss nicht entziehen. Der Komponist Reszo Seress beging 1968 Selbstmord. Er sprang von einem hohen Gebäude, nachdem er erkannt hatte, dass er nie wieder einen Hit schreiben konnte. Und die Frau, die ihn vor all den Jahren hatte sitzen lassen, hatte bereits früher Selbstmord begangen. Sie wurde tot neben einem Blatt Papier gefunden, auf dem sie die Worte „Gloomy Sunday“ geschrieben hatte. Ein weiteres Lied, das ebenfalls großes Unheil nach sich ziehen soll, ist „I dream that I Dwelt in Marble Halls“ aus der Operette „The Bohemian Girl“ von Rudolf Friml. Das Lied bringt angeblich nicht nur denen Unglück, die es hören, sondern auch bei den Sängern, die es teilweise nur widerwillig aufführen. Um dieses Lied rangt sich ein ebenso großer Aberglaube wie Shakespeares „Macbeth“, welches die Schauspieler lediglich „das schottische Stück“ nennen. Dieser Aberglaube besagt, dass man „Macbeth“ als Schauspieler nicht aussprechen darf, weil es großes Unheil nach sich ziehe.

Niemand weiß, warum „Gloomy Sunday“ zu seinem schlechte Ruf kam. Einige Lieder scheinen, wie zum Beispiel „Gloomy Sunday“ nicht bewusst komponiert worden zu sein. Heutzutage wird immer noch diskutiert, ob tatsächlich die Melodie von „Gloomy Sunday“ Auslöser für diese unzähligen Selbstmorde war, oder ob es sich lediglich um eine Begleiterscheinung handelt. Auch heute existieren zu „Gloomy Sunday“ unzählige Geschichten, Gerüchte und Theorien. Sind es bestimmte Frequenzen, die spezielle Hirnregionen stärker ansprechen und somit die Gefühle und Reaktionen der Menschen beeinflussen? Steckt eine geheime Botschaft im Lied, welches jene Menschen, die diese Botschaft aufnehmen, in so schwere Depressionen stürzt, dass sie sich das Leben nehmen? Das Geheimnis um „Gloomy Sunday“ wird wohl nicht so schnell gelüftet werden und in einigen Internetforen wird sogar schon diskutiert, ob es sich bei dem Lied lediglich um eine urbane Legende handelt. Ob es nun eine versteckte Botschaft oder bestimmte Tonfolgen sind, die die Menschen in den Selbstmord treiben, wird nie geklärt werden. Jedenfalls bestehen einige Parallelen zur urbanen Legende zum „Lavandia Syndrom“. Unzählige Menschen nehmen sich das Leben, die dieses Lied hören und selbst jene, die für diese Lieder verantwortlich sind, nahmen sich das Leben. War „Gloomy Sunday“ eine Inspiration zum „Lavandia Syndrom“? Oder handelt es sich tatsächlich um einen erneuten Fall von suizidgefährdender Musik, die selbst über Jahrzehnte hinweg hohe Wellen schlagen?

Der Racheengel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Tragödie von Backwater

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Der Friedhof der Engel

Im Jahre 1347 bis 1353 wütete die als „Schwarzer Tod“ bekannte europäische Pandemie, die mindestens 25 Millionen Opfer, also ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung, gefordert hat. Auslöser waren die damals unter anderem die unhygienischen Lebensumstände. Ratten, Schimmel und Dreck waren die Brutstätten unzähliger Krankheiten. Die Pandemie brach nach heutigem Wissensstand zuerst in Asien aus und gelangte über die damaligen Handelsrouten nach Europe. Die Seeleute waren es schließlich, die den Seuchenzug nach Messina einschleppten. Ganze Landstriche wurden weitgehend entvölkert, während wiederum andere Regionen von der Pest verschont blieben, bzw. nur gering betroffen waren. In Florenz überlebte gerade mal ein Fünftel der Bürger die hoch ansteckende Krankheit. Für Deutschland wird geschätzt, dass knapp jeder zehnte Einwohner in Folge des Schwarzen Todes sein Leben verlor. Besonders schwer waren Städte betroffen, die eine sehr hohe Bevölkerungsdichte aufwiesen, wie zum Beispiel Hamburg, Köln und Bremen.

Durch diese verheerende Pandemie wurden die Juden zur Zielscheibe des Aufruhrs. Die Menschen beschuldigten sie, durch Giftmischerei und Brunnenvergiftung die Krankheitswelle ausgelöst zu haben. Dies führte in vielen Teilen Europas zu Judenprogromen und einem lokalen Aussterben der jüdischen Gemeinde. Auch Frankreich blieb nicht verschont und besonders Paris, die am dichtesten bevölkerte Stadt des Landes wurde ein Opfer des Schwarzen Todes. Die Friedhöfe waren überfüllt, man wusste nicht wohin mit den Toten. In diesem Brodem aus Dreck, Gestank und Verwesung wurden die Menschen noch von unzähligen weiteren Krankheiten gebeutelt. Seien es Lepra, die Syphilis, Typhus, Milzbrand oder die Pocken. Eine Seuche nach der anderen bedrohte die europäische Bevölkerung und das Elend schien nicht enden zu wollen. Die damals dominierende christliche Kirche nutzte die Verzweiflung der Bevölkerung zu ihrem Vorteil aus, um sie mit dem Gerede über das Höllenfeuer und der Strafe Gottes zu verunsichern und sich an ihnen zu bereichern. Der Adel hingegen flüchtete vor der Pest und versteckte sich auf dem Land. Es kam zu Unruhen und Aufständen. Auch die Hexenverfolgung und Inquisitionen hatten unzählige Tote zu verbuchen. Tag für Tag wurden Karren durch die Straßen zogen, auf die man die Leichen gestapelt und zum nächsten Friedhof gebracht hatte. Es wurden Massengräber ausgehoben und manchmal transportierte der Leichenzug bis zu 20 Tote. Es war ein entsetzlicher Anblick und es fand sich keine Lösung, wie man den Schwarzen Tod in den Griff bekommen sollte. Doch schließlich fand die Krankheit ihr Ende. Die Epidemie endete und warum sie endete, konnte keiner sagen. Zur damaligen Zeit gab es noch keine entsprechenden Medikamente und eine Behandlung war meist erfolglos. Meist wurden die Kranken aus der Gemeinschaft ausgestoßen oder starben in Spitälern, während sie mit zehn weiteren Unbekannten in einem Bett dahinsiechten und ihr langsames Ende fanden. Immer mehr Menschen flohen vor dem Schwarzen Tod und ließen sich woanders nieder, wo sie sicher vor der Krankheit waren. Es wurden auch andere Maßnahmen getroffen, um dieser Seuche Herr zu werden. Zu Beginn der 90er Jahre fand man in der Nähe von Grenoble den „Cimetiére des Anges“, was übersetzt soviel wie „Friedhof der Engel“ bedeutet. Der Friedhof lag versteckt und weit außerhalb der Stadt und es gab auch keine Straßen, die dorthin führten. Er trug seinen Namen aufgrund der Tatsache, dass auf dem Friedhof unzählige Grabengel aus weißem Marmor wachten. Es waren insgesamt 60 Grabengel und entdeckt wurde der Friedhof von deutschen Wanderern, die ihn bei ihrer Reise durch Frankreich rein zufällig entdeckt hatten. Zuerst hatten sie gar nicht gewusst, dass es überhaupt einen Friedhof in dieser Gegend gab, der zudem so abgelegen und versteckt war. Außerdem war sich die Gruppe auch nicht sicher gewesen, ob es sich um einen unentdeckten Friedhof handelte, oder ob dieser nicht schon längst bekannt war. Also betraten sie den Friedhof, um sich dort ein wenig umzusehen. Der Friedhof war ungewöhnlich groß und es gab auch viele Gräber, aber fast alle Inschriften (sofern sie überhaupt noch lesbar waren), stammten aus der Zeit zwischen 1348 und 1355. Es gab keine Namen auf den Grabsteinen, nur Zitate aus der Bibel auf Latein und es gab auch keine Grabsteine. Nur diese großen Marmorengel auf ihren Sockeln. Sofort, als sie den Friedhof betraten, fühlten sich die Wanderer unbehaglich und hatten das Gefühl, überall von diesen leeren weißen Marmoraugen angestarrt zu werden. Und auch als sie den Friedhof meldeten und sich Archäologen aus ganz Frankreich zum Cimetière des Anges aufmachten, schien es so, als würde eine unheimliche und düstere Atmosphäre über der Grabstätte liegen. Es ist allgemein bekannt, das auf Friedhöfen eine unheimliche Stille herrscht und die Aura des Todes spürbar ist, aber auf dem Friedhof der Engel war es anders. Allein weil statt richtigen Grabsteinen nur diese Marmorengel und halb verrotteten Holzkreuze die unzähligen Gräber zierten, schien es kein normaler Friedhof zu sein. Zwar gab es viele Massengräber, aber diese wurden lediglich mit einfachen Holzkreuzen geziert. Marmorengel gab es nicht sehr viele und waren meist für wohlhabende Familien bestimmt, da sich normale Bürger so etwas niemals leisten konnten. Außerdem stammten die meisten Marmorengel auf Friedhöfen aus der Zeit der Renaissance oder danach. Die Gräber wurden nach und nach geöffnet, die Leichen untersucht. Es wird vermutet, dass es sich bei den Toten um Pestopfer handelt, da dies auch in die Zeitspanne passt, in welcher die europaweite Epidemie wütete. Die Ausgrabungen dauerten fast drei Monate und insgesamt wurden 427 Tote aus ihren Gräbern geholt. Was jedoch Anlass zur Besorgnis gab, war die Tatsache, dass die Hände der Toten mit Stricken zusammengebunden waren, ebenso wie die Füße. Und als schließlich klar wurde, was das bedeutete, erstarrten die Archäologen und sahen einander fassungslos an. Über 600 Jahre lag ein düsteres Geheimnis über diesen Friedhof, welches diese steinernen, leblosen Engel bewachen sollten. Es war nicht so, dass die Bewohner im Umkreis von Grenoble ihre Toten zum Friedhof gebracht hatten, welche von der Pest dahingerafft wurden. Sie wollten die Pest in der Stadt bekämpfen, indem sie die Infizierten lebendig begraben haben.

Als dies klar wurde, suchte man nach weiteren Friedhöfen, die bislang noch unentdeckt waren. Nach intensiver Suche fand man insgesamt 30 weitere Engelsfriedhöfe, in denen man genauso wie auf dem „Cimetière des Anges“ die Pestkranken fesselte und lebendig in Massengräbern vergrub. Es wird vermutet, dass es noch weitere Friedhöfe gibt, nicht nur allein in Frankreich sondern auch in Italien und Teilen Deutschlands. Insgesamt wurden fast 3.200 Leichen ausgegraben, die allesamt gefesselt und lebendig begraben worden waren.

Der Selbstmordwald Aokigahara

Weltweit gibt es unzählige Spukorte, in denen es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Alte Häuser, in denen sich grausame Morde zugetragen haben und in denen es spuken soll. Die Katakomben von Paris, das Axtmörderhaus von Iowa, die Pfaueninsel, diverse Villen und Schlösser oder die Straße bei Uniondale in Südafrika. In all diesen Orten wird über geisterhafte Erscheinungen berichtet und sie locken immer mehr Touristen dorthin. Doch es gibt einen ganz besonderen Ort, der nicht aufgrund irgendwelcher Geistergeschichten Aufsehen erregte. Es waren keine seltsamen Erscheinungen, über die im Internet diskutiert wurden. Der Ort, von dem ich spreche, ist der Selbstmordwald Aokigahara. Er liegt in Japan und sein Name lautet übersetzt „Meer aus Bäumen“. Er befindet sich am Fuß des Fuji an der Nordseite, westlich vom Saiko und südöstlich vom Shoji-See zwischen den Gemeinden Fujikawaguchiko und Narusawa der Yamanashi-Präfektur. Der Wald erstreckt sich über etwa 35km² und in diesem Gebiet liegt auch die Narusawa-Eishöhle. Der Aokigahara ist so dicht und eintönig bewachsen, dass man bereits auf kurze Distanz die Orientierung verliert und nicht selten verschwinden Touristen, Spaziergänger und Wanderer im Wald und werden nicht mehr gefunden. Eine weitere Gefahr bergen die magnetischen Felder im Erdboden, die durch große Eisenerzvorkommen erzeugt werden und somit einen Kompass unbrauchbar machen. Schon seit Jahrhunderten gingen lebensmüde Menschen in die Wälder, um sich dort umzubringen, nicht nur im Aokigahara. Während der Kriegszeiten im japanischen Mittelalter gingen immer wieder Menschen in den Wald, um sich dort zu erhängen, jedoch erregte erst 1960 der Wald die Aufmerksamkeit in den Medien, als sich dort ca. 80 Menschen das Leben nahmen. Sie alle hatten sich aufgehängt und ihre Leichen waren bereits von den Raben und Waldtieren zerfressen. Noch nie hatte die Polizei einen solch entsetzlichen Fund gemacht und von da an wurden jährlich weitere Selbstmorde in dieser Zahl gemeldet. Im Jahr 1971 überstieg sie die 200-Grenze und daraufhin beschloss die japanische Regierung, die Feuerwehr und Polizei und jährlich auch das japanische Militär dort patrouillieren zu lassen. Die erschreckende Selbstmordrate wurde in den Berichten der Polizei nachträglich geändert, damit die ausländischen Medien nichts davon erfuhren. Man war bemüht, diese Welle an Selbstmorden in den Griff zu bekommen und so wurden schließlich im Wald Schilder mit Warnungen und Appellen aufgestellt, auf denen auch die Telefonnummern der Telefonseelsorge zu lesen waren. Die Selbstmordserie brach jedoch nicht ab und Eltern von Kindern, die zum Sterben in den Aokigahara gingen, machten das strenge und anspruchsvolle Schulsystem verantwortlich. Sie waren der Ansicht, dass der ganze Erfolgsdruck verantwortlich war, dass sich immer mehr Menschen für den Freitod entschieden. Einige machten auch das Mobbing unter Mitschülern verantwortlich, welches teilweise um einiges grausamer war als das, welches man in Europa kannte. Aber das „Ijime“, wie die schlimmste Form des Mobbings in Japan genannt wird, wird nicht mit den Selbstmorden in Verbindung gebracht. Es scheint so, als nehme Japan diese Probleme nicht ernst, bzw. versucht sie auf dem völlig falschen Weg zu lösen.

Es beginnen sich insbesondere in den Schulen immer mehr Gruppen zu entwickeln, die sich mit dem Thema Suizid und Selbstverletzung auseinandersetzen und so genannte Selbstmordclubs gründen. Auch online verabreden sich immer mehr Menschen, teilweise Schüler und Arbeitslose als auch ältere lebensmüde Menschen gemeinsam zum Sterben. Die meisten nehmen Schlaftabletten, vergiften sich mit Kohlenstoffmonoxid oder springen vor Züge. Da die Gefahr jedoch groß ist, entdeckt und vom Suizid abgehalten zu werden, wählen immer mehr Selbstmordclubs den Aokigahara als ihr letztes Reiseziel. Denn dort würde man sie nicht so schnell entdecken. Es kam aber auch manchmal vor, dass die Selbstmordgefährdeten in den Aokigahara gingen, sich allerdings anders entschieden und den Wald wieder verlassen wollten. Doch da der Wald so eintönig und dicht ist, verlaufen sie sich und finden nicht mehr heraus, insbesondere weil der Wald so groß ist. Viele, die dem unheilvollen Wald zu entkommen versuchen, verirren sich immer tiefer hinein und nehmen sich schließlich doch das Leben, da sie nicht hinausfinden. Manche von ihnen verhungern oder verdursten auf ihrem Irrweg, oder sie verschwinden spurlos. Ist die Popularität des Aokigahara der Grund, warum immer mehr Menschen dort hingehen, um zu sterben? Oder ist es etwas völlig anderes, das die Selbstmörder magisch anzuziehen scheint und in seinem Würgegriff hält, um ihnen das Leben zu entreißen? Abergläubische Japaner glauben, dass ein Fluch über den Wald liege und Shintoisten sprechen von einem Dämon, der im Wald lebe und niemanden mehr aus dem Wald entkommen lässt, der zum Sterben hingeht. Einige religiöse Gruppen versuchten durch verschiedene Rituale, den Dämon zu vertreiben und die Geister der Selbstmörder zu besänftigen, aber das brachte nicht den gewünschten Erfolg. Trotz der Warnschilder, trotz der Rituale und Polizei- und Militärstreifen reißt die Serie an Selbstmorden nicht ab. Und besonders Gruppenselbstmorde häufen sich immer weiter. Selbst Polizisten und Soldaten können dem Todesgriff des Selbstmordwaldes nicht entkommen und verschwinden für immer spurlos oder ihre Leichen werden Jahre später wieder gefunden. Ich selbst habe in den letzten zwei Jahren immer intensivere Recherchen bezüglich des Selbstmordwaldes betrieben und sowohl Einwohner in der Nähe des Waldes als auch die Polizei bezüglich des Selbstmordwaldes befragt. Die Leute erzählten, dass immer wieder jugendliche Gruppen zwischen 14 und 17 Jahren zum Aokigahara reise, wohl um dort ihr Leben zu lassen. Aber das Unheimlichste daran war, dass die Jugendlichen ganz ausgelassen und fröhlich waren, so als planten sie nur eine Urlaubsreise oder einen Tagesausflug. Da ich in Uenohara wohnte, war es ein leichtes für mich, mich in den Nachbarstädten umzuhören und dort bekam ich immer wieder eine ähnliche Geschichte zu hören: gut gelaunte Jugendliche reisten an, gingen in den Wald und kamen in Leichensäcken wieder raus. Ich beschloss schließlich selbst, den Wald zu erforschen und mir ein eigenes Bild zu machen.

Die Bewohner warnten mich jedoch, unvorbereitet hineinzugehen. Da es aufgrund des hohen Eisenerzvorkommens im Erdreich sehr geringe Magnetfelder gab, funktionierte ein Kompass nicht und auch mit dem Handy konnte man Schwierigkeiten bekommen. Ich sollte deswegen jemanden wissen lassen, wo ich hinging und wichtig war, eine Karte mitzunehmen. Aber die wichtigste Überlebensregel lautete: Den Weg niemals verlassen! Selbst wenn eine Gruppe neuer Selbstmörder sich in den Wald aufmachen sollte und vor meinen Augen den Weg verließ, durfte ich ihnen nicht folgen, so grausam dies auch war. „Wenn Sie sich ein Mal verlaufen haben, dann kommen sie so schnell nicht wieder aus dem Wald heraus.“ Ich nahm die Warnungen des alten Mannes ernst und begann mich schließlich auf meinen Ausflug in den Wald des Todes vorzubereiten. In meiner Tasche hatte ich eine Karte und genügend Verpflegung als auch eine Kamera dabei. Sollte ich verloren gehen, so hatte mir einer der Polizisten nahe gelegt, so sollte ich nach Bächen Ausschau halten und mich nach ihnen richten. Außerdem sollte ich mich niemals zu weit vom Weg entfernen und mir genau einprägen, wie ich gelaufen war. Dann dürfte eigentlich nichts schief gehen. Ich meldete bei der Polizei an, dass ich in den Aokigahara gehen würde und machte mich schließlich auf den Weg. Am Eingang des Waldes stand ein großer Torii, der sehr einladend wirkte und eine interessante Waldtour versprach. Doch kaum hatte man das Tor durchschritten, fand man auch schon die Warnhinweise der Polizei und darunter die Nummern der Telefonseelsorge. Manche hatten die Schilder beschmiert oder sogar mit Graffiti Smileys übermalt, als wäre dies eine Verspottung. Kaum hatte ich den Wald betreten, bemerkte ich sofort, dass es sehr dunkel war. Kein Wunder, denn es war Sommer und es drang nur wenig Tageslicht in diesen Wald. Es herrschte eine seltsame Atmosphäre, wie ich schnell feststellte. Zwar war die Luft viel frischer und reiner als in der Stadt, aber es war irgendwie… bedrückend. Je tiefer ich in den Wald eindrang, desto dunkler und bedrückender wurde es. Hier hörte man noch nicht einmal den Wind rauschen oder irgendwelche Vögel. Irgendwie schien es so, als würden nur Pflanzen hier leben, aber sonst nichts. Nach zehn Minuten blieb ich kurz stehen und sah mich um. Es sah überall vollkommen gleich aus, der alte Mann hatte nicht gelogen. Wenn ich nicht auf dem Weg blieb, dann würde ich mich tatsächlich noch verlaufen, wenn ich Pech hatte.

Ich lief fast eine halbe Stunde, dann machte ich eine schreckliche Entdeckung: Ich sah zwei Jugendliche, die an selbst geknüpften Galgenstricken baumelten. Und einer von ihnen schien noch zu leben und versuchte sich nun aus der tödlichen Schlinge zu befreien. In dem Moment vergaß ich alle Warnungen und eilte direkt zu der Stelle hin. Ich sah, dass es ein Mädchen war und der Schuluniform nach zu urteilen ging sie noch auf die Mittelschule. Sofort ergriff ich ihre Beine und hob sie weiter hoch, damit sie ihren Kopf aus der Schlinge befreien konnte. Als sie sich befreit hatte, setzte ich sie vorsichtig ab und ließ sie erst mal durchatmen. „Danke, um ein Haar wäre es wirklich aus gewesen.“

„Warum hast du versucht, dich umzubringen?“

„Ich hab die Aufnahmeprüfung für die High School nicht geschafft und muss nun von der Mittelschule abgehen. Meine Eltern würden mich umbringen! Deswegen sind Yukari und ich in den Wald gegangen. Aber ich war nicht sofort tot und dann hab ich Panik gekriegt. Danke übrigens, dass du mir geholfen hast. Ich bin übrigens Shiori.“ Nachdem sich Shiori beruhigt hatte, half ich ihr hoch und ging mit ihr zurück. Zumindest wollte ich das, denn seltsamerweise war der Weg auf einmal nicht mehr da. Er war spurlos verschwunden, als hätte er niemals existiert. „Was zum Teufel…“ Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich den exakten Weg zurückgegangen war, aber ich fand den Weg nicht mehr, egal wie weit ich auch lief. Shiori versuchte mir zu folgen und begriff schnell, was passiert war. Ich hatte mich verlaufen. Egal wie weit ich auch ging, der Weg war einfach nicht mehr zu finden. Das Ganze war unbegreiflich und ich bekam allmählich Angst. Schließlich aber musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass ich mich verlaufen hatte und keine Ahnung hatte, wo zur Hölle ich war. Selbst auf der Karte konnte ich nicht erkennen, wo ich war und so blieb mir nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was man in so einem Falle tun sollte: Am Besten einfach geradeaus gehen, bis ich das Ende des Waldes erreichte oder im Idealfall nach einem Bach Ausschau halten. „Oh mein Gott, wir werden hier nie wieder rausfinden“, rief Shiori panisch und begann zu weinen. „Wir werden hier verhungern oder verdursten…“

„So ein Quatsch. Die Polizei weiß Bescheid, dass ich hier bin und wenn ich mich nicht dort bis heute Abend melde, werden sie nach mir suchen. Außerdem müsste es nicht so schwer sein, hier wieder rauszukommen. Wir gehen einfach geradeaus in diese Richtung weiter. Irgendwann kommen wir schon noch auf den Weg oder auf die Hauptstraße zurück. Und jetzt komm schon.“ Wir machten uns zu zweit auf den Weg und kletterten über umgefallene Bäume, an die ich mich nicht erinnern konnte. Doch je weiter wir gingen, desto schneller verloren wir unseren Mut. Es war, als würde etwas all unsere Hoffnung und all unseren Lebensmut entziehen. Shiori machte schließlich nach knapp einer Stunde schlapp, da sie ziemlichen Hunger habe. Ich gab ihr etwas von meiner Verpflegung ab und gab ihr etwas zu trinken. Obwohl ich nicht wirklich glaubte, dass wir noch ewig hier festsitzen würden, ermahnte ich sie, vorsichtshalber sparsam zu sein. Man könne ja nie wissen, was noch geschieht. Und bis dahin mussten wir auf alles gefasst sein. Wir machten eine Viertelstunde Pause und gingen dann weiter. Doch egal wie weit wir auch liefen, der Wald schien kein Ende zu nehmen. Nirgendwo war ein Weg oder eine Straße in Sicht, stattdessen stießen wir auf die Überreste von Selbstmördern oder ihren Sachen, die sie mit sich geführt hatten. Überall, wo wir hingingen, begegneten wir dem Tod und als es langsam dunkel wurde, machte sich in uns beiden Verzweiflung breit. Wie konnte es sein, dass wir stundenlang durch einen Wald irren konnten, ohne das Ende zu finden? Der Wald konnte unmöglich so riesig sein, wie die in Amerika. Wir waren doch nicht bei Blair Witch Project. Wir hatten beide Hunger und Durst, deshalb setzten wir uns auf einen umgefallenen Baum und nahmen meine Verpflegung ein. Da ich noch nicht zurückgekehrt war, musste die Polizei morgen anfangen, nach mir zu suchen. Außerdem wusste auch meine Familie Bescheid und auch wenn ich hier im Wald keinen Empfang hatte, so würde sie sofort Alarm schlagen, wenn ich mich nicht meldete.

Shiori weinte die ganze Zeit und schien mit den Nerven am Ende zu sein. Immer wieder murmelte sie „Wir kommen hier niemals raus, wir werden hier sterben“ und zitterte am ganzen Körper, obwohl es nicht kalt war. Auch mir war alles andere als wohl zumute, trotzdem blieb uns nichts anderes übrig, als auf dem Waldboden zu schlafen, bis es wieder hell wurde.

Doch in der Nacht verfolgten mich schreckliche Alpträume. Ich träumte davon, dass ich so lange durch den Wald irrte, bis auch der letzte Vorrat zur Neige ging und ich vor dem Hungertod stand. Um nicht so elendig zugrunde zu gehen, hatte ich mich lieber dafür entschieden, mein Leiden zu verkürzen. Als ich schließlich gegen sechs Uhr aufstand, sah ich, dass Shiori verschwunden war. Ich rief sofort nach ihr, doch sie antwortete nicht. Sie musste auf eigene Faust weitergegangen sein… oder… nein, ich wollte lieber nicht daran denken. Auch wenn es mir schwer fiel, ich setzte meinen Weg weiter fort. Wenn ich herumlief, würde ich mich noch mehr verlaufen und dann würde ich nie hier raus finden. Sollte ich hier rauskommen, dann würde ich sofort die Polizei nach Shiori suchen lassen. Moment mal, warum dachte ich schon solche Sachen? Natürlich würde ich wieder aus dem Aokigahara raus kommen. Ich war schon so lange gelaufen, dass es unmöglich noch lange dauern konnte. Doch vor mir erstreckte sich nur noch mehr dichter Wald und nach allen Seiten hin sah alles gleich aus. Ich konnte mich nicht auf meine Orientierung verlassen und in diesem Wald fand ich immer wieder Leichen oder Skelette. Nach weiteren drei Stunden Wanderung war ich ebenfalls mit den Nerven am Ende und ich fragte mich, wie lange ich noch gehen sollte. Und dann meldete sich eine Stimme in mir, die sagte „Ich werde niemals lebend herauskommen.“ Immer mehr verließ mich die Hoffnung. Egal wohin ich mich wandte, nirgendwo fand ich einen Weg, traf einen noch lebenden Menschen oder hörte auch nur ein Geräusch. Alles, was ich sah, war ein Meer aus Bäumen. Schließlich verlor ich sogar mein Zeitgefühl und die Stimme in mir, die mir einredete, dass ich hier sterben würde, wurde immer lauter. Ich begann zu weinen, ich rief um Hilfe und irgendwann… es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, da begann sich mein Geist schon Hirngespinste auszumalen. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich selbst an einen Strick von einem Baum hängen, an jeden Ast hing ein Galgenstrick herunter, der mir zuzulächeln schien. Es war, als wolle der Wald mir sagen „Na los, tu es. Du weißt, dass du es willst.“

Als die Nacht hereinbrach und es deutlich kälter wurde, fand ich keinen Schlaf und wieder malte sich mein Hirn unzählige Fantasien aus. Und sie alle hatten eines gemeinsam: Meinen Tod. Ich wusste, dass ich nicht mehr lange diesen Fantasien Widerstand leisten konnte und lief deshalb kurz nach Tagesanbruch weiter. Meine Verpflegungen waren bereits sehr stark rationiert, auch mein Wasser ging zuneige. Nirgendwo fand ich einen Bach oder eine Wasserquelle und schließlich waren sowohl Wasservorräte als auch mein Proviant aufgebraucht. Ich hatte Hunger und Durst. Die Stimme in meinem Kopf wurde immer lauter und aufdringlicher. Überall sah ich Galgenstricke herunterbaumeln und die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in mir übermannte mich schließlich. Mir wurde nun endlich klar, dass ich niemals den Wald verlassen konnte. Zumindest nicht lebendig. Hätte ich den Weg nur nicht verlassen. Dieser verdammte Wald wird mich genauso verschlingen wie seine anderen Opfer. Ich werde hier sterben, egal was ich auch tue. Es gibt keinen anderen Ausweg mehr....
 

Vier Tage später wurde die Leiche des Journalisten Tatsuya Morizuki gefunden. Man fand ihn an einem Galgenstrick baumelnd und seine Leiche war bereits kalt. Man ging davon aus, dass er sich auf seiner Wanderung durch den Aokigahara verlaufen hatte, nachdem er vom Weg abgekommen war. Wenig später fand man auch die Leiche der 15-jährigen Schülerin Shiori Takeuchi, welche sich ebenfalls erhängt hatte. Es ist ungeklärt, wie Morizuki sich das Leben nehmen konnte, obwohl er gar nicht als selbstmordgefährdet eingestuft wurde. Ebenso wirft die Tatsache Fragen auf, wie er sich mitten in den Wald verirren konnte, obwohl seine Aufzeichnungen besagen, dass er sich tagelang in eine einzige Richtung bewegt habe. Hat er sich dies nur eingebildet und ist im Kreis gelaufen? Oder hat etwas anderes dazu geführt, dass Morizuki den Wald nicht verlassen konnte? Die Frage wird wohl ungeklärt bleiben….

Das Haus der tausend Masken

Ich hatte ein Jahr als Austauschschülerin gemacht und in Tokio bei einer Gastfamilie gelebt. Japan war schon immer das Land meiner Träume gewesen und ich gebe zu, dass es zuerst mal ein echt großer Kulturschock war, als ich diese große Stadt erblickte. Und schnell fühlte ich mich auch recht hilflos, denn ich konnte mit den meisten Schriftzeichen nicht viel anfangen und der Taschenübersetzer war mir oft auch keine große Hilfe. Ich hatte aber das Glück, dass der Sohn meiner Gastfamilie ziemlich gut Englisch, Russisch und Deutsch verstand und mir in jeder Situation half. Er erklärte mir, was ich alles zu beachten hätte, er übersetzte für mich und zeigte mir die tollsten Sehenswürdigkeiten in Tokio. Wir besuchten außerhalb der Schule einige Tempel oder machten Ausflüge in die Nachbarstädte. Kosuke zeigte mir auch die Paläste und Pagoden und irgendwann hatte ich den ersten Film meiner Kamera voll. Schließlich erzählte er mir vom Haus der tausend Masken, in der Nähe vom Aokigahara. Es sei ein riesiges, herrschaftliches Anwesen, wo die Familie Karano seit Ewigkeiten Masken anfertigte. Sei es für das Theater oder für andere Dinge. Allerdings sei die Familie eines Tages spurlos verschwunden und seitdem stand das Haus verlassen. Nur die eintausend Masken hatte man dort gelassen. „Warum hat man die Masken nicht längst geklaut oder verkauft?“ fragte ich, der ich nichts von irgendwelchen japanischen Mythologien und Gebräuchen wusste. Kosuke erklärte, dass die Familie Karano die eintausend Masken verfluchen ließ, bevor sie verschwanden. Sollte es jemand wagen, die Masken von ihrem Platz zu entfernen, würde ein großes Unglück geschehen. Eine Zeit lang war das Haus eine sehr beliebte Touristenattraktion gewesen, doch dann hatte sich ein tragischer Vorfall ereignet und seitdem war das Haus verlassen. „Was genau ist denn passiert?“

„Soweit ich weiß, sind mehrere der Touristen durch einen Blitzeinschlag getötet worden, nachdem dieser durchs Dach einschlug. Da sind vier Menschen ums Leben gekommen und seitdem werden da keine Rundführungen mehr gemacht. Die Leute in der Gegend sind sehr abergläubisch.“ Diese Geschichte interessierte mich und ich wollte mir unbedingt die tausend Masken ansehen. Kosuke schien nichts dagegen zu haben und schlug vor, dass wir gleich morgen zum Karano-Anwesen fahren könnten, um uns dort umzuschauen. Gleich morgens fuhren wir mit dem Zug in Richtung Narusawa. Die Fahrt dauerte ca. drei Stunden und als wir endlich angekommen waren, liefen wir das restliche Stück zu Fuß. Es war eine echte Strapaze und es wurde auch deutlich wärmer, aber schließlich erreichten wir das Haus der tausend Masken. Es war, wie Kosuke bereits gesagt hatte, beachtlich groß. Der Baustil war eher westlich gehalten und es besaß einen groß angelegten Rosengarten, der allerdings ein wenig verwildert war und auch die Außenwand des Hauses war bereits von Efeu bewachsen. Da dieser in vollster Blühte stand, sah das besonders schön aus und irgendwie hatte dieses Haus etwas Verwunschenes, wie aus einem Märchen. Da das Tor offen stand, gingen wir hindurch und gingen den Weg entlang bis zur Haustür, dann blieben wir kurz stehen. „Sollen wir klopfen?“ fragte ich Kosuke unsicher. „Nur falls da jemand inzwischen wohnen sollte…“

„Glaub ich zwar nicht, aber besser wäre es wohl.“ Wir klopften und warteten. Da keine Antwort kam und die Tür zudem einen Spalt breit geöffnet war, dachten wir uns, dass es noch verlassen wäre. Und überhaupt: Wer sollte denn hier schon wohnen, wenn die Familie Karano es längst verlassen hatte? Also schien es auch in Ordnung zu sein, sich hier mal ein wenig umzusehen. Neugierig betraten wir das Haus und wurden schon in der Eingangshalle von unzähligen Masken angestarrt. Angefangen von Frauen- über Männermasken bis hin zu Monstermasken für das Theater. Es gab auch welche, die dem venezianischen Stil nachempfunden wurden. Wirklich überall starrten uns diese Masken an und während Kosuke ein wenig mulmig zumute sein zu schien, kam ich aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Wir gingen als erstes nach links und betraten einen großen Saal. Und dort war auch alles voller Masken, die allesamt an der Wand hingen, oder aber auf Gestellen auf dem Kaminsims und auf Regalen aufgestellt waren. Eine Maske faszinierte mich besonders: Sie sah ein klein wenig aus wie das Gesicht einer Geisha und besaß mehrere Goldverzierungen. Ich war schon fast versucht, sie anzufassen, doch Kosuke hielt mich zurück. „Wir dürfen die Masken nicht wegnehmen, hast du das schon vergessen?“ „Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, dass du so abergläubisch bist.“

„Ich will es eben nicht darauf ankommen lassen!“ Wir durchwanderten den Saal und kamen schließlich zum Kamin, in welchem die Asche lag. Zu unserem Erstaunen war sie noch ein wenig warm, so als wäre vor kurzem jemand hier gewesen. Und auch auf dem Tischchen vor dem Sofa stand ein Teeservice. Wohnte hier doch jemand? Wieder sahen wir uns und wussten nicht, was wir davon halten sollten. Schließlich sahen wir uns das Regal, in denen die bunt bemalten Masken aufgereiht waren, die wohl für Feiern gedacht waren. Manche waren mit Blumenmustern verziert, manche auch mit Symbolen und es gab auch hier Monstermasken. Schließlich verließen wir den Saal und gingen schließlich in die andere Richtung. Dieser führte in einen langen Flur, von wo wir aus mehrere Räume betreten konnten. Die meisten waren Zimmer, die alle noch genauso eingerichtet waren, als würden noch Leute hier wohnen. Allerdings war alles völlig verstaubt, die Fenster waren schmutzig und es herrschte eine muffige Luft hier drin. Schließlich erreichten wir ein Zimmer, welches offensichtlich einem Mädchen zu gehören schien. Das sah man schon an den vielen Stofftieren auf dem Bett und den Kleidern im Schrank. Auch hier fanden wir viele Masken, die aber hauptsächlich Tiermasken darstellen sollten, wie zum Beispiel Füchse und so weiter. Was mir auffiel war, dass dieser Raum sehr sauber im Vergleich zu den anderen Räumen war und auch die Masken nicht staubig waren. Gerade wollten wir das Zimmer verlassen, da hörten wir hinter uns von der Tür her eine Stimme, die sagte „Was sucht ihr hier?“ Wir zuckten erschrocken zusammen und drehten uns hastig um. Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen Haaren und einem völlig ausdruckslosen und leeren Blick. In ihrer Hand hielt sie eine Maske, die aber umgedreht war, sodass wir sie nicht erkennen konnten. Aber darauf achtete ich in diesem Moment nicht. Meine Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das so urplötzlich hinter uns aufgetaucht war. „Was sucht ihr hier?“ wiederholte sie und starrte uns an. Dafür, dass wir um einiges größer und älter als sie und zudem noch zu zweit waren, schien sie ganz schön ruhig zu sein. Vor allem angesichts der Tatsache, dass wir einfach so ins Haus eingebrochen waren. Ich versuchte mich zu erklären, vergaß aber dabei völlig, dass ich in meiner Muttersprache redete und Kosuke somit übersetzen musste. „Entschuldige, aber wir wussten nicht, dass hier jemand lebt. Wir wollten uns nur ein wenig hier umsehen, das ist alles.“

„Ihr wollt die Masken sehen, oder?“ Das Mädchen zeigte keinerlei Gefühlsregung und auch ihre Stimme war völlig gefühllos. Schließlich fügte sie hinzu „Ich bin Kokoro Karano, ich bewohne dieses Haus hier. Wenn ihr euch die Masken ansehen wollt, führe ich euch gerne herum.“ Kokoro führte uns aus ihrem Zimmer heraus und schickte sich nun an, uns in die Werkstatt zu führen, wo die Masken angefertigt worden waren. Die Werkstatt war auch voller Masken und hier gab es allerlei Werkzeug. Die meisten Masken, so erzählte Kokoro, seien aus Holz geschnitzt worden. Natürlich gäbe es auch einige Masken aus Keramik, allerdings gäbe es nur sehr wenige, weil das Material schwierig anzufertigen sei und sehr schnell zu Bruch ginge, wenn man nicht aufpasste. Außerdem sei es Tradition, aus Holz Masken zu schnitzen. „Warum gibt es eigentlich so viele Masken hier? Und sind es wirklich tausend Masken?“

„Ja. Die Masken haben alle eine bestimmte Funktion. Fast alle von ihnen symbolisieren Emotionen und haben ihre eigene Geschichte. Liebe, Freude, Neid, Trauer, Hass, Zorn und Hoffnung. Das sind nur wenige von vielen. Es gibt auch Masken, die Erinnerungen verkörpern. Sie alle befinden sich in Harmonie miteinander und alle tausend Masken sind im Gleichgewicht. Zu jedem gibt es ein Gegenstück.“ Während der Rundführung hielt Kokoro die Maske in ihrer Hand fest an den Körper gepresst und wollte sie auch nicht zeigen. Sie zeigte stattdessen eine Maske, die einen Oni darstellen sollte. Sie war abstoßend hässlich und die gelben Augen funkelten uns böse an. „Diese Maske hier stellt alle bösen Eigenschaften dar, die ein Mensch haben kann und hält ihm sozusagen den Spiegel vor. Habgier, Eifersucht, Neid, Egoismus und weitere negative Eigenschaften. Alle Masken sind wie Spiegel und sie alle geben einen Teil von uns wieder.“ Und damit setzte Kokoro die Rundführung fort und zeigte uns den Rest des Hauses. Erst jetzt fiel uns auf, dass alle Masken im Haus völlig frei von Schmutz und Staub waren. Offenbar hielt das Mädchen sie alle sauber und reinigte sie regelmäßig. Wenn sie nur mit dem Rest des Hauses so sorgfältig sein würde…. „Sag mal Kokoro“, unterbrach ich sie schließlich „entstaubst du all die Masken?“

„Ja, die Masken sind unschätzbar wertvoll und unersetzlich“, antwortete sie knapp und sah mich mit diesen glanzlosen, leeren Augen an. Sie schwieg schließlich und führte uns ins Arbeitszimmer, wo man wohl die ganzen verwaltungstechnischen Arbeiten erledigt hatte. Hier fand man vor allem Keramikmasken, die fast alle Frauen darstellten. „Und was genau stellen die Frauenmasken dar?“ „Sie stehen für die Schönheit, die Blühte der Jugend und die Poesie. Deshalb wurden diese Masken auch aus rein weißer Keramik angefertigt, weil das Material viel schöner ist.“

„Und stimmt es wirklich, dass ein großes Unglück geschieht, wenn man die Masken entfernt?“ Kokoro schwieg eine Weile und betrachtete uns nachdenklich. Keiner von uns konnte wirklich sagen, was diesem Mädchen wohl durch den Kopf ging. Dann aber war etwas in ihrem Blick zu sehen, was uns deutliches Unbehagen bereitete. „Es ist gefährlich, diese Masken unerlaubt von ihrem Platz zu entfernen. Es sind immerhin besondere Masken.“ Ich hatte irgendwie das Gefühl, als hätte ich etwas Falsches gesagt, denn plötzlich verließ Kokoro das Arbeitszimmer und ging davon und wir versuchten ihr zu folgen. „Entschuldige, wenn ich dich beleidigt habe“, entschuldigte ich mich und eilte dem Mädchen hinterher. Sie blieb stehen und umklammerte die Maske in ihrem Arm noch fester. „Nein, das ist es nicht“, murmelte sie leise und wich unserem Blick aus. Schließlich stiegen wir die Treppen hinunter und Kokoro führte uns in ihr Zimmer zurück. „Es ist nur sehr lange her, dass jemand kommt, um die Masken meiner Familie zu sehen. Ich war überrascht.“ Die Kleine schien sehr schüchtern und introvertiert zu sein. Offenbar hatte sie nur sehr selten Kontakt zu anderen Menschen und ich fragte mich, was wohl mit ihren Eltern war. Als ich sie danach fragte, gab sie keine Auskunft und wich unseren Blicken aus. Entweder war sie Waisenkind oder aber ihre Eltern waren weg und sie wohnte solange im Haus. Jedenfalls bedankten wir uns für die Rundführung und tatsächlich durften wir uns noch in aller Ruhe umsehen und sie jederzeit zu den Masken befragen. Sie erlaubte uns sogar, die Masken von ihren Plätzen zu nehmen und sie genauer ansehen, solange wir sie nicht zerbrachen oder aus dem Haus entfernten. Kokoro setzte ihre Arbeit fort und wischte Staub oder fegte den Boden. Wir gingen zurück ins Arbeitszimmer und betrachteten die vielen Keramikmasken. Obwohl es insgesamt 1.000 Masken im Haus waren, glich nicht eine Maske der anderen. Jede war individuell und einzigartig. Und alle hatten eine eigene Geschichte, verkörperten eine Emotion oder eine Erinnerung. So viele Masken hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Da Kokoro es uns erlaubt hatte, nahmen wir hin und wieder eine Maske ab und betrachteten sie von allen Seiten. Dabei fiel uns auf, dass jede Maske auf ihrer Rückseite einen Namen trug oder irgendwie beschriftet war. Alles war vertreten. „Mut“, „Angst“, „Schönheit“, „Hässlichkeit“ und noch viele mehr. Eine Maske gefiel uns ganz besonders. Sie war aus Gold und Silber angefertigt worden und es waren sogar Edelsteine eingearbeitet worden. Sie trug den Namen „Glück". Diese Maske war schwer und sicherlich unschätzbar wertvoll. Schließlich kam Kosuke eine Idee. „Lass sie uns mitnehmen.“ „Bist du bescheuert? Kokoro hat doch gesagt, dass wir die Masken nicht klauen dürfen.“

„Meine Güte, hier sind tausend Masken. Wenn eine Einzige fehlt, wird das doch nicht auffallen. Und bis die merkt, dass eine fehlt, sind wir auch schon weg.“

„Kosuke, nein! Ich hab keine Lust, deswegen Ärger zu kriegen. Mir ist nicht wohl dabei zumute. Wir legen die Maske wieder zurück und vergessen das Ganze.“ Aber der Gedanke daran, dass diese Maske einige zehntausend Dollar in den USA einbringen könnte, ließ auch mich schwach werden. Aber meine Angst davor, dass uns noch ein Unheil widerfahren könnte, war größer. Zwar glaubte ich weder an Götter, noch an irgendwelche Flüche, aber es war kriminell, die Maske zu stehlen. Und ich hatte keine Lust, im japanischen Gefängnis zu landen. „Wenn du das Ding da klauen willst, dann mach es ohne mich. Ich werde da nicht mitmachen.“

„Schön, ganz wie du willst.“

Und so steckte Kosuke die Glücksmaske in seine Tasche und gerade wollten wir das Haus verlassen, da hörten wir plötzlich Kokoros Stimme hinter uns. „Wo wollt ihr mit meiner Maske hin?“ Sie war einfach so wie aus dem Nichts hinter uns aufgetaucht und starrte uns mit ihrem leeren Blick an. „Ihr wolltet meine Maske stehlen…“

„So ein Schwachsinn, ich hab deine Maske nicht.“

„Lügner“, rief Kokoro und in ihren Augen loderte die Wut, während ihr Gesicht völlig starr blieb. Doch ihr Blick galt nicht mir sondern Kosuke. Als wüsste sie ganz genau, dass er die Maske in seiner Tasche hätte. Nun hatte ich richtig Angst vor ihr und machte einen Schritt zurück. „Kokoro“ stammelte ich auf Englisch. „Ich wollte die Maske niemals stehlen. Ich hab damit nichts zu tun.“ Doch Kokoro kam weiter auf uns zu und obwohl sie außer der Maske in ihrer Hand nichts bei sich hatte, so verfolgte sie die Absicht, uns für diesen Regelbruch zu bestrafen. Ich riss die Tür auf und rannte davon. Ich drehte mich nicht ein einziges Mal um und bemerkte erst an der Busstation, dass Kosuke gar nicht nachgekommen war. Selbst als ich auf ihn wartete, tauchte er nicht auf. Da ich zu viel Angst hatte, zum Maskenhaus zurückzukehren, fuhr ich zur nächsten Polizeistation und erzählte dort, was vorgefallen sei. Die Beamten schickten mich nach Hause zu meiner Gastfamilie und wollten sich selbst um die Sache kümmern. Ich kam mit dem Zug am Abend wieder in Tokio an und verkroch mich auf mein Zimmer. Ob Kosuke etwas passiert war oder nicht, wollte ich lieber nicht wissen. Aber dieses Mädchen war mir in dem Moment, als sie erkannt hatte, was Kosuke vorhatte, einfach nur unheimlich gewesen. Hoffentlich ging es ihm gut. Irgendwann, wahrscheinlich war es stressbedingte Erschöpfung, schlief ich ein und wurde von Alpträumen heimgesucht, in welchem Kosuke von den Masken attackiert und getötet wurde.

Irgendwann jedoch wachte ich wieder auf, da ich glaubte, jemanden zu hören. Ich machte das Licht an und rieb mir schlaftrunken die Augen. Es war tatsächlich jemand im Zimmer, aber es war niemand von meiner Gastfamilie. Nein, im Zimmer stand Kokoro und sie hielt eine Maske in ihren Händen. Dieses Mal konnte ich sie genau erkennen und was ich sah, erschrak mich zutiefst: Die Maske sah genauso aus wie Kosukes Gesicht. Kokoros Gesicht war nach wie vor völlig ausdruckslos, als wäre sie selbst nur eine Maske. „Ich habe euch doch davor gewarnt, die Masken nicht zu stehlen.“ Und damit ging Kokoro auf mich zu und hielt die Maske, die wie Kosuke aussah. Sie war das allerletzte, was ich noch zu Lebzeiten zu sehen bekommen würde.

Der Vergnügungspark von Angel Hills

Es gibt unzählige Geisterstädte in den USA, die zum größten Teil noch alle aus der Goldgräberzeit stammten, oder als die Jagd nach Erdöl begann. Inzwischen sind von den einst so belebten Städten nur noch Ruinen übrig geblieben oder sie sind unter dem Sand der staubtrockenen Wüste verschwunden. Einige Städte sind bereits vollständig verschwunden, bzw. nur die alten, verrosteten Bohrtürme erinnern daran, dass hier mal vor langer Zeit etwas gewesen ist. Wie Grabsteine auf einem leeren Friedhof. Jedoch wurden ein paar der alten Goldgräberstädte wieder belebt und zu Freizeitmuseen umfunktioniert. Nun waren sie beliebte Ausflugsziele und nicht nur amerikanische, sondern auch ausländische Touristen zog es in den ehemaligen Wilden Westen. Schließlich fasste ein südkalifornischer Konzern den Entschluss, einen Schritt weiterzugehen und begann eine große Baustelle in der Geisterstadt Angel Hills zu errichten. Geplant waren ein Vergnügungspark und ein dazugehöriges Spaßbad für rund 120 Millionen Dollar, gesponsert wurde das alles von reichen Unternehmern, die sich am Gewinn beteiligen wollten. Die Idee, einen Vergnügungspark in einer alten Geisterstadt zu errichten, war ungewöhnlich aber auch viel versprechend. Geplant war, eine bekannte Hotelkette mit ins Boot zu nehmen und dort ein Hotel zu bauen, sodass Gäste von weit her auch dort übernachten konnten.

Angel Hills war, wie viele andere Geisterstädte auch, in der Zeit des Goldrausches aufgebaut worden und auch relativ schnell wieder verlassen worden. Zum einen war die geographische Lage der Grund, warum Angel Hills ausstarb. Es war eine sehr staubige, heiße und trockene Ödlandschaft, in der weder viel wuchs noch dass es dort genug Wasserquellen gab. Als nächstes waren die Goldausgrabungen mehr als enttäuschend gewesen und wie sich herausstellte, hatte der Angel’s Hill höchstens ein paar Silbervorkommen, Gold war nur äußerst selten zu finden. Zuletzt gab man der hohen Kriminalität in Angel Hills die Schuld. Immer wieder kam es zu Überfällen, Schießereien und Geiselnahmen. Angel Hills war ein sehr raues Pflaster und immer mehr Einwohner verließen die Stadt. Die meisten, weil der erhoffte Goldsegen ausblieb, die anderen, weil sie vor den harten Lebensbedingungen und der hohen Kriminalität flohen, die das Goldgeschäft mit sich brachte. Angel Hills blieb gerade mal sieben Jahre bewohnt, nämlich von 1852 bis 1859. Die Geisterstadt liegt ungefähr zweieinhalb Stunden Fahrt von Sacramento entfernt und ist von den umliegenden, noch bevölkerten Städten sehr isoliert und nur schwer zu finden. Dennoch sollte eine Schnellstraße direkt dorthin führen, wenn die Bauarbeiten abgeschlossen waren. Bezüglich des Bauprojekts gab es allerdings diverse Probleme, wie sich schnell herausstellen sollte. Unter dem Erdboden verliefen einige Minenschächte, die man in den Angel’s Hill gegraben hatte. Man war sich unsicher, ob unter dem Gewicht des Betons und der Achterbahnen vielleicht Gefahr bestünde, dass der Boden nachgeben und die Minen unterhalb der Stadt einstürzen könnte. Man zog Gutachter zu Rate, die zwar grünes Licht für das Projekt gaben, allerdings hegten die Bewohner der Nachbarstädte den ernsthaften Verdacht, dass dahinter Bestechungsaffären steckten. Denn viele der alten Minenschächte galten zuvor als einsturzgefährdet, da viele der Schächte damals nicht gründlich genug abgesichert worden waren. Außerdem munkelte man, dass in den Minen noch Sprengstoff gelagert war, das die Goldsucher damals zurückgelassen hatten. Nachdem der Boden geebnet war, begannen die Architekten nun damit, die ersten Pläne publik zu machen. Gezeigt wurde den Leuten ein Plan von einem großen Themenpark, der den Wilden Westen neu aufleben lassen sollte. Alte Bars, Postkutschen, Cowboys und Banditen und Saloonmusik. Das Spaßbad sollte sich eher an den sonnigen Süden Hawaiis orientieren und mit Palmen bewachsen sein. Diese hatten den Vorteil, dass sie nicht viel Wasser brauchten und sowohl die Bars als auch das ganze Ambiente sollte im Tiki Stil eingerichtet werden. Dazu gehörten Fackeln, große beschnitzte Stämme und Dächer aus Stroh. Nicht wenige zeigten sich skeptisch, als sie beide Pläne und die Miniaturmodelle sahen. Immerhin reden wir von einem Wildwestpark direkt neben einem tropischen Erlebnisbad, das den Flair Hawaiis vermitteln sollte und rein gar nichts mit dem rauen Wilden Westen zu tun hatte. Es gab sogar handfeste Streitereien zwischen den Befürwortern der beiden Bauprojekte und den Kritikern und schließlich musste die Polizei einschreiten. Dabei gelang es einem, der beide Projekte aufs Schärfste ablehnte und zu den Aufrührern gehörte, die beiden Modelle zu demolieren und den Plan zu zerreißen. Die meisten Gegenstimmen kamen von den Städten im Umkreis von Angel Hills. Die Leute waren ein ruhiges Leben gewohnt und hatten überhaupt keine Lust auf Touristenrummel. Ihre Sorge war, dass auf den Highways kilometerlange Staus entstehen und den Nahverkehr lahm legen würden. Die kleinen Städte würden von der riesigen Touristenwelle überrollt werden, so lautete das größte Gegenargument. Dieses fand allerdings kein wirkliches Gehör und Fakt war auch, dass solch ein Argument kein entscheidendes Gewicht hatte. Also begann man mit den Bauarbeiten. Da für den Verkehr nach Angel Hills eine neue Straße gebaut werden musste, kam es gleich zu den nächsten Schwierigkeiten: Das Material hatte man, aber nicht das nötige Land. Dieses gehörte den unzähligen Farmern, die dort ihre Rinder züchteten und es gab alte Wohnsiedlungen außerhalb der City. Der Besitzer des kalifornischen Konzerns bestach daraufhin mehrere Politiker, die daraufhin die Farmer zum größten Teil enteignen und die alten Häuser abreißen ließ. Es wurden mehrere Klagen eingereicht, die jedoch allesamt abgeschmettert wurden. Den Farmern blieb nichts anderes übrig, als ihre Häuser zu verlassen und ihre Rinderbestände an die Mastbetriebe zu verkaufen. Einige wurden durch diese Enteignung an den Rand des Ruins getrieben. Durch die Klagen verzögerte sich der Bau des Highways um zwei Monate, wurde aber schließlich doch noch begonnen. Durch den Highway war es auch für die vielen Laster umso einfacher, Material und Maschinen zur Baustelle zu liefern, da die Straße zuvor nur löchriger und unebener Asphalt war, der so gut wie unbefahrbar war. Die Bewohner der Nachbarstädte gaben ihren Widerstand nicht auf und protestierten weiterhin. Da die Politik voll und ganz hinter dem Bauprojekt steckte, ging die Polizei rigoros gegen die Demonstranten vor. Die Hälfte der Demonstranten wurde verhaftet, weitere Proteste und Märsche wurden seitens der Regierung verboten. Um dem ganzen Widerstand einen Riegel vorzuschieben, entschloss man sich dazu, ein Exempel zu statuieren und die festgenommenen Demonstranten wurden schließlich zu Haftstrafen verurteilt. Als Gründe nannte man illegale Demonstrationen, Vandalismus, üble Nachrede, Widerstand gegen Polizeibeamte, Beleidigung und noch andere unzählige Delikte. Man kann sich schon denken, dass die ganze Sache vor Gericht noch mal extra aufgebauscht wurde, um aus solch einer Bagatelle ein Schwerverbrechen zu machen. Als die Demonstranten schließlich einen anderen Weg einschlugen und sich stattdessen an die Medien wandten, hagelte es erneut Klagen wegen übler Nachrede und Rufmord seitens des Konzerns. Was die Medien betraf, so war der Einfluss des Konzerns so groß auf die Politik, dass sogar ein Verbot erlassen wurde, jegliche verleumderischen Berichte über das Bauprojekt in den Nachrichten bzw. in den Zeitungen zu melden. Die Meinung der lokalen Medien wurde klein gehalten, die Journalisten zum Schweigen gebracht. Zwar trauten sich die Leute im Umkreis von Angel Hills nicht mehr, öffentlich gegen das Bauprojekt vorzugehen, aber inzwischen war überall von Korruption und Verletzung von Grundrechten die Rede. Der Unmut der Nachbarstädte wuchs und als es zu massiven Verzögerungen der Bauarbeiten kam, war das natürlich ein gefundenes Fressen. Die Leute begannen sich die wildesten Geschichten zu erzählen. Aber dann ereignete sich schließlich eine entsetzliche Tragödie, die umliegenden Städte erschütterte: Die Minenschächte unterhalb von Angel Hills waren eingestürzt und mehrere Menschen seien dabei lebendig begraben oder schwer verletzt worden. Ursache waren die schweren Bagger und Planierraupen, die eine zu große Gewichtsbelastung waren, und die durch die Arbeiten verursachten Erschütterungen hatten ebenfalls einen Beitrag zu dieser Katastrophe geleistet. Insgesamt kamen fünf Menschen ums Leben, sieben wurden schwer verletzt. Da zu viel Geld bereits in dieses Projekt gesteckt wurde, konnten die Arbeiten nicht eingestellt werden und so fasste man den Entschluss, die Minenschächte durch gezielte Sprengungen zum Einsturz zu bringen.

Dies war allerdings nur die Spitze des Eisberges, denn es kam immer wieder zu Zwischenfällen. Arbeiter stürzten von den Gerüsten und brachen sich beim Sturz das Genick, Leitungen wurden nicht gesichert oder Bagger rollten davon und rammten die Mauern. Inzwischen nannten die Menschen den Park schon längst nicht mehr „Angel Hills“ sondern „The Hell’s Resort“. Die Serie tödlicher Unfälle begann das Bauprojekt zu überschatten und insgesamt verzögerten sich die Arbeiten um fast zwei Jahre. Der Park wurde schließlich doch fertig gebaut und es reiste tatsächlich eine Vielzahl von Touristen an, doch dann wurde der Park einfach geschlossen. Es geschah so schnell, dass die Leute gar nicht wussten, wie ihnen geschah. Zuerst bemerkte es niemand, da in den Medien nichts davon berichtet wurde und immer noch Touristen anreisten. Aber schließlich sahen es die Leute aus den umliegenden Städten mit eigenen Augen. Sowohl der Vergnügungspark als auch das Spaßbad waren verschlossen worden. Das ganze Gelände wurde abgeriegelt und der Konzern wollte sich über die Schließung nicht äußern. Das alles geschah in den späten Achtzigern und inzwischen ist der Vergnügungspark von Angel Hills in Vergessenheit geraten. Der Highway blieb unbenutzt und durch verschiedene schwere Witterungen erlitt er schwere Schäden, weswegen er schließlich gesperrt wurde.

Da ich aus Sacramento stamme, habe ich von dieser Geschichte rein zufällig erfahren und war verwundert, warum der Park so urplötzlich verlassen darüber nichts berichtet worden war. Immerhin wurden 120 Millionen Dollar für dieses Projekt ausgegeben und ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass dies nicht für Aufsehen gesorgt hatte. Und auch, als ich über den Vergnügungspark im Internet recherchierte, fand ich keine genauen Einträge dafür. Dies erklärte sich zum einen daraus, dass in den Achtzigern das Internet noch in den Kinderschuhen steckte und man höchstens in den Zeitungen Berichte finden konnte und zum anderen gab es genügend Möglichkeiten, entsprechende Webseiten auf Anfrage sperren zu lassen. Außerdem war der Vergnügungspark in Vergessenheit geraten und kaum jemand, der es nicht selbst miterlebt hatte, konnte sich daran erinnern. Aber mein Interesse war geweckt und ich dachte mir, dass ich vielleicht mit dieser Geschichte als Journalist groß rauskommen würde, wenn ich die ganze Geschichte aufdeckte. Zugegeben, es war ein wenig schwierig, an Informationen zu kommen, da die Leute selbst sich an so gut wie nichts Besonderes erinnern konnten, was die Schließung betraf. Stattdessen konnte ich mehr über die Probleme während der Bauarbeiten in Erfahrung bringen und war erstaunt, wie viele Zwischenfälle es dort gegeben hatte. „Wenn Sie mich fragen“, sagte einer der Zeitzeugen in meinem Interview „es hat sich sicherlich noch ein Vorfall im Park ereignet und deswegen musste er geschlossen werden. Diese ganze Sache hat die Touristen sicherlich vergrault.“ Dass ein weiterer Vorfall dahinter stecken könnte, war nicht ganz auszuschließen. Immerhin hatte der Park eine längere Serie an Unfällen aufzuweisen, als irgendein anderer Vergnügungspark sonst. Sei es ein tragischer Unfall auf einer Achterbahn oder ein Kind, das vom Poolsauger erwischt wurde und daraufhin ertrank. Es war alles möglich, aber niemand wusste genau, was der Grund für die Schließung der Anlage war. Als ich mich telefonisch beim zuständigen Konzern erkundigen wollte, hängte man mich sofort in die Warteschleife, um mich loszuwerden oder versuchte mich mit Ausreden abzuspeisen. Auch Bemühungen meinerseits, persönlich vorbeizuschauen und mich durchzufragen, endeten letztendlich damit, dass ich vom Sicherheitspersonal rausgeschmissen wurde und Hausverbot erteilt bekam. Allein das zeigte mir, dass da etwas ganz schön faul war und irgendetwas verheimlicht wurde.

Da die Bewohner der umliegenden Städte nichts wussten und die Beteiligten sich ausschwiegen, blieb mir schlussendlich nichts anderes übrig, als selbst nach Angel Hills zu fahren, um mir ein eigenes Bild zu machen. Vielleicht fand ich ja so heraus, was damals geschehen war. Vielleicht würde ich aber in eine Sackgasse laufen und mit leeren Händen dastehen. Aber die Geschichte wurde immer interessanter, je weiter ich nachbohrte und so einfach wollte ich mich nicht geschlagen geben. Also bereitete ich alles für meine „Expedition“ zur alten Geisterstadt vor. Da die Navigationsgeräte Angel Hills nicht erkannten und auch auf der Karte der Ort nicht verzeichnet war, blieb mir nur, auf gut Glück loszufahren, in der Hoffnung, den gesperrten Highway zu finden. Dieser war meine einzige Möglichkeit, auf direktem Weg nach Angel Hills zu gelangen. Am Morgen fuhr ich schließlich los und machte mich auf die Suche. Tatsächlich gestaltete es sich unsagbar schwer, die Absperrung am Highway zu umfahren und auf anderem Wege auf die Hauptstraße zu gelangen. Außerdem funktionierte die Klimaanlage nicht, was bei dem heißen und trockenen Wetter die Fahrt zur Tortur machte. Ich brauchte knapp drei Stunden, um endlich in der Ferne den riesigen Vergnügungspark zu erkennen, dessen Konturen in der heißen Mittagssonne flimmerten. Ich konnte die riesige Achterbahnen erkennen und auch das Riesenrad. In der Ferne sah es nicht nach einem verlassenen Vergnügungspark aus, sondern als wäre er im Betrieb, als sei es niemals anders gewesen.

Ich fragte mich, wie es wohl von nahem aussehen würde und so fuhr ich bis zum Eingang weiter. Praktischerweise stand der Parkplatz nicht weit entfernt, sodass ich problemlos parken konnte. Mir fiel allerdings schon auf, dass überall das Unkraut aus den Fugen herauswuchs, sogar Büsche und Bäume wucherten überall, da sie niemand daran hinderte. Das Schwierigste war jedoch, einen Eingang zu finden, da die Mauern des Vergnügungsparks ziemlich hoch und die für Besucher zugänglichen Eingänge abgesperrt waren. Ich merkte schnell, dass ich die beste Chance hatte, mir Zutritt zu verschaffen, wenn ich über das Spaßbad eindringe und dann über den Zweiteingang zum Vergnügungspark gelangen konnte.

Tatsächlich war der Personaleingang des Spaßbades nicht abgeschlossen und so konnte ich ungehindert hinein. Gleich drin überkam mich ein seltsamer Geruch und ich befürchtete, dass ich nicht als Einziger auf die Idee gekommen war, durch den Personaleingang zu gehen und hier Penner lebten, die in den Ecken ihr Geschäft verrichteten und mich sogar angreifen würden. Und ich hatte keine Waffe dabei, mit der ich mich hätte zur Wehr setzen können.

Als ich mich umsah, bezweifelte ich schließlich, dass wirklich Penner hier lebten und ich ging eher davon aus, dass der Geruch aus dem Schwimmbad kommen musste. An den Fliesen waren überall schwarze Flecken und zum Teil war das Dach durch schwere Gewitter beschädigt worden, sodass Wasser hineinlief. Auf dem Boden lagen stinkende Pfützen von abgestandenem Wasser, in welchem sich schon Algen bildeten. Überall lag Staub und die Pflanzen in der Empfangshalle waren vertrocknet und ein Paradies für Ungeziefer und Fliegen. Ich nahm die Abkürzung durch das Restaurant und gelangte somit ins Innere des Spaßbades. Wie ich schon befürchtet hatte, war das Wasser in den Becken Ursache für diesen unangenehmen Geruch. Es erstaunte mich, dass die Becken nicht längst abgepumpt worden waren, obwohl die Anlage seit Ewigkeiten nicht mehr in Betrieb war. Das Wasser war mit der Zeit schmutzig geworden, da es kein einziges Mal seit der Schließung der Anlage gereinigt worden war. Allerdings gab es keine Algenteppiche auf der Oberfläche, da das Chlor nach wie vor noch eine desinfizierende Wirkung hatte. Trotzdem war das Wasser abgestanden und die ganze Anlage war völlig verwahrlost. Die Palmen, die man hier gepflanzt hatte, waren vertrocknet und halb verwest und lagen inmitten heruntergefallener Kokosnüsse. Fliesen waren zersprungen und in den Fugen wucherte der Schimmel. Interessanterweise waren die Tiki Bars in genau demselben Zustand wie damals, außer dass sie voller Staub waren. Es standen sogar noch Getränke und Cocktails auf dem Tresen, die aber allesamt längst verdorben waren. Das alles wirkte mehr wie ein Evakuierungsszenario, als hätten die Leute damals alles stehen und liegen gelassen.

Erst viel später bemerkte ich auch, dass die Elektrizität einwandfrei funktionierte, obwohl mir dies schon längst hätte auffallen sollen, da der überdachte Teil des Spaßbades beleuchtet war. Selbst die Becken waren beleuchtet und hätten damals ein tropisches himmelblau abgegeben, aber inzwischen war es ein trübes gelbgrün. Komisch, warum zum Teufel funktionierte hier noch die Elektrizität? Das machte doch überhaupt keinen Sinn. Ich begann die Bar zu fotografieren, die verwaisten Liegestühle, auf denen noch Handtücher lagen und auch die Schwimmbecken. Schließlich kam ich am Sportbecken vorbei, wo man noch vor einiger Zeit noch Bahnen ziehen konnte. Mir fiel nämlich auf, dass sich das Wasser ganz leicht bewegte. So als würde sich etwas durchs Wasser bewegen. Zuerst glaubte ich, dass etwas vom Dach heruntergefallen wäre, aber ich hatte kein Platschen gehört und es gab auch keine Fische im Becken. Und trotzdem hatte sich das Wasser auf einmal in Bewegung gesetzt. Ich ging näher heran, um mir das mal genauer anzusehen und tatsächlich konnte ich einen Schatten direkt unter dem Sprungbrett ausfindig machen. Ich ging näher ran und nutzte den Zoom meiner Kamera, um genauer hinsehen zu können. Der Schatten sah irgendwie merkwürdig aus. Es sah nicht danach aus, als hätten sich da mehrere Fliesen herausgelöst. Nein, es sah mehr nach… einem toten Körper aus. Schnell schoss ich ein paar Fotos, wagte es aber nicht, ins Wasser zu gehen. Es hätte genauso gut ein großer Dreckklumpen sein können, das war in dem Wasser nicht so einfach zu erkennen. Aber ich war mir hundertprozentig sicher, dass da eine Leiche auf dem Grund des Sportbeckens lag. Aber trieben tote Körper nicht für gewöhnlich auf dem Wasser und warum zum Teufel hatte man ihn nicht rausgeholt? War es vielleicht ein Unfall gewesen und war der Poolsauger nicht ausreichend abgedeckt gewesen? So etwas passierte immer wieder und dann war es unmöglich, aus eigener Kraft herauszukommen. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und ich beschloss, lieber weiter zu gehen. Doch als ich mich einige Schritte vom Pool entfernt hatte, drehte ich mich noch einmal um und sah zum Becken zurück. Wieder war da eine ganz seichte Welle, als hätte sich im Pool etwas in Bewegung gesetzt. Mir wurde es allmählich unheimlich und ich machte mich schließlich auf die Suche nach der Tür für den Außenbereich. Über die Freibadanlage würde ich zum Vergnügungspark gelangen, soweit ich die Karte über den Aufbau der ganzen Anlage richtig gelesen hatte. Diese hatte ich von einer Interviewten bekommen, die selbst einmal im „Angel Hills“ Vergnügungspark gewesen war. Ich fand die mehr oder weniger versteckte Tür und spürte direkt, dass mir ziemlich unbehaglich zumute wurde. Mein ganzer Körper versteifte sich und ich spürte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Mit einem Male hatte ich nur Angst. Ich drehte mich noch mal zurück und sah in die riesige überdachte Anlage und hörte nur Stille. Alles sah wie vorher aus, aber mich ließ das Gefühl nicht los, als hätte sich etwas verändert. Ich eilte zurück zum Sportbecken, wo ich den Schatten gesehen hatte und erschrak, als ich erkannte, dass er mit einem Male weg war. Er war einfach verschwunden. Die Leiche war weg…. Zitternd hob ich die Kamera und hielt diese furchtbare Entdeckung fest. Sie erschreckte mich sogar noch mehr als den Fund der Leiche, falls es eine gewesen war.

Irgendetwas Seltsames ging hier vor sich, da war ich mir ganz sicher. Immerhin hatte ich eindeutig Fotos davon, dass dieser Schatten da gewesen war und nicht bloß Einbildung. Irgendwo in der Nähe der Bar Glas zersprang. Ich fuhr erschrocken zusammen und spürte, wie mein Herz raste. Sofort beschloss ich, dieses Schwimmbad sofort zu verlassen und nach dem Ausgang zu suchen. Dieser lag etwas versteckt und war mit einer schweren Kette verschlossen. Es benötigte einige kräftige Fußtritte, bis die verrostete Kette zersprang und die Tür sich öffnete. Kaum war sie offen, ging ich sofort in den Außenbereich und war heilfroh, endlich draußen zu sein und die warme Sonne auf meiner Haut zu spüren. Da drin war es einfach nur unheimlich gewesen und selbst als ich draußen war, zitterten meine Hände noch.

Der Freibadbereich war ziemlich groß und ebenso luxuriös eingerichtet wie der Innenbereich. Es gab zwei Tiki Bars, der Weg wurde mit Fackeln gesäumt und auch hier wuchsen Palmen, die schon vor Jahren ihr Leben ausgehaucht hatten. Die Swimming Pools waren verdreckt und hatten ein ungesundes Grün angenommen. Über den Pool hinweg führte eine Holzbrücke, die bereits völlig marode war und bereits bei der kleinsten Belastung kaputt ging. Zusätzlich gab es noch eine künstliche Grotte, wo man es sich im Schatten gemütlich machen und ein wenig allein sein konnte. Genau dort schwamm in dieser leicht grünen Brühe noch etwas dunkles, aber nichts Festes. Es konnte eine Flüssigkeit von unbestimmter Herkunft sein. Aber… nach meinem grausigen Fund im Sportbecken begann meine Fantasie bereits verrückt zu spielen und in der Grotte überall Blut zu sehen. Sogar an den Wänden klebten dunkle Flecken. Da ich selbst nicht mehr so wirklich glauben konnte, was ich da sah, machte ich auch davon Fotos und sah mir die Rutsche an. Zu Zeiten, als sie noch in Betrieb war, hatte sie in einem schönen Gelb geleuchtet, aber inzwischen war sie von einem hässlichen dunkelgrün überzogen und war nur noch schmutzig und alles andere als einladend. Das Gleiche galt auch für den Pool, auf dessen Oberfläche sogar Vogelkadaver trieben. Auch alles andere sah völlig verwahrlost aus. Aus dem Boden wucherte Unkraut und aus den Ecken an der Mauer wuchsen sogar Büsche, die allerdings auch schon völlig vertrocknet waren.

Die Tiki Statuen, deren Gesichter ein wenig wie eine Karikatur aussahen, waren mit Vogelscheiße überzogen und manche Fackeln waren geschwärzt, so als hätten sie noch gebrannt, als das Spaßbad geschlossen wurde. Offenbar hatte man es fluchtartig verlassen und nie wieder betreten. Aber warum? Ich schoss immer mehr Fotos und sah auch schon das Tor, das direkt zum Vergnügungspark führte. Über dem Tor, wo in großen Worten „Welcome“ stand, hatte jemand darunter mit dunkelroter Farbe (die vielleicht sogar Blut sein konnte) geschrieben „to the Hell’s Resort“. Ich gelangte durch die Drehtür ins Innere des Vergnügungsparks und sah auf die Karte. Im Osten lag der Eingang, den man von der Straße aus erreichen konnte. Im Zentrum des Parks stand das Riesenrad, zusammen mit der Spiegelkammer. Insgesamt gab es vier verschiedene Areale, die es zu erkunden gab. Das Erste war das Indianerreservat, in denen Marterpfähle, Zelte, Lagerfeuer und Statuen von Indianern mit Federkopfschmuck ausgestellt waren. Dort gab es einen Spielplatz für die Kleinen, sowie Fahrgeschäfte für die Kinder unter zehn Jahren. Das nächste Areal war die Goldgräberstadt, in der alles der historischen Stadt Angel Hills nachempfunden worden war. Es gab einen künstlichen Berg, durch den eine Achterbahn führte als auch eine künstliche Quelle, in der man falsches Gold aus dem Wasser heraussieben konnte. Außerdem fand man dort diverse Souvenirshops, Imbissbuden und Restaurants. Im dritten Areal gab es ausschließlich Wildwasserattraktionen, da es um den vor Jahrhunderten längst ausgetrockneten „Rattlesnake River“ ging, der Angel Hills damals am Leben erhielt. Der Fluss hatte seinen Namen nicht nur daher, dass er wie eine Schlange aussah. Der berühmte Goldsucher Joe Ratt hatte dort trotz der Seeschlangengefahr mit seinem Sieb den Fluss durchkämmt. Nachdem er es schaffte, mit bloßen Händen eine Klapperschlange zu töten, nannte man ihn „Rattlesnake“ Joe. Er setzte sich gegen Banditen und anderen Goldsuchern zur Wehr und galt als einer der berühmtesten Goldgräber in Kalifornien. Als er schließlich einen plötzlichen Herzinfarkt erlitt und in den Fluss stürzte, wurde nur sein Hut gefunden, seine Leiche aber nicht. Man nannte den Fluss schließlich den „Rattlesnake River“. Das letzte Areal hatte eigentlich wenig mit Western zu tun sondern sollte einen vollkommen neutralen Vergnügungspark darstellen. Dort konnte man mit der Geisterbahn fahren, durch Labyrinth mit durchsichtigen Glaswänden gehen und mit den üblichen Attraktionen fahren, die man auch auf den Jahrmarkt fand. Offenbar war es auch Ziel gewesen, einen Kontrast zur Westernstadt mit einzubringen, um den Besuchern auch mal Abwechslung zu gönnen. Da die Areale alle im Kreis angeordnet lagen und das Riesenrad sozusagen das Zentrum bildete, beschloss ich, im Uhrzeigersinn vorzugehen. Folglich würde das Indianerreservat meine erste Station sein. Inzwischen war es Nachmittag geworden und bald würde die Sonne untergehen. Zum Glück hatte ich vorgesorgt und eine Taschenlampe sowie Ersatzbatterien eingepackt.

Nach einem kurzminütigen Fußmarsch erreichte ich das „Reservat“ und fand eine großflächige Ebene vor, in der es sehr übersichtlich war, da ja keine Besucher außer mir da waren. In der Mitte stand der Schauplatz, wo mehrere Zelte standen und um ein längst erloschenes Lagerfeuer große Baumstämme als Sitzgelegenheit aufgestellt waren. Überall gab es Totempfähle, die bunt bemalt worden waren, allerdings war die Farbe längst verblichen oder abgeblättert und die Pfähle waren mit Vogelscheiße bedeckt. Außerdem hatten die Termiten bereits gewütet und große Löcher ins Holz gefressen. Die Indianerfiguren sahen auch längst nicht mehr so überzeugend aus wie vor über zwanzig Jahren. Teilweise waren die Federn und Finger abgebrochen und dem Häuptling hatte man eine Axt in den Schädel geschlagen. Das Bizarre daran war aber, dass an der Axt Blut klebte und auf dem Boden mehrere dunkle Flecken klebten. Ich war mir nicht ganz sicher, was das zu bedeuten hatte, aber es sah irgendwie danach aus, als hätte hier ein echter Kampf stattgefunden, wo auch Menschen verletzt wurden. Und dann hatte man die blutige Axt in den Schädel des hölzernen Häuptlings geschlagen. Allmählich beschlich mich das Gefühl, dass hier damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war und dass dies nicht der letzte unheimliche Fund war, den ich noch finden würde. Sofort hielt ich alles mit meiner Kamera fest und sah mir das Lagerfeuer an, welches komplett zentral im Areal war. An der Feuerstelle lag noch Holzkohle und ich vermutete stark, dass sie bis zur plötzlichen Schließung des Parks noch gebrannt hatte. Mit Kohle hatte man Angel Hills geschrieben, dann aber mit einem X durchgestrichen und darunter „Hell’s Resort“ geschrieben. Inmitten der Feuerstelle konnte ich schließlich etwas ausmachen, was da nicht hingehörte. Etwas Glattes, Großes und Rundes. Neugierig griff ich hinein und bekam das Ding zu fassen. Als ich es herausholte, ließ ich es gleich wieder vor Schreck fallen, als ich sah, dass es ein menschlicher Schädel war. Dieser zerbrach auf dem gepflasterten Boden rund um die Feuerstelle und nur ein Teil des Gesichts blieb erhalten. Ich war so erstarrt, dass ich auch noch beinahe die Kamera hätte fallen lassen. Was zum Teufel suchte ein menschlicher Schädel in einer Feuerstelle? Und wo war der Rest geblieben? Es brauchte eine Weile, bis ich mich wieder gesammelt hatte und schnell zwei Fotos schoss und mich dann in den Zelten umsah. Etwas Schreckliches musste vor zwanzig Jahren geschehen sein, was diesen… Mord zur Folge hatte. Jetzt wusste ich wenigstens, woher das Blut an der Axt stammte. Aber leider beruhigte mich dies auch nicht wirklich. Der Spielplatz im Indianerreservat wirkte im Lichte der Abendsonne irgendwie unheimlich und allmählich begann ich mir auch schon Dinge einzubilden. Denn ich hätte schwören können, dass sich die Schaukel noch nicht bewegt hatte und das Drehkarussell, das sich jetzt langsam im seichten Wind drehte, zuvor still stand. Ein leises Quietschen ertönte und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Irgendwie klang dieses Quietschen der rostigen Geräte wie ein schrilles, leises Kichern.

Die Zelte waren allesamt leer und da ich außer dem Schädel und der Axt nichts Ungewöhnliches fand, machte ich mich auf den Weg zur Goldgräberstadt. Inzwischen war der ganze Park bereits ins Licht der Abendsonne getaucht und die Schatten wurden immer länger. Die Goldgräberstadt bestand aus mehreren Häusern. Es gab ein Restaurant, einen einfachen Imbiss, einen Showsalon, wo echte Wildwestshow gezeigt wurde. Dann gab es einen Souvenirladen und eine riesige Holzachterbahn und noch eine weitere, die durch einen künstlichen Berg führte und den Namen „Wild Mine Ride“ trug. Überall standen Figuren von Cowboys, die ins Leere starrten und winkten. In der Abendsonne wirkten sie irgendwie unheimlich und die lastende Stille war beunruhigend. Ich hatte schon immer gedacht, dass es in verlassenen Vergnügungsparks gruselig sein kann aber es selbst zu erleben, war etwas völlig anderes. Mich überkam eine Gänsehaut und als Erstes sah ich mich im Restaurant um. Alles war sehr stilgerecht für den Wilden Westen eingerichtet. An den Wänden hingen falsche Stierschädel, Bilder von Cowboys und Frauen bei einer Tanzshow. In der Ecke stand ein Piano und die Bar, wo man bestellen konnte, wurde auch einem Western Saloon gerecht. Auf den Regalen standen Schnaps- und Wodkaflaschen aufgereiht und ich konnte mir wirklich einen Barkeeper am Tresen vorstellen, der gerade Gläser wischte. Das Restaurant trug den Namen „Charlie’s Saloon“ und es war wirklich ziemlich groß. Sicherlich wurde hier zu Zeiten, wo der Laden noch im Betrieb war, Musik zur Unterhaltung gespielt. Das Pianola war eines dieser selbst spielenden Pianos mit einer sich drehenden Walze, die sozusagen den Großvater der Jukebox darstellte und nach dem ähnlichen Prinzip funktionierte, wie eine Music Box. Nachdem ich ein paar Fotos schoss, ging ich in die Küche, um mich dort umzusehen. Was mich dort erwartete, war ein widerlicher Gestank von uraltem Essen, das seit einer Ewigkeit verschimmelt war. Das damals noch frische Gemüse stellte nur noch einen undefinierbaren stinkenden Matsch dar und in der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr. Offenbar war in der Küche noch Hochbetrieb gewesen, als der Park verlassen wurde und man hatte sich nicht die Mühe gemacht, das alles zu räumen. Das sah man auch daran, dass auf den Tischen im Restaurant noch das Geschirr stand und in einigen Gläsern sogar noch Getränke waren. Selbst einige Teller waren noch gefüllt. Ich verließ schließlich die Küche, nachdem ich alles dokumentiert hatte und schickte mich an, „Charlie’s Saloon“ zu verlassen, da begann das automatische Pianola urplötzlich „The Entertainer“ von Scott Joplin zu spielen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als das Lied zu spielen begann und die Stille mit einem Male zerriss. Ich schnappte nach Luft und stützte mich an der Wand ab. „Scheiße“ murmelte ich und versuchte mein wie wild schlagendes Herz zu beruhigen. „Verdammte Scheiße“. Ich ging näher an das Pianola heran und beobachtete, wie sich die Walze im Inneren drehte und die Tasten gespielt wurden. Meine Beine waren plötzlich wie aus Gummi und ich befürchtete schon, gleich umzuknicken. Doch ich schaffte es, mich zusammenzureißen und so wischte ich mir den kalten Schweiß von der Stirn. Wie zum Teufel hatte das Pianola einfach so angefangen zu spielen? Warum hatte es sich plötzlich selbstständig gemacht? Mich überkam das Gefühl, dass ich nicht alleine hier war und so verließ ich das Restaurant. Das Pianola spielte immer noch und ich glaubte, so etwas wie ein Kichern zu hören.

In der Goldgräberstadt fühlte ich mich unwohl und da es immer dunkler wurde, holte ich schließlich meine Taschenlampe heraus und schaltete sie an. Mir wurde mit einem Male eiskalt und ich glaubte schon, überall verdächtige Schatten zu sehen. Ich eilte in Richtung der großen Holzachterbahn und blieb am Eingang stehen. Inzwischen hörte ich die Musik des Pianolas nicht mehr, doch dieses beschissene Gefühl blieb, dass mich jemand beobachtete. Diese Goldgräberstadt… diese Geisterstadt hatte etwas Lebhaftes angenommen, obwohl dies eigentlich nicht sein durfte. Es schien so, als hätte sie all die Jahre geschlafen und war jetzt, da wieder ein menschlicher Besucher hier herumstreifte, wieder zum Leben erwacht. Vielleicht auch nicht der Park selbst, sondern etwas ganz Bestimmtes. Etwas, vor dem die Leute geflohen waren und „Angel Hills“ für immer verließen.

Schnell verließ ich die Goldgräberstadt und kam dabei an der Quelle vorbei, wo man falsches Gold waschen konnte, um sich später aus den Fundstücken eine Medaille als Andenken machen zu lassen. Es war eigentlich eine große, tiefe Holzrinne, auf dessen Grund kleine Kieselsteinchen lagen. Als ich mit der Taschenlampe hinleuchtete, fiel mir auf, dass das Wasser dunkel verfärbt war. Der Grund war, dass die Holzrinne bis kurz unter dem Rand mit Blut gefüllt war. Und wieder hörte ich aus der Ferne ein leises Kichern. Für einen Moment glaubte ich auch, einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Mich packte die Angst und ich verließ auf dem schnellsten Wege die Goldgräberstadt in Richtung „Rattlesnake River“. Dort lag auch der Eingang zur Mine, der aber durch schwere, massive Eisentore verschlossen war. Stattdessen fand man dort ein paar Infotafeln, wo man Wissenswertes über die historische Goldgräberstadt lesen konnte. Auf dem Boden, direkt vor diesen Schautafeln, waren mehrere große dunkle Flecken, die sicherlich Blut waren. Und etwas weiter weg hatte jemand in den staubigen Boden „RUN AWAY!!!“ gekratzt. Die ganze Sache wurde immer gruseliger und ich fürchtete, dass der Vergnügungspark noch mehr Schrecken für mich bereithielt. Nach alldem, was ich inzwischen gesehen hatte, konnte ich mir folgendes Bild machen: Etwas Schreckliches war im Vergnügungspark geschehen, was den Tod mehrerer Menschen zur Folge hatte und weswegen man die Anlage sofort evakuieren ließ. Dabei hinterließ man alles so, wie es zum Zeitpunkt der Evakuierung gewesen war und die Zeugen schwiegen darüber. Vielleicht hatten sie ein großzügiges Schweigegeld bekommen, oder aber man hat sie zum Schweigen gebracht. Nicht etwa durch Mord, sondern durch Anwälte und die Macht der Lobbyisten. Und was auch immer für die Evakuierung des Parks gesorgt hatte, so befürchtete ich, dass es noch hier war. Vielleicht hatte es mich schon längst im Visier.
 

Wie sich herausstellte, war das Klapperschlangenflussareal in einem Zustand, der wirklich einem „Hell’s Resort“ nahe kam. In den Waggons lagen verweste Leichenteile und alles war voller eingetrocknetem Blut. Zerrissene T-Shirts, Rucksäcke und andere Gegenstände lagen auf dem Boden, als hätten die Menschen in Panik die Flucht ergriffen und alles weggeworfen, welches ihre Flucht verlangsamen könnte. Ich sah mich nicht weiter um sondern verließ das Areal sofort wieder, als mir klar wurde, dass hier damals ein schreckliches Blutbad stattgefunden haben musste. Und ich wollte mich lieber nicht an einem Ort aufhalten, wo mehrere Menschen getötet worden waren. Ich machte nur zwei oder drei Fotos, nämlich von den Leichen im Waggon der Wildwasserbahn und den Blutspuren auf dem Boden. Ich vergaß, auf die Karte zu schauen und da es inzwischen stockfinster war, wusste ich überhaupt nicht, wohin ich gehen sollte. So lief ich einfach drauf los und statt, dass ich den Ausgang erreichte, fand ich mich auf dem Rummelplatz wieder, dem vierten und letzten Areal. Ich wusste zuerst gar nicht, wo genau ich war, bis ich die Geisterbahn vor mir sah. Im Inneren schien eine Art Lichtquelle zu existieren und ich hörte ein Gekicher und Gelächter, das mich an Ripper Roo erinnerte. Ich weiß echt nicht, welcher verdammte Teufel mich geritten hatte, dass ich die Geisterbahn betrat. Vielleicht, weil ich mir endlich Gewissheit verschaffen wollte, was mich verfolgte, beobachtete und damals für das Blutbad verantwortlich war. Kaum hatte ich die Geisterbahn betreten, gingen ein paar Lichter an und offenbarten die schlecht gemachten Gruselgestalten. Nun, man musste zugute kommen lassen, dass der Vergnügungspark in den späten Achtzigern eröffnet worden war und da waren noch Sachen gruselig gewesen, vor denen heute kein Kind mehr Angst hatte. Das Einzige, was das wohl Unheimlichste in dem gesamten Gruselkabinett darstellte, war ein Clown. Er trug ein buntes Kostüm, ähnlich wie Pennywise aus Stephen Kings „Es“. Seine weiß behandschuhten Finger waren wie Krallen und waren mit roter Farbe bemalt worden. Das Gesicht war, wie für einen Clown typisch: vollkommen weiß mit einer großen roten Kugelnase, außerdem war es von einigen Falten durchzogen. Die Augen waren blau geschminkt worden und die Augen, diese stechend gelben und monströs dreinschauenden Augen schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Das Gesicht zierte ein breites, widerliches Grinsen mit blutroten aufgerissenen Lippen. Das Grinsen zog sich bis zu den ebenso weißen Ohren und der Clown fletschte seine rasiermesserscharfen, gelben Zähne, die im bräunlichen Zahnfleisch steckten. Das Haar des Clowns war rosa wie Kaugummi und wuchs ausschließlich auf dem Hinterkopf. Diese langen Haare hingen fast wie Spinnwebenfäden hinunter und allein in diese grausige Fratze zu sehen, die an die Slappy Clown Maske erinnerte, ließ auch mich Angst vor Clowns haben. Neben dem Clown stand ein Schild, auf dem „Bucky the Butcher“ stand. Ein echt passender Name für den wohl gruseligsten Clown der Welt. Er sah sogar noch schlimmer als Pennywise oder der Joker aus. Langsam wagte ich mich an ihn heran und stellte fest, wie lebensecht er aussah, ganz im Gegensatz zu diesen Plastikvampiren. Vorsichtig ging ich näher ran und schoss ein Foto von ihm. In dem Moment, als der Blitz aufleuchtete, drehte Bucky den Kopf und seine hervorstehenden, riesigen gelben Augen starrten mich mit diesem monströsen Grinsen an. Ich erstarrte und brachte noch nicht einmal einen Schrei raus. Erst als der Clown sein riesiges Maul öffnete und ein schrilles Gelächter erschallen ließ, welches genau wie das klang, welches ich schon von draußen gehört hatte. Ich wich zurück und hoffte in diesem Augenblick noch, dass es nur eine Puppe war, nur eine elektronisch gesteuerte Puppe. Aber dann kam dieser Clown lachend auf mich zu und in dem Moment begriff ich, dass es keine Puppe war.

Ich ergriff sofort die Flucht und stürmte sofort aus der Geisterbahn. Ich rannte, so schnell mich meine Beine trugen und ließ dabei meine Kamera fallen. Da ich in diesem Moment mehr Angst um mein Leben hatte, ließ ich sie zurück und eilte in Richtung Schwimmbad. Hinter mir hörte ich das schrille Gelächter des Clowns und es kam näher. Schließlich warf ich meinen Rucksack ab, in der Hoffnung, ihm somit ein Hindernis in den Weg zu stellen und selbst schneller vorwärts zu kommen. Als ich das Schwimmbad erreichte, versuchte ich nur noch nach vorne zu sehen, nur noch an den Fluchtweg vor mir zu denken und nicht an das, was hinter mir lag. Das war meine einzige Chance, um diese Sache zu überleben.
 

Als ich den Wagen erreichte, hörte ich immer noch das Gelächter des Clowns hinter mir und als ich den Motor startete und in den Rückspiegel sah, konnte ich seine mörderisch funkelnden Augen sehen. Sofort trat ich das Gaspedal durch und ließ Angel Hills hinter mir. Ich kehrte nie wieder zurück, um meine Kamera zu holen, oder meine anderen Sachen. Ich sprach mit niemandem über das, was ich gesehen hatte. Man hätte mich für verrückt erklärt und mir sowieso kein Wort geglaubt. Ich selbst war mir nicht mehr sicher, was ich da eigentlich gesehen hatte und ob das wirklich real oder nur irgendeine kranke Fantasie von mir war. Nun verstand ich endlich, warum sie alle über die wahren Geschehnisse im Park geschwiegen hatten. Sie wollten verhindern, dass Neugierige wie ich dort hineingingen und das Grauen wiedererweckten. Das konnten sie nur, wenn der Park in Vergessenheit geriet und aus dem Gedächtnis der Leute verschwand. Und ich hatte diese alte Wunde wieder aufgerissen und den monströsen Schrecken des Hell’s Resorts wiedererweckt und auf die Welt losgelassen. Manchmal, wenn es dunkel und still geworden ist, da kann ich in der Ferne das Gelächter des Clowns hören… ich weiß, dass er bald zuschlagen wird. Er liegt auf der Lauer und er weiß, dass ich bereits seine Anwesenheit wahrnehme. Solltest du jemals ein schrilles Gelächter hören, wenn es nachts ist, dann lauf so schnell du kannst… und dreh dich nicht um. Und bete, dass du ihm entkommen kannst.

Die Wahrheit über Pokemon

Als ich acht Jahre alt war, entdeckte ich ein Spiel, welches mein Leben für immer verändern und mich lange Zeit prägen sollte. Es ist ein ziemlich harmlos gestaltetes Spiel für alle Altersklassen, allerdings muss man schon hinter die Fassade sehen, um den wahren Schrecken dahinter zu erkennen. Die Rede ist von den Pokemonspielen. Du, der Protagonist, gehst im Alter von zehn Jahren auf Reisen, ganz auf dich allein gestellt und ohne fremde Hilfe. Deine Eltern nehmen einfach in Kauf, dass dir wer weiß was passieren kann. Dass du entführt wirst, verunglücken könntest oder dass du Opfer eines Pädophilen wirst. Du kämpfst gegen eine schwerkriminelle Organisation im Alleingang und gegen Leute, die mindestens zwei Mal so alt wie du und schon längst erwachsen sind. Aber das ist noch gar nicht das eigentlich Schreckliche an diesem Spiel. Dir wird schon vor Beginn des Spiels eingetrichtert, wie toll es doch ist, Tiere gewaltsam gegeneinander kämpfen zu lassen. Du durchstreifst einfach die Gegend, störst Jungtiere und Babys in ihrer natürlichen Umgebung, hetzt deine Pokemon auf sie und lässt die wilden Exemplare tot zurück. Oder du fängst sie mit deinen Pokebällen und scherst dich keinen Deut drum, ob du den Babys ihre Eltern nimmst und sie völlig schutzlos zurücklässt. Und wofür tust du das? Nur um deine Sammlung zu erweitern. Die meisten Pokemon, die du fängst, brauchst du ja nicht einmal für den Kampf. Du fängst sie einfach nur und lässt sie im Stich. Du kümmerst dich nicht um sie und nimmst in Kauf, dass sie völlig vereinsamt und unglücklich sind. Und wenn sie dann endlich aus ihrem Gefängnis geholt werden, dann nur, um zum Kämpfen gezwungen zu werden. Sie tun alles für dich. Sie nehmen alle erdenklichen Verletzungen und Schmerzen in Kauf, um von dir geliebt zu werden, aber was erfahren deine Pokemon denn schon? Sie werden gezwungen, gegen ihre eigenen Artgenossen zu kämpfen und sie kämpfen, bis sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können und vor Erschöpfung zusammenbrechen. Natürlich gibt es dieses praktische Pokemoncenter, wo du dein Team wieder heilen lassen kannst, aber gönnst du ihnen eigentlich Ruhe? Im Grunde haben sie sich gerade mal von ihren schweren Verletzungen erholt, schon werden sie wieder zum Kämpfen geschickt und müssen sich von dir herumkommandieren lassen. Und falls deine Pokemon nicht schnell genug stark werden, so fütterst du sie mit diesen widerlichen Sonderbonbons, die ihnen nicht einmal schmecken oder verabreichst ihnen diese ekligen Tränke, damit sie noch länger durchhalten können. Wenn deine Pokemon die Kraft aufbringen und sich weigern zu kämpfen, dann verstößt du sie einfach. Sie sind für dich unbrauchbar, schwach und unzuverlässig. Solche kannst du gar nicht gebrauchen. Und anstatt, dass du sie endlich in die Freiheit entlässt, lässt du sie auf deinem PC dahinvegetieren. Aber wenn du den Respekt und die Liebe deiner Pokemon hast und sie dir nun alles bedeuten, brichst du ihnen das Herz, wenn du sie einfach freilässt und davonjagst, oder sie ebenfalls auf deinem PC versauern lässt, weil du bessere Pokemon hast. Spätestens, wenn du Jagd auf die legendären Pokemon machst, wirst du deine Lieblingspokemon im Stich lassen. Aber damit ist noch nicht genug: Du tauschst Pokemon mit Wildfremden oder Freunden, als wären sie irgendein Spielzeug. Was genau macht dich da besser als Team Rocket? Nun gut, du verkaufst oder stiehlst keine Pokemon und du tötest auch keine, aber im Grunde gehst du genauso rücksichtslos mit ihnen um wie diese Verbrecher.

Natürlich wirst du jetzt sagen, dass es alles ganz harmlos ist und dass du das nur tust, damit deine Pokemon stärker werden. Dabei merkst du gar nicht, dass du dir selbst nur etwas vorlügst, weil du die Wahrheit nicht sehen willst. Im Grunde ist dein Streben nach Stärke doch nur reiner Egoismus. Hast du dich eigentlich jemals gefragt, warum der Lavandia Turm überhaupt existiert? Im Spiel können deine Pokemon ja eigentlich nicht sterben, aber warum sagen dir alle Trainer, dass sie ihre Pokemon verloren haben? Die Wahrheit liegt klar auf der Hand: Eines Tages wird es zu viel sein. Dann wird selbst ein Pokemoncenter deine Pokemon nicht mehr retten können und dann ist es zu spät….
 

Natürlich wird in der Serie alles ganz anders dargestellt und diese ganzen Kämpfe verharmlost. Aber mal im Ernst: Glaubst du wirklich allen Ernstes, eine Kindersendung würde wirklich zeigen, dass Lebewesen gegen ihren Willen gezwungen werden, sich gegenseitig zu zerfleischen? Nach alledem, was ich über Pokemon weiß, kann ich ohne Übertreibung sagen, dass dies das wohl grausamste und krankeste Spiel ist, das jemals entwickelt wurde.
 

Und übrigens: Ist eigentlich irgendjemandem mal aufgefallen, dass es in der Pokemonwelt Fleisch zum Essen gibt, obwohl es doch ganz offensichtlich keine Tiere gibt?

Creepypasta Special: The Name Lumis Leseprobe

Mit einem sorgenvollen Herzen fuhr Dathan in Richtung des St. Vincent Hospiz, wo sein Großvater lebte. Harrison Lumis Kinsley war 74-jährig, mager und ausgezehrt. Sein Haar war vollständig weiß und lag etwas wirr, seine Augen sahen trübe aus und hatten jeglichen Glanz verloren. Trotzdem war ein gewisses Leuchten in ihnen nicht zu übersehen, als Dathan das Zimmer betrat und sich zu ihm ans Bett setzte. Harrison war an eine Sauerstoffzufuhr angeschlossen, da ihm das Atmen selbst sehr schwer fiel und er bald wohl künstlich beatmet werden musste. Sein Bewusstsein war ein wenig durch das Morphium getrübt, trotzdem erkannte er seinen Enkel wieder, obwohl dieser sein halbes Gesicht wie sonst immer verbarg. Als sie aber unter sich waren, nahm Dathan den Mundschutz ab, sodass sein Großvater die Narben sah. Aber er übersah sie einfach, dazu freute er sich einfach zu sehr über das Wiedersehen. „Gut siehst du aus mein Junge“, brachte er mit heiserer und rasselnder Stimme hervor. „Und groß bist du geworden. Sehr groß sogar. Ganz wie dein Vater. Das Aussehen hast du aber von deinem Urgroßvater.“ Der alte Mann war so überglücklich, dass er sogar ein paar Tränen vergoss. Er musste in den letzten Jahren ziemlich einsam gewesen sein, nachdem seine Frau Maude einer Hirnembolie erlag. Dathan war froh, dass er diesen Weg auf sich genommen hatte, da er einem sterbenden alten Mann wenigstens eine letzte Freude machen konnte. „Mein Junge“, sprach Harrison gedehnt. „Es tut mir wirklich Leid, dass du mich in diesem Zustand sehen musst und ich wünschte, ich hätte mich schon viel früher bei dir melden können. Aber leider wollte es meine Gesundheit einfach nicht. Mehrere Chemotherapien habe ich über mich ergehen lassen, einen Hirntumor haben sie letztes Jahr bereits entfernt und jetzt wird mir meine Leidenschaft für Zigarren zum Verhängnis. Das Leben kann manchmal grausam sein. Ich konnte nicht einmal zur Beerdigung meiner Enkelinnen.“

„Schon gut, ich verstehe das.“ Ein Hirntumor auch noch. Der alte Harrison hatte wirklich ein schweres Kreuz zu tragen. „Ich war selbst erstaunt, ein Schreiben von deinem Notar zu erhalten.“

„Ich hätte dir ja selbst gern geschrieben, aber inzwischen kann ich nicht mal mehr einen Stift länger als fünf Minuten halten. Diese verdammten Chemotherapien haben mich im Grunde mehr kaputt gemacht als der Krebs. Ironischerweise ist mein Haar das einzige, was die Chemo nicht eingefordert hat.“ Ein bitteres Lächeln zog sich über die trockenen, aufgesprungenen Lippen des alten Mannes. „Aber du kannst beruhigt sein, meine Nichte wird sich um meine Angelegenheiten kümmern, wenn ich abberufen werde. Ich habe eine Lebensversicherung abgeschlossen, die die Bestattungskosten vollständig decken wird. Ich möchte dir nicht auch das noch zumuten, nach all dem, was du durchmachen musstest.“

„Und was für familiäre Angelegenheiten hast du dann mit mir zu besprechen?“ fragte Dathan irritiert, denn eigentlich hatte er damit gerechnet, dass sein Großvater ihn bitten würde, sich um diese Angelegenheiten zu kümmern. Wollte er also doch über den Familienstreit sprechen? „Dathan, ich habe eigentlich nichts Materielles zu vererben. Mein Haus ist baufällig und wird abgerissen und die ganzen Möbel werden der Wohlfahrt und der Heilsarmee gestiftet. Es gibt aber etwas, das ich dir zu vererben verpflichtet bin. Dies hätten eigentlich deine Eltern tun sollen, wenn du 18 Jahre alt bist, aber sie leben ja inzwischen nicht mehr.“ Dathan rückte ein wenig näher, um ihn besser verstehen zu können, da der alte Mann recht leise sprach und somit nicht leicht zu verstehen war. „Dathan, der Name Lumis wird schon seit knapp zweihundert Jahren an jedes männliche Familienmitglied weitervererbt. Kannst du dir vorstellen warum?“ Der 18-jährige zuckte nur mit den Achseln, denn er konnte sich keinen triftigen Grund für diese Namensvererbung erklären. Harrison atmete, so gut er konnte, tief durch und sammelte für seinen folgenden Bericht all seine Kräfte, denn er würde sie noch brauchen. „Der Name hängt mit einer sehr wichtigen Aufgabe zusammen, die an jedes Familienmitglied der Kinsley-Söhne weitervererbt wird. Und da die meisten von uns nicht mehr leben, liegt es nun an dir, diese Aufgabe zu erfüllen. Glaub mir, ich würde dir das gerne ersparen, aber da du dich von allen anderen unterscheidest, glaube ich, dass du der Einzige bist, der sie erfüllen kann.“

„Was für eine Aufgabe?“

Wieder atmete der alte Mann tief durch, schloss seine Augen und schwieg für einige Augenblicke, bevor er weitererzählte. „Unser Vorfahre Lumis Kinsley hat von 1797 bis 1886 in einer Stadt namens Backwater gelebt. Der Name sagt dir vielleicht etwas, es existierte mal eine Oper über die dort stattgefundene Tragödie. Nur mit dem Unterschied, dass Backwater irgendwo in den Südstaaten der USA lag und nicht in England. Lumis war der Sohn von Teresa Kinsley und William Bordon, der nach der Heirat Teresas Familiennamen annahm, obwohl dies damals alles andere als üblich war. Er hatte zwei Schwestern namens Christie und Sally-Ann. Teresa war Lehrerin in der hiesigen Grundschule und William arbeitete mit Teresas Bruder Marcus auf der Farm „Shady Oaks“ und die Familie lebte auch dort. Im November 1812 ereignete sich dann schließlich die Tragödie von Backwater, bei welcher die gesamte Familie starb und nur der damals 12-jährige Lumis überlebte.“

„Dann wird der Name weiterverebt, um an die Tragödie zu erinnern?“

„Nein, lass mich bitte ausreden. Du musst nämlich wissen, dass damals in der Familie jemandem genauso ein hartes Schicksal widerfuhr wie dir. Dieser Jemand verfügte auch über diese Kraft wie du und war schließlich für die Tragödie verantwortlich. Und ironischerweise waren es dieselben Motive: Rache. Die Tragödie ereignete sich nämlich kurz nach dem Tode der Familie. Im Grunde genommen war genau der Tod dieser Familie Auslöser für die Zerstörung der Stadt.“

Robert

Ich habe schon viele Geschichten über gruselige Puppen gehört, die besessen sind und sich auffällig benehmen. Natürlich können solche Geschichten unmöglich wahr sein, ebenso wenig wie die von Chucky. Aber erst letztens hörte ich von Robert der Puppe aus Florida und konnte nicht glauben, dass diese Geschichte sogar tatsächlich passiert ist. Ich werde sie so gut es geht erzählen:
 

Im Jahre 1898 ließ das Ehepaar Otto das heutige Kunsthaus in Keywest Florida bauen und das war so ungefähr der Beginn der Geschichte um Robert. Das Ehepaar behandelte die Bediensteten schlecht und später schenkte die Tochter eines Bediensteten Eugen, dem Sohn der Ottos, eine Puppe mit dem Namen Robert. Diese wurde zu Eugens ständigem Begleiter, er nahm sie überall hin mit und sie waren unzertrennlich. Oft hörten die Eltern, dass Eugen mit Robert redete und daran wäre ja eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn da nicht eine völlig fremde Stimme sogar antworten würde. Zuerst hielten es die Eltern für eine Einbildung, aber auch die Bediensteten hörten diese Stimme, die da mit Eugen sprach. Kurz darauf ereigneten sich einige Zwischenfälle. Sachen wurden zerstört, es ereigneten sich Unfälle und immer wenn die Eltern ihren Sohn fragten, sagte dieser bloß, dass Robert es getan habe. Natürlich glaubten die Eltern ihm nicht, doch Freunde und Bekannte mussten zugeben, dass ihnen die Puppe unheimlich war. Auch wenn es vollkommen absurd klang, dass eine völlig harmlose Puppe ein Eigenleben entwickeln und Sachen zerstören könnte, so schlossen sie nicht aus, dass Robert tatsächlich etwas mit den Zwischenfällen zu tun haben könnte.

Sowohl Bedienstete als auch Freunde und Verwandte erzählten, dass sie ein unheimliches Kichern vom Turmzimmer oder das Getrappel kleiner Füße hören konnten. Und wenn sie nachschauen gingen, würde diese Puppe da stehen und sie bösartig angrinsen. Nachdem Eugens Eltern Jahrzehnte später starben, kam er mit seiner Frau zurück in sein Elternhaus, um es zu räumen und selbst zu beziehen. Dabei entdeckte er zufällig Robert auf dem Dachboden, den er vor langer Zeit dort zurückgelassen hatte. Dieser hatte, im Gegensatz zu den anderen Dingen im Haus, nicht einmal Staub angesetzt und sah noch wie neu aus. Seine Frau jedoch weigerte sich vehement, dieses schreckliche Ding vom Dachboden zu holen. Sie wolle es nicht im Haus haben. Eugen reagierte daraufhin äußerst gereizt und sagte ihr, dass Robert ein eigenes Zimmer bräuchte, von dem er auf die Straße sehen könne. Daraufhin kam es zu einigen unerklärlichen Geschehnissen, die Eugens Frau mit der Puppe in Verbindung brachte: Einige Dinge waren plötzlich nicht mehr an ihrem Platz, Mal war ein Teller zerbrochen oder Bilder waren mit einem Messer zerstört worden. Eugens Frau bekam es mit der Angst zu tun und überredete ihren Mann schließlich, die Puppe wieder auf dem Dachboden einzuschließen. Aber diese Vorfälle nahmen kein Ende. Hausbesucher berichteten, dass vom Dachboden her oft ein unheimliches und böses Gekicher und Fußgetrappel zu hören sei. Kinder auf der Straße beschwerten sich, dass Robert am Fenster des oberen Flures stehen würde und sie beschimpfte und bedrohte. Als Eugen das hörte, ging er auf dem Dachboden nachsehen und war überrascht, dass er die Puppe nicht mehr dort fand. Stattdessen saß Robert in einem Schaukelstuhl vor der Bodentür und wippte vor sich hin.

Im Jahre 1972 starb Eugen Otto eines natürlichen Todes, jedoch nahm der seltsame Spuk noch lange kein Ende. Als nämlich eine neue Familie einzog, fand die zehnjährige Tochter Robert auf dem Dachboden und holte ihn, um ihn zu behalten. Die nächsten 30 Jahre wurden für sie zum Alptraum und selbst heute behauptet die inzwischen 52-jährige Frau, dass die Puppe sie terrorisierte und sie töten wollte.
 

Aus Aufzeichnungen von Eugens Mutter geht hervor, dass sie selbst ein äußerst unheimliches Erlebnis mit dieser Puppe gemacht hat. Als Eugen 10 Jahre alt war, habe er eines Nachts plötzlich laut geschrieen und lautes Gepolter und bösartiges Gelächter waren im ganzen Haus zu hören. Sie eilte nach oben ins Turmzimmer, jedoch war die Tür verschlossen und aus dem Zimmer waren die entsetzlichen Angstschreie ihres Kindes zu hören, als würde es gleich sterben. Außerdem hörte sie deutlich, dass Möbel umgeworfen wurden. In ihrer Panik schaffte sie es schließlich, die Tür zu öffnen und fand zu ihrem Entsetzen das Zimmer völlig verwüstet vor. Eugen kauert zitternd auf dem Bett und weint. Die Puppe sitzt auf dem Bettende. Bevor die Mutter fragen kann, was denn um Himmels Willen passiert sei, deutet der Junge auf die Puppe und sagt „Robert war es…“ Und in dem Moment glaubte sie, etwas Unheimliches und Bedrohliches in den pechschwarzen Glasaugen der Puppe gesehen zu haben und dass diese sie boshaft angrinse.
 

Heute befindet sich Robert im Key West Martello Museum und sowie Besucher als auch Angestellte berichteten von leisen Klopfgeräuschen, als versuche die Puppe, die Vitrine zu öffnen. Natürlich werden viele Zweifler behaupten, dass dies alles nur dummes Geschwätz und bloß Schauergeschichten wären. Aber Robert gibt es und auch Eugens Grab existiert. Aber das Unheimlichste an dieser ganzen Sache ist, dass eines Morgens die Vitrine offen stand und Robert verschwunden war. Im Museum fehlte nichts und auch sonst war nichts gestohlen worden. Die Polizei fand schließlich heraus, dass es keine Fingerabdrücke auf der Vitrine gäbe. Sie musste von innen geöffnet worden sein.

Annabelle

Allein in Amerika existieren unzählige Geschichten über besessene Puppen und damit sind nicht jene Geschichten gemeint, die man sich nachts beim Campinglagerfeuer erzählt. Diese typischen Storys, die immer mit „Eine Mutter kaufte ihrer Tochter eine Puppe“ anfangen. Im berüchtigten Key West Martello Museum sind mehrere dieser „Haunted Dolls“ ausgestellt, darunter wohl die berühmtesten von allen: Robert und Annabelle. Annabelle stand im Mittelpunkt eines Falls der Ermittler Ed und Lorraine Warren für paranormale Phänomene während der frühen 1970er und wurde dadurch berühmt. Der Fall wurde schließlich in dem Buch „Der Dämonologe“ besonders hervorgehoben und stellt einen der ungewöhnlichsten Fälle eines bislang festgestellten besessenen Objektes dar.
 

Dies ist die wahre und schockierende Geschichte einer Raggedy Ann Puppe namens Annabelle.
 

1970 kaufte eine Mutter eine uralte Raggedy Ann Puppe aus einem Hobbygeschäft und schenkte sie ihrer Tochter Donna zu ihrem Geburtstag. Für alle die nicht wissen, was eine Raggedy Ann Puppe ist: Die „zerlumpte Ann“ ist die Hauptfigur einer alten Kinderbuchreihe, die vom amerikanischen Autor und Illustrator Johnny Gruelle im Jahre 1918 erschaffen und erstmals veröffentlicht wurde. Die Stoffpuppe mit den feuerroten Haaren, dem blauen Kleid und der weißen Schürze wird in der Geschichte lebendig, wenn keine Menschen da sind. Sie entstand nach dem Vorbild einer Puppe, die Gruelle für seine 1916 im Alter von 13 Jahren verstorbene Tochter kreiert und ein Jahr zuvor patentieren ließ. Die Buchreihe wurde berühmt und ging in die Massenproduktion. Bis heute ist Raggedy Ann sehr berühmt und Hauptfigur in mehreren Zeichentrickfilmen und einer Zeichentrickserie.

Donna, war zu der Zeit eine Collegestudentin, die einen Pflegeberuf erlernen und Krankenschwester werden wollte. Sie teilte sich ein winziges Apartment mit ihrer Mitbewohnerin Angie, die ebenfalls in die gleiche berufliche Richtung wie Donna gehen wollte. Donna mochte Annabelle und platzierte sie als Dekoration auf ihr Bett und ließ sie dort, ohne sich weiter großartig um sie zu kümmern. Ein paar Tage später bemerkte sie jedoch, dass die Puppe etwas Seltsames und Unheimliches an sich hatte. Anscheinend bewegte sich die Puppe selbstständig, indem sich ihre Position leicht verändert war. Zuerst waren diese Veränderungen gering und es fiel zunächst kaum auf, doch dann wurden sie immer auffälliger. Als Donna und Angie eines Tages nach Hause kamen, fanden sie Annabelle in einem anderen Zimmer, wo sie zuvor gar nicht war. Manchmal saß die mit überkreuzten Beinen und gefalteten Händen auf der Couch, ein anderes Mal stand sie aufrecht auf ihren Füßen oder war gegen einen Stuhl im Esszimmer gelehnt. Wenn Donna die Puppe auf die Couch platzierte, bevor sie zur Arbeit ging, fand sie die Puppe auf dem Bett in ihrem Zimmer, wenn sie zurückkehrte. Und die Tür war geschlossen. Es schien jedoch so, als würde die Puppe sich nicht nur von selbst bewegen, sondern auch zu schreiben. Eines Monats nämlich fanden Donna und Angie mehrere geschriebene Nachrichten auf Pergamentpapier, auf dem sie „Hilf uns“ oder „Hilf Lou“ lasen. Das Unheimliche war jedoch nicht der Inhalt der Nachricht, sondern die Tatsache, dass weder Donna noch Angie Pergamentpapier benutzten, geschweige denn überhaupt besaßen. Also woher stammte es bloß?
 

Eines Nachts kehrte Donna nach Hause zurück und stellte fest, dass sich die Puppe wieder bewegt hatte. Dieses Mal aber über ihr Bett. Donna wusste zwar, dass dies eigentlich typisch für Annabelle war, aber das Gefühl beschlich sie, dass es anders war und etwas nicht in Ordnung sei. Sie bekam Angst, als sie die Puppe näher untersuchte und feststellte, dass da Blutstropfen auf dem Rücken, auf der Brust und an den Händen der Puppe waren. Erschrocken und verzweifelt entschieden Angie und Donna, sich professionelle Hilfe zu suchen. Da sie jedoch keine Ahnung hatten, an wen sie sich denn wenden konnten, kontaktierten sie ein Medium, um eine Sèance abzuhalten. Dabei stießen sie auf dem Geist eines Mädchens namens Annabelle Higgins. Das Medium offenbarte Donna und Angie schließlich die Geschichte des Mädchens. Annabelle war ein junges Mädchen, das auf dem Grundstück lebte, bevor die Apartments dort gebaut wurden. Sie war gerade mal sieben Jahre alt, als ihr lebloser Körper dort gefunden wurde, wo nun der Apartment-Komplex stand. Der Geist offenbarte dem Medium, dass er sich bei Donna und Angie wohl fühlte und bei ihnen bleiben wollte, indem er in die Puppe überging. Aus Mitleid zu Annabelle für ihre Geschichte, gab Donna ihr die Erlaubnis, in die Puppe überzugehen und zu bleiben. Doch sie sollten schon sehr bald herausfinden, dass Annabelle nicht die war, die sie zu sein schien.
 

Lou, ein Freund von Donna und Angie, hatte mit ihnen zusammengehangen, seit die Puppe auftauchte. Er hasste die Puppe und warnte Donna mehrmals davor, dass das Ding böse war und Donna sie unbedingt loswerden musste. Doch sie hatte Mitleid mit der Puppe und glaubte nicht an Lous böses Gefühl und behielt sie deshalb. Diese Entscheidung sollte sich als schrecklicher Fehler herausstellen. Lou wachte eines Nachts panisch aus dem Tiefschlaf aus. Wieder einmal hatte er diesen einen, wiederkehrenden bösen Traum. Doch dieses eine Mal schien etwas anders zu sein. Es war, als wäre er war, jedoch konnte er sich nicht bewegen. Er sah sich im Zimmer um, konnte aber zunächst nichts Ungewöhnliches in der Dunkelheit erkennen, doch dann passierte es. Als er nämlich auf das Fußende seines Bettes sah, da sah er die Puppe Annabelle. Sie glitt langsam sein Bein hoch, zog über seine Brust und stoppte schließlich. Und dann, urplötzlich, begann die Puppe ihn zu würgen. Gelähmt und nach Atem ringend und dann, kurz vor dem Ersticken, wurde Lou ohnmächtig. Als er am nächsten Morgen erwachte, war er sicher, dass es kein Traum war und Lou war fest entschlossen, die Puppe und den Geist ein für alle Male loszuwerden. Doch es war nicht die letzte, schreckliche Erfahrung, die er noch mit Annabelle machen würde.
 

Lou und Angie, die am nächsten Tag eine Reise vorbereiteten, lasen alleine Karten in ihrer Wohnung. Es war unheimlich still. Doch dann kam plötzlich ein Rascheln von Donnas Zimmer her und erschrocken fuhren die beiden hoch, da sie glaubten, es könnten Einbrecher sein. Lou wollte herausfinden, wer oder was da ins Schlafzimmer gegangen war. Er wartete, bis die Geräusche stoppten und betrat dann das Zimmer, wobei er das Licht einschaltete. Das Zimmer war leer, bis Auf Annabelle, die auf dem Boden in der Ecke lag. Lou durchforstete den Raum und suchte nach einem Indiz für ein gewaltsames Eindringen, aber vergeblich. Doch als er in die Nähe der Puppe kam, da beschlich ihn das Gefühl, dass da plötzlich jemand hinter ihm war. Er drehte sich um, stellte aber schnell fest, dass da niemand sonst war. Im nächsten Augenblick fand er sich selbst wieder, als er sich an die Brust griff, die voller tiefer und blutiger Wunden war. Sein Hemd war voller Blut und als er es öffnete, sah er etwas, das nach sieben verschiedenen Kratzspuren aussah.
 

Donna war schließlich bereit zu glauben, dass der Geist im Haus nicht der eines Mädchens war, sondern von unmenschlicher und dämonischer Natur. Nach Lous Erfahrungen mit Annabelle wurde Donna schließlich klar, dass es an der Zeit war, einen echten Experten zu suchen und kontaktierte daraufhin einen Episkopatpriester namens Pater Hegan. Dieser leitete den Fall an Ed und Lorraine Warren weiter. Diese entwickelten schnell großes Interesse für diesen Fall und kontaktierten Donna schließlich bezüglich der Puppe. Nach Stundenlangem Kopfzerbrechen waren sie zu dem Schluss gekommen, dass die Puppe selbst nicht direkt besessen war. Geister beeinflussen keine Objekte wie Häuser oder Spielsachen, sondern Menschen. Ein Geist hängt sich an ein Objekt und das ist es, was in Annabelles Fall eingetreten ist: Der Geist bewegt die Puppe und schuf die Illusion, dass diese ein Eigenleben besitze. In Wahrheit war dieser Geist gar nicht darauf aus, in der Puppe zu bleiben, er suchte nach einem menschlichen Wirt. Der Geist, oder in diesem Falle ein unmenschlicher dämonischer Geist, hatte schon längst zuvor das Haus befallen. Er begann die Puppe in der Wohnung mittels Teleportation zu bewegen in der Hoffnung, dass diese den vorhersehbaren Fehler begehen würden, ein Medium ins Haus zu bringen, um mit ihm zu kommunizieren. Das hatten die Mädchen auch getan. Er nutzte die emotionale Schwachstelle der Mädchen, indem er vorgab, ein harmloses kleines Mädchen zu sein. Und während der Sèance gelang es ihm, Donna die Erlaubnis abzuringen, frei in der Wohnung zu spuken. Insoweit als dämonischer oder negativer Geist, hat er dann verschiedene Phänomene verursacht. Er hat Angst durch die seltsamen Bewegungen dieser Puppe und durch die verstörenden, handschriftlichen Notizen verbreitet, ließ Blutrückstände auf der Puppe zurück und attackierte sogar Lou und riss tiefe Kratzwunden in seiner Brust. Die nächste Phase des Phänomens wäre vollständige Besitzergreifung eines Menschen. Hätten diese Vorfälle zwei oder drei Wochen angedauert, dann hätte der Geist vollständig Besitz ergriffen. Im schlimmsten Falle hätte er sämtliche Hausbewohner verletzt oder sogar getötet.
 

Am Ende der Untersuchung waren die Warrens der Meinung, es wäre angebracht, eine Rezitation einer exorzistischen Segnung durch einen Priester zu halten, um die Wohnung zu reinigen. „Die Episkopahle Segnung des Hauses ist ein wortreiches, siebenseitiges Dokument, das von deutlich positiver Natur ist. Statt sich auf eine spezielle Vertreibung des bösen Wesens aus der Wohnung zu konzentrieren, liegt hier der Schwerpunkt darin, das Haus mit der Kraft des Positiven und der von Gott zu füllen.“ (Ed Warren). Auf Donnas Wunsch hin und als weitere Vorsichtsmaßnahme gegen weitere paranormale Phänomene im Haus, nahmen die Warrens die Puppe bei ihrer Abreise mit.
 

In den nächsten Tagen, nachdem die Warrens zuhause angekommen waren, setzte Ed die Puppe auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch. Die Puppe schwebte am Anfang einige Male, dann fiel sie jedoch um. In den folgenden Wochen zeigte sich, dass die Puppe immer wieder die Räume wechselte, wenn die Warrens nicht im Hause waren. Und obwohl sie die Büroräume abschlossen, wenn sie weggingen, fanden sie Annabelle bei ihrer Rückkehr in Eds Sessel sitzend. Obwohl das Phänomen dasselbe war wie bei Donna, wurden weder Lorraine und Ed jemals körperlich angegriffen.
 

Heute ist Annabelle im Warren Museum für Okkultismus in einer Vitrine ausgestellt. Über dem Griff, der die Vitrine öffnet, ist eine Tarotkarte befestigt, die den Teufel darstellt. Und vor der Vitrine steht ein Schild mit der Warnung, dass man die Virtrine absolut niemals öffnen darf!

The Smiling Sam Killer

„Serienmörder nach wie vor auf freiem Fuß, Harvock in Angst und Schrecken. Ein Jahr nach den mysteriösen Toden von 30 Schülern der Harvock High School wurden bereits zehn Menschen Opfer des brutalen Serienkillers Smiling Sam. Ein Muster des Mörders ist bislang noch nicht erkennbar und die Polizei tappt noch im Dunkeln. Ein Pressesprecher gab jedoch bekannt, dass Smiling Sam ausschließlich nachts zuschlage und unerkannt in Häuser eindringen kann. Seine Tötungsweise ist brutal und er neigt dazu, seine Opfer mit diversen Messerstichen zu töten. Trotz Alarmanlagen gelingt es dem Serienmörder immer wieder, sich Zutritt zu verschaffen und die Hausbewohner zu töten. Als Reaktion auf diese blutige Mordserie wurden Bürgerwehren ins Leben gerufen, die in der Nachbarschaft patrouillieren und selbst für ihren Schutz sorgen. Die Polizei warnt jedoch davor, diese Bürgerwehrbewegungen in Hexenjagden ausarten zu lassen. Kurz nach Einberufung der Bürgerwehr wurde 15-jährige Tyler Wesley erschossen, da er mit dem Smiling Sam Killer verwechselt wurde. Die Polizei rate dazu, die Augen offen zu halten und Verdächtige sofort zu melden. Das letzte Opfer, die 13-jährige Lorraine R. überlebte mit schweren Verletzungen und berichtete alle Details über die Nacht, in der Smiling Sam sie zu töten versuchte.“
 

„Es war stockfinster und mitten in der Nacht, als ich durch ein Geräusch in meinem Zimmer aufwachte und einen Schatten im Zimmer sah, der vorher noch nicht da gewesen war. Zuerst dachte ich, es wäre mein Vater, der von der Nachtschicht nach Hause kam und nach dem Rechten sehen wollte oder mein Bruder, der versuchte, meine Spardose zu knacken. Doch als ich das Licht einschaltete, sah ich da diesen blonden Mann, der ein Messer in der Hand hielt. Er hatte das unheimlichste und wahnsinnigste Grinsen auf den Lippen, das ich jemals gesehen hatte. Ich war so vor Angst erstarrt, dass ich weder schreien noch mich überhaupt bewegen konnte. Dabei konnte ich noch nicht einmal sagen, was mir so sehr Angst eingejagt hat. Dieses wahnsinnige Grinsen oder das Messer in seiner Hand. Es schien so, als sei er von einer Art monströsen Aura umgeben. Anders kann ich das nicht beschreiben. Ich war so erstarrt, dass er mich mühelos am Hals packen und mich ins Kissen zurückdrücken konnte. Dabei hatte er gesagt „Warum so ängstlich? Lach doch, Gott liebt dich!“ Mir war klar, dass ich sterben würde, wenn ich nicht schnell etwas unternehmen würde und irgendwie gelang es mir, zu schreien und somit meine Eltern zu wecken. In dem Moment stach er mir das Messer in den Bauch und dann begann er damit, mir Schnittwunden im Gesicht zuzufügen. Mein Vater kam mit seinem Gewehr herein und feuerte einen Schuss ab, um den Kerl von mir wegzujagen. Doch dieser lachte nur und stürzte sich dann auf meinen Dad. Er stach ihm drei Male in die Brust und fügte meiner Mum eine tiefe Schnittwunde im Gesicht zu. Ich versuchte aufzustehen, doch die Wunde, die er mit zugefügt hatte, war tief und blutete immer stärker. Der Schmerz zwang mich, liegen zu bleiben. Zum Glück bewahrte ich mein Handy in greifbarer Nähe auf und wählte die Nummer der Polizei. Ich hatte aber zu viel Angst, um etwas zu sagen, da ich fürchtete, dass er sich sofort auf mich stürzen würde, um mich zum Schweigen zu bringen. Stattdessen ließ ich das Handy offen liegen und die Schreie meiner Familie aufzunehmen. Schließlich schaffte Dad es, mit dem Gewehr einen Schuss abzufeuern und den Messerstecher zu treffen. Doch dieser zeigte gar keine Reaktion, er schien es nicht einmal zu spüren. Stattdessen lachte er nur wie ein Wahnsinniger und attackierte meine Eltern so lange, bis endlich die Polizeisirenen in der Ferne zu hören waren. In dem Moment ließ er von ihnen ab und floh durchs Fenster, durch welches er zuvor eingedrungen war. Der Krankenwagen brachte mich und meine Eltern ins Hospital und erst später erfuhren wir von den beiden ermittelnden Kommissaren, dass der Einbrecher der Smiling Sam Killer war. Dabei betonte er auch, dass wir ungeheures Glück hätten, noch am Leben zu sein. Denn für gewöhnlich überlebte niemand den grinsenden Mörder.
 

Aus Angst davor, dass er zurückkehren könnte, sind wir weit weg gezogen und wurden ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Solange dieses Monster nicht gefasst ist, werden wir keine ruhige Minute haben und immer in Angst leben müssen. Jede Nacht leide ich unter Alpträumen. Ich trau mich nicht aus dem Haus, ich habe Angst davor, einzuschlafen oder überhaupt allein zu sein. Wir haben alles getan, um uns vor diesem Irren zu verstecken, doch er hat uns immer wieder gefunden und terrorisiert uns. Kaum sind wir umgezogen, finden wir immer wieder Nachrichten von ihm, die so viel bedeuten wie „Ich weiß wo ihr seid, ihr könnt nicht fliehen“ oder „Ihr werdet heute Nacht sterben!“. Zwar haben wir eine FBI Eskorte zu unserem Schutz, doch ich glaube kaum, dass es den Smiling Sam Killer aufhalten wird, uns endgültig zu töten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er endlich zuschlagen und uns abstechen wird.“

Annie - Die Vorgeschichte

Seit ich klein war, habe ich die Sommer immer auf der Farm meiner Tante verbracht, die irgendwo im Niemandsland war und dort blieb ich bis zum Herbst. Meine Eltern waren beide berufstätig und im Sommer meist auf Geschäftsreisen, weshalb sie mich nicht alleine lassen konnten. Ich selbst wurde nie gefragt. Sie haben mich einfach samt meiner Sachen ins Auto geladen und dort hinten abgesetzt und mir viel Spaß gewünscht. Dafür habe ich meine Eltern gehasst. Einen ganzen Sommer auf einer langweiligen Farm, wo der Tag schon um 5 Uhr begann und es überall nach Kuhmist stank. Viel lieber hätte ich mit meinen Freunden den Sommer verbracht, statt im Heu zu wühlen. Die einzigen Kinder, mit denen ich hätte spielen können, waren Steve, Spencer, Jimmy und Annie. Annie war das jüngste Kind in der Nachbarschaft und gehörte zu der Sorte Kinder, die einem ständig hinterher rannten, egal wie oft man versuchte, sie loszuwerden. Als ich Annie zum ersten Mal traf, war sie knapp drei Jahre alt gewesen und sie sah aus, wie Anne mit den roten Haaren aus den Büchern. Sie könnte aber auch „Little Orphan Annie“ sein, jedoch waren deren Haare extrem lockig und außerdem etwas kürzer. Sie hatte feuerrotes Haar, das sie zu Zöpfen zusammengeflochten hatte und sie trug meist ein hellblaues Kleid. Annie war die kleine Schwester von Spencer und auch dieser schien sie nicht sonderlich gut leiden zu können. Wie wir alle war er von ihr genervt und versuchte sie bei jeder Gelegenheit abzuschütteln.

Ich war zehn oder elf Jahre alt, als ich wieder auf die Farm geschickt wurde. Der Sommer war brütend heiß und es herrschte zu dieser Zeit eine hohe Brandgefahr, da das Gestrüpp und das Gras völlig ausgetrocknet waren. Geregnet hatte es seit fast zwei Wochen nicht mehr und die meiste Zeit verbrachte ich mit Steve, Spencer und Jimmy damit, mit dem Fahrrad zum See zu fahren, wo wir uns eine Abkühlung verschaffen konnten. Wir stellten die Fahrräder beiseite und zogen unsere Klamotten aus, die wir über unseren Badehosen getragen hatten. Gleich sofort starteten wir ein Wettrennen, wer als Erstes im Wasser war und ganz knapp gewann Jimmy, dicht vor mir. Spencer war der Letzte, was aber auch daran lag, dass er mittendrin stehen blieb und sich umdrehte. Grund dafür war Annie, die uns wie immer gefolgt war. Sie hatte ihr Stofftier, einen ziemlich ramponierten Stoffhasen dabei und rief uns zu. „Verdammt Annie, hör auf uns ständig hinterher zu laufen.“

„Darf ich auch mitspielen?“ fragte sie völlig unbeeindruckt in dem gleichen quengelnden Ton, wie sie ihn immer an den Tag legte, wenn sie um etwas bat. Sie schien dabei überhaupt nicht zu merken, dass sie uns auf die Nerven ging. Man muss aber auch vor Augen halten, dass Annie damals gerade erst fünf Jahre alt war und viele Kinder oft dazu neigten, die Abweisungen anderer Kinder zu ignorieren, besonders wenn sie so fürchterlich anhänglich waren. „Nein, du darfst nicht mitspielen, Annie! Geh nach Hause, wir wollen nicht mit dir abhängen!“ Doch Annie bewegte sich nicht von der Stelle und so beschlossen wir, sie zu ignorieren. Stattdessen begannen wir nun damit, Steine aufzusammeln und sie ins Wasser zu werfen. Daraus wurde wieder ein kleiner Wettstreit, wer denn am weitesten werfen konnte. „Deine Schwester ist echt nervig“, sagte Steve schließlich, als er einen großen, faustgroßen Stein ins Wasser warf. „Kannst du nicht irgendetwas machen, dass sie uns endlich von der Backe bleibt?“

„Was soll ich schon machen? Meine Eltern sagen mir ja ständig, ich soll sie gefälligst mitnehmen. Mich kotzt es doch auch total an. Ich würde sie ja auch am liebsten loswerden und das am besten für immer. Geschwister nerven doch nur.“ Steve, ich und Jimmy waren Einzelkinder und somit fiel Spencer aus der Reihe mit Annie. Er selbst wäre auch lieber ein Einzelkind wie wir oder zumindest hätte er lieber einen gleichaltrigen Bruder, mit dem man wenigstens Spaß haben konnte. Aber eine Klette wie Annie wollte keiner von uns als Schwester haben. Manchmal, wenn wir von unseren Eltern oder wie in meinem Falle von meiner Tante genötigt wurden, mit Annie zu spielen, versuchten wir es immer per Losung auszumachen. Keiner wollte von uns freiwillig mit Annie spielen, denn sie war viel zu jung und außerdem ein Mädchen. Und meist war es so, dass Mädchen und Jungs sich in dem Alter gegenseitig nicht ausstehen konnten. Dies äußerte sich auch insbesondere dadurch, dass die meisten Jungs sich zu irgendwelchen Anti-Mädchen-Clubs zusammenschlossen. Nun, wir hatten unseren „Wir hassen Annie“ Club. Dabei war es nicht in unserer Absicht, dass wir sie schikanierten und quälten. Wir schlossen sie ganz einfach aus und machten ihr klar, dass wir nichts mit ihr zu tun haben wollten. Sie machte es einem auch nicht wirklich leicht, sie nicht zu hassen. Annie war eine weinerliche Nervensäge.

Die ganze Zeit, während wir am See spielten, Steinchen warfen oder Schiffchen schwimmen ließen, blieb Annie in der Nähe und fragte immer wieder, ob sie mitspielen durfte. Wir ignorierten sie jedoch und als es Abend wurde, schnappten wir unsere Räder und fuhren zurück. Drei mal dürft ihr raten, wer uns folgte. Wir vier verabredeten uns, dass wir am nächsten Tag in den Wald gehen würden, wo wir ein eigenes Clubhaus hatten. Dieses hatte Jimmys Vater gebaut und es befand sich oben auf einem Baum und besaß eine Strickleiter. Dies brachte uns den Vorteil, dass wir somit ganz ungestört waren und Annie loswerden konnten.

Es war knapp neun Uhr, als ich meine Lieblingscomics, ein paar belegte Brote und zwei Dosen Cola in den Rucksack packte und mich gerade von meiner Tante verabschieden wollte. „Wo gehst du denn hin?“ fragte sie mich, da sie eigentlich erwartet hatte, dass ich erst am Nachmittag weggehen würde. „Ich treff mich mit den anderen im Clubhaus.“

„Dann sei aber wieder zurück, bevor es dunkel wird und pass bitte auf dich auf. Manchmal treiben sich merkwürdige Gestalten im Wald herum. Also vergiss nicht: Sprich nicht mit Fremden, nimm nichts von ihnen an und gehe nicht mit ihnen mit.“

„Jaha…. Das weiß ich doch. Ich bin doch kein Baby so wie Annie.“ Ich setzte meinen Rucksack auf und verabschiedete mich von meiner Tante. Draußen wartete bereits Jimmy auf mich, der gerade einen tiefen Zug von seinem Asthmaspray nahm und mich durch seine Brille hindurch anschaute, die seine Augen so stark vergrößerte, dass wir ihn auch zum Spaß Jiminy Cricket nannten. „Und? Bist du soweit fertig?“ fragte er mich und machte noch mal Gebrauch von seinem Asthmaspray. An der Straße wartete bereits Steve ungeduldig und rief uns zu, dass wir uns beeilen sollten. An seinen Knien, Ellebogen und Schienbeinen hatte er mehrere Pflaster, da er oft riskante Stunts vollführte und sich dabei immer wieder Kratzer und Schürfwunden zuzog. Markant an ihm war auch seine rote Baseballcap mit dem Logo seiner Lieblingsmannschaft, die er wirklich niemals abnahm, außer vielleicht zum Baden und Schlafen. Außerdem hatte er eine große Lücke zwischen seinen oberen Vorderzähnen, durch die er sogar kleine Wasserfontänen spritzen konnte. Er würde demnächst eine Zahnspange bekommen, jedoch war er vehement dagegen, weil er nicht wie ein Loser aussehen wollte. Wir setzten uns auf die Räder und fuhren den Weg entlang, bis wir auf dem kleinen Hof von Spencers Familie ankamen. Hauptsächlich hatte sich seine Familie auf die Viehzucht beschränkt und wenn nichts zu tun war, vertrieb sich Spencer die Zeit, indem er hinter den Hühnern herjagte, während Annie lieber mit der Katze spielte. Spencer hatte sich am Hühnerstall vorbeigeschlichen und hatte sein Fahrrad dabei. Wir wollten ihm schon zurufen, aber da signalisierte er uns mit Gesten, dass wir still sein sollten. Offenbar wollte er sich klammheimlich davonmachen, damit Annie uns nicht hinterherlief. Doch daraus wurde leider nichts, denn Annie hatte uns schon vom Fenster aus gesehen und kam schon herbeigeeilt. Wütend darüber drehte sich Spencer zu ihr um und rief ihr zu. „Annie, lass uns in Ruhe. Hau ab.“

„Wo wollt ihr denn hin? Ich möchte mitgehen!“

„Wir gehen in unser Clubhaus und da haben Mädchen keinen Zutritt. Also darfst du auch nicht rein.“

„Das ist unfair. Ich will auch mitspielen!“ Doch schon stiegen wir auf unsere Räder und fuhren so schnell wir konnten davon. Wir hatten nämlich keine Lust, dass Annie uns folgte. Der Weg zum Wald führte am Hof von Spencers Familie vorbei zu einer Allee, von wo es aus über eine Holzbrücke ging. Nach fünfzehn Minuten Fahrt hatten wir diese überquert und erreichten schließlich den Anfang des Waldes. Zu unserem Erstaunen stand nun dort ein Schild, welches letzten Sommer noch nicht da gewesen war. „Der Zutritt ist nach Einbruch der Dunkelheit nicht gestattet. Eltern haften für Ihre Kinder.“ Ich wandte mich an meine Freunde und fragte, seit wann das Schild denn dort stand. Keiner von ihnen wusste es so genau. „Wahrscheinlich seit letztem Winter. Da hat sich ein Kind nachts im Wald verirrt, ist in eine Grube gefallen und kam nicht mehr raus. Schließlich ist es dort erfroren.“

„Und dafür stellen die jetzt extra ein Schild auf? Ich kapier’s nicht.“ Wir fuhren weiter und erreichten nach einiger Zeit das Baumhaus. Die Fahrräder lehnten wir gegen den Baum und kletterten die Strickleiter hoch. Das Baumhaus war wirklich stabil gebaut und würde sogar einem Sturm standhalten. Es war nämlich mit zwei weiteren Stützpfeilern versehen, damit auch nichts passieren konnte. Außerdem war das Dach abgedichtet, sodass wir sogar bei Platzregen trocken blieben. Ich holte die Comics aus meinem Rucksack und verteilte sie an die anderen. Da der Ort hier sehr abgeschieden war, gab es keinen Laden, wo man sich Comichefte kaufen konnte und so waren die anderen stets begierig darauf, sich meine Sammlung anzusehen. Dadurch war mein Ansehen in der Gruppe sehr hoch gestiegen und das hatte mir es auch sehr erleichtert, mich mit den dreien anzufreunden, obwohl ich nicht von hier war. Spencer war der wohl größte Fan meiner Comicsammlung und schnappte sich direkt das Erste, was er in die Finger kriegen konnte. Doch die Leserunde sollte nicht lange währen, denn schon vernahmen wir eine vertraute, nervige Stimme, die uns laut aufstöhnen ließ. Es war Annie. Sie war uns doch hinterhergelaufen und stand nun direkt unter unserem Baumhaus. Spencer und ich lehnten uns zum Fenster raus und sahen, wie sie uns zuwinkte. „Annie, hab ich dir nicht gesagt, du sollst uns in Ruhe lassen?“

„Bitte lasst mich rein! Ich möchte mit euch mitspielen!“

„Sag mal, bist du dumm oder so was? Hau ab oder ich erzähle Mum, dass du mal wieder ins Bett gemacht hast!“ Da brachen wir alle in schallendes Gelächter aus, als wir das hörten und begannen Annie Schimpfnamen zuzurufen. Daraufhin begann sie zu weinen und rannte davon. Spencer atmete erleichtert auf und wir setzten uns zurück in die Runde. „Endlich ist sie weg.“ Und tatsächlich tauchte Annie für den Rest des Tages nicht mehr auf und als es langsam Abend wurde, kehrten wir wieder nach Hause zurück. Annie war inzwischen auch wieder auf dem Hof und hatte ihrer Mutter alles erzählt, woraufhin Spencer einen ziemlichen Anschiss bekam, wie wir anderen übrigens auch. Doch er sah sich im Recht und protestierte damit, dass Annie ihn partout nicht in Ruhe lassen wollte. Seine Mutter erklärte jedoch, dass es ihn durchaus nicht umbringen würde, wenn er seine kleine Schwester einfach mal mitspielen lassen würde. Für uns stand jedoch fest, dass eher die Welt untergehen würde, als dass wir so etwas jemals tun würden. Denn Annie war zum einen ein Mädchen und zum anderen war sie einfach zu klein. Wir konnten mit einem fünfjährigen Mädchen nichts anfangen. Sie konnte nicht mal lesen und außerdem war sie kaum zu ertragen. Wir würden also dabei bleiben, uns heimlich fort zu schleichen, Annie zu ignorieren und zu versuchen, sie irgendwie loszuwerden. Da wir für die Gemeinheiten zwei Tage Hausarrest bekamen, konnten wir uns erst später treffen und an dem Tag wollten wir mit selbst gebastelten Angeln zum See gehen, um dort Fische zu fangen. Wir stellten uns darauf ein, dass uns Annie wieder hinterherlaufen würde und tatsächlich machte sie das auch, allerdings nicht, um uns darum zu bitten, mit ihr zu spielen. Als Spencer ihr nämlich sagte, sie solle endlich abhauen, weil sie nicht mitspielen durfte, sagte sie in einem trotzigen Ton „Ich will auch nicht mitspielen. Ich hab jetzt nämlich einen Freund, mit dem ich spielen kann und der ist ab heute auch mein neuer großer Bruder!“ Dabei zog sie eine Schmollmiene und hielt ihren Stoffhasen fest im Arm. Wir glaubten ihr jedoch kein Wort, denn es gab in der Nachbarschaft weit und breit keine anderen Kinder, mit denen sie spielen konnte. Aber das war uns egal und so sagten wir ihr, sie könne ruhig verschwinden und mit ihrem neuen Freund spielen. Daraufhin sagte Annie trotzig „Das mache ich auch. Und ihr seid alle doof! Und du bist nicht mehr mein großer Bruder, Spencer!“

„Das ist mir doch egal“, rief er gereizt und spuckte aus. „Ich wollte sowieso nie eine Schwester haben. Hau doch ab und lass uns in Ruhe!“ Und siehe da, Annie ging weg und den ganzen Tag über ließ sie uns in Ruhe. Zuerst waren wir froh darüber, doch als von ihr auch am Nachmittag nichts zu sehen war, machte sich Spencer doch Sorgen. Was, wenn ihr etwas passiert war? Jimmy und Steve schafften es jedoch schließlich, ihn auf andere Gedanken zu bringen und als wir am Abend wieder zurückkehrten, war Annie wieder da und sie schien gut gelaunt zu sein. Freudestrahlend erzählte sie uns (sie wollte uns auch ein wenig neidisch machen), dass sie mit ihrem neuen Freund den ganzen Tag über mit ihr gespielt habe und er im Gegensatz zu Spencer viel netter zu ihr wäre. Wir schenkten ihren Worten jedoch keine Beachtung, weil es ganz offensichtlich war, dass sie diesen Freund doch nur erfunden hatte. Es war ein Trick, damit wir es uns anders überlegten und sie doch mitspielen ließen. So etwas wie umgekehrte Psychologie. Aber darauf fielen wir nicht rein und sagten stattdessen, dass wir froh seien, dass wir sie endlich los waren. Sie selbst streckte uns beleidigt die Zunge raus und sagte in einem trotzigen Ton „Mr. Longlegs ist sowieso viel cooler als ihr alle zusammen.“

„Wer?“

„Mr. Longlegs. So wie Daddy Longlegs.“ Damit sprach Annie auf die Figur Daddy Langbein aus dem Jean Webster Briefroman an, wo es darum ging, dass ein groß geratener Kerl mit langen Beinen der anonyme Wohltäter eines Waisenmädchens war und sie ihm monatlich Briefe schrieb. „Warum nennst du den Typen wie die Romanfigur?“

„Weil er auch ganz lange Beine hat wie eine Spinne. Er ist echt nett und er ist im Gegensatz zu euch echt cool.“

„Dein doofer Freund ist doch gar nicht echt.“ Schließlich verschwand Annie beleidigt und knallte die Zimmertür hinter sich zu. Sie blieb den ganzen Abend dort und schmollte. Wir ignorierten ihr Gezicke, denn wir wollten sowieso nichts mit ihr zu tun haben. Und außerdem waren wir der festen Überzeugung, dass Annie uns anlog und nicht zugeben wollte, dass sie keine Freunde hatte. Aber uns war es egal. Wir vier verbrachten den Abend draußen, wo wir zelten wollten. Spencers Vater machte ein Lagerfeuer, über welchem wir Marshmallows grillten. Dabei erzählten wir uns gruselige Horrorgeschichten. Angefangen vom Metzger, der Kinder zu Wurst verarbeitete und besessenen Puppen bis hin zu einem Wesen, das im Wald lebt und Kinder verfolgt, um sie anschließend zu töten. Schließlich wurde es langsam dunkel und wir verkrochen uns langsam ins Zelt. Ich wachte mitten in der Nacht auf, da wurde ich von einer Stimme geweckt, von der ich zunächst glaubte, dass ich sie nur geträumt habe. Langsam öffnete ich die Augen und setzte mich auf. Steve, Spencer und Jimmy schliefen noch und die Stimme war auch weg. Hatte ich sie mir nur eingebildet? Gerade wollte ich mich wieder hinlegen, da hörte ich wieder die Stimme. Sie war dieses Mal lauter und ich konnte so etwas wie ein „Ja“ hören und dann ein Kichern. Es klang nach einem Mädchen. Ob das Annie war? Ich war so schlaftrunken, dass ich nur mit Mühe das Zelt öffnen konnte und ich öffnete es auch nur einen Spalt breit, damit ich mich auch schnell wieder hinlegen konnte. Und tatsächlich glaubte ich, Annie in ihrem Nachthemd zu sehen. Sie stand vor ein paar Bäumen und schien ins Leere zu sprechen. Ohne nachzuschauen, mit wem Annie da überhaupt sprach, zog ich den Reißverschluss vom Zelteingang zu und legte mich wieder hin. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich mir sicher, dass ich diese seltsame Szene mit Annie, die da zu den Bäumen sprach, nur geträumt hatte. Ich konnte mich auch nur sehr schwammig daran erinnern, da ich zu müde gewesen war. Deshalb vergaß ich das auch sehr schnell wieder und zusammen gingen wir zum See, um dort schwimmen zu gehen. Auch dieses Mal lief Annie uns nicht hinterher, sondern ging in den Wald, um sich mit Mr. Longlegs zu treffen. Es war herrlich ruhig, jedoch wurde Spencer etwas unruhig. Keiner von uns hatte diesen Mr. Longlegs getroffen und was war, wenn es ein Erwachsener war, der Annie etwas antun wollte? Spencer redete mit uns darüber, jedoch sahen wir das Ganze anders. „Spencer, jetzt scheiß dich mal nicht ein. Annie zieht diese ganze Nummer doch nur ab, weil sie dich dazu bringen will, mit ihr zu spielen. Sie verarscht dich noch nur.“

„Ich glaub echt nicht, dass Annie so was macht. Die ist doch gerade erst seit drei Jahren stubenrein.“ Wir hatten alle Mühe, ihn auf andere Gedanken zu bringen und konnten doch noch den ganzen Tag Spaß haben. Schließlich aber, als wir am Abend zurückkehrten, sah ich, dass der Sheriff des Ortes bei meiner Tante war. Ich eilte ins Haus, da ich zunächst dachte, dass etwas passiert war. Meine Tante saß in ihrem Korbsessel und sprach mit dem Sheriff, wobei sie sehr ernst aussah. „Tante Liz, ist was passiert?“

„Weißt du mein Junge, der Sheriff erzählte mir gerade, dass sich eine unheimliche Gestalt im Wald herumtreibe und dass aus ganz bestimmten Gründen alle Kinder eine Ausgangssperre nach 19 Uhr haben. In den Wald dürft ihr übrigens auch nicht mehr.“

„Wie bitte? Warum das denn? Das ist nicht fair!!!“ Doch alles protestieren half nichts. Es stand nun fest, dass wir nicht mehr ins Baumhaus gehen durften. Wütend darüber traf ich mich mit meinen Freunden am Tag darauf und auch deren Familien hatte der Sheriff einen Besuch abgestattet. „Total bescheuert, dass wir nicht mehr ins Baumhaus dürfen, nur weil der alte Peterson mal wieder einen streunenden Hund für einen Wolf gehalten hat!“ „Ja genau. Das ist doch scheiße. Also ich weiß ja nicht wie ihr darüber denkt, aber ich lass mir nicht verbieten, ins Baumhaus zu gehen. Immerhin sind wir die letzten Tage auch hingegangen und nichts ist passiert. Ich lass mir nicht vorschreiben, was ich tun oder lassen soll!“ Steve hatte sich richtig in Rage geredet und tatsächlich war er jemand, der sich nichts vorschreiben oder verbieten ließ. Deshalb hatte er auch schon mit zehn Jahren angefangen zu rauchen. Spencer und ich stimmten ihm zu, Jimmy zögerte jedoch ein wenig. Doch leider hatten wir nicht bedacht, dass wir so laut redeten, dass uns auch Annie hören konnte. Die kam direkt zu uns geeilt und rief, dass wir richtig Ärger bekommen würden, wenn unsere Eltern und meine Tante davon erfuhren. Wir waren jedoch fest entschlossen, das Verbot zu ignorieren und zu unserem geliebten Baumhaus zu fahren. Annie hielt uns jedoch nicht auf. Stattdessen nahm sie ihr Fahrrad und fuhr uns hinterher. Allerdings hatte sie erst vor kurzem Fahrrad fahren gelernt und war noch so unsicher und langsam, dass wir sie nach wenigen Minuten längst abgehängt hatten. Wir stellten die Fahrräder an einem Baum ab und kletterten nach und nach hinauf ins Baumhaus. Schließlich war Spencer der Letzte, der gerade auf der Strickleiter war, da kam Annie angefahren und leider bekam sie das Absteigen nicht hin, woraufhin sie mit dem Fahrrad umfiel. Sie begann zu heulen und stand langsam wieder auf. Spencer eilte ihr nicht zu Hilfe, er kletterte aber auch nicht weiter hoch. Er schien eher zu zögern. „Annie, geh nach Hause!“

„Aber Mommy und Daddy haben verboten, in den Wald zu gehen.“

„Das ist mir egal!“

„Spencer, lass uns wieder nach Hause gehen! Mein Knie tut weh und ich blute. Ich will nach Hause. Komm bitte!“ Währenddessen schluchzte Annie so laut, dass sie zwischendurch nur sehr schwer zu verstehen war. Spencer war deutlich genervt von Annies Geflenne und rief „Dann geh allein nach Hause!“

„Spencer, du bist so gemein!“

„Na und? Und du gehst mir tierisch auf die Nerven! Ich wünschte echt, ich hätte keine Schwester, sondern wäre ein Einzelkind! Ich hasse dich!!!“ Sogar wir waren geschockt, als Spencer das sagte und wir fragten uns, ob er das tatsächlich so ernst meinte, oder ob er das im Affekt gesagt hatte, damit Annie endlich abhaute. Annie jedenfalls weinte nun noch lauter und rief „Du bist so fies! Ich will dich gar nicht mehr als Bruder! Mr. Longlegs ist viel netter als du!“ Und damit rannte sie in den Wald hinein. Spencer sah ihr noch eine Weile nach, dann rief er „Dann soll doch dein Mr. Longlegs dein neuer Bruder werden. Mir doch egal!“ Es kam jedoch keine Antwort und so begann Spencer, nun weiter die Strickleiter hinaufzuklettern. Bevor er jedoch oben ankam, hörte er plötzlich Annie laut schreien. Es klang aber nicht danach, als wäre sie wieder gestürzt und hätte sich wehgetan. Nein, sie schrie wie am Spieß, als wäre sie in Gefahr. Sofort sprang Spencer hinunter und rannte in die Richtung, in die Annie verschwunden war. Wir kletterten hinunter und eilten ihm hinterher. Da ich der schnellste Läufer von allen war, hatte ich Spencer schnell eingeholt. Ihm stand die Angst ins Gesicht geschrieben und er rief immer wieder Annies Namen. Als Spencer seine kleine Schwester deutlich um Hilfe schreien hören konnte, wurde er noch schneller und ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Schließlich stolperte ich über eine hervorstehende Wurzel und fiel der Länge nach hin. Steve und Jimmy waren längst aus der Puste und quälten sich nur noch vorwärts. Spencer war schließlich hinter ein paar Bäumen verschwunden und plötzlich hörten wir ihn auch schreien. „Scheiße! Was passiert hier nur?“ fragte Jimmy, der offensichtlich Angst hatte und zitternd nach seinem Asthmaspray griff. Ich kam dank Steves Hilfe wieder auf die Beine und nahm die Verfolgung auf. Schließlich kam ich auf eine Lichtung, wo ich Spencer fand. Dieser kauerte auf dem Boden und zitterte am ganzen Leib. Das Entsetzen stand ihm im Gesicht geschrieben und er bekam kein einziges Wort heraus. Irgendetwas musste ihm solch eine Angst eingejagt haben, dass er sich sogar in die Hose gemacht hatte.
 

Selbst die Polizei konnte Annie nicht finden und Spencer brachte kein Wort mehr hervor. Er starrte apathisch ins Leere und weinte manchmal. Der Psychologe erklärte, dass er unter Schock stünde und betreut werden müsste. Doch selbst die Psychologen konnten nicht zu ihm durchdringen. Irgendetwas musste Spencer gesehen haben, was ihn völlig traumatisiert hatte.

Der Sommer nahm für uns ein sehr abruptes Ende, als wir von der Polizei befragt wurden. Meine Eltern holten mich sofort ab und kehrten mit mir nach Hause zurück. Knapp vier Monate später erfuhr ich, dass Spencer Selbstmord begangen habe. Er war vom Dach der Scheune gesprungen und sei im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen. Diese Nachricht erschütterte die ganze Gemeinde und ich fuhr mit meinen Eltern zurück, um an der Beisetzung teilzunehmen. Jimmy, Steve und ich konnten es nicht fassen und verstanden nicht, warum Spencer das getan hatte. Die aufgelösten Eltern erzählten, dass Spencer seit dem Verschwinden von Annie unter Alpträumen litt und ständig in Angst gelebt hatte, weil ihn Mr. Longlegs verfolge, der auch Annie entführt hatte. Man hatte versucht, diese Alpträume und Ängste auf das Trauma zurückzuführen, welches er bei Annies Entführung erlitten hatte.

Wir selbst standen unter Schock, als sie Spencers Sarg langsam hinabließen und brachten kein Wort hervor. Stattdessen hörten wir nur das Schluchzen der trauernden Familie und das laute Weinen und Wehklagen der Mutter, die hilflos mit ansehen musste, wie ihr Sohn ins Grab hinabgelassen war. Unsere unbeschwerten Sommer waren für immer vorbei und zwischen uns sollte für immer Spencers schrecklicher Tod stehen. Ich für meinen Teil wollte nicht mehr hierher zurückkehren. Die Erinnerung war einfach zu schmerzhaft. Wir trafen uns schließlich ein letztes Mal in Spencers Zimmer, um innerlich Abschied von unserem Freund zu nehmen. Ich fühlte mich schrecklich und hätte am liebsten geweint. Ich konnte aber nicht, weil ich es immer noch nicht fassen konnte. Spencer war tot, niemand von uns würde ihn jemals wieder sehen. Schließlich holte Steve die kleine Schuhschachtel unter Spencers Bett hervor und erzählte, dass er darin seine größten Schätze darin aufbewahrte, wie zum Beispiel eine alte Goldmünze, eine Taschenuhr aus Messing und ein paar andere Sachen. Doch als er die Schachtel öffnete, fanden wir keine solchen Gegenstände vor, sondern Zettel. Es waren insgesamt acht Seiten, auf die mit einem schwarzen Stift verstörende Botschaften geschrieben worden waren. Eine Seite zeigte ein paar Tannen und Bäume und dazwischen eine sehr große Gestalt. Auf einer weiteren war wieder die schwarze große Gestalt gemalt und daneben hatte Spencer immer wieder „No, no, no, no“ geschrieben. Und auch die restlichen Seiten waren unheimlich. Wir lasen Sachen wie „Can’t Run“ oder „Help Me“, „Follows“, „Don't look... or it takes you“, „Leave me alone“ und „Always watches, no eyes“. Doch das Verstörendste von allen war, dass die schwarze Gestalt auf den Zeichnungen kein Gesicht hatte. Und uns wurde nun mit einem Male klar, wer wirklich hinter Mr. Longlegs steckte und wir begriffen, was Annie da eigentlich verschleppt hatte und warum Spencer Selbstmord begangen hatte. Er hatte nicht Selbstmord begangen, weil er sich die Schuld an Annies Verschwinden gab. Nein, er wollte sterben, weil er entsetzliche Angst vor diesem Ding hatte, das ihn daraufhin auch verfolgt hatte. Denn er wusste, dass es ihn auch holen würde.

Annie - Das Tagebuch

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das Wiligut-Projekt

In den frühen 20ern war Okkultismus ein großes Thema in Deutschland und erfreute sich einer immer weiter steigenden Beliebtheit. Die Faszination der Magnetheiler, Handleser und Astrologen erreichte schließlich sogar die damalige NSDAP und auch sehr bekannte Nazi-Politiker wie Heinrich Himmler und Rudolf Heß. Die okkultistische Auffassung der Nationalsozialisten unterschied sich jedoch stark vom eigentlichen Okkultismus. Die damaligen Arisophen verbanden die Lehre des Übernatürlichen mit dem damals vorherrschenden Rassismus und den Glauben an die überlegene Rasse der Arier. Das Ganze artete schließlich in der Lehre der Wurzelrassen aus und in dem Glauben, dass die arische Rasse übermenschlichen Ursprungs sei. Nach der Machtübernahme Hitlers wandelte sich jedoch die Offenheit der Deutschen gegenüber den okkultistischen Lehren. Es wurden Verbote ausgesprochen und die Bruderschaften zu Sekten erklärt. Es wurden Gefängnisstrafen verhängt und besonders überzeugte Anhänger des Kreises wurden gefoltert und in die Konzentrationslager gebracht. Jedoch führten einige Nazigruppen, darunter auch eine unter der Leitung des Arisophen Karl Maria Wiligut auf der Wewelsburg einige Experimente und Zeremonien durch. Darunter auch das wenig bekannte „Wiligut-Projekt“. Entgegen der sonstigen Forschungen der Arisophen konzentrierte sich Wiligut auf die Erforschung von anderen Welten und Portalen zu anderen Dimensionen. Als persönlicher Magier von Heinrich Himmler wurden ihm die nötigen Gelder und Gerätschaften zur Verfügung gestellt. Dass solche Experimente nur äußerst schwer bzw. gar nicht durchführbar waren, erklärt sich von selbst, da die Technologie damals bei weitem nicht so fortgeschritten war wie in der heutigen Zeit. Trotzdem wollte Wiligut den Versuch wagen, als erster Mensch ein Fenster zu einer anderen Welt zu öffnen und eines Tages seine Forschungen so weit zu bringen, dass er die arische Rasse zum perfekten Menschen machen konnte. Monate dauerten die Vorbereitungen und Testläufe, bis es Wiligut schließlich tatsächlich gelang, ein stabiles Energiefeld aufzubauen, welches ähnlich wie ein Wurmloch eine Öffnung im Raumzeitgefüge reißen und sich mit einer anderen Welt verbinden konnte. Der Kontakt dauerte jedoch gerade mal eine halbe Minute und brach daraufhin zusammen. Dabei wurde eine Explosion ausgelöst, die die nötigen Gerätschaften zerstörte als auch mehrere Mitarbeiter verletzte. Dr. Hellwein, der das Wiligut-Projekt ebenfalls betreute, fand nahe des Zentrums der Explosion unter den Trümmern einen Organismus unbekannten Ursprungs. Er beschrieb es in seinen Aufzeichnungen als eine „formlose Masse“ und „Zellklumpen“, der offenbar während der Öffnung des Portals in diese Welt gekommen sei. Dies bedeutete einen revolutionären Fortschritt der Wissenschaft und der Parapsycholgie. Dr. Hellwein sicherte die Lebensform und führte im Paderborner Labor eine Reihe von Experimenten durch, wie aus den folgenden Aufzeichnungen hervorgeht.
 

Wir schreiben den 12. Januar 1937, Forschungszentrum A. in Paderborn. Unter der Leitung von SS-Brigadeführer Karl Maria Wiligut und Reichsführer SS Heinrich Himmler wurde der Organismus sichergestellt und ins Labor gebracht. Gemeinsam mit Dr. Hinrich werde ich die bislang unbekannte Lebensform untersuchen und mehr über ihren Ursprung herausfinden. Jegliche Bemühungen, Kontakt zu ihr aufzunehmen, scheiterten, da die Kreatur augenscheinlich nicht über die nötigen Sinnesorgane verfügte oder offenbar unsere Sprache nicht verstand. Auch Versuche, auf Russisch, Englisch und Französisch mit dem Wesen zu sprechen, brachten keinen Erfolg. Dennoch ist es bereits erwiesen, dass es sich um einen lebendigen Organismus handelt, da es eine konstante Körpertemperatur von ca. 37,4°C aufweist (was der durchschnittlichen Temperatur eines ausgewachsenen Menschen entspricht). Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wurde die sichergestellte Lebensform hierher gebracht, da bislang noch nicht feststeht, ob ein Körperkontakt zu der Kreatur gefährlich sein könnte. Zunächst haben wir eine nähere Untersuchung des Körpers vorgenommen, um mehr über die Anatomie zu erfahren. Hierzu führten wir einen exakten Y-Schnitt durch und öffneten das Subjekt. Hierbei zeigte sich sehr schnell, dass das Wesen durchaus Schmerzen empfinden konnte und versuchte, sich den Schnitten zu entziehen. Wir fixierten die unbekannte Lebensform mit Gurten am Operationstisch und begannen mit der Sektion. Dabei konnten wir Folgendes feststellen: Die Kreatur verfügt weder über Organe noch über ein Gehirn oder ein Verdauungssystem. Es besitzt auch keine Extremitäten, Nervenstränge oder Sinnesorgane. Das Einzige, was diesen Organismus ausmacht, ist eine blasse fleischartige Masse, die selbst keine feste Struktur besitzt. Stattdessen wird diese Masse durch diese hautähnliche Außenschicht zusammengehalten. Zudem sonderte die Lebensform ein schwarzes Sekret ab, als wir die Sektion durchführten. Vermutlich handelt es sich dabei um eine Flüssigkeit, die ähnliche Zwecke wie unser Blut erfüllt. Dabei besitzt dieses Wesen weder Adern noch Venen.

Nach Beendigung der Sektion begannen wir damit, die Wunden wieder zuzunähen. Allerdings verheilten die Schnitte binnen weniger Minuten und nicht einmal Narben blieben zurück. Es ist erstaunlich, wie schnell sich dieses Wesen sich regenerieren kann. Sein Heilungsprozess ist hundert Mal schneller als der eines anderen bekannten Lebewesens auf der Erde. Selbst Verbrennungen und Schussverletzungen verheilten in einer enormen Geschwindigkeit. Versuche zeigten, dass das Wesen sehr empfindlich auf Hitze reagiert und sein Heilungsprozess verlangsamt wird, sobald es Temperaturen unter -10°C ausgeliefert ist. Als Nächstes werden wir überprüfen, inwiefern es auf äußere Reize reagiert.
 

Es ist bereits der zweite Tag und bis jetzt wissen wir immer noch nichts Konkretes über die gesicherte Lebensform. Zwar haben wir in Erfahrung bringen können, dass es weder über Organe noch Nervenstränge geschweige denn über Sinnesorgane verfügt, noch dass es in der Lage ist, zu kommunizieren. Dafür verfügt der Organismus über die Fähigkeit, sich binnen weniger Minuten selbst von den schwersten Verletzungen zu heilen. Heute bemerken wir, dass der Organismus zu zucken begonnen hat. Er scheint zu pulsieren wie ein Herz. Dr. Hinrich war sehr beunruhigt und riet dazu, ihn sofort zu verbrennen. Es hat einige Überzeugungskunst gebraucht, bis wir ihn zur Weiterarbeit bewegen konnten. Dennoch müssen wir die Kreatur im Auge behalten und vorsichtig sein.

Als Erstes stellte sich für uns die Frage, wie der Organismus am Leben blieb und wovon er sich ernährte. Dazu tischten wir verschiedene Lebensmittel auf, darunter auch Pflanzen und Tierkadaver. Keines davon rührte das Wesen an, selbst nicht, nachdem wir es den halben Tag alleine ließen. Braucht es etwa keine Nahrung? Woher nimmt es dann die nötige Energie, die es zum Leben braucht? Immer mehr Fragen werfen sich auf und schließlich begannen wir mit dem Reiztest. Da wir bereits festgestellt hatten, dass das Wesen durchaus Schmerz empfinden kann, wollten wir als nächstes in Erfahrung bringen, auf welche Reize es noch reagiert. Dazu stellten wir als erstes einen Schallplattenspieler auf und begannen Marschkapellen zu spielen. Es war allerdings nicht feststellbar, ob das Wesen die Musik tatsächlich hörte, da es keine Reaktionen von sich gab. Allerdings scheint es sehr wohl auf Lichtreize zu reagieren und wir konnten feststellen, dass es Schatten und Dunkelheit bevorzugte und starke Licht- und Sonneneinstrahlung mied. Offenbar schien es kein Licht zu vertragen. Dabei hatte es nicht einmal Augen, geschweige denn etwas anderes, womit es sehen konnte. Diese Kreatur gibt uns immer mehr Rätsel auf und selbst am dritten Tag nahm es keine Nahrung auf. Selbst Flüssigkeiten nimmt es nicht auf und hält trotzdem eine konstante Temperatur von 37,4°C. Dr. Hinrich ist allerdings aufgefallen, dass das Wesen gewachsen ist. Zunächst ist es uns nicht aufgefallen, aber tatsächlich hat sich der Durchmesser um 3cm vergrößert. Es pulsiert immer stärker, so als dehne sich etwas in seinem Inneren aus. Tatsächlich sah es stark danach aus, als würde sich etwas unter der Haut bewegen. Wir entschieden uns dazu, einen erneuten Einschnitt durchzuführen. Tatsächlich waren Veränderungen bemerkbar, dass sich der Organismus langsam veränderte. Wies er zu Beginn der Untersuchungsreihen noch keine feste Innenstruktur oder ein Gewebe auf, so waren jetzt deutlich festere Strukturen zu erkennen. Das Fleisch im Inneren wurde fester und es scheint so, als wäre das Wesen im Wachsen begriffen und beginne langsam Organe zu entwickeln. Dies müssen wir weiterhin beobachten und Reichsführer-SS Himmler und SS-Brigadeführer Wiligut umgehend Bericht erstatten.
 

Dr. Helmholtz ist seit gestern wie vom Erdboden verschluckt. Weder zuhause noch in seinem Büro ist er erreichbar und niemand hat eine Ahnung, wo er steckt. Dabei sind seine persönlichen Sachen, die er mitgebracht hatte, noch hier. Ich habe eine SS-Truppe damit beauftragt, ihn zu suchen. Nicht, dass er noch Probleme macht oder etwas von unserer Entdeckung an die Öffentlichkeit durchsickern lässt. Sollte die Truppe ihn finden, wird er erst einmal befragt und wenn er abhauen wollte, wird er schnellstmöglich beiseite geschafft. Solche Leute können wir hier gar nicht gebrauchen. Dabei stehen wir kurz vor dem entscheidenden Durchbruch. Die allgemeine Lage ist unruhiger geworden. In manchen Munden hört man schon Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg mit den Franzosen oder den Sowjets. Vielleicht auch sogar mit den Engländern. Ich persönlich beschäftige mich nicht mit derlei Gerüchten, die einen nur von der Arbeit ablenken. Die Erforschung dieser einzigartigen und völlig unbekannten Lebensform hat allerhöchste Priorität. Wenn es uns gelingt, ihren rasanten Heilungsprozess auf Menschen zu übertragen, könnten wir eine unbesiegbare Armee schaffen, die unser Land zum Sieg und zum mächtigsten Reich machen wird.
 

20. Januar

Es werden zwei weitere Mitarbeiter vermisst und weder sie noch Dr. Helmholtz sind noch auffindbar. Und das ausgerechnet jetzt, wo das Wesen sich weiter entwickelt hat. Hatte es letzte Woche noch die Form eines pulsierenden Zellklumpens von der Größe eines Säuglingskopfes, so ist es jetzt um das doppelte angewachsen und hat nun damit begonnen, sich auch äußerlich zu verändern. Es beginnt einen Auswuchs zu produzieren, der entfernt Ähnlichkeiten mit einem Armstumpf hat. Auf äußere Reize wie zum Beispiel Berührungen beginnt sich der Auswuchs zu bewegen und zeigt deutlich, dass es tatsächlich Ähnlichkeiten mit einem Armstumpf hat. Ober- und Unterarm sind bereits vorhanden, allerdings macht sich das Fehlen der Hand bemerkbar. Der Arm selbst ist nicht größer als der eines Säuglings. Ich vermute, dass sich die Kreatur im Wachstumsstadium befindet und langsam damit beginnt, humane oder animalische Form anzunehmen. Offenbar scheint sich nicht nur seine Regenerierfähigkeit deutlich von unserer zu unterscheiden, es kann sich auch äußerst schnell reproduzieren und seine Form verändern oder zumindest bestimmen, welche Form es annehmen will. Fraglich ist allerdings, ob seine zukünftige Form tatsächlich der eines Menschen ähnlich sehen soll oder ob es nur deshalb seine Gestalt verändert, um sich besser fortbewegen zu können? Eine weitere Untersuchung hat ergeben, dass der Arm mit Knochen ausgestattet ist. Offenbar beginnt das Wesen zuerst damit, eine richtige Form anzunehmen und ein Skelett zu entwickeln, um sich besser bewegen zu können. Allerdings verfügt es weder über Adern noch Sehnen oder Muskelgewebe. Rätselhaft ist überhaupt, wie es denn in der kurzen Zeit Armknochen wachsen lassen konnte. Offenbar verfügen die Zellen in seinem Körper ähnlich wie Stammzellen die Fähigkeit, sich in verschiedene Zell- und Gewebetypen ausdifferenzieren zu können. Dies würde bedeuten, dass die Kreatur in der Lage sein wird, nicht nur ein Skelett sondern auch Organe und Gewebe zu entwickeln. Ich vermute, dass, als wir diese Lebensform entdeckten, sie sich noch in ihren Anfangsstadien befand und ähnlich wie ein Embryo nun beginnt, langsam auszuwachsen. Fraglich ist nur, ob wir es riskieren sollten, zu warten, bis die Kreatur vollständig ausgewachsen ist. Vielleicht würde sie zur Gefahr werden. Vielleicht könnten wir sie aber auch zur Kriegswaffe machen und die Helden des Reiches werden. Die Sicherheitsvorkehrungen werden fürs Erste verschärft. Ich frage mich, wohin Dr. Helmholtz und die anderen verschwunden sind….
 

14. Januar

Als ich heute ins Labor kam, um die Lebensform erneut zu untersuchen, bekam ich beinahe einen Herzstillstand vor Schreck, als ich den entsetzlichen Anblick sah, der sich mir bot: Die Kreatur hatte seit gestern deutlich an Größe zugenommen und mehrere Arme und Beine wuchsen scheinbar unkontrolliert aus seinem Körper. Es wirkte so bizarr und abstoßend, dass viele meiner Kollegen blass wurden und fluchtartig das Labor verließen und die Sicherheitskräfte zogen schon die Gewehre. Die Arme und Beine haben nicht einmal eine logische Aufstellung sondern scheinen völlig durcheinander und chaotisch gewachsen zu sein. Allein zu sehen, wie es sich auf seinen menschlichen Extremitäten fortbewegt, ist abscheulich und entsetzlich. In meiner langjährigen Laufbahn habe ich viel gesehen aber der Anblick dieser Monstrosität aus Armen und Beinen jagt mir ein Schauer über den Rücken. Ich gebe es nur ungern zu, aber noch nie hatte ich vor irgendetwas solch eine Angst wie bei diesem Anblick.

Kaum hatte ich den Raum betreten, in welchem wir die Kreatur eingeschlossen hatten, bewegte es sich, so schnell es konnte, auf mich zu und ich ergriff sofort die Flucht. Es bekam mich am Bein zu fassen und krallte sich an mir fest, als wolle es sich an mir hochziehen. Ich zog meine Pistole und schoss mehrfach auf das Ding, woraufhin es sofort von mir abließ. Daraufhin verließ ich den Raum wieder.
 

Heute Nachmittag, knapp vier Stunden nachdem die Kreatur versuchte, mich anzugreifen, erfuhr ich, dass nun auch Professor Meerbusch spurlos verschwunden ist. Die Zahl der Verschwundenen häuft sich immer weiter und inzwischen beschleicht mich das Gefühl, dass diese im Zusammenhang mit dem rasanten Wachstum der Kreatur stehen. Doch wie sollte diese Monstrosität für das Verschwinden der Wissenschaftler verantwortlich sein, wenn es sich offenbar gar nicht zu versorgen brauchte? Es besitzt ja nicht einmal über ein Verdauungssystem oder ein Maul.
 

15. Januar

Aus unerfindlichen Gründen sind die Wachmänner heute nicht zur Arbeit erschienen und auch zuhause waren sie nicht auffindbar. Dafür aber hatte sich die Kreatur ihren Körper neu geformt und besitzt nur noch jeweils zwei Arme. Allmählich beginnt sich auch langsam ein Kopf zu formen, jedoch fehlt die komplette untere Körperhälfte und auch ein Rumpf ist nicht vorhanden. Der Kopf ist noch unförmig, auch Hautfalten oder Fingerabdrücke besitzt dieses Wesen nicht. Entweder ist es nicht in der Lage, so feine Details bei seiner Entwicklung anzuwenden oder aber es verzichtet schlicht und einfach auf alles Überflüssige, auf welches es nicht angewiesen ist. Dafür aber sind die Hände und besonders die Finger sehr gut entwickelt, allerdings sind die Arme allzu dünn und viel zu lang für einen normalen Menschen. Mithilfe seiner langen Arme versucht die Kreatur, fortzukriechen, jedoch haben wir sie wieder in die Zelle gesperrt, um einen Ausbruch zu verhindern. Der Kopf ist inzwischen vollständig ausgebildet und auch Gesichtskonturen scheinen sich langsam zu bilden. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Nasenknochen vollständig ausgewachsen waren. Durch weitere Untersuchungen konnten wir erkennen, dass die Kreatur bereits über ein vollständiges Oberskelett verfügt und sich auch Muskelgewebe gebildet hat. Jedoch verfügt es nicht über eine Lunge, da es offensichtlich nicht auf eine angewiesen ist. Die Haut des Wesens ähnelt stark der eines Menschen, allerdings sind keinerlei Pigmente vorhanden, weshalb es eine äußerst blasse Haut hat, die beinahe ins Weiß übergeht. Es könnte ein Anzeichen von Albinismus sein.

Inzwischen sind auch Nervenstränge vorhanden, die direkt zum Gehirn führen. Lediglich die Gesichtsknochen als auch die untere Körperhälfte sind noch nicht vollständig ausgeprägt. Außerdem fiel Dr. Hinrich auf, dass das Wesen bereits über einen Unterkiefer verfüge, da es beständig seine Kiefer auseinanderdrücke, als wolle es seinen bislang noch nicht vorhandenen Mund öffnen. Obwohl es bislang noch nicht über Sinnesorgane verfügt, zeigt es durchaus Reaktionen auf Geräusche und anwesende Personen. Meine Einschätzungen: Die Kreatur ist sehr fixiert auf Menschen und scheint sie genau zu beobachten und zu studieren. Vermutlich sucht es sich eine ideale Lebensform, die es kopieren kann, um sich dann ihrer Anatomie anzupassen. Und so wie es scheint, hat es sich den Menschen als Vorbild ausgesucht und beginnt nun damit, langsam Gestalt anzunehmen. Aber wieso hatte es vor zwei Tagen noch eine so abscheuliche Erscheinung, die rein gar nichts mit einem Menschen gemeinsam hatte? Ich vermute, dass es seine Fähigkeiten austestet und erst damit begonnen hat, menschliche Extremitäten zu kopieren, da diese wohl den schwierigsten Teil ausmachen.

Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Körperoberfläche des Wesens zwar deutlich Ähnlichkeiten mit der Haut eines Menschen aufweist, allerdings macht sich hier deutlich das Fehlen von Haaren, Poren oder Falten bemerkbar. Die Haut des Wesens ist vollständig glatt, allerdings erinnert sie trotzdem von Gefühl her an Leder. Auch von Fingerabdrücken oder Muttermalen ist nichts zu erkennen. Zudem besitzt die Kreatur keine Fingernägel bzw. Krallen, mit dem es angreifen könnte. Zeichen von Aggressivität oder Feindseligkeit sind bis dato noch nicht erkennbar, trotzdem weigert sich Dr. Hinrich, dem Wesen zu nahe zu kommen. In einem Vieraugengespräch vertraute er mir an, dass er sich von der Kreatur verfolgt und beobachtet fühle. Auch einige andere Mitarbeiter fühlen sich in der Gegenwart dieses Wesens unwohl und meiden es größtenteils. Ich hab diesem Geschwätz natürlich keinerlei Beachtung geschenkt. So etwas ist doch lächerlich!
 

16. Januar

Dr. Hinrich, der die Nachtwache übernehmen sollte, rief mich heute Morgen um 5 Uhr an und bat mich, sofort ins Labor zu kommen. Er klang sehr durcheinander und beunruhigt, also habe ich mich trotz der frühen Morgenstunde auf den Weg gemacht. Im Labor angekommen erzählte mir Dr. Hinrich, dass die Kreatur es irgendwie geschafft hatte, aus ihrer Zelle auszubrechen. Sie war plötzlich an der Türschwelle zu seinem Büro und starrte ihn an. Dann habe sie ihre Kiefer auseinandergedrückt, woraufhin die Haut aufriss und dann sei ein riesiges mit Zähnen bestücktes Maul zum Vorschein gekommen. Mit mehreren Schüssen wurde die Kreatur außer Gefecht gesetzt und in eine andere Zelle gebracht. Es ist uns ein Rätsel, wie sie aus der Zelle entkommen konnte, da sich diese nur mit einem Schlüssel öffnen ließ. Und es sind keinerlei Spuren eines gewaltsamen Ausbruchs erkennbar. Die Sicherheitsvorkehrungen werden weiter verschärft und Dr. Hinrich ist fürs Erste beurlaubt worden. Er weigerte sich, auch nur noch einen Fuß ins Labor zu setzen, solange dieses Ding ihn verfolgte. Das Maul, welches die Kreatur offensichtlich bereits gebildet hatte, war bereits wieder geschlossen. Vermutlich sind die Lippen wieder zusammengewachsen und es ist wohl nicht zum Atmen gedacht. Wir begannen das Wesen wieder zu untersuchen und stellten fest, dass es bereits über Adern und Venen verfügte und dass es auch ein schlagendes Herz besaß. Allerdings scheint das Herz keine bedeutenden Funktionen zu erfüllen, da ein Herzschuss keinerlei Wirkung zeigte. Auch die anderen Organe dienen allein zu dem Zweck, sich der Anatomie der Menschen anzupassen. Inzwischen hat sich nun der Rumpf und der Unterleib gebildet, allerdings verfügt das Wesen nicht über Geschlechtsteile, sodass sich unmöglich feststellen lässt, ob es männlich oder weiblich ist. Dies wirft die Frage aus, wie sich das Wesen vermehren will? Dr. Eichendorffs Theorie zufolge pflanzt sich die Kreatur asexuell durch einen ähnlichen Prozess wie der Zellteilung fort, wenn sie vollständig ausgewachsen ist. Ob sie sich tatsächlich fortpflanzen wird, ist noch ungewiss. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den Verlauf dieser Entwicklung abzuwarten und Vorsicht walten zu lassen.
 

Gerade eben hörte ich laute Schreie und bin der Quelle dieses Lärms gefolgt um herauszufinden, was denn los sei. Und was ich sah, ließ mich beinahe erstarren. Die Kreatur war aus ihrer Zelle ausgebrochen und plötzlich war sie direkt vor mir. Sie war mit einem Male plötzlich da und die grinste mich mit diesem abscheulichen Maul an, als wolle sie mich verspotten. Wie zum Teufel war sie nur aus ihrer Zelle entkommen, die sich nur von außen öffnen ließ? Ich rief sofort um Hilfe und zum Glück kam das Sicherheitspersonal und schoss auf die Kreatur. Die Kugeln zeigten jedoch kaum Wirkung. Zwar verletzten sie das Wesen, allerdings würden sie nicht tödlich sein. Ich floh aus meinem Büro und aktivierte den Alarmschalter, woraufhin das Gebäude vorsichtshalber evakuiert werden sollte. Während nach und nach alle nach draußen eilten, hörten wir Schreie und Schüsse. Ich wollte mir lieber nicht ausmahlen, welcher Horror sich da drin abspielte. Aber so viel kann ich sagen: Als wir wieder zurückkehrten, war die Kreatur sowie mehrere Sicherheitsmänner verschwunden. Wir fanden weder Blutspuren noch sonstige Hinweise, wo sie sein könnten. Sie waren einfach verschwunden.
 

19. Januar

Reichsführer SS Himmler reagierte auf unsere schrecklichen Nachrichten sehr empört und gewährte uns nur noch eine Dreitagesfrist, bevor uns allen der Prozess gemacht wird. Wir haben das gesamte Gebäude abgesucht und Suchtrupps losgeschickt. Dr. Hinrich, der inzwischen benachrichtigt wurde, klang am Telefon sehr aufgewühlt und schien große Angst zu haben. Er war so fertig mit den Nerven, dass er fast weinte. Auf meine Fragen, was denn mit ihm sei, konnte er nicht vernünftig antworten. Er brachte nur ein leises Gestammel hervor, welches ich allerdings kaum verstehen konnte. Aber ich konnte so viel heraushören, dass er um sein Leben fürchtete. Er hatte Angst vor der Kreatur, dass sie ihn töten würde. Manchmal sah er sie, wie sie unter seinem Bett hervorlugte und nach ihm schnappte. Ich hatte alle Mühe, ihn zu beruhigen und sogleich kam mir ein großartiger Plan. Wenn die Kreatur tatsächlich Dr. Hinrich im Visier hatte, konnten wir ihn doch als lebenden Köder benutzen. Ich versprach ihm am Telefon, dass ich alles unternehmen würde, um ihm zu helfen. Der arme Trottel wusste gar nicht, was wirklich geschah.

Unser Team war bereit, die Kreatur wieder einzufangen und den Fehler wieder auszumerzen. Eine SS-Staffel wurde beauftragt, Dr. Hinrichs Haus zu überwachen. Die Kreatur würde wahrscheinlich in der Dunkelheit angreifen.
 

20. Januar

Kein Zeichen von der Kreatur. Wir bekamen allerdings Meldung von einer weiteren SS-Staffel, dass ein menschenähnliches, monströses Wesen sich in der Nähe der Wohnhäuser herumgetrieben und eine Gruppe von Buben der HJ verfolgt hat. Die Anwesenheit der Kreatur wurde von den Kindern nicht bemerkt, sie scheint sich inzwischen perfekt den Menschen angepasst zu haben. Zeugen gaben eine detaillierte Beschreibung ab, die tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten mit der unbekannten Lebensform aufweist. Die Stadt wird vollständig durchkämmt, doch außer, dass zwei weitere Menschen als vermisst gemeldet wurden, haben wir rein gar nichts gefunden. Unsere einzige Hoffnung bleibt also Dr. Hinrich.
 

Ich schreibe dies hier am Abend des 20. Januars. Wir haben erneut Position gezogen und sind bereit, die Kreatur unschädlich zu machen. Es ist inzwischen finster geworden, nur die Laternen leuchten schwach. Die Luft wirkt wie elektrisiert und es herrscht eine gewisse Anspannung. Und ich habe aus unerklärlichen Gründen Angst. Ich spüre, dass dies vielleicht meine letzte Nacht sein könnte. Doch seltsamerweise ist es nicht das, was mir Angst macht. Nein, es ist die Angst vor dem, was mich erwarten wird, wenn die Kreatur mich jagen wird. Dieses abscheuliche Wesen macht mir mehr Angst als vor den Gaskammern oder der Folterung. Es ist eine Angst, die man spürt, wenn man weiß, dass etwas einen töten wird, allerdings nicht wann oder wo. Es könnte jederzeit und überall geschehen. Und das ist unerträglich für mich. Ich glaube nun zu wissen, was Dr. Hinrich in den letzten Tagen durchlitten hat. Auch den SS-Soldaten geht es nicht anders. Sie haben auch Angst, trotz ihrer Gewehre.
 

Großer Gott, ich… ich habe sie gesehen. Ich habe die Kreatur gesehen. Sie ist einfach wie aus dem Nichts aufgetaucht und starrte uns an. Es ist allerdings so dunkel, dass ich kaum etwas sehen kann und nur mit Mühe kann ich diese Zeilen schreiben. Ich sitze im Wagen und habe mich zwischen den Sitzen versteckt. In der Ferne höre ich Schreie, die Soldaten schießen…. Ich wage es kaum, aus dem Fenster zu sehen, da es mich sonst bemerken würde. Nur einen kurzen Blick konnte ich auf das Wesen erhaschen, welches nun seinen Körper vervollständigt hat. Und das Ergebnis ist erschreckend. Noch nie in meinem Leben habe ich etwas dermaßen Bizarres und Entsetzliches gesehen. Es sieht einem Menschen immer ähnlicher, und dann wiederum nicht. Ich vermag es kaum zu beschreiben, ich kann meinem Verstand nicht mehr trauen. Was soll ich tun? Soll ich mich weiter hier verstecken, selbst auf die Gefahr hin, dass es mich finden und töten wird? Nein, ich werde nicht hier auf meinen Tod warten. Ich werde fliehen! Und zwar so weit weg wie möglich. Ich schließe hiermit meine Aufzeichnungen. Sollte ich sie nicht wieder aufnehmen, so wisse, dass ich in diesem Falle längst nicht mehr unter den Lebenden weilen werde.
 

Als die Verstärkung eintraf, fehlte von der SS-Staffel als auch von Dr. Hinrich und Dr. Hellwein jede Spur. Man fand die Aufzeichnungen Dr. Hellweins im Wagen und sicherte sie als Beweismaterial. Nach dem Eintreffen der Amerikaner und der Roten Armee wurden die Aufzeichnungen beschlagnahmt und tauchten zuletzt in den Anfängen der 70er Jahre im Besitz der Paderborner Universität wieder auf. Den Aufzeichnungen Hellweins liegt ein Foto bei, welches offenbar erst viel später hinzugefügt wurde. Diese sehr unscharfe Schwarzweißaufnahme zeigt eine große schwarze Gestalt im Lichte einer Straßenlaterne. Nähere Gesichtszüge waren kaum zu erkennen und so schickte man das Foto ins Labor, wo es schließlich bearbeitet wurde. Doch der Grafiker erklärte, dass es ihm nicht möglich sei, die Gestalt auf dem Foto identifizierbar zu machen, aus dem einfachen Grund, weil sie gar kein Gesicht besäße.

Meine schicksalhafte Begegnung mit Christine

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Viola & Sir Bunnyman

In einem kleinen Vorort von London in einem ruhigen Viertel in der Nähe eines Parks lebte ein kleines Mädchen namens Viola Smith. Viola war ein sehr stilles Kind und liebte ihre Stofftiere über alles. Sie war ein braves und wohl erzogenes Mädchen mit einer blühenden Fantasie und ihre Eltern waren reich und hatten Dienstmädchen und einen Chauffeur. Viola hatte alles, was sich ein kleines Mädchen in ihrem Alter wünschen könnte. Doch es gab leider ein Problem: Niemand beachtete sie. Alle behandelten sie wie Luft und hörten gar nicht, wenn sie etwas sagte. Ihre Eltern, die Dienstmädchen, der Butler ja sogar der Postbote beachteten sie nicht. Und das führte dazu, dass die kleine Viola oft sehr einsam und unglücklich war. Schließlich versuchte sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erregen, indem sie unartige Dinge tat. Sie zerbrach eine Vase und beschmierte die Wände. Ja sie versalzte sogar den Tee und benahm sich nicht bei Tische. Sie gab dem Hund Dinge zu fressen, die ihm nicht bekamen und sie machte die Musik ganz laut an. Doch alles, was ihre Mutter sagte war „Mary, Patricia: Bitte hier wieder Ordnung.“ Aber Viola sahen sie kein einziges Mal an oder sprachen mit ihr. Viola konnte sich das nicht erklären. Es war nämlich nicht immer so gewesen, dass sie plötzlich von niemandem mehr beachtet wurde. Das Ganze fing an, als ihr kleines Brüderchen Edward zur Welt kam. Genau von dem Tage an drehte sich alles nur noch um Edward und seitdem beachtete niemand mehr Viola. Wenn das Baby schrie, war die Mutter sofort da und wenn nicht sie, dann die Amme oder eines der Dienstmädchen. Aber wenn Viola eine Vase zerbrach, hieß es nur „Mary, Patricia: Bitte macht hier wieder Ordnung.“ Schließlich ging Viola aus dem Haus raus und ging spazieren. Sie dachte sich „Wenn schon meine Familie mich nicht mehr beachtet, dann muss doch wenigstens ein anderer mich beachten müssen.“ Als Erstes ging Viola ins Eiscafe und wartete, bis die Kellnerin kam, um die Bestellung aufzunehmen. Sie wartete und wartete. Ja sie wartete fast eine halbe Stunde und rief „Entschuldigung!“ damit die Kellnerin sie beachtete, aber sie tat es nicht. Sie ging einfach weiter, so als wäre Viola Luft. Schließlich verließ Viola das Eiscafe und ging in ein Bekleidungsgeschäft und schaute sich dort ein wenig um. Schließlich fand sie ein entzückendes Kleid, welches ihr sehr gefiel und daraufhin ging sie zu der Angestellten und fragte sie, wie viel das Kleid denn kostet. Doch diese ging einfach weiter und sah Viola nicht einmal an. Also stellte sich Viola an der Kasse an, um dort die Kassiererin zu fragen. Doch leider kam Viola nicht dazu. Denn immer, wenn sich ein Erwachsener ein Kleidungsstück kaufen wollte, drängelte er sich einfach an ihr vorbei und Viola konnte protestieren so viel sie wollte. Er beachtete sie einfach nicht. Egal was Viola auch tat, immer drängelte sich jemand vor und sie konnte nichts dagegen machen. Frustriert verließ sie schließlich das Geschäft ohne das Kleid und setzte sich auf eine Bank. Sie seufzte laut und sah in den Himmel. „Wenn mich niemand auf der ganzen Welt beachtet, muss Gott mich wohl auch ignorieren, wenn ich zu ihm beten würde“, dachte sie traurig und betrachtete eine Weile die Wolken. Schließlich, als sie genug auf der Bank gesessen hatte, ging sie weiter und traf schließlich auf eine alte Frau mit einem Hund an der Leine. Viola liebte Tiere, besonders Hunde und Katzen. Sie ging schon hin und erwartete, dass der Hund sie bemerkte und sie beschnupperte. Aber er trottete einfach weiter, als interessiere er sich nicht für sie. Sogar die Tauben flogen nicht weg, wenn Viola auf sie zurannte. Dabei flogen die Vögel doch sofort davon, wenn Menschen ihnen zu nahe kamen. Erschrocken erkannte die kleine Viola, dass sogar die Tiere sie nicht beachteten. Viola blieb den ganzen Tag über weg und kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Sie hoffte, dass wenigstens jetzt ihre Eltern ein Machtwort sprechen und mit ihr schimpfen würden, weil sie viel zu spät nach Hause kam. Aber leider hoffte sie vergeblich. Ihre Mutter wiegte gerade den kleinen Edward in den Schlaf, der schrie und weinte, während ihr Vater Pfeife rauchend im Sessel saß und sich ein Fußballspiel ansah. Viola beschloss schließlich, den Kanal zu wechseln, damit ihr Vater sie endlich beachtete. Doch alles was er tat, war, seine Fernbedienung zu nehmen um wieder zum Sportkanal zu schalten. Und er beachtete sie immer noch nicht. Das machte die kleine Viola rasend. Sie schrie laut und warf den Wohnzimmertisch um. Die kleine Viola randalierte im ganzen Wohnzimmer, doch selbst das schien ihr Vater nicht zu bemerken. Stattdessen guckte er nur seine blöde Sportsendung weiter. Schließlich, aus einen reinen Impuls heraus, rief Viola „Ich wünschte, dass alle verschwinden, die mich nicht beachten!“ Dann rannte sie hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Sie rannte die Treppe hoch und ging in ihr Zimmer, das voller Stofftiere war. Weinend warf sich die kleine Viola aufs Bett und nahm ihren Stoffelefanten in den Arm. Diesen hatte ihr Vater geschenkt gehabt, als sie zwei Jahre alt war. So viele dieser Stofftiere waren Geschenke ihrer Eltern gewesen und jetzt waren sie ihre einzigen Freunde. Viola weinte und vergrub ihr Gesicht in den Stoffelefanten. Warum nur beachtete sie keiner? Was hatte sie denn Falsches getan, dass man sie so gemein behandelte? Und mit unendlich traurigem Blick sah sie hinauf in den Himmel und flüsterte. „Bitte lieber Gott, schick mir einen Freund, der mich nicht ignoriert und der immer für mich da ist.“ Doch sie wusste, dass keine Antwort kommen würde und sich nichts ändern würde. Denn selbst Gott beachtete sie nicht. Plötzlich aber hörte Viola eine Stimme im Zimmer und als sie sich umsah, erschrak sie beinahe, als sie jemanden auf dem edlen Stuhl saß, wo sonst immer ihre Stofftiere thronten. Nun saß da ein groß gewachsener schlanker Hase mit dem Körperbau eines Menschen. Er trug einen Anzug wie ein Butler, hatte Seidenhandschuhe an und am Revers eine weiße Rose. Sein Kopf aber war exakt der eines Hasen. Nur mit dem Unterschied, dass der schneeweiße menschengroße Hase mit dem vornehmen Auftreten ein Monokel trug. „Du hast nach mir gerufen, Viola?“ Der Hase, der sogar schwarze Lackschuhe trug, kam mit perfekt eleganten und würdevollen Bewegungen auf sie zu und verbeugte sich vor ihr. Noch nie zuvor hatte Viola so einen seltsamen Hasen gesehen, der auch noch ihren Namen kannte. „Wer… wer bist du?“

„Oh Verzeihung“, sagte der Hase und räusperte sich. „Mein Name ist Sir Lewis C. Berphomet. Du kannst mich auch gerne Sir Bunnyman nennen, das dürfte sich besser zu merken sein für ein reizendes junges Mädchen wie dich.“

„Und warum bist du hier?“

„Du hast dir doch einen Freund gewünscht, der dir immer zur Seite steht. Und hier bin ich.“

„Dann bist du also ein Freund?“

„Dein Freund und Begleiter, in der Tat.“

„Und warum bist du ein Hase?“

„Weil du Hasen und Kaninchen liebst. Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?“ Viola nickte und nahm die Hand des Hasens mit dem menschenähnlichen Körper. Er besaß ein ganz schneeweißes Fell und mit dem Anzug, den Schuhen und dem Monokel sah er aus, als käme er direkt aus einem Märchen- oder Geschichtenbuch. Als wäre er das weiße Kaninchen aus „Alice im Wunderland“. Gemeinsam mit Sir Bunnyman ging Viola die Straßen entlang und es kam ihr schon ein wenig seltsam vor, mit einem so großen Hasen mit Frack und Schuhen unterwegs zu sein. Sie rechnete eigentlich damit, dass sich die Leute verwundert nach ihm umdrehen würden, doch sie sahen ihn nicht ein einziges Mal an. „Warum sieht dich denn keiner?“ „Das könnte daran liegen, weil sie mich ebenso wenig beachten wie dich. Und wenn sie jemanden nicht beachten, nehmen sie ihn gar nicht mehr wahr. Wir sind sozusagen Leidensgenossen, kleine Viola. Dadurch hat man aber auch gewisse Freiheiten.“ Als Sir Bunnyman das sagte, blieb er mit Viola bei einem Ballonverkäufer stehen und ließ kurz ihre Hand los. Er griff nach einem besonders großen roten Ballon und reichte ihn Viola. Der Verkäufer schien gar nicht zu bemerken, dass einer der Ballons fehlte. Das kleine Mädchen nahm ihn dankend an und weiter ging der Weg, bis sie schließlich den Park erreichten. Zum Spazierengehen hatte Sir Bunnyman einen Gehstock mitgenommen, der einen goldenen Griff besaß und ziemlich edel und teuer aussah. Überhaupt sahen auch der Frack und die Schuhe sehr teuer und vornehm aus. Als wäre ihr Begleiter der Bedienstete eines sehr reichen Mannes oder eines Adligen. Doch wie sich herausstellte, war der Spazierstock auch ein getarnter Regenschirm. Als es nämlich zu regnen begann, zog der Hasenbutler den Griff vom Gehstock und spannte den zu Tage geförderten Regenschirm auf. Dabei war er stets darauf bedacht, ihn so zu halten, dass Viola nicht nass wurde. Im Anschluss, als sie nach dem einstündigen Spaziergang wieder zurückkehrten, bereitete Sir Bunnyman einen Tee vor und deckte schließlich den kleinen Tisch, dann stellte er zwei Stühle hin und setzte sich Viola gegenüber. „Ich hoffe, ich habe beim Tee die richtige Wahl getroffen. Soweit ich weiß, liebst du doch Grüntee mit drei Löffeln Zucker.“

„Woher weißt du das?“

Doch darauf schien Sir Bunnyman keine konkrete Antwort geben zu wollen. Doch das war Viola auch nicht so wichtig. Hauptsache, sie hatte jetzt einen Spielgefährten an ihrer Seite. Und dann auch noch einen mannsgroßen Hasen. Sie liebte Hasen und Kaninchen, wie so viele Kinder in ihrem Alter. Schließlich, nach der Teestunde, wurde es langsam später Nachmittag und nun wollte Sir Bunnyman ein Spiel mit Viola spielen. „Spielst du gerne Spiele?“ hatte er sie mit einem merkwürdigen Ton in der Stimme und Viola nickte. Daraufhin nahm der Hase einen Schluck Tee aus seiner Tasse und erklärte Viola, wie das Spiel funktionierte. „Bis jetzt hast du doch immer Vasen, Teller und Tassen zerbrochen, wenn du wolltest, dass dich jemand beachtet. Aber das hat nicht funktioniert. Also musst du einen Schritt weitergehen.“

„Und was soll ich machen?“

„Wir sollten deinen Eltern einen gehörigen Schrecken einjagen.“ Und damit weihte Sir Bunnyman Viola in seinen Plan ein. Diese zögerte zuerst, da sie Angst hatte, dass etwas passieren könnte, aber der Hase stellte sie vor die Wahl: Entweder sie wagte diesen Schritt oder ihre Eltern würden sie weiterhin nicht beachten. Und so willigte Viola ein und machte sich sogleich an die Arbeit. Sie ging in den Garten des Hauses und begann zu buddeln. Dabei sammelte sie Käfer, Würmer, Asseln und Tausendfüßler, die sie in einem Glas sammelte und dann in die Küche brachte. Dort streute sie das Ungeziefer heimlich über das Abendessen und ging daraufhin ins Bad um sich zu waschen. Tatsächlich gab es ein fürchterliches Geschrei, als ihre Mutter eine Kakerlake unter ihrem Salat entdeckte und erst zu spät bemerkte, dass sie neben dem Salatblatt auch ein oder zwei Asseln verschluckt hatte. Auch der Vater bekam einen gehörigen Schrecken und schimpfte daraufhin den Koch aus. Viola, zuerst von Gewissensbissen geplagt, musste trotzdem lachen, als sie sah, wie ihre Mutter kreischte und durch den Esssaal rannte. Sir Bunnyman, der etwas weiter abseits stand und die Szene beobachtete, zwinkerte Viola mit einem listigen Lächeln zu. Doch in seinem Blick war noch etwas zu erkennen, was das kleine Mädchen jedoch nicht sah. Trotzdem sollte sich schon sehr bald herausstellen, dass dies nicht das letzte Spiel vom Bunnyman war. An einem Freitag nämlich, als die Dienstmädchen mit dem Hausputz beschäftigt waren und Katherine Wills, die von allen bloß Kitty genannt wurde, war gerade mit dem riesigen Wäscheberg auf dem Weg in die Waschküche. Sie wollte nämlich die Laken und Vorhänge waschen. Bunnyman zwinkerte Viola zu und brachte sie dazu, dem Dienstmädchen ein Bein zu stellen, sodass sie vornüber fiel und dann die Treppen hinunterstürzte. Das sah zwar witzig aus, doch als Kitty vor Schmerz zu schreien begann, erschrak Viola und bekam zunächst Panik, dass ihre Eltern sie ausschimpfen würden. Doch dann im nächsten Moment erinnerte sie sich ja wieder, dass man sie gar nicht bestrafen würde. Denn keiner beachtete sie.

Schließlich wurde Kitty ins Krankenhaus gebracht, da sie sich bei dem Sturz von der Treppe das Handgelenk gebrochen hatte. Außerdem hatte sie einen verstauchten Fuß und konnte für die nächste Zeit nicht mehr arbeiten. Viola, die immer noch ziemlich durcheinander war wegen des Vorfalls, stellte ihren Freund Bunnyman zur Rede. Der Hase jedoch schien das alles sehr gelassen zu sehen. Er holte eine Taschenuhr hervor, sah kurz nach und steckte sie schließlich wieder ein. „Wenn du willst, dass deine Eltern dich irgendwann wieder beachten, musst du solche Dinge tun. Denn wenn man böse Dinge tut, muss das irgendjemand irgendwann bemerken. Verstehst du?“ Viola nickte, war sich aber unsicher, ob das wirklich die richtige Lösung für ihr Problem war. Immerhin wollte Sir Bunnyman ihr doch nur helfen und er hatte auch gesagt, dass er ihr Freund war. Er würde also nichts tun, was ihr schaden könnte. Schließlich, da es spät war, machte sich Viola langsam bettfertig. Sie zog ihr Nachthemd an und legte sich ins Bett. Der Hase stand neben ihrem Bett und wollte sich verabschieden, da hielt Viola ihn zurück. „Kannst du mir noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen?“

„Natürlich, ich erfülle dir jeden Wunsch, kleine Viola.“ Und Sir Bunnyman erzählte ihr eine Geschichte. Er blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war und zog sich dann still und leise zurück.
 

Am nächsten Morgen wurde Viola durch das Geschrei ihres kleinen Bruders geweckt. Sie war noch sehr schläfrig und war verärgert, weil es draußen noch völlig dunkel war. Manchmal gab es Momente, in denen sich Viola wünschte, ihr Bruder würde einfach verschwinden und aufhören, solch einen Lärm zu machen. Und außerdem roch es irgendwie leicht unangenehm. Den Geruch nahm sie jeden Morgen wahr, wenn sie gerade aufwachte. Er war so schwach, dass sie ihn tagsüber nicht wahrnahm, doch in diesem Moment nahm sie ihn wahr. Leicht süßlich aber auch etwas muffig. Sie konnte es nicht genau definieren. Als sie aufstand, wartete bereits Sir Bunnyman, der ihr eine Tasse Tee ans Bett brachte. „Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nachtruhe“, sagte der Hasenbutler, während er ihr den Tee und das dazugehörige Gebäck reichte. Viola seufzte nur und gab einen Zuckerwürfel in die Tasse. „Jeden Morgen fängt er an zu schreien und alles dreht sich nur um ihn. Ich hasse ihn!“ Da das Geschrei nicht aufhörte, schlüpfte Viola in ihre Pantoffeln und ging ins Zimmer ihres kleinen Bruders, der in seiner Wiege lag und nicht aufhörte zu schreien. Normalerweise kam ihre Mutter, um sich um ihn zu kümmern, aber anscheinend hatte sie es mal wieder mit der Schlaftablettendosis übertrieben. Viola begann die Wiege hin und her zu schaukeln, welches ihren Bruder oft beruhigte, aber selbst als sie das tat, hörte er nicht zu schreien auf. Viola wurde langsam wütend und begann immer heftiger die Wiege zu schaukeln, während sie selbst immer lauter rief, dass er verdammt noch mal einschlafen sollte. Aber der kleine Edward schlief nicht ein, geschweige denn, dass er still wurde. Stattdessen schrie er weiter und trieb seine große Schwester binnen kürzester Zeit zur Weißglut. Schließlich brach Viola in Tränen aus und sank in die Knie. „Er soll aufhören. Er soll endlich aufhören zu schreien. Ich kann dieses Geschrei nicht ertragen. Ich… ich hasse ihn!“ Der Hase beobachtete sie aufmerksam und schwieg. Nur er selbst wusste, was er in diesem Moment dachte. Schließlich aber schritt er auf Viola zu und blieb dicht hinter ihr. „Weißt du kleine Viola“, sagte er mit einer etwas unheilvollen Stimme und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du tust gut daran, ihn zu hassen. Erinnere dich doch: Wann hat es angefangen, dass alle dich ignorierten? Es war genau dann, als er aufgetaucht ist.“ Violas Hände ergriffen den Rand der Wiege und krallten sich fest. Sie sagte nichts sondern starrte nur auf das schreiende Baby, welches einen ganz roten Kopf bekam. „Du kannst es beenden, hier und jetzt. Du weißt, was zu tun ist. Wenn du es tust, dann wird es vorbei sein. Er hat dir nur Unglück gebracht.“ Er hat Recht, dachte Viola und starrte weiter auf ihren Bruder. Wenn er verschwindet, MÜSSEN meine Eltern mich wieder beachten. Dann werde ich wieder ihre Aufmerksamkeit haben.

Langsam wanderte ihre Hand zu einem der Kissen, die in der Wiege lagen. Dann nahm sie es in beide Hände und drückte es in sein Gesicht. Schon waren die Schreie weniger laut, aber sie waren trotzdem immer noch da. Also presste Viola das Kissen immer fester auf Edward und Sir Bunnyman nickte ihr aufmunternd zu. Schließlich wurde es still im Zimmer. Viola nahm das Kissen vorsichtig herunter und starrte den Säugling lange an. Er sah ganz friedlich aus, als würde er schlafen. Viola stupste ihn an, doch er gab keine Regung von sich. „Das hast du gut gemacht“, sagte Sir Bunnyman und klopfte ihr auf die Schulter. „Du hast das Richtige getan.“

Viola verließ das Zimmer und hörte ihre Mutter durchs Erdgeschoss laufen. Sie trug bereits ihren Morgenmantel und ging in Richtung Salon, um dort zu frühstücken. Dann aber blieb sie stehen und schaute die Treppe hinauf. Und dann tat sie etwas, das Viola sehr erstaunte und völlig aus der Bahn warf. Sie sagte „Viola, kommst du gleich, damit wir zusammen essen können?“ Das Mädchen konnte es nicht glauben und war völlig sprachlos. Ihre Mutter sprach mit ihr. Sir Bunnyman hatte Recht! „Ja Mommy, ich komm sofort!“ Schnell eilte Viola die Treppen hinunter und eilte auf ihre Mutter zu. Von Glück und Freude übermannt, warf sich Viola ihr in die Arme und begann fast zu weinen. „Ich hab dich lieb, Mommy!“ „Ich dich doch auch, mein Schatz.“ Zärtlich streichelte ihre Mutter ihren Kopf und küsste Viola schließlich auf die Stirn. „Und jetzt komm, dein Vater wartet schon.“
 

Es war insgesamt ein richtig schöner Morgen und Viola vergoss bei der Mahlzeit immer wieder Freudentränen und konnte ihr Glück gar nicht glauben. Und dabei hatte sie vorhin noch ihren Bruder mit einem Kissen erstickt. Während der Mahlzeit blieb Sir Bunnyman ein wenig abseits und beobachtete mit Genugtuung das Familienglück. Doch er erinnerte Viola daran, dass es schnell ein Ende nehmen würde, wenn sie nicht die Leiche ihres Bruders versteckte. Doch da Viola den ganzen Tag über mit ihren Eltern zusammen war, fand sie erst in der Nacht Gelegenheit dazu, sich um dieses Problem zu kümmern. Zum Glück hatte ihre Mutter geglaubt gehabt, Edward würde schlafen, als sie kurz ins Zimmer kam um nachzuschauen. Viola schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer ihres kleinen Brudes und wickelte ihn in ein Tuch ein. Mit ihm im Arm ging sie in den Garten und eilte zum Gartenhäuschen, wo der Gärtner seine Gerätschaften aufbewahrte. Sie holte eine Schaufel und begann direkt an der Wurzel des Apfelbaums zu graben. Für ein kleines Mädchen waren solche Grabarbeiten mit einer viel zu großen Schaufel sehr anstrengend, woraufhin Sir Bunnyman anbot, diesen Teil für sie zu übernehmen. Er grub ein knapp zwei Meter tiefes Loch und schließlich legte Viola den kleinen Leichnam in das Loch. „Glaubst du, meine Eltern werden ihn hier finden?“

„Nicht, wenn wir sämtliche Spuren verwischen. Überlass dies ruhig mir Viola, leg dich ins Bett und ruh dich aus. Morgen ist ein neuer Tag.“

„Danke Sir Bunnyman.“ Viola war tatsächlich sehr müde und fror in der Nacht. Sie trug ja nur Schuhe und ein Nachthemd. Schnell kroch sie in ihr Bett, wickelte sich in ihre Decke und schlief schließlich ein. In dieser Nacht träumte sie von einem verwunschenen Garten, in welchem tausende von Blumen wuchsen. Sie und ihre Eltern saßen im Pavillon, der mit roten Rosen bewachsen war und tranken Tee, den Sir Bunnyman auf einem silbernen Tablett servierte. Es duftete herrlich und überall ertönte liebliches Vogelgezwitscher. Glückselig wachte Viola am nächsten Morgen auf, jedoch war ihre Freude schnell verflogen, als sie wieder diesen unangenehmen Geruch wahrnahm, der heute etwas stärker als sonst war. Sofort stieg sie aus dem Bett und öffnete die Fenster, um zu lüften. Sir Bunnyman stand bereits an ihrem Bett und verneigte sich zur Begrüßung. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen, Viola.“

„Ja, das habe ich. Aber es riecht wieder so unangenehm. Vielleicht sollte ich die Fenster nachts offen lassen.“

„Aber dann würdest du dich noch erkälten!“

„Ich werde mal meine Eltern sprechen. Vielleicht ist es eine abgestandene Wasserpfütze auf dem Dachboden.“ Viola zog sich an und ging in den Salon, wo bereits ihr Vater saß und Zeitung las. Er rauchte, wie auch jeden Morgen, seine Pfeife und summte ein wenig vor sich hin. „Dad“, sagte Viola schließlich und er legte die Zeitung weg, um sie anzuschauen. „Es riecht so komisch hier!“

„Wirklich?“ Er selbst begann zu schnuppern, konnte aber offenbar nichts riechen. „Und wo stinkt es?“ „Überall. In meinem Zimmer, im Salon, in der Eingangshalle.“

„Ich werde mich darum kümmern, Prinzesschen. Keine Sorge.“ Daraufhin streichelte er ihr Köpfchen und riet ihr erst mal dazu, zu frühstücken. Doch Viola hatte an diesem Morgen wenig Appetit und sie spürte auch leichte Kopfschmerzen. Auf Geheiß ihres Vaters wurden im gesamten Haus die Fenster geöffnet und ließ alles den ganzen Tag lüften. Doch kaum schloss man die Fenster wieder, vernahm Viola diesen unangenehmen Geruch. Sie begann daraufhin zusammen mit Sir Bunnyman im ganzen Haus nach der Quelle des Gestanks zu suchen, fand aber nichts. Auch in den nächsten Tagen wurde der Geruch immer intensiver und Violas Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Ihr wurde übel, sie litt unter einem schlechten Kreislauf und fühlte sich müde und träge. Immer häufiger hielt sie sich draußen auf, nur um diesem Geruch zu entkommen. Sie verlor schließlich ganz ihren Appetit und aß kaum noch etwas. Meist stocherte sie nur lustlos in ihrem Essen herum und schlief auch nachts nur mit geöffnetem Fenster. Schließlich, als sie eines Tages in die Stadt ging, sprach jemand sie an und erkundigte sich nach ihren Eltern und ihrem Wohlbefinden. Viola machte eine gute Miene, wie es ihr Vater so beigebracht hatte. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass sie sehr krank aussah. Also ging Viola zum Arzt, um sich untersuchen zu lassen. Dieser stellte fest, dass Viola in der Tat krank sei. Offenbar wäre sie irgendwelchen schädlichen Substanzen ausgesetzt, die Gase freisetzten, die Viola über einen längeren Zeitraum einatme und sie davon krank wurde. Der Arzt bat Viola daraufhin, ihren Eltern Bescheid zu sagen. Man solle das Haus untersuchen lassen, um ganz sicher ausschließen zu können, dass giftige Baustoffe in den Wänden waren.

Viola bekam mehrere Medikamente verschrieben und sie nahm diese auch brav ein, jedoch verschlimmerte sich der Geruch im Haus und schließlich wurde er fast beißend. Viola hielt es kaum noch im Haus auf und flüchtete meist ins Zimmer ihres Bruders, wo es noch nicht so fürchterlich stank. Sie erbrach sich immer häufiger und verlor sogar einmal das Bewusstsein. Ihre Eltern waren ratlos und kümmerten sich liebevoll um sie, genauso wie Sir Bunnyman. Viola bekam schließlich Fieber und konnte kaum noch etwas essen. Schließlich kam es eines Tages dazu, dass Viola einen fürchterlichen Hautausschlag bekam und sie einige offene Hautstellen fand, die sich schnell entzündet hatten. Diese Stellen wurden zwar mit Salbe behandelt, aber Viola musste trotzdem zum Arzt. Sie selbst fragte sich, warum ausgerechnet sie krank wurde und nicht ihre Familie. Und dieser Gestank… niemand sonst schien diesen Gestank im Haus wahrzunehmen. Was war es, das sie so krank machte? Viola konnte kaum nachdenken, da sie zudem noch fürchterliche Kopfschmerzen hatte. Der Arzt, der sie zuvor schon behandelt hatte, zeigte sich ernsthaft besorgt und fragte, wo denn ihre Eltern seien. „Sie konnten nicht kommen, da sie beide arbeiten sind. Ich bin mit dem Taxi gefahren.“

„Viola, dein Zustand bereitet mir ernsthaft Sorgen. Ich sehe mich gezwungen, das Jugendamt zu informieren.“

„Jugendamt? Was… was bedeutet das?“

„Mach dir keine Sorgen. Die netten Leute werden sich dann dein Zuhause ansehen und herausfinden, weshalb du so krank bist und woher diese Ausschläge kommen.“ Viola verließ mit gemischten Gefühlen das Zimmer und kam am Wartezimmer vorbei, wo bereits Sir Bunnyman auf sie wartete. „Und? Was sagt der Arzt?“ „Er will das Jugendamt verständigen. Was… was bedeutet das?“ fragte Viola und ergriff Sir Bunnymans Hand und sah ihn ängstlich an. Seine Augen funkelten unheimlich und er lächelte. „Es bedeutet, dass sie dich von deiner Familie trennen. Sie nehmen dich deinen Eltern weg!“

„Nein, das will ich nicht. Ich will bei meiner Familie bleiben. Kannst du das nicht verhindern?“

„Natürlich kann ich das. Mach dir da mal keine Sorgen. Ich sagte doch, dass ich dir jeden Wunsch erfülle, kleine Viola.“ Und so kehrten sie gemeinsam nach Hause zurück. Viola lag den nächsten Tag mit leichtem Fieber im Bett und ihre Arme waren bandagiert worden, da sich wieder offene Stellen gebildet hatten, aus denen es blutete. Außerdem hatten sich diese Stellen entzündet und schmerzten. Es klopfte schließlich an der Tür und da Viola sowieso gerade in der Küche war, eilte sie in die Empfangshalle und öffnete die Tür. Vor ihr stand eine Frau um die Mitte vierzig, die ihr Haar zu einem Knoten zusammengebunden hatte und einen strengen Eindruck machte. Sie schaute zu Viola hinunter und sah direkt die bandagierten Arme. „Sind deine Eltern da?“

„Wer… wer sind Sie?“

„Ich bin Miss Buckthorn, ich komme vom Jugendamt. Darf ich reinkommen?“ Viola sah unsicher zu Sir Bunnyman, der etwas weiter weg stand und Viola mit einem unheimlichen Blick ansah. Schließlich flüsterte er Viola zu „Bring sie ins Kaminzimmer. Wenn wir drin sind, stellst du dich mit dem Rücken zur Wand, hältst dir die Ohren zu und singst ein Lied.“ Viola erhob keine Einwände und so führte sie Mrs. Buckthorn ins Kaminzimmer. Kaum war die Sozialarbeiterin im Haus, schon verzog sie die Miene, da sie offenbar auch diesen unangenehmen Geruch wahrnahm. Viola öffnete die Tür des Zimmers und ging in die Ecke. Mrs. Buckthorn blieb ungefähr in der Mitte des Raumes stehen und sah sich um. „Viola, wo sind deine Eltern?“ Doch das Mädchen antwortete nicht. Als sie hörte, dass sich die Tür schloss, stellte sie sich mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke, hielt sich die Ohren zu und begann das Lied „Come little Children“ zu singen. Sie hörte nichts, sah nichts und wusste nicht, was Sir Bunnyman wohl mit Miss Buckthorn machte. Sie sang einfach, bis er sagte, dass sie aufhören konnte. Als sie sich wieder umdrehte, stand nur noch Sir Bunnyman da, doch Miss Buckthorn war verschwunden. „Wo ist denn die Tante vom Jugendamt hin?“

„An einem Ort, wo sie uns nicht mehr belästigen wird. Sie wird nie wieder zurückkehren!“

„Ein Glück“, murmelte Viola und atmete erleichtert auf. „Ich mag diese Frau nicht. Und niemand trennt mich von meiner Familie.“ Doch Viola wusste nicht, welche Konsequenzen Miss Buckthorns Verschwinden nach sich ziehen würden. Und diese sollten sehr bald folgen, als nämlich zwei Polizisten vor der Tür standen und Violas Eltern treffen wollten. Sie sahen unheimlich und bedrohlich aus und trugen Sonnenbrillen. Viola, die sich sowieso aufgrund ihrer Krankheit nicht wohl fühlte, wurde schwindelig und sie taumelte ein wenig zurück. „Sind deine Eltern vielleicht da?“ Viola war völlig benommen und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Sie sagte einfach nur „Ja“ und machte den Polizisten Platz. Einer der Polizisten kniete sich vor sie hin und nahm seine Sonnenbrille ab. „Geht es dir nicht gut, Kleines? Du siehst so blass aus.“ Sein nächster Blick fiel auf Violas bandagierte Arme. Auch am Hals hatte sie offene Wunden, die sich bereits entzündet hatten. Sie sah schrecklich aus und wirkte mehr wie eine Leiche als ein munteres kleines Mädchen. Während der eine Polizist bei ihr blieb, ging der andere in Richtung Salon. Er blieb jedoch an der Tür stehen und wandte sich noch mal an seinen Kollegen. „Riechst du das auch?“

„Ja schon. Glaubst du etwa…“

„Ruf besser die Kollegen. Das könnte hässlich werden.“ Benommen sah Viola, wie der Polizist in den Salon ging und schließlich „Heilige Scheiße“ rief. Dann wurde es dunkel um sie herum und sie brach völlig entkräftet zusammen.
 

Viola lag fast zwei Wochen mit schweren Infektionen im Krankenhaus und wäre sie nicht schon früh geimpft worden, hätte es noch viel schlimmer enden können. In dieser Zeit kamen ihre Eltern sie nicht ein einziges Mal besuchen, dafür aber Sir Bunnyman. Er saß an ihrem Bett und erzählte ihr Geschichten, damit sie einschlief. Schließlich, als Violas Zustand sich gebessert hatte, kam sie in eine Jugendpsychiatrie. Dies alles geschah so plötzlich und schnell, dass Viola gar nicht verstand, was vor sich ging. Erst als sie ihre erste Stunde bei der Kinderpsychologin Dr. Parson hatte, erfuhr sie, warum die Erwachsenen sie eingesperrt hatten. „Viola, der Grund für deine Krankheit war, dass deine Eltern nicht mehr gelebt haben. Und das schon eine längere Zeit nicht mehr.“

„Wie bitte?“ Fragte Viola verständnislos und warf den Kopf hin und her. Sie begann unruhig zu werden und begann sich am Handrücken zu kratzen, wo es zu jucken begonnen hatte. „Ich habe doch mit meinen Eltern geredet. Wir haben zusammen am Tisch gesessen und gelacht, ich hab Mommy umarmt und Daddy hat mir einen Kuss gegeben.“

„Das ist alles nicht passiert, Viola. Deine Eltern sind tot. Du warst derart traumatisiert, dass du begonnen hast, dir einzubilden, dass sie noch da wären. Dabei waren sie die ganze Zeit tot. Der Grund, warum es in eurem Haus so unangenehm gerochen hat war, dass die Leichen zu verwesen begannen. Dabei wurden Gase freigesetzt, die dich krank gemacht haben.“ Viola bekam daraufhin einen hysterischen Anfall, woraufhin man sie wieder in ihr Zimmer zurückbringen sollte. Sie bekam Medikamente zur Beruhigung, damit sie sich entspannen konnte, allerdings konnte man ihr weder eine Befragung durch die Polizei noch durch Dr. Parson zumuten. Dafür bekam das kleine Mädchen eine Menge Psychopharmaka, die sie nehmen sollte. Man hatte bei ihr eine schwere Form der Schizophrenie diagnostiziert, die man mit Medikamenten zu therapieren erhoffte. Dr. Parson versuchte Viola zu erklären, dass es keinen Sir Bunnyman gäbe. Dieser sei einzig und allein ein Produkt ihrer Fantasie. Genauso wie sie sich eingebildet habe, ihre Eltern würden noch leben und mit ihr reden. Aus ihrer Krankenakte schloss man schließlich, dass sich diese Krankheit schon sehr früh manifestiert hatte. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als ihre leibliche Familie auf ähnliche Weise verstarb. Viola kauerte still auf ihrem Bett und starrte auf die kahle weiße Wand. Sir Bunnyman war bei ihr und schwieg eine Weile. Schließlich war es Viola, die den Anfang machte. „Wie konnte es nur so weit kommen, Sir Bunnyman?“

„Es war ihre Schuld. Sie wollten dich seinetwegen verstoßen. Du wärst wieder alleine gewesen.“

„Und was soll ich jetzt tun?“

„Such dir eine neue Familie. Eine, die dich lieben wird und dich nicht eines Tages einfach ersetzen wird. Erinnerst du dich nicht?“

„Nein…“

„Das habe ich mir schon gedacht. Du hast dich ja auch nicht an mich erinnert. Aber das ist nicht schlimm. Es reicht, dass du weißt, dass ich immer an deiner Seite bleibe. Egal was auch passiert.“ Und als Sir Bunnyman das sagte, zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. „Aber es hängt auch von deiner Entscheidung ab. Soll ich dir bei deiner Suche helfen?“ Viola überlegte nicht lange und rief „Ja! Ja ich will!“ „Gut“, sagte Sir Bunnyman schließlich und holte seine Taschenuhr heraus, um zu sehen, wie spät es war. „Dann auf ein Neues.“
 

Als die Polizei Viola erneut befragen wollte, fanden sie ihr Zimmer leer vor. Drei Pfleger sowie Dr. Parson wurden tot aufgefunden und sahen aus, als wären sie von einem wilden Tier zerfetzt worden. Von Viola fehlte jede Spur, jedoch sagte ein Patient aus, dass er sie gesehen habe, wie sie zur Eingangstür ging. Und nach einigem Zögern sagte der Augenzeuge, dass er gesehen habe, dass Viola in Begleitung einer Person gewesen sei, die wie ein großer Hase im Anzug aussah. Man schenkte dieser letzten Aussage keine Beachtung, da der Zeuge psychisch krank war und häufig unter Halluzinationen litt. Doch egal wie viel die Polizei auch suchte, Viola blieb spurlos verschwunden.

Jennas Garten

Am Ende der Straße gibt es ein Haus, welches den Ruf weg hat, es würden seltsame Dinge dort vor sich gehen. Damit will ich nicht andeuten, es könnte dort spuken, nein das nicht. Es ist dort niemand gestorben, zumindest weiß ich nichts davon. Das Haus sieht auch nicht unbedingt unheimlich aus, nur der etwas trostlose Garten wirkte immer etwas seltsam auf andere und verlieh einem den Eindruck, als entspringe der Bau einem Tim Burton Film. Ich jedenfalls habe niemals einen Grund gesehen, mich vor irgendetwas in der Art zu fürchten, weil ich die Besitzer des Hauses sehr gut kannte. Die Mansons waren sehr sympathische Nachbarn und ich verstand mich sehr gut mit ihrer Tochter Jenna. Die meiste Zeit spielten wir immer im Garten und stellten allen möglichen Unsinn an. Jenna war ein sehr witziges und unternehmungslustiges Mädchen. Sie liebte es zu malen und sie liebte den Garten, auch wenn er nicht mehr war als eine trostlose Einöde. Aber sie träumte davon, eines Tages eine große Blumenwiese daraus zu machen. Ich erinnerte mich noch gut, wie sie von ihrem Taschengeld Blumen in Töpfen auf dem Markt kaufte und diese dann in die Erde pflanzte. Stolz darauf hatte sie dann den Wunsch geäußert, Gärtnerin zu werden. Ihre Mutter, die dies zufällig mit angehört hatte, war wütend geworden und hatte sie geohrfeigt. „Du wirst studieren und Dozentin werden, und nicht im Dreck herumwühlen wie ein Tier!“ Das hatte sie gesagt und ich erinnerte mich noch gut daran, wie Jenna daraufhin in Tränen ausgebrochen war und laut geweint hatte. Daraufhin hatte ich sie getröstet und ihr versichert, dass sie eines Tages einen wunderschönen Garten haben werde. Jenna und ich waren die besten Freunde. Wir verbrachten jeden Tag zusammen und wurden oft für Schwestern gehalten, aber als wir schließlich in die High School gingen, trennten sich allmählich unsere Wege. Obwohl wir in der Nachbarschaft waren, sahen wir uns immer seltener. Das lag mitunter daran, dass Jenna nicht auf die High School ging, sondern von ihren Eltern zuhause unterrichtet wurde. Das ist bei uns nicht unüblich, kam aber in dieser Region so gut wie nie vor.

Jennas Eltern waren beide Professoren an der örtlichen Universität und lehrten beide Theologie. Sie waren sehr religiös und streng. Zwar hatte ich sie als nette und fürsorgliche Eltern kennen gelernt, aber Jenna schien nie ein sonderlich gutes Verhältnis zu ihnen gehabt zu haben.

Inzwischen waren fast vier Monate vergangen, seit ich Jenna das letzte Mal gesehen hatte und ich beschloss spontan, ihr einen Besuch abzustatten, weil ich sie vermisste. Als ich das große Tor erreichte, welches an der Grundstücksmauer lag und den öffentlichen Weg vom Grundstück trennte, sah ich schon, dass der vertrocknete Rasen einer grünen blühenden Fläche gewichen war und dass Beete angelegt worden waren, in welchem unzählige, farbenprächtige Blumen wuchsen. Jenna begrüßte mich am Tor und trug eine Gartenschürze und Handschuhe. Ihre lockigen, brünetten Haare hatte sie zusammengebunden und sie sah aus, als wäre sie einer Werbung für Landschaftsgärtnerei entsprungen. Sie winkte mir fröhlich zu und öffnete schließlich das Tor. „Hey“ rief sie und umarmte mich herzlich. „Wir haben uns ja schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie geht es dir denn so?“

„Gut“, antwortete ich und umarmte sie ebenfalls. „Und der Garten sieht ja ganz fantastisch aus. Hast du das gemacht?“

„Ja, war aber auch ein hartes Stück Arbeit und ich bin noch lange nicht fertig. Komm, ich zeig dir alles.“ Jenna führte mich den Steinweg entlang, der einen großen Bogen um das Haus machte und unter anderem an einem Geräteschuppen und einem kleinen Gewächshaus vorbeiführte. Jenna führte mich ins Gewächshaus und zeigte mir die Früchte ihrer harten Arbeit. Mit liebevoller Arbeit hatte sie Tomaten und Gurken angebaut. Salat versuchte sie zurzeit auch, aber sie habe noch Schwierigkeiten mit der Temperatur, weil der Salat nicht richtig reifen wollte. Schließlich verließen wir das Gewächshaus wieder und kamen an einem jungen Apfelbaum vorbei, der erst vor kurzem hierher verpflanzt worden war. Direkt davor lugte ein kleines Rohr heraus, welches irgendwie befremdlich erschien. Jenna erklärte mir, dass dies ein Baumerhaltungsrohr sei. Dies sei für junge Bäume sehr wichtig und dieses Rohr führe Regenwasser direkt zu den Wurzeln. So etwas sei sehr förderlich für das Wachstum der Bäume. Als ich näher an den Baum herantrat, glaubte ich so etwas wie ein Kratzen zu hören und ich fragte natürlich, ob Jenna das auch hörte. „Wahrscheinlich sind das irgendwelche Kaninchen, die sich einen Bau graben. Ich hab schon versucht, diese kleinen Biester loszuwerden, aber sie sind hartnäckig. Hoffentlich fallen sie nicht über mein Gemüse her…“ Jenna nahm meinen Arm und führte mich weiter an den Blumenbeeten vorbei. Neben Kräutern hatte sie auch Rosen gepflanzt und auf den Wiesen konnte ich teilweise noch karge Stellen erkennen, die mit Grassamen bedeckt waren. Während ich mich so umsah, kamen mir natürlich so einige Fragen, die ich ihr nach einigem Zögern stellte. „Jenna, was sagen eigentlich deine Eltern dazu? Werden sie nicht sauer, wenn sie das hier sehen?“

„Mach dir da keine Sorgen“, sagte Jenna und lächelte. „Sie sind sowieso verreist und wissen davon nichts.“

„Wo sind sie denn hin?“

„Im Ausland. Solange sie weg sind, hüte ich hier das Haus für sie.“ Jenna führte mich schließlich zu einem Pavillon, wo wir uns in die Stühle setzten. Wir redeten ausgelassen, lachten gemeinsam und fühlten uns ganz wie in alten Zeiten. Jenna erzählte immer noch die besten Witze und hatte diverse Anekdoten, die wirklich jeden zum Schmunzeln gebracht hätten. Aber ich merkte trotzdem, dass Jenna irgendwie anders war als sonst. Ihre Unbeschwertheit war einfach zu… übertrieben. Sie wirkte auf mich gar nicht wie eine 17-jährige, die von einer Karriere als Gärtnerin träumte, sondern wie ein kleines Kind. Ja sie hörte sich sogar an wie ein Kind. Die Art wie sie sprach und die Stimme ließ keinen Zweifel. Dabei war Jenna vor vier Monaten noch etwas reserviert gewesen, aber trotzdem noch die alte Jenna. Aber jetzt schien es so, als wäre sie geistig wieder jünger geworden, als wäre sie noch einmal acht Jahre alt, als wir noch wie Schwestern waren. In dem Moment erschien es mir, als steckte die Jenna, die mir in dem Moment gegenüber saß, in einem viel zu alten Körper. Doch dann verwarf ich diese Gedanken wieder. Dann war Jenna eben viel zu kindlich heute, warum auch nicht? Sie freute sich eben, mich nach diesen vier Monaten wiederzusehen und da benahm sie sich eben wie ein Kind. „Sag mal Jenna“, begann ich schließlich und nahm dankend ein Glas Cola an, das sie mir reichte. „Seit wann sind deine Eltern eigentlich weg?“

„Seit fast fünf Monaten.“

„Was? Schon fast ein halbes Jahr? Wow, nicht schlecht. Dafür hast du echt großartige Arbeit geleistet. Vor allem der Rasen!“

Etwas verlegen kratzte sich Jenna hinterm Ohr, eine Angewohnheit, die ich schon seit Jahren an ihr kannte. „Um ehrlich zu sein, ist das Meiste davon Rollrasen.“

„Und wovon bezahlst du das alles?“

„Von meinen Ersparnissen. Mir ist egal, was meine Eltern deswegen sagen, ich bleibe bei meinem Entschluss, eine Ausbildung zur Gärtnerin zu machen. Da können sie sich ruhig auf den Kopf stellen.“ Diese Aussage hatte etwas so trotziges an sich, dass Jenna wieder wie ein kleines Kind auf mich wirkte. Wir verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen und als es schließlich langsam dunkel wurde, verabschiedete ich mich von Jenna und versprach ihr, die Tage wieder bei ihr reinzuschauen. Ich ging nach Hause und dachte über dieses kindliche Verhalten von ihr nach. Kaum war ich über die Türschwelle meines Hauses getreten, schon stürmte hechelnd unser Hund Forrest auf mich zu und sprang mich an. Forrest war ein Labrador und dumm wie ein Meter Feldweg. Es ist traurig, aber leider stimmt das. Forrest rannte immer wieder gegen Türen, begann vor Angst zu winseln, wenn es dunkel im Haus wurde und egal wie oft wir ihm versuchten, Tricks beizubringen, Forrest vergaß es nach spätestens drei Tagen wieder. Er erkannte lange Freunde nicht wieder und hätte sogar uns vergessen, wenn wir nicht jeden Tag in seiner Nähe wären. Forrest ließ sich von der Nachbarkatze ärgern, er ließ sich sogar von dem sprechenden Papageien meines Bruders Befehle geben. Eigentlich wollte meine Mutter ihn Sonny nennen, aber mein Vater meinte, er solle Forrest heißen. Nach Forrest Gump, den einfältigen aber herzensguten Glückspilz. Und schließlich waren wir uns alle einig, dass „Forrest“ ein guter Name für einen dummen aber trotzdem liebenswerten Hund war.

Ich brachte Forrest wieder ins Wohnzimmer, wo er einen Schlafplatz hatte und gab ihm den Befehl, sich dorthin zu setzen. Doch Forrest sah mich nur mit einem fragenden Blick an und schien nicht zu verstehen, was ich ihm sagen wollte. Ich gab es nach drei Versuchen auf und setzte mich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Mein Vater kam in dem Moment rein und fragte mich nach meinem Tag. Also erzählte ich ihm von Jennas Garten und vom Auslandsaufenthalt ihrer Eltern. Mein Vater war erstaunt, denn davon hatte er noch gar nichts gehört, aber andererseits hatte er sowieso kein sonderlich gutes Verhältnis zu den Mansons gehabt. Mein Vater war übrigens Hausmann, während meine Mutter ganztägig arbeiten ging. Sie hatten sich kurz nach meiner Geburt darauf geeinigt, dass derjenige, mit dem besser bezahlten Job, zuhause bleiben sollte. Und da meine Mutter als Maklerin sehr gut verdiente und mein Vater als Gelegenheitsjobber eher schlecht als recht durchkam, war die Sache schnell beschlossen worden. Und wir lebten ganz gut mit dieser Entscheidung. Mein Vater war zum Glück kein Macho. Mein Vater setzte sich zu mir und fragte, wie es denn Jenna eigentlich ginge und ob sie sich irgendwie verändert habe. Zuerst verstand ich seine Frage nicht und erklärte schließlich, Jenna sei so wie immer nur war sie oft übertrieben fröhlich und benehme sich manchmal wie ein Kind. „Ach so“, sagte er schließlich nach einigen Überlegungen. „Da bin ich ja erleichtert.“

„Wieso?“ fragte ich und sah ihn an. Doch mein Vater schien nicht ganz sicher zu sein, ob er nun weiterreden sollte. Schließlich aber antwortete er „Man hat da so… Gerüchte gehört. Gerüchte bezüglich Jenna und den Mansons. Weißt du, die Mansons sind sehr konservativ geprägt und ich habe mal zum Scherz zu deiner Mutter gesagt, dass die Mansons sogar die Hexenverfolgung wieder eingeführt hätten, wenn man sie gelassen hätte. Zwar war sie von diesem Kommentar nicht sehr begeistert, aber ich sah ihr an, dass sie ähnlich dachte.“

„Was willst du mir damit sagen?“

„Jenna hat es nicht leicht mit solchen Eltern. Als ich mal vom Einkaufen zurückkam, sah ich Jenna an einer Bushaltestelle sitzend und weinen. Sie wollte mir aber nicht sagen, was passiert ist und warum sie so weine. Ich glaube, sie hat sich geschämt.“

„Und was glaubst du, ist mit Jenna passiert?“

„Vielleicht haben ihre Eltern sie unter Druck gesetzt, ihr eine Ohrfeige gegeben… ich weiß es nicht. Man kann nur spekulieren. Aber wenn es Jenna jetzt wieder besser geht, freut mich das natürlich. Ich mag sie. Sie ist ein gutes Mädchen.“ Die Worte meines Vaters verfolgten mich noch den ganzen Abend und ich verspürte auch beim Abendessen nicht den geringsten Anflug von Appetit. Mir war nie aufgefallen, dass Jenna unter ihren Eltern zu leiden hatte. Wenn ich sie getroffen hatte, war sie stets fröhlich und wirkte so unbeschwert, dass man schon fast neidisch werden konnte. Sie musste sich immer zusammengerissen haben, weil sie nicht wollte, dass irgendjemand Verdacht schöpft. In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Ich träumte davon, dass Jennas Eltern mitten in der Nacht zurückkamen, den Garten sahen und daraufhin so in Wut verfielen, dass sie auf Jenna losgingen und sie schlugen. Sie selbst lag am Boden und schrie und weinte. Ich wachte schreiend aus diesem Alptraum auf und war schweißgebadet. Den Rest der Nacht konnte ich kein Auge zumachen und am nächsten Morgen beschloss ich, Jenna noch mal zu besuchen. Zu meiner Erleichterung schien es ihr ganz gut zu gehen. Sie war gerade dabei, ein Loch zuzubuddeln, in welchem sie Bambus gepflanzt hatte. Fröhlich grüßte sie mich und fragte, ob ich ihr nicht vielleicht helfen wollte. Sie musste nämlich noch ein paar Löcher graben und würde dafür noch lange brauchen. Natürlich wollte ich ihr helfen und sogleich gab Jenna mir ihre Schaufel und entschuldigte sich kurz, da sie durch die viele Arbeit Blasen an den Händen hatte, die sie verarzten musste. Während sie weg war, beschloss ich, schon mal ein wenig Vorarbeit zu leisten, um Jenna eine Freude zu machen. Ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun. Nach und nach begann ich immer mehr Erde auszuheben und kam erstaunlich gut und schnell voran. Schließlich aber stieß ich auf etwas Hartes, das viel zu hohl für einen Stein klang. Vorsichtig klopfte ich mit der Schaufel darauf und hörte wieder dieses hohle Geräusch, als würde es sich um Holz handeln. Ich buddelte weiter und tatsächlich kam ein Brett zum Vorschein, welches an einem Baumerhaltungsschlauch angeschlossen war. Da ich keine Lust hatte, das ganze Ding auszubuddeln, brach ich das Brett mit gezielten Schlägen in Stücke und entfernte diese. Durch die Feuchtigkeit und die Erde war das Brett sowieso schon etwas morsch und gab schnell nach. Doch kaum hatte ich die Bruchstücke entfernt, offenbarte sich mir das Unfassbare: Das, was ich für ein Brett gehalten hatte, war der Deckel einer Kiste. Und darin lag eine verrottende Leiche. Überall war Blut und neben der Leiche lagen ausgerissene Fingernägel. Und die Leiche war niemand anderes als Mrs. Manson, Jennas Mutter. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als ich diese kindliche Stimme hinter mir hörte. „Ach wie dumm, jetzt hast du Mommy aufgeweckt.“ Bevor ich auf Jennas Worte reagieren konnte, wurde mir von hinten etwas Hartes gegen den Kopf geschlagen und ich verlor für eine lange Zeit das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, war es stockfinster und ich war an Händen und Füßen gefesselt. Ich wollte mich aufsetzen, doch ich schlug sofort mit der Stirn gegen irgendetwas und musste mich wieder hinlegen. Es war eng, die Angst stieg in mir hoch und als ich versuchte, meine Umgebung irgendwie tastend zu erforschen, wurde mir bewusst, dass ich in einem Sarg lag. Nun wurde meine Angst zu Panik und ich versuchte zu schreien, doch meine Lippen waren mit Sekundenkleber festgeklebt worden. Ich schlug mit aller Macht um mich, aber der Klang des Holzes verriet mir die grausame Wahrheit, dass ich bereits unter der Erde lag. Jenna hatte mich lebendig begraben und dieses gottverdammte Rohr war die einzige Sauerstoffzufuhr, die mir verblieb. Draußen an der Oberfläche hörte ich Jenna singen und als ich versuchte, auf mich aufmerksam zu machen, hielt sie inne und rief „Ach, das ist ja schön, dass du endlich wach bist. Du hast ja auch lange genug geschlafen, findest du nicht?“ Ich schrie verzweifelt durch meine verklebten Lippen, schlug gegen den Deckel des Sarges und begann schließlich in meiner Panik zu weinen. Warum? Warum tat Jenna nur so etwas? „Weißt du“, sagte sie schließlich, als sie nah genug am Rohr stand, damit ich sie auch gut genug hören konnte „meine Eltern waren sehr grausame Menschen. Du warst die Einzige, die mir Halt gegeben hat in dieser harten Zeit. Dank dir konnte ich immer durchhalten und versuchen, das alles zu ertragen. Aber dann hast du einfach den Kontakt zu mir abgebrochen. Ich bin dir völlig egal geworden. Das konnte ich dir einfach nicht verzeihen. Du hast mich einfach weggeworfen, um mich gegen eine neue Freundin einzutauschen. Aber das ist nun vorbei. Jetzt wirst du dich auch für immer schlafen legen, und zwar für immer.“ Ein wahnsinniges Lachen war zu hören und ich erkannte, dass Jenna vollkommen verrückt geworden war. Sie hatte völlig den Verstand verloren.
 

Es war ein reiner Glücksfall, dass die Polizei zwei Tage später zu Jennas Haus kam, um mit ihr wegen eines kleinen Auffahrunfalls an der Straße zu sprechen. Ich war zu dem Zeitpunkt völlig dehydriert, schwach und hatte immer wieder das Bewusstsein verloren. In meinen Fingern steckten Holzsplitter und ich hatte in einer klaustrophobischen Panikattacke meine Fingernägel ausgerissen, indem ich sie immer wieder ins Holz geschlagen habe. Zwar waren meine Lippen zusammengeklebt, doch die Aussicht auf meine letzte Rettung war einmalig und so schaffte ich es unter unfassbaren Schmerzen, meine Lippen auseinanderzureißen und meinen Mund zu öffnen. Das Blut lief mir in Strömen in den Mund und der Schmerz war heftig, doch er wirkte aufputschend. Ich schrie aus voller Kehle um Hilfe und betete, dass mich irgendjemand hören würde. Tatsächlich konnte ich nach einer ganzen Weile befreit werden und wurde direkt ins Krankenhaus gebracht. Die Polizei ließ daraufhin das gesamte Grundstück umgraben und förderte insgesamt zehn Leichen ans Tageslicht, darunter auch Jennas Eltern. Sie alle waren auf die gleiche Weise getötet worden: Zuerst wurden sie betäubt, dann lebendig begraben mit einer Sauerstoffzufuhr, um einen Erstickungstod zu vermeiden. Die Münder der Toten wurden ebenfalls zusammengeklebt und sie alle waren verhungert, verdurstet oder starben durch einen plötzlichen Schock. Aber das war längst nicht alles, was noch gefunden wurde: Im Keller des Hauses befand sich ein Käfig. Er war klein und in der Ecke des Käfigs standen eine Futter- und eine Wasserschüssel. Man ging zuerst davon aus, dass dieser Käfig für den Hund der Mansons bestimmt waren. Aber die Mansons hatten niemals einen Hund besessen, geschweige denn überhaupt ein Haustier. Als ich davon erfuhr, konnte ich nichts sagen, außer nur zu weinen. Hätte ich gewusst, was sie Jenna angetan hatten, dann hätte ich sie nicht alleine gelassen. Dann hätte es nicht so kommen müssen.

Jenna kam in eine geschlossene Anstalt, da sie als nicht schuldfähig eingestuft wurde. Ich erklärte mir immer wieder selbst, dass man sich gut um Jenna kümmern und dass man ihr helfen würde. Die ganze Zeit redete ich mir ein, dass diese Entscheidung die beste für Jenna war. Aber manchmal ist das Leben heimtückisch und grausam. Knapp letzte Woche erfuhr ich von einem Polizeibeamten, dass Jenna aus der Anstalt geflohen war. Sie hatte ihre Therapeutin mit einer Vorhangkordel erdrosselt und konnte mit ihrem Wagen entkommen. Der Polizeibeamte hatte mich kurz danach angerufen, um mir zu sagen, dass ich Polizeischutz bekäme und meine Familie vorerst wegziehen sollte. Ich weiß, dass Jenna ihren Plan nicht aufgeben kann. Sie wird alles daran setzen, mich zu töten.
 

Inzwischen ist es fast vier Wochen her, seit ich mit meiner Familie umgezogen bin und noch immer hat die Polizei keine Spur von Jenna. Meist sitze ich am Fenster und schaue hinaus in den Garten. Als wir ankamen, war dort nichts außer verwilderten Rasen und Unkraut. Inzwischen ist dieser Garten richtig aufgeblüht, dabei hat sich aber nie jemand von uns um ihn gekümmert. Es ist windig geworden und die Rosen, Sonnenblumen und Chrysanthemen schaukeln leicht vor und zurück. Sie sehen schön aus, sie leuchten richtig in ihren schönsten Farben. Aber der Scheint trügt. Denn es sind keine einfachen Zierblumen für den Garten. Nein, diese Blumen sind Grabblumen… meine Grabblumen.

Halloween Special Vorschau: Die Vogelscheuchenmorde

Ausschnitt aus einer Tageszeitung:
 

Bizarre Mordserie erschüttert die kleine Stadt Annatown Ohio. In der Nacht zu Halloween wurden vier Kinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren als vermisst gemeldet, ihre Leichen wurden am nächsten Tag auf der verlassenen Cohan Farm gefunden. Der Täter entfernte ihnen die Organe und stopfte ihre Körper mit Bonbons und Süßigkeiten aus. Es ist bereits das vierte Jahr in Folge, in der Kinder auf die gleiche Weise ermordet werden. Die Polizei tappt nach wie vor im Dunkeln, Augenzeugen zufolge soll der Täter jener Vogelscheuche bis aufs Haar gleichen, die in Annatown „Scarecrow Jack“ genannt wird. Einige der Zeugen sagten aus, dass es jene Vogelscheuche selbst war, welche seit einigen Jahren in Annatown ihr Unwesen treibt. Die Polizei distanziert sich von derlei Behauptungen und erklärt, dass der Serienmörder ein Mensch aus Fleisch und Blut sei und keine wandelnde Vogelscheuche. Man dürfe sich nicht von der Hysterie und vom Aberglauben der Bewohner anstecken lassen und sich der akuten Gefahr bewusst sein. Als Sicherheitsmaßnahme wurden Ausgangssperren verhängt, doch selbst das scheint den „Scarecrow Killer“ nicht aufhalten zu können. Der letzte Vorfall ereignete sich wenige Tage zuvor, als ein Notruf bei der Polizei einging. In der Nacht zum Sonntag rief der 8-jährige Lewis G. seine Eltern aus dem Schlaf und sagte, dass die Vogelscheuche Scarecrow Jack an seinem Bett gestanden habe. Tatsächlich fanden sich im gesamten Kinderzimmer Spuren, jedoch fehlten jegliche Anzeichen von Einbruchsspuren. Die Mutter des Jungen berichtet ebenfalls, die Vogelscheuche mehrmals an ihrem Fenster gesehen zu haben, wie sie sie anstarrte. Die Polizei rate den Bewohnern von Annatown dringend dazu, die Türen und Fenster zu verschließen, die Ausgangssperre zu beachten und der alten Cohan Farm fern zu bleiben. Zwar bestreite sie vehement, dass es sich bei dem Täter um die Vogelscheuche selbst handle, jedoch ist es nicht zu leugnen, dass die Morde mit der Vogelscheuche in Verbindung stehen. Denn alle Opfer wurden auf ihrem Feld gefunden.

Scarecrow Jack Teil 1: Homecoming

Seit meiner Kindheit lebte ich in der ländlichen Stadt Annatown in der Nähe einer alten verlassenen Farm. Nach dem plötzlichen Tod meiner Eltern zog ich dort wieder ein, zusammen mit meinem Mann Charles und unserem Sohn Lewis. Aufgrund meines schweren Asthmas vertrage ich die Stadtluft nur sehr schlecht, weshalb mir das Leben auf dem Land doch sehr gelegen kommt. Und da mein Mann als Schriftsteller überall arbeiten kann, gaben wir das Haus in der Stadt auf und zogen hierher. Lewis fand zu meiner Erleichterung schnell Anschluss in der Schule und freundete sich mit den Kindern aus der Nachbarschaft an. Die meisten Eltern kannte ich noch selbst aus meiner Schulzeit und des Öfteren besuchte man sich ja auf eine Tasse Kaffee und bei der Gelegenheit kam Lewis immer mit, damit er jemanden zum Spielen hatte. Wir alle waren glücklich und zufrieden in unserem neuen Heim und sogar Charles’ Schreibblockade war vorbei. Allerdings gab es da etwas, was Lewis Unbehagen bereitete und was mich dazu veranlasste, sein Zimmer zu verlegen: Sein Bett war nämlich direkt neben dem Fenster, von wo aus man das Feld der verlassenen Farm sehen konnte. Denn dort stand noch eine alte Vogelscheuche, die ihm Angst machte. Schon in der ersten Nacht kam er zu uns ins Schlafzimmer gerannt und kroch völlig verängstigt ins Bett. „Hey Lewis, hast du schlecht geträumt?“

„Da ist eine Vogelscheuche vor meinem Fenster!“ flüsterte er und kuschelte sich fest an mich. „Die macht mir Angst.“ Ich ging mit ihm in sein Zimmer zurück und ließ mir die unheimliche Vogelscheuche zeigen, vor der er sich so erschrocken hatte. Dieses Ding stand da schon seit meiner Kindheit und ich hatte sie nur ein Mal aus der Nähe gesehen. Ich erinnerte mich noch gut, wie ich zu meinen Freunden gesagt hatte, dass es die wohl hässlichste Vogelscheuche auf der ganzen Welt war. Sie trug einen schwarzen Mantel mit langen Ärmeln, einen rotschwarz gestreiften Rollkragenpullover, einen Schal und eine alte zerschlissene Jeanshose, dazu schwarze Stiefel, die bis unterhalb der Knie reichten. Auf dem Kopf trug sie einen Lederhut, der einem zusammengefallenen Hexenhut schon fast nahe kam. Das Gesicht war rund und ich weiß noch genau, dass mich besonders das Gesicht erschreckt hatte. Es war ein bösartiges Grinsen und die Nase war ähnlich die einer Karottennase, wie sie bei Schneemännern zu finden waren. Der Mantel der Vogelscheuche reichte ihr bis zu den Füßen und über der Vogelscheuche hing ein altes Holzschild, auf dem „Happy Halloween“ stand. In der linken Hand trug die Vogelscheuche einen Beutel, der wie ein Halloweenkürbis aussah und alte, längst vergammelte Süßigkeiten lagen darin. Mein Vater hatte mir mal erzählt, dass die Vogelscheuche eine alte Halloweenrequisite war, dann aber ihren Weg aufs Feld gefunden hatte, um die Krähen zu verscheuchen. Wir hatten die Vogelscheuche immer „Scarecrow Jack“ genannt und es war ein Brauch in der Gegend, zu Halloween aufs Feld zu gehen, um sich einer Mutprobe zu unterziehen. Welches Kind sich nahe genug an die Vogelscheuche herantraute, durfte sich die Süßigkeiten aus seinem Beutel nehmen. „Du brauchst keine Angst zu haben mein Schatz. Die Vogelscheuche kann dir nichts tun, sie ist zu beschäftigt damit, die Krähen vom Feld zu vertreiben!“

„Aber Mommy…“

„Versuch zu schlafen, ich ziehe die Vorhänge zu, dann siehst du ihn auch nicht mehr.“ Doch auch in den darauf folgenden Nächten kam Lewis zu uns ins Bett, weil er Angst vor Scarecrow Jack hatte. Er bekam Alpträume und machte sogar ins Bett. Charles und ich waren beide der Meinung, dass es das Beste wäre, wenn Lewis woanders sein Zimmer hätte, wo er die Vogelscheuche nicht sehen musste. Dies schien die beste Lösung zu sein und auch Charles war der Meinung, dass dies das Beste wäre, wobei er mich aber beiläufig fragte, warum wir die verdammte Vogelscheuche nicht einfach entfernen könnten. Ich erklärte ihm, dass das nicht ginge, weil die Vogelscheuche auf Privateigentum stand. „Privateigentum?“ fragte er mich irritiert, weil er die ganze Geschichte nicht kannte. „Ich dachte, die Farm wäre längst verlassen.“

„Die Cohans, denen die Farm gehörte, sind über Nacht einfach weggezogen. Im Prinzip gehören ihnen das Grundstück und das Haus also noch. Und damit auch die Vogelscheuche.“

„Na großartig. Dabei ist das komplette Gelände völlig verwildert und die Felder sehen so aus, als könnte man nie wieder dort etwas anbauen. Würde mich nicht wundern, wenn das Haus auch schon total verfallen wäre.“

„Es ist doch alles gut. Lewis hat jetzt ein neues Zimmer und es ist sogar größer als das Alte. Er ist zufrieden und von nun an wird auch endlich Ruhe herrschen.“ Ich setzte mich schließlich auf die Veranda, von wo man aus die Vogelscheuche gut sehen konnte und ich dachte über damals nach. Charles setzte sich zu mir und begann Zeitung zu lesen. „Weißt du, wenn ich die Vogelscheuche so sehe, muss ich immer an damals denken, vor knapp zwanzig Jahren. Ich war zwölf und eines Tages kam ein Junge namens Jack zu uns. Er sah völlig verwildert aus mit seinem schwarzen Haar, weshalb wir ihn immer Scarecrow Jack nannten. Er hatte immer still in der Ecke gesessen und gemalt. Ich glaube, er kam gerade erst in die dritte Klasse.“

„Wie? Dann wurdet ihr alle gemeinsam unterrichtet?“

„Wir leben auf dem Land Liebling. Es gab nie genug Kinder, um sie auf zwei Schulen zu verteilen, deswegen hatten wir auch die Grundschüler bei uns.“ Charles blätterte in der Zeitung und gab ein leises Murmeln von sich, welches ich nicht verstehen konnte. Wahrscheinlich hatte er nur einen Artikel leise für sich kommentiert. Wir saßen eine ganze Weile da und beobachteten, wie der Wind in den Weiden wehte und dunkle Wolken aufzogen. Es würde wohl Gewitter geben. Der Wind nahm an Stärke zu und mir wurde es schließlich zu kalt. Ich ging wieder ins Haus zurück, Charles kam wenige Minuten später ebenfalls rein und vorsorglich wurden alle Fenster verschlossen. Am Abend hatte sich der Himmel bereits so stark verdüstert, dass wir die Lampen anschalten mussten, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Mit einem ohrenbetäubenden Donnern, der sogar den Erdboden erzittern ließ, brach das Gewitter über unser kleines Städtchen Annatown herein. Der Regen glich einem einzigen Wolkenbruch, der Sturm schlug heftig gegen die Fensterläden und riss sogar ein paar Bäume heraus. In den Fugen pfiff der Wind wie Gespenstergeheul und Lewis bekam eine solche Angst, dass er bei uns im Bett schlafen wollte, bis das Gewitter vorbei war. Trotzdem schliefen er und sein Vater schnell ein, ich hingegen bekam kein Auge zu. Ich konnte bei diesem Lärm da draußen einfach keine Ruhe finden und ging schließlich ins Wohnzimmer, um ein wenig fernzusehen. Müde und lustlos zappte ich die Programme durch und lauschte dem Rauschen und Pfeifen des Sturmes und dem Regenprasseln. Irgendwann, es war vermutlich gegen drei Uhr morgens, wachte ich urplötzlich auf, als ich ein dumpfes Schlagen zu hören glaubte. Sofort schreckte ich auf und glaubte zuerst, da hätte jemand an der Tür geklopft. Sofort verwarf ich den Gedanken wieder, als ich merkte, dass der Sturm immer noch wütete. Das musste wahrscheinlich ein Fensterladen sein, der gegen die Scheiben schlug. Offenbar hatte sich einer von ihnen gelöst. Müde rieb ich mir die Augen und ging zum Fenster hin, um nachzusehen, doch da hörte ich wieder dieses Klopfen. Dieses Mal klang es aber nicht wie ein Schlagen der Fensterläden an der Hauswand sondern wie das Klopfen einer Hand an der Tür. Mich überkam ein Schauer und ich fuhr hoch. „Charles?“ rief ich und wandte mich der Tür zu, von der das Klopfen kam. Da keine Antwort kam, rief ich „Lewis?“ Immer noch keine Antwort. Es klopfte wieder, dieses Mal lauter als vorher. Ich bekam Angst und wich instinktiv von der Tür zurück. Wer oder was auch immer da klopfte, es waren weder Charles noch Lewis. Ich wartete noch eine Weile und da es still blieb, wagte ich es doch noch, an die Tür zu gehen und zu sehen, wer da war. Doch als ich sie öffnete, war da niemand, nur der dunkle Hausflur. Vielleicht war es nur der Wind… das musste es sein. Ich atmete erleichtert durch und entschloss, ins Bett zu gehen und noch ein wenig zu schlafen. Doch vorher wollte ich noch den Fernseher ausschalten, der immer noch lief. Also ging ich wieder ins Wohnzimmer zurück, nahm die Fernbedienung und schaltete ihn aus. Ein greller Blitz erleuchtete für einen kurzen Augenblick die Nacht und ein lautes Klopfen kam vom Fenster her. Ich drehte mich erschrocken um und sah die Vogelscheuche am Fenster stehen. Sie grinste mich breit mit raubtierhaften spitzen Zähnen an und winkte mir mit einer Hand zu, die mit langen, rasiermesserscharfen Klingen versehen war. Ich schrie vor Entsetzen laut auf und stolperte zurück. Dabei fiel ich über den kleinen Rolltisch und stürzte zu Boden. Charles kam im nächsten Moment ins Wohnzimmer gerannt und half mir hoch. „Liebling, warum hast du so geschrieen?“

„Die Vogelscheuche!“ rief ich hysterisch und hatte solch eine Angst, dass ich mich weinend an ihn klammerte. „Die Vogelscheuche stand am Fenster und hat mir zugewinkt.“ Charles sah zu dem Fenster, jedoch war die Vogelscheuche wieder verschwunden. Mein Mann versuchte mich zu beruhigen und sagte „Du hast bloß schlecht geträumt. Vielleicht hast du auch die Schatten der Bäume für eine Vogelscheuche gehalten.“

„Nein! Sie war es wirklich. Sie hat mich angegrinst und hatte Klingen an den Fingern wie Freddy Krueger.“

„Da ist aber keine und Vogelscheuchen klopfen nicht oder winken einem zu. Leg dich schlafen! Lewis habe ich auch schon in sein Bett gebracht.“ Es hatte keinen Sinn, mit Charles darüber zu diskutieren. Für ihn stand fest, dass ich das Ganze nur geträumt hatte und ich musste wohl oder übel zugeben, dass mein Gerede von einer lebendigen Vogelscheuche vollkommen abwegig und verrückt war. Also gab ich nach und folgte Charles ins Schlafzimmer und legte mich ins Bett. Allerdings konnte ich einfach nicht einschlafen, denn ich war mir hundertprozentig sicher, die Vogelscheuche am Fenster gesehen zu haben. Und solange ich wusste, dass dieses Ding vor unserem Haus sein könnte, würde ich keine Ruhe finden.
 

Gleich am nächsten Morgen sahen wir uns die Schäden des Sturms an und konnten von Glück reden, dass wir so glimpflich davongekommen waren. Lediglich ein paar Schindeln waren vom Dach gerissen worden, ein Blitz hatte den Stamm des Apfelbaums gespalten und der Zaun war kaputt. Aber am Haus schien alles in Ordnung zu sein. Das Einzige, was wir entdeckten, waren Kratzer an Lewis’ Fenster. Charles vermutete, dass herumfliegende Gegenstände die Ursache gewesen sein könnten, aber ich musste wieder an die Vogelscheuche denken. Ich spielte sogar schon mit dem Gedanken, Lewis zu fragen, ob dieses Ding ihm auch zugewinkt oder auch ans Fenster geklopft hatte. Aber ich beschloss, es lieber zu lassen. Ich wollte Lewis keine Angst machen und vielleicht hatte Charles Recht und ich hatte geträumt. Dann wäre dieser Traum aber sehr real gewesen. Als ich dabei zur alten Farm hinübersah, wurde mir ganz anders zumute, als ich die Vogelscheuche da stehen sah. Als hätte der Sturm ihr rein gar nichts angehabt und als wäre sie dort festgewachsen. Während Charles die Reparaturen durchführte, fuhr ich ins Städtchen, um Einkäufe zu tätigen. Da der Supermarkt erst später aufmachte, entschied ich mich, in den kleinen Krämerladen zu gehen, wo meist ein paar meiner alten Schulkameraden zu finden waren. Ich hatte Glück und traf Madison an, meine alte Schulfreundin und begrüßte sie herzlich. „Hey Süße, wie geht es dir denn? Mensch das war ja ein Sturm gestern. Ist bei euch wenigstens alles heil geblieben?“

„Nur ein paar abgerissene Schindeln und ein kaputter Zaun. Und den Apfelbaum hat es leider erwischt.“

„Na da habt ihr noch mal Glück gehabt. Jules ist die Eiche im Garten direkt ins Arbeitszimmer gekracht und hat alles verwüstet. Und bei den Feltons hat es hineingeregnet. Das war aber auch ein heftiger Sturm gewesen. Einfach unfassbar.“

„Stimmt, aber als ich hierhergefahren bin, hab ich gesehen, dass die Vogelscheuche der Cohans noch da steht.“

„Wie? Das kann doch wohl nicht sein. Uns reißt es überall die Bäume raus und schleudert die Autos in die Gräben und ausgerechnet die alte Vogelscheuche bleibt stehen. Jemand muss sie wieder aufgestellt haben, wenn du mich fragst.“

„Das muss wohl so sein. Aber gestern hatte ich echt geglaubt, sie würde vor meinem Fenster stehen und ans Fenster klopfen.“ Als Madison das hörte, ließ sie vor Schreck ihre Tasche fallen und sah mich erschrocken an. Ich war über diese Reaktion sehr überrascht, besonders, als mich alle im Laden mit dem gleichen Blick ansahen. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Die Leute wichen meinem Blick aus und Madison sah nicht danach aus, als würde sie gerne darüber sprechen. Schließlich aber führte sie mich nach draußen und sah sich um. „Madison, was soll das Theater? Erklär mir das mal.“

„Das war gerade ein echt schlechter Ort, um über so etwas zu sprechen. Aber du kannst es ja nicht wissen, da du ja die letzten Jahre außerhalb von Annatown gelebt hast. Weißt du, es sind schreckliche Dinge geschehen. In den letzten Jahren gab es einige Mordfälle, die bis jetzt noch nicht aufgeklärt werden konnten. Und die Leichen wurden allesamt auf dem Feld vergraben, wo die Vogelscheuche steht.“

„Was willst du mir damit sagen?“

„Ich weiß es auch nicht. Aber es gibt hier einige, die fest davon überzeugt sind, dass die Vogelscheuche hier herumschleiche. Mit der Zeit hat sich hier so ein gewisser Aberglaube breit gemacht.“ Mir wurde ganz anders, als Madison mir das erzählte und obwohl ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, konnte ich meine Verunsicherung kaum verbergen. „Aber… das ist doch unmöglich. Ich meine, Vogelscheuchen können doch nicht zum Leben erwachen.“ Madison zuckte mit den Achseln und sah unsicher zur Seite, um meinem Blick auszuweichen. „Du hast es ja nicht miterlebt. Zuerst dachte ich ja auch, dass es das Hirngespinst eines Säufers ist, aber sogar Thomas hat sie gesehen. Der Pfarrer spielt auch schon verrückt.“ Wir schwiegen eine Weile und ich spürte, dass da noch etwas auf Madisons Seele lastete. Doch sie schien nicht darüber sprechen zu wollen, weshalb ich auch nicht weiter nachfragte. Da wir noch ein wenig miteinander reden wollten, gingen wir ein Stück gemeinsam und ich erzählte von meiner Zeit, als ich Annatown verlassen hatte. Wir machten schließlich einen Spaziergang und gingen eine steile Anhöhe hinauf, von welcher ich aus den Wald sehen konnte. Seit dem Brand vor zwanzig Jahren war er eigentlich nur noch eine traurig kahle Einöde, in der nichts mehr wuchs. Dabei hatten wir früher gerne dort gespielt. „Erinnerst du dich noch an den Abend, als der Brand ausgebrochen war?“

„Oh ja, das war schon ziemlich schlimm. Die ganze Stadt musste evakuiert werden und es gab ein fürchterliches Chaos. Zum Glück war niemand zu Schaden gekommen.“

„Nun ja, niemand außer Scarecrow Jack.“ Madison zuckte bei diesem Namen zusammen und sah mich erschrocken an. Ich verstand diese Reaktion nicht und erklärte „Na erinnerst du dich nicht an diesen unheimlichen Jungen, der immer so seltsame Sachen in der Schule gemalt hat? Er war doch im Wald, als es passierte.“ „Ach ja, stimmt. Den hatte ich ja beinahe vergessen. Scarecrow Jack… hieß der nicht eigentlich Jackson Cohan?“ Der Name kam mir vertraut vor, allerdings konnte ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass die Cohans jemals Kinder hatten. „War er etwa der Sohn der Cohans?“

„Nein, der Neffe. Das Jugendamt hatte ihn dort untergebracht. Ich fand ihn immer schon etwas unheimlich. Er hat ja auch immer wie eine Vogelscheuche ausgesehen mit diesem langen schwarzen Haar und den alten Klamotten.“ Wir gingen schließlich weiter und erledigten im Supermarkt die Einkäufe. Anschließend kehrte ich nach Hause zurück, wo Charles mit Lewis beschäftigt war, den Zaun zu reparieren. Mein Blick wandte sich zum alten Feld der Cohans, wo diese unheilvolle Vogelscheuche stand. Sie bewegte sich im Wind ein wenig hin und her, grinste mich an und hielt in der einen Hand diesen Halloweenkürbisbeutel mit den Süßigkeiten drin. Auch das Schild, auf dem mit roter Farbe „Happy Halloween“ geschrieben stand, war vom Unwetter verschont geblieben. Mir wurde ganz anders, als ich dieses hässliche Ding sah und ging einfach weiter. Die Vogelscheuche drehte ihren Kopf ganz langsam in meine Richtung. Als ich das sah, ergriff ich die Flucht und traute mich den Rest des Tages nicht mehr aus dem Haus. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mich die Vogelscheuche beobachtete und mich böse angrinste. Zum Glück blieben wir von einem erneuten Gewitter verschont, sodass Lewis in seinem eigenen Bett schlafen konnte. Charles und ich lagen eng aneinandergekuschelt und ich spürte, wie müde ich eigentlich war. Langsam fielen mir die Augen zu und in den Armen des Mannes, den ich liebte und den ich kurz vor Lewis’ Geburt geheiratet hatte, fühlte ich mich sicher. Irgendwann in der Nacht jedoch hörte ich, wie leise die Zimmertür geöffnet wurde und Lewis auf Socken hereinkam. „Dad“ sagte er leise und ich hörte, dass er etwas unruhig war. „Die Vogelscheuche ist an meinem Fenster und ich habe Angst!“ Normalerweise wäre ich sofort aufgestanden, aber ich fühlte mich einfach viel zu müde und erschöpft, als dass ich hätte aufstehen können. Also stand stattdessen Charles auf und sah nach. Da die Tür offen stand, konnte ich deutlich hören, wie er beruhigend auf seinen Sohn einredete und ihm erklärte, dass da gar keine Vogelscheuche stand und Lewis wahrscheinlich nur die Schatten der Äste gesehen hätte. Schließlich wurde die Zimmertür geschlossen, aber Charles Schritte verschwanden in Richtung Bad. Ich drehte mich müde zur Seite und war nach kurzer Zeit eingeschlafen.

Ein lauter Schrei riss mich schließlich aus dem Schlaf und Charles und ich eilten beide zu Lewis, da wir glaubten, es sei etwas Schlimmes passiert. Unser Sohn saß aufrecht im Bett, die Augen vor Angst geweitet und er zitterte am ganzen Körper. Ich eilte direkt zu ihm, nahm ihn in den Arm und versuchte, ihn zu beruhigen. „Mommy“ rief Lewis ganz aufgeregt. „Die Vogelscheuche stand an meinem Bett!“

„Jetzt reicht es aber langsam“, sagte Charles schließlich und schaltete das Licht an. „Morgen früh kommt das verdammte Ding weg, ganz egal wem sie gehört.“ Lewis weigerte sich, in dieser Nacht alleine zu schlafen und so gingen wir zusammen mit unserem Sohn ins Schlafzimmer. Als ich mich ins Bett legen wollte, bemerkte ich, dass meine Fußsohlen ganz schmutzig waren und sogar ein wenig Erde daran klebte. Ich wies Charles per Gestik an, mit mir auf den Flur zu gehen und gemeinsam ging ich mit ihm in Lewis’ Zimmer zurück. Als wir uns den Boden genauer ansahen, bemerkten wir, dass da tatsächlich etwas Dreck war. Instinktiv ergriff ich seinen Arm und sah ihn angsterfüllt an. „Schatz, da war jemand in Lewis’ Zimmer! Jemand schleicht hier durchs Haus!“ Während ich bei unserem Sohn bleiben sollte, ging Charles durchs Haus und suchte nach Hinweisen darauf, dass jemand eingebrochen war. Doch Türen und Fenster waren verschlossen und es befand sich auch niemand mehr im Haus. Aber wie sonst konnte die Vogelscheuche hereingekommen sein? Wurde ich langsam verrückt und stammte der Dreck gar nicht von einem Einbrecher sondern von uns? Vielleicht hatte Lewis vergessen, die Schuhe auszuziehen und ich hatte das nicht bemerkt. Das war auch gut möglich. Wurde ich langsam paranoid? Ich versuchte, mir einzureden, dass das alles völliger Unsinn war. Es gab keine Vogelscheuchen, die plötzlich lebendig wurden. Wir lebten doch nicht mehr im finstersten Mittelalter, wo man vielleicht an so etwas wie Teufelswerk geglaubt hätte, aber wir leben im Zeitalter der Wissenschaft und so etwas wie paranomale Aktivitäten war völlig an den Haaren herbeigezogen. Trotzdem hatte ich jedes Mal furchtbare Angst, wenn ich die Vogelscheuche sah.

Am darauf folgenden Tag beschloss Charles, seine Drohung wahr zu machen und er ging zur verlassenen Cohan Farm, mit dem Ziel, die Vogelscheuche endlich loszuwerden. Lewis war in der Schule, also ging ich mit, um auch selbst Gewissheit zu haben. Wir kletterten über den völlig maroden Zaun und sahen, wie die Vogelscheuche sich langsam im Winde hin und her bewegte. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch ein unheimliches und zugleich so abscheuliches Ding gesehen. Früher hatte ich sie nicht so schlimm in Erinnerung gehabt aber jetzt sah sie aus, als sei sie aus den Tiefen der Hölle emporgestiegen. Charles war das Ding ebenfalls nicht ganz geheuer, trotzdem ging er näher hin und sah sie sich genauer an. Schließlich begutachtete er den Süßigkeitenbeutel, der stets gefüllt war. In diesem Moment erschien es mir nicht mehr ein harmloser Halloweenbrauch oder eine Mutprobe zu sein. Die Vogelscheuche mit den Süßigkeiten zu sehen, erinnerte mich irgendwie an einen Kinderschänder, der seine Opfer mit Bonbons in ihr Verderben lockte. Ich erschauderte bei dem Gedanken und sagte zu Charles „Mach bitte schnell“. Charles packte die Vogelscheuche an den Stangen und zog sie aus dem Boden heraus. Dabei schaukelte sie so heftig hin und her, dass ihr der Kopf abfiel, auf den verdorrten Feldboden fiel und mir vor die Füße rollte. Vorsichtig und mit der wilden Fantasie im Hinterkopf, der Kopf könnte zum Leben erwachen und mir die Hand abbeißen, hob ich das Ding hoch und schrie entsetzt auf, als aus dem Stoffkopf ein verrotteter menschlicher Kopf fiel. Charles wurde leichenblass und sah sich den Rest der Vogelscheuche genauer an. Auch er schrie auf, als er den Rest der Leiche fand. Sie war völlig vertrocknet und schon fast mumifiziert. Lediglich die Kleider und die Stangen hatten das verrottete Ding zusammengehalten. Irgendjemand hatte eine Leiche als Vogelscheuche getarnt. Wir riefen sofort die Polizei, die unsere Aussagen aufnahmen und die Leiche zur Autopsie brachten. Zwar konnten sie noch nichts Genaues sagen, aber nach ihren Aussagen musste die Leiche schon mehr als zwanzig alt sein. Was aber in meinen Augen noch mehr Anlass zur Beunruhigung gab, war die Tatsache, dass die Süßigkeiten in dem Beutel nicht älter als zwei Tage sein konnten. Denn sie waren noch ganz frisch und waren auch nicht durch das Regenwasser des Sturms verklebt. Irgendjemand musste die Süßigkeiten in den Beutel getan haben. Vielleicht… vielleicht war es ja auch die Vogelscheuche selbst?

Scarecrow Jack Teil 2: Hearse

Es war inzwischen eine Woche vergangen, seit Charles und ich den entsetzlichen Fund auf dem Feld der Cohans gemacht hatten. Um wen es sich bei der Leiche handelte, war noch nicht vollständig geklärt, aber nach Angaben der Polizei wurde sie erst vor kurzem als Vogelscheuche auf dem Feld aufgestellt. Denn um zu mumifizieren, müsste die Leiche an einem trockenen Ort liegen. Und das war auf freiem Felde nicht möglich, vor allem weil die Raben und Krähen die Leiche mit Sicherheit größtenteils gefressen hätten. Da es in den letzten Jahren immer häufiger Morde gab, vor allem an Kindern, vermutete man den gleichen Täter wie hier. Als ich hörte, dass Kinder in den letzten Jahren ermordet wurden, stieg Angst in mir hoch und ich besuchte Madison in ihrem Haus, um über diese Fälle zu reden. Doch wie sich herausstellte, weigerte sie sich, darüber zu sprechen und auch sonst schien jeder sich seltsam zu verhalten. Einzig der Pfarrer von Annatown schien gesprächsbereit zu sein. Pfarrer Maxwell kannte ich noch von meiner Jugend her, inzwischen war er alt, grauhaarig und er hing oft an der Flasche, wie in Annatown gemunkelt wurde. Er hatte viel erlebt, zu viel so wie er auf mich wirkte und er schien sehr erleichtert zu sein, mit mir über diese Morde reden zu können, da es ihm offenbar schwer auf der Seele lastete. Wir saßen im Pfarrhaus, wo er mir einen Tee servierte. „Die Sache hat uns alle sehr erschüttert“ begann er mit müden und zitternden Worten. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Es geschah jedes Mal an Halloween. Die Kinder gingen verkleidet Süßigkeiten sammeln und kamen nicht nach Hause. Man fand sie tot auf, begraben auf dem Feld der Cohan Farm, wo die Vogelscheuche steht. Man fand sie aufgeschlitzt vor, die Eingeweide wurden ihnen entfernt und die Raben begannen sie bereits aufzufressen. Dafür hatte man die toten Kinder mit Süßigkeiten regelrecht ausgestopft. Ihre ausgehöhlten Bäuche, ihre Kehlen und Münder waren vollgestopft damit. Und sie hatten am ganzen Körper tiefe Schnittwunden, als hätte ein Tier mit langen, scharfen Krallen sie attackiert. Und manchmal treibt nachts die Vogelscheuche ihr Unwesen.“

„Aber Vater Maxwell, das ist doch völliger Quatsch. Vogelscheuchen wandeln doch nicht herum.“

„Das habe ich ja auch zunächst gesagt, bis ich es selber gesehen habe. Sie müssen wissen, ich hatte bis vor kurzem noch einen Hund, einen Schäferhund, der die Katzen und Ratten fernhalten sollte. Eines Nachts begann er fürchterlich laut zu bellen und ich glaubte zunächst, es wären Einbrecher. Ich schaltete die Taschenlampe ein und ging hinaus, um nachzusehen. Plötzlich hörte ich Jonathan winseln und als ich zu ihm eilte, sah ich die Vogelscheuche. Sie schlug ihre Klauen in Jonathan und zerfetzte ihn wie ein wildes Tier. Herr im Himmel, ich habe mich so erschrocken, dass ich die Taschenlampe fallen ließ. Sie drehte sich zu mir um und ich sah in der Dunkelheit nur ihre dämonischen Augen funkeln. Und dann begann sie zu lachen. Es war ein wahnsinniges und monströses Gelächter, als käme es aus dem siebten Kreise der Hölle.“ Der Pfarrer bekreuzigte sich bei diesen Worten und schrumpfte merklich zusammen. „Ich dachte, ich würde verrückt werden und ich wagte es nicht, der Polizei es zu sagen. Wenn ich ihnen sagen würde, dass eine wandelnde Vogelscheuche meinen Hund in Stücke gerissen hat, würden sie denken, ich hätte zu viel getrunken. Doch dann wurden Halloween desselben Jahres fünf Kinder auf der Cohan Farm ermordet und sie waren so entsetzlich zugerichtet. Man hat einem Kind sogar die Haare abrasiert, die Augen zerschnitten und die Nase entfernt. Und als wäre das nicht schon schrecklich genug, hatte jemand „Happy Halloween“ in die Stirn geschnitten.“ Mir wurde ganz anders, als ich davon hörte. „Seit wann geht das schon so?“

„Seit vier Jahren. Manchmal taucht die Vogelscheuche über Monate nicht in der Stadt auf, aber dann wieder gibt es Zeiten, in denen man sich kaum aus den Haus wagt, weil sie dort draußen ihr Unwesen treibt.“

„Aber Vogelscheuchen erwachen doch nicht einfach zum Leben. Es muss etwas anderes dahinter stecken. Vielleicht… vielleicht verkleidet sich ja jemand als „Scarecrow Jack“ und begeht diese Morde.“

„Nein, das IST jene Vogelscheuche, da bin ich mir sicher. Und überhaupt: Wer in der Stadt sollte sich denn als Vogelscheuche ausgeben und diese Morde begehen?“ Auf diese Frage konnte ich nur antworten „Ein kranker Psychopath!“ Pfarrer Maxwell seufzte niedergeschlagen und trank einen Schluck aus seinem Flachmann. „Das ist Ihre Antwort auf alles. Ich würde es eher Karma nennen. Irgendwann kommt alles verursachte Übel wieder auf einen zurück.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Die Leute von Annatown haben ein dunkles Geheimnis und dieses holt uns alle wieder ein. Das ist es. Die Vogelscheuche ist unser Fluch… unser Verderben. Sie sollten von hier fliehen, solange Sie noch können. Vielleicht haben Sie und Ihre Familie noch eine Chance und können hier entkommen.“ Ich versuchte, diese unheimlichen Worte des Pfarrers damit zu erklären, dass er ein Säufer war, der sich zu sehr von dem Geschwätz der Leute verrückt machen ließ. Es gab keine Flüche und ich wollte auch nicht glauben, dass die Vogelscheuche tatsächlich lebendig war. Für alles musste es eine logische Erklärung geben, ich wollte mich einfach nicht von der Paranoia der Leute anstecken lassen. Auch wenn ich die Vogelscheuche selbst gesehen hatte, wollte ich daran glauben, dass es ein Mensch aus Fleisch und Blut war, der unter einem Kostüm steckte.

Es war bereits dunkel, als ich das Pfarrhaus verließ, aber wenigstens leuchteten die Laternen den Weg gut aus. Ich kam dabei an der Hundehütte vorbei, wo vor kurzem noch der Hund des Pfarrers geschlafen hatte, die jetzt aber verwaist war. Zwar hatte der Regen das Meiste fortgespült, jedoch konnte man an der Hütte alte Blutflecke erkennen. Da ich doch lieber nicht alleine nach Hause gehen wollte, wählte ich Charles’ Nummer und versuchte, ihn zu erreichen, damit er mich bald abholen kam. Es ging jedoch nur die Mailbox ran und ein wenig verärgert steckte ich das Handy wieder ein. Als ich den Blick umherschweifen ließ, blieb mir fast das Herz stehen, als ich jenen vertrauten Schatten wieder sah. Die Vogelscheuche stand unter eine der Straßenlaternen und die Stange, an der sie hing, war weg. Langsam hob sie eine Hand, die mit Klingen bestückt war und kratzte damit am Laternenpfahl, was ein entsetzliches Kreischen zur Folge hatte, woraufhin ich mir die Ohren zuhalten musste. Und dann begann sie zu singen. Ja, die Vogelscheuche begann zu singen. Es war das wohl schrecklichste und unheimlichste Lied, welches ich jemals gehört hatte:
 

Don't ever laugh as a hearse goes by,

For you may be the next to die.
 

They wrap you up in a big white sheet,

From your head down to your feet.

They put you in a big black box

And cover you up with dirt and rocks,

And all goes well for about a week,

And then your coffin begins to leak.
 

And the worms crawl in, the worms crawl out.

The worms play pinochle on your snout.

They eat your eyes, they eat your nose.

They eat the jelly between your toes.
 

A big green worm with rolling eyes

Crawls in your stomach and out your eyes.

Your stomach turns a slimy green,

And pus pours out like whipping cream.

You spread it on a slice of bread,

and that's what you eat when you are dead.
 

Und während dieses unheimlichen Gesangs kam die Vogelscheuche immer näher und kratzte mit ihren klingenbesetzten Fingern an der Hauswand entlang. Und mir wurde klar, dass ich bald genauso enden würde wie die Kinder, wenn ich nicht sofort weglief. Ich drehte mich um und rannte, so schnell ich nur konnte. Ich rannte und rannte, wurde beinahe von einem Auto erfasst und rief wie eine Verrückte um Hilfe. Doch die Vogelscheuche folgte mir gar nicht. Nein, stattdessen hörte ich mehrere Schüsse aus dem Pfarrhaus und mir wurde klar, was da vor sich ging. Durch die Schüsse wurden mehrere Nachbarn aufgeschreckt, eilten ihrerseits mit Gewehren heraus und fragten was los sei. Ich rief nur „Die Vogelscheuche!“ und schon stürmten mehrere Männer ins Pfarrhaus. Es wurde geschossen und Glas zersplitterte. Als ich nachsah, was geschehen war, sah ich die Nachbarn vor der Leiche des Pfarrers stehen. Er lag in einer riesigen Blutlache, sein Körper und sein Gesicht waren völlig zerfetzt, als hätte sich ein wildes Tier mit langen scharfen Krallen auf ihn gestürzt. Ich konnte nur mit Mühe einen Entsetzensschrei unterdrücken und fragte sofort, wo die Vogelscheuche sei. „Die ist durchs Fenster gestürmt. Verdammtes Ding. Wir haben ihr ein Dutzend Kugeln durch den Körper gejagt und es hat ihr rein gar nichts ausgemacht. Es ist also wirklich ein Fluch…“ Ich schüttelte heftig den Kopf und wollte nicht glauben, was ich da hörte. Das war kein Fluch, in der Vogelscheuche musste ein Mensch aus Fleisch und Blut stecken und vielleicht hat er nur deswegen nichts abgekriegt, weil er vielleicht eine Kugelsichere Weste unter dem Mantel getragen hatte.

Die Polizei traf fünfzehn Minuten später ein und während die Leiche des Pfarrers weggeschafft und der Tatort gesichert wurde, befragte der zuständige Officer mich und die Nachbarn. Ich betonte dabei immer wieder, dass ich jemanden gesehen hätte, der sich als Vogelscheuche verkleidet hatte. „Und er hat gesungen?“

„Ja. Er kam auf mich zu, hat mit seinen Klingenhänden an der Mauer entlanggekratzt und dieses Totengräberlied gesungen. Ich bin weggelaufen, aber der Killer hatte es gar nicht auf mich abgesehen sondern allem Anschein nach auf den Pfarrer.“

„Was wollten Sie so spät noch bei ihm?“

„Ich wollte mit ihm über die Morde der letzten vier Jahre sprechen. Wissen Sie, ich habe einen Sohn und ich habe Angst um ihn. In letzter Zeit scheint dieser Vogelscheuchenpsychopath immer wieder vor seinem Fenster zu stehen. Ich hab ihn auch schon gesehen.“ Der Officer sah mich mit einem Blick an, von dem ich zuerst dachte, dass er mich für verrückt hielt. Ich war verunsichert und fragte „Halten Sie mich etwa für verrückt?“

„Das nicht“, sagte der Officer und notierte sich die Aussage. „Aber Sie sind bisher die einzige Zeugin, die von einem Mann in einem Vogelscheuchenkostüm spricht.“

„Was meinen Sie damit?“

„Alle anderen sagen aus, es sei eine Vogelscheuche und sie waren sich alle sehr sicher, dass es kein Mann in einem Vogelscheuchenkostüm war. Kommen Sie nicht von hier?“

„Ich habe als Kind hier gelebt, bin aber weggezogen und erst vor kurzem wieder hierher zurückgekehrt. Da wusste ich aber nichts von diesem Vogelscheuchenmörder.“ Der Officer nickte und bot mir an, mich nach Hause zu fahren, falls ich mich nicht sicher fühlen würde. Ich nahm das Angebot dankend an und war froh, dass ich in der Dunkelheit nicht alleine nach Hause gehen musste. Officer Morgan, so stellte er sich mir vor, gab mir noch seine Karte und legte mir nahe, ihn sofort anzurufen, sollte ich den Scarecrow Killer wieder sehen. Zum Glück waren Charles und Lewis bereits wieder da und sogleich erklärte der Officer meinem Mann die Situation und erklärte, dass eine Ausgangssperre für alle Minderjährigen ab 21:00 Uhr verhängt wurde. Außerdem wurde uns dringend angeraten, nachts die Fenster und Türen zu verschließen. „Wie lange dauert es eigentlich noch, bis Sie dieses Arschloch geschnappt haben?“ fragte Charles schließlich und es klang vorwurfsvoll. Officer Morgan atmete leise durch die Nase aus und erklärte „Wir sind wirklich bemüht, den Serienmörder zu schnappen, jedoch ist er geschickter, als es den Anschein hat. Er schafft es immer wieder, still und heimlich in die Häuser einzubrechen oder nächtliche Passanten anzugreifen. Außerdem hinterlässt er niemals DNA-Spuren, geschweige denn Hautzellen oder Fingerabdrücke.“

Charles grummelte etwas vor sich hin und ich ahnte, dass es nichts Gutes über die Polizeiarbeit war. Ich sagte besser nichts dazu und bedankte mich beim Officer. Kaum war die Tür geschlossen, sackte ich in die Knie und merkte, wie ich am ganzen Körper zitterte. Charles half mir hoch und brachte mich schließlich ins Wohnzimmer, wo wir in aller Ruhe miteinander reden konnten. Lewis war schon im Bett, doch das beruhigte mich auch nicht besonders. „Was genau ist denn passiert und was wolltest du bei dem Pfarrer?“

„Ich habe mit ihm über diese Morde geredet und wollte mehr über die Vogelscheuche herausfinden. Und als ich gegangen bin, stand sie oder besser gesagt der Killer bereits unter der Straßenlaterne und kam auf mich zu. Doch anstatt mich zu jagen, hat er den Pfarrer umgebracht.“

„Und warum den Pfarrer?“

„Ich weiß es nicht. Er sagte, dass die ganze Stadt ein Geheimnis hat und deswegen die Vogelscheuche herumwandeln soll. Das Ganze soll ein Fluch sein.“

„Aber du glaubst doch wohl nicht an solch einen Unsinn.“ Ich öffnete eine Flasche Wein und schüttete mir und Charles ein Glas ein. Ich brauchte dringend etwas Alkoholisches, um diesen Schock zu verdauen. „Ich glaube, dass da mehr als ein Fluch dahinter steckt. Vielleicht will sich ja jemand rächen und verkleidet sich als Vogelscheuche.“

„Und wer sollte das tun?“

„Ich weiß es nicht. Der Einzige, der mir einfallen würde, ist Jackson Cohan, aber der ist vor zwanzig Jahren bei dem großen Feuer ums Leben gekommen. Nein, es muss jemand anderes sein.“

„Könnte es sein, dass sich ein Freund oder ein Verwandter des Jungen rächen will?“ An diese Idee hatte ich auch schon gedacht, aber diese war unwahrscheinlich. Jackson hatte keine Freunde gehabt und seine einzigen Verwandten waren seine Tante und sein Onkel. Und die waren verschwunden. Wenn schon, dann wäre es Jackson selbst gewesen. Vielleicht hatte er ja den Brand überlebt und sann auf Rache für die Schikanen während seiner Schulzeit. Ich beschloss, mit Officer Morgan über diesen Verdacht zu sprechen, vielleicht half das ja weiter. Schließlich fragte Charles „Wer war eigentlich dieser Jackson?“

„Er ging auf die gleiche Schule und war der Außenseiter. Meist saß er still da und hat gemalt oder geschrieben, er trug immer alte Kleidung und sein Haar war pechschwarz und lang, sodass man seine Augen nie sehen konnte. Viele haben ihn wegen seines Äußeren gehänselt und ihn „Vogelscheuche“ genannt. Deswegen dachte ich auch zunächst, es wäre Jackson, der sich hinter dem Scarecrow Killer verbirgt. Vielleicht hat er ja damals den Brand schwer verletzt überlebt und will nun Rache.“

„Das klingt wirklich überzeugend“, gab Charles zu und war insgeheim froh, dass ich noch nicht diesem Aberglauben von einer lebendigen Vogelscheuche verfallen war. Zwar hatte ich am Anfang geglaubt gehabt, eine Vogelscheuche gesehen zu haben, aber inzwischen konnte ich vernünftig genug über diese Sache nachdenken, um zu sagen, dass es ein Verrückter in einem Kostüm war. Das gab mir auch mehr Halt, denn vor einem Menschen aus Fleisch und Blut hatte man weniger Angst, als vor einer besessenen Vogelscheuche. Gleich am nächsten Tag besorgte sich Charles ein Jagdgewehr, auch wenn ich da so meine Einwände hatte. Man hörte ja immer wieder, dass Kinder die Waffen fanden, damit herumspielten und dann ein Unglück geschah. Doch Charles versicherte mir, dass er dafür sorgen würde, dass Lewis sie nicht in die Hände bekam. Das Gewehr sei nur für den Notfall gedacht, sollte der Vogelscheuchenmörder wieder ins Haus eindringen. Ich selbst fühlte mich an diesem Tag alles andere als gut. Das Wetter war sehr schwül und warm, was mir sehr zu schaffen machte, da sich mein Asthma verschlechterte. Also nahm ich den Inhalator vorsichtshalber immer mit und beschränkte mich beim Haushalt auf das Allerwichtigste, während Charles im Arbeitszimmer saß und an seinem Roman schrieb. Da ich merkte, dass nicht nur mein Asthma sondern auch mein Kreislauf sich verschlechterte, öffnete ich das Fenster ein wenig und legte mich auf die Couch. In der Stille bemerkte ich, dass mir dieses verdammte Lied von gestern nicht mehr aus dem Kopf ging, welches der Vogelscheuchenmörder gesungen hatte. Es hatte eine so einschlägige und simple Melodie, wenn nur der Inhalt nicht so abscheulich gewesen wäre. Aber mich ließ das Gefühl nicht los, als hätte der Killer sie aus einem bestimmten Grund gesungen. Mich überkam ein leiser Schauer, während mir diese Melodie durch den Kopf ging und ich fragte mich, wo ich sie schon mal gehört hatte. Nach einer Weile, während mir der Song immer und immer wieder durch den Kopf ging, begann ich ihn selbst zu singen. Dann aber fiel es mir wieder schlagartig ein: Jackson Cohan hatte das Lied immer in der Schule gesungen. Ja, ich erinnerte mich an eine Szene, in welcher er alleine auf der Schaukel gesessen hatte. Es war ein ziemlich bewölkter Herbsttag gewesen, auf dem Schaukelgestell hockten mehrere Raben und Krähen, die ein schreckliches Krächzen von sich gaben, während er leise dieses Lied vor sich hin sang. Langsam wurde das Bild immer deutlicher und ich konnte Jackson quasi vor mir sehen. Er war damals für sein Alter normal groß gewesen, lief aber immer geduckt wie ein geprügelter Hund und das schwarze Haar, das wie Stroh war, hing ihm so ins Gesicht, dass man seine Augen nicht sehen konnte. Normalerweise bekam man aus ihm keinen Ton heraus. Er antwortete nie auf Fragen, vermied jeden Blickkontakt und man hätte echt meinen können, er sei stumm. Alle fanden ihn unheimlich, ich war da keine Ausnahme, allerdings hatte ich ein Mal versucht, ihn anzusprechen. Ich war vorsichtig auf ihn zugekommen und hatte ihm vorgeschlagen, dass er mit mir reden könne. Doch er sagte nichts, er hob nur seinen Kopf und schaute mich durch seine langen schwarzen Haare hindurch an. Ich hatte mich unwohl gefühlt und war daraufhin gegangen. Er hatte mich nie angesprochen sondern mich genauso ignoriert wie all die anderen. Aber etwas war doch anders: Ich bekam eine richtige Gänsehaut, wenn ich in seine Nähe kam. Von ihm schien eine beinahe unmenschliche Kälte auszugehen. Konnte dieser Junge von damals tatsächlich überlebt haben? Dann wäre er ja inzwischen 29 Jahre alt. Konnte er es wirklich sein? Ich beschloss, Officer Morgan anzurufen und fragte ihn gleich, ob es schon neue Informationen zur Mumie gab. Von ihm erfuhr ich, dass es sich bei der Leiche um John Cohan handelte, dem Besitzer der Cohan Farm und damit auch Jacksons Onkel. „Dem Zustand der Leiche nach zu urteilen, ist sie bereits mehr als zehn Jahre alt.“

„Woran ist er denn verstorben?“

„An diversen Stichverletzungen im Bauch- und Brustbereich. Er ist verblutet. Das Besondere daran ist, dass die ersten Male das Messer von unten nach oben in den Körper gestoßen wurde. Das ist sehr ungewöhnlich, denn normalerweise stößt ein Mensch das Messer von oben herab ins Fleisch, weil somit der Kraftaufwand geringer ist. Wissen Sie, was das bedeutet?“

„Ja“, murmelte ich und spürte, wie sich mir der Magen zusammenkrampfte. „Der Mörder muss sehr klein gewesen sein. Vielleicht… vielleicht sogar ein Kind.“

„Sie vermuten, dass es der Neffe gewesen war?“

„Ich glaube schon. Sagen Sie, halten Sie es für möglich, dass Jackson damals gar nicht gestorben ist?“

„Das ist eine Frage, die ich noch nicht beantworten kann. Aber der Gedanke kam mir auch schon. Deswegen habe ich einen Antrag auf die Exhumierung des Toten gestellt. Sollte es sich tatsächlich um eine Verwechslung handeln, wird Jackson unser Hauptverdächtiger sein. Passen Sie gut auf sich auf und rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie etwas Verdächtiges sehen oder wichtige Hinweise für uns haben.“ Ich dachte noch länger über diesen Verdacht nach und fragte mich, was Jackson zu so etwas getrieben haben könnte, dass er sich als Vogelscheuche verkleidete und Leichen mit Süßigkeiten ausstopfte. So etwas konnte doch nur ein Verrückter tun. Die Kinder hatten ihn doch damals nur wegen seines verwahrlosten Erscheinungsbildes ausgelacht und ihn eine Vogelscheuche genannt. Das war doch kein Grund, so etwas Schreckliches zu tun. Aber Jackson war schon damals ziemlich unheimlich gewesen. Zuzutrauen wäre ihm so etwas. Da ich schlecht Luft bekam, schaltete ich die transportable Klimaanlage an und versuchte, langsamer und ruhiger zu atmen. Ich bekam Schweißausbrüche und kurzzeitig wurde mir schwindelig. So etwas passierte schon mal, wenn der Luftdruck sich rapide änderte oder das Wetter umschlug. Manchmal konnte ich so etwas ziemlich gut wegstecken, manchmal aber wurde es richtig unangenehm und ich musste mich besonders schonen. Ich nahm einen tiefen Zug von meinen Inhalator und ging zum Fenster, um es wieder zu schließen. Als ich es erreichte, hörte ich eine leise Stimme, die ein Lied sang… es war die zweite Hälfte des Totengräberliedes:
 

And the worms crawl out, the worms crawl in.

The worms that crawl in are lean and thin,

The ones that crawl out are fat and stout.

Your eyes fall in and your hair falls out.

Your brain comes tumbling down your snout.
 

And the worms crawl in, the worms crawl out,

They crawl all over your dirty snout.

Your chest caves in, your eyes pop out,

And your brain turns to sauerkraut.
 

They invite their friends and their friends too,

They all come down to chew on you.
 

And this is what it is to die,

I hope you had a nice goodbye.

Did you ever think as a hearse goes by,

That you may be the next to die?

And your eyes fall out, and your teeth decay,

And that is the end of a perfect day.
 

Mir schnürte sich die Brust zusammen, ich konnte nicht mehr atmen und ich versuchte um Hilfe zu rufen, als die Vogelscheuche direkt vor dem geöffneten Fenster stand und mir ihre Klingenhände entgegenhielt. Ich bekam keinen Ton raus, ich schnappte nach Luft, doch es kam kein Sauerstoff in die Lunge. Vor Schreck hatte ich einen Asthmaanfall bekommen. Voller Panik griff ich in die Hosentasche und holte den Inhalator heraus, doch da fiel er mir zu Boden und ich schaffte es nicht, ihn aufzuheben. Langsam stieg die Vogelscheuche durch das Fenster und kam mit einem breiten Grinsen auf mich zu. Ihre Zähne waren lang und scharf wie die Reißzähne eines Raubtieres und zwei gelbe monströse Augen rundeten das Gesamtbild des Grotesken ab. Ich fiel über den Hocker, während ich nach hinten stolperte und ich versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen. Natürlich war das zwecklos und wenn mir nicht schnell etwas einfiel, würde ich als mit Bonbons ausgestopfte Leiche enden. Meine Lungen schrieen nach Luft, mir wurde schwindelig, trotzdem gelang es mir irgendwie, geistesgegenwärtig genug zu reagieren, um eine Vase nach der Vogelscheuche zu werfen. Sie riss die Arme hoch, in dem Moment griff ich den lebensrettenden Inhalator und nahm einen tiefen, befreienden Atemzug. Kaum bekam ich wieder Luft, rief ich laut um Hilfe. Sofort kam die Vogelscheuche auf mich zu und griff mit ihren Messerhänden nach mir. Schnell und instinktiv riss ich den Arm hoch und schrie vor Schmerz, als die Messer tiefe Wunden rissen. Endlich wurde die Wohnzimmertür geöffnet und Charles kam mit dem Gewehr herein. Er feuerte direkt auf die Vogelscheuche und traf sie mitten in die Brust. Die Wucht riss sie fast von den Füßen, doch sie fing sich sehr gut. Sie taumelte nur ein wenig zurück und brach in ein schallendes Gelächter aus. Charles feuerte daraufhin den zweiten Schuss ab, der sie dieses Mal in den Bauch traf. Dieser war wohl zu viel und so ergriff die Vogelscheuche die Flucht und sprang durch das offen stehende Fenster. „Schatz, geht es dir gut?“ fragte Charles und eilte zu mir. Mir ging es zum Glück gut, doch die vier Schnittwunden, die mir die Vogelscheuche mit den Messerhänden zugefügt hatte, waren tief und bluteten stark. Während mein Mann den Notarzt verständigte, presste ich mir provisorisch ein Taschentuch gegen die Wunde und versuchte, ruhig zu bleiben. Langsam machte ich meine Atemübungen und schaffte es, den Schmerz in meiner Brust abklingen zu lassen. Dann aber erschrak ich, als etwas Kaltes und Glitschiges über meinen Handrücken kroch, welchen ich auf dem Boden abstützte. Es war ein dicker und fetter Wurm. Und er war nicht der Einzige: Auf dem Boden lag überall Kriechgetier herum. Kakerlaken, Tausendfüßler, Spinnen und Asseln… Die waren vorher noch nicht da gewesen. Ob die Vogelscheuche sie hinterlassen hatte?

Scarecrow Jack Teil 3: Rooms

Halloween rückte näher und Officer Morgan hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um endlich eine verwertbare Spur zum Scarecrow Killer zu finden. Er ließ sich nicht von der Paranoia der Bewohner anstecken, sondern suchte nach Fakten und Beweisen. Für ihn stand fest, dass es sich um einen Menschen und nicht um eine Vogelscheuche handelte und für ihn war Jackson Cohan, der vor zwanzig Jahren bei einem Waldbrand ums Leben kam der einzige Verdächtige. Vor kurzem hatte man die mumifizierte Leiche von John Cohan gefunden, dem Onkel des Verdächtigen. Dieser war vor zwanzig Jahren mit diversen Messerstichen getötet worden und vor kurzem hatte man seine Leiche als Vogelscheuche verkleidet und auf dem alten Feld aufgestellt, wo zuvor „Scarecrow Jack“ gestanden hatte. Ich selbst habe schon mehrmals die Vogelscheuche zu Gesicht bekommen und ein Mal hatte nicht viel gefehlt, dass sie mich umgebracht hätte. Lediglich Charles’ schnelles Eingreifen hatte das Schlimmste verhindert und ich zog mir ein paar tiefe Schnittwunden von der Klingenhand zu. Diese mussten genäht werden und sogleich kam Officer Morgan ins Krankenhaus, um meine Aussage aufzunehmen. Leider konnte ich ihm nicht viel sagen, außer, dass der Killer haargenau wie die Vogelscheuche „Scarecrow Jack“ aussah. Unser Haus wurde genau durchsucht und ich erzählte Officer Morgan von den Schüssen. Aber es fand sich kein Blut, lediglich Dreck und etwas Ungeziefer. Die Spurensicherung fotografierte die Fußspuren, die der Vogelscheuchenmörder hinterlassen hatte und sammelte ein paar Proben der Dreckklumpen ein. Während das Haus auf den Kopf gestellt wurde, saß ich auf der Veranda und sah zur alten Farm hinüber. Wieder stand die Vogelscheuche da, als wäre sie nie weg gewesen. Auf die Entfernung konnte ich keine Details erkennen, aber ich spürte, dass sie mich schadenfroh angrinste. Wie ich dieses Ding hasste. Gemeinsam mit Charles hatte ich beschlossen, sie endlich für immer loszuwerden und sie zu Kleinholz zu verarbeiten. Weder ich noch Lewis hatten in den letzten Nächten Schlaf gefunden und nun war ein Punkt erreicht, an dem wir alles loswerden wollten, was mit dem Serienmörder in Verbindung stand. Und dazu gehörte auch diese Vogelscheuche. Ich beobachtete sie argwöhnisch, wie sie langsam im Winde hin und her schaukelte und die Vögel von Feldern verscheuchte, auf denen sowieso nie wieder etwas wachsen würde. Nur eine Aaskrähe hockte auf der Stange und gab immer wieder ein lautes Krächzen von sich. Immer mehr setzten sich auf die Stange und begannen zu krähen. Und irgendwie schien es mir so, als würden sie mir etwas zurufen. Mir schoss ein paranoider Gedanke durch den Kopf: „Die Aaskrähen wissen, dass du als nächstes sterben wirst. Sie warten nur darauf, über dich herzufallen.“ Ich wusste, dass das vollkommen verrückt und paranoid war, aber inzwischen fühlte ich mich nirgendwo mehr sicher. Und die Leute in Annatown schienen das Gleiche zu denken und zu fühlen wie ich. Sie gingen mir aus dem Weg und auch Madison ging einfach an mir vorbei und ignorierte meine Anrufe. Mich beschlich langsam das Gefühl, als hätten sie von Anfang an beabsichtigt, dass ich durch meinen Umzug das nächste Opfer werden sollte, damit sie verschont blieben. Natürlich klang das völlig bizarr und abwegig, aber inzwischen wusste ich auch nicht mehr, was ich noch glauben sollte. Tatsache war, dass alle in der Stadt ein Geheimnis hüteten und die Vogelscheuche hatte auch damit zu tun. Und wenn mich nicht alles täuschte, hatte vielleicht auch Jackson Cohan damit zu tun, sollte er tatsächlich der Scarecrow Killer sein. Nein, er musste es einfach sein. Wer konnte es denn sonst sein? Da ich immer noch Angst um meinen Sohn hatte, wollte ich selber etwas unternehmen und nicht bloß darauf warten, dass die Polizei etwas herausfand. Zwar war Officer Morgan sehr engagiert und zielstrebig, aber auch er konnte die Tatsache nicht abstreiten, dass die Polizei schon seit vier Jahren vergeblich den Vogelscheuchenmörder suchte. Ich nahm Charles’ Gewehr und machte mich auf den Weg zur alten Cohan Farm. Dabei machte ich jedoch einen weiten Bogen um das Feld herum, wo die Vogelscheuche stand und hörte in meinem Hinterkopf wieder dieses unheimliche Lied, welches sie gesungen hatte.

Das Farmhaus sah aus, als wäre es schon seit einer halben Ewigkeit verlassen. Die Fensterscheiben waren zerstört, das Holz wirkte vertrocknet und überall stand das vertrocknete Unkraut bis zu den Knien. In der Ferne hörte ich das laute Krächzen der Aaskrähen und der Wind blies mir kalt entgegen, sodass ich meinen Mantel fester zuziehen musste. Die Atmosphäre hatte etwas Bedrückendes und zugleich Unheimliches an sich und ich fühlte mich in einen düsteren Horrorfilm versetzt. Die Haustür war verschlossen und ich sah schon, dass die Scharniere verrostet waren, was bedeutete, dass es nur etwas Kraft brauchte, um die Tür aufzubekommen. Gerade wollte ich mich ans Werk machen und ergriff schon den Türknauf, da rief mir jemand zu „Wird das, was Sie da tun, etwa das, was ich vermute?“ Ich drehte mich erschrocken um und sah erleichtert, dass es nur Officer Morgan war. Mit der Polizei hatte ich sowieso lieber Ärger als mit der Vogelscheuche. „Ich wollte mich hier nur ein wenig umsehen, das ist alles.“

„Aha, und dazu brauchen Sie ein Gewehr?“

„Nur zum Schutz. Ich habe keine Lust, ebenfalls mit Bonbons ausgestopft zu werden wie die anderen. Ich glaube, dass da mehr an meiner Theorie dran ist und nun will ich nach Beweisen suchen.“

„Dann hatten wir beide das Gleiche im Sinn. Ich finde Ihre Theorie auch sehr interessant, deshalb bin ich hierher gekommen. Nun, wenn ich ehrlich sein muss, bin ich auch aus dem Grund hier, weil ich Sie vor diesem Psychopathen schützen will, der es offenbar auf Sie abgesehen hat.“ Erleichtert darüber, dass ich wegen Einbruchs keinen Ärger bekam und auch, dass mir der Officer seine Hilfe sogar anbot, atmete ich durch und gemeinsam widmeten wir uns der Tür. Dank Officer Morgans Kraft gelang es uns, die Tür zu öffnen und ins Haus zu gelangen. Von drinnen wehte uns ein modriger und zugleich fauliger Gestank um die Nase und mir wurde schlecht. Sofort presste ich mir ein Taschentuch gegen die Nase und fragte mich, warum es hier so fürchterlich stank. Wir gingen ins erste Zimmer, welches offenbar die Küche war. Dort fanden wir auch die Ursache für diesen Gestank: Die Lebensmittel lagen noch alle da und waren hoffnungslos verschimmelt und zersetzt. Es war sogar schon so verfault, dass das Ungeziefer es größtenteils schon aufgefressen hatte. Demnach müssten die Lebensmittel schon seit mehr als zehn oder fünfzehn Jahren dort liegen. Sogar das Essen stand noch auf dem Herd, wobei mir nicht ganz einleuchten wollte, warum die Cohans einfach so abgehauen waren und das Haus so zu hinterlassen. Diese Frage konnte mir Officer Morgan beantworten. „Es scheint so, als hätten sie gar nicht mehr die Chance gehabt, die Küche auszuräumen.“

„Wollen Sie etwa damit sagen, dass…“

„Ja. Es passt eben sehr gut zusammen: John Cohans mumifizierte Leiche wird gefunden und es stellt sich heraus, dass er seit knapp zwanzig Jahren tot ist und das Essen hier sieht auch so aus, als wäre es aus dem gleichen Jahrgang. Ich schätze, dass die Cohans nicht fortgezogen sind. Sie wurden ermordet und ihre Leichen blieben verschwunden. Stellt sich mir die Frage, wo Mrs. Cohans Leiche abgeblieben ist.“

„Vielleicht ist sie irgendwo im Haus.“ Die Dielenbretter knarrten unter unseren Schritten und überall fanden wir Ungeziefer. Mal waren es Kakerlaken oder Asseln, hier und da huschte eine Maus oder eine Ratte vorbei. Ich überwand meinen Ekel und gemeinsam gingen wir ins Wohnzimmer, wo der Anblick nicht weniger schlimm war. Der Sessel und das Sofa waren aufgeschlitzt worden und in der Ecke lag eine tote Katze, die noch nicht lange da war, dazu sah der Kadaver noch sehr frisch aus. Ein höllischer Gestank kam von der Tür im Wohnzimmer her, welche in den Keller führte. Im Holz waren tiefe Kratzer, als wäre sie mit einer Klinge bearbeitet worden. Man sah auch sofort, dass es immer vier nebeneinander liegende Schnitte waren, als stammten sie von Krallen. Oder aber vom Scarecrow Killer. Ich sah zu Officer Morgan, der seine Pistole zog und sich langsam der Tür näherte. Vorsichtig öffnete er die unverschlossene Tür und schaute hinunter in die Dunkelheit. Wir betätigten den Lichtschalter, jedoch funktionierten im Haus weder Strom noch Wasser. Stattdessen nahm der Officer seine Taschenlampe und ging voran. Ich folgte ihm mit relativ kurzem Abstand, da ich keine Lust hatte, von hinten überrascht zu werden. Der Gestank war entsetzlich und ich fürchtete, dass er noch viel schlimmer werden würde, je tiefer wir in den Keller gehen würden. Vorsichtig stiegen wir Schritt für Schritt die Stufen runter, während Officer Morgan mit der Taschenlampe leuchtete und die Pistole bereithielt. Schließlich hatten wir das Ende der Treppe erreicht und zu unserer Überraschung hatte der Gestank ein wenig nachgelassen. Vielleicht hatten wir uns aber auch bereits daran gewöhnt. Der Keller war großräumig, besaß keine Fenster und einen sehr altmodischen Heizofen. In einer Ecke hing an der Wand ein Kreuz, allerdings hatte man es verkehrt herum aufgehängt und darüber war mit altem, eingetrocknetem Blut geschrieben „Es gibt keinen Gott!“ Vor dem Kreuz stand ein kleiner Altar mit heruntergebrannten Kerzen, etwas weiter weg lag eine Matratze, auf der sich die Ratten tummelten. Ich schrie bei diesem Anblick auf und flüchtete in Richtung Treppe. Officer Morgan sah sich das Getummel genauer an und rief mir zu „Keine Sorge, da liegen nur ein paar tote Tiere, mehr nicht.“

„Toll, das beruhigt mich wirklich“ gab ich sarkastisch zurück und wartete, bis der Polizeibeamte fertig war. Allerdings sah er sich den Keller noch eine Weile an und fand schließlich nicht weit von der Matratze entfernt einen Schuh… einen Kinderschuh. Auf mein Drängen hin verließen wir den Keller und im Wohnzimmer berichtete er von seinem Fund. Er zeigte mir den Schuh und ich erkannte ihn trotz seines verrotteten Zustandes als einen von Jacksons Schuhen wieder. „Und was hat es mit dem Schuh nun auf sich?“

„Tja, ich hatte da so eine Bemerkung meines Vaters im Hinterkopf, der damals Jackson nach Hause gebracht hat, nachdem er von dort weggelaufen war. Er hatte leise vor sich hin gemurmelt „Wenn man so darüber nachdenkt, stimmte was mit der ganzen Familie nicht.“ Über die Eltern und die Vergangenheit von Jackson habe ich nicht viel in Erfahrung bringen können, weil sämtliche Akten längst im Archiv sind und die meisten Polizisten von damals schon im Ruhestand sind. Ich habe mich mehr über John und Teresa Cohan informiert und herausgefunden, dass sie der „Vereinigung der wahren Christen“ angehören. Das ist eine radikale, christliche Sekte, die sogar die Hexenverbrennung wieder einführen will. Ich selbst habe schon drei Razzien mitgemacht, bei denen diese Vereinigung der schweren Kindesmisshandlung und Körperverletzung beschuldigt wurde. Vier Kinder wurden gerettet und sie haben die Hölle durchlebt, das können Sie mir glauben. Ihre Körper waren von Peitschenhieben zernarbt, manche hatten entzündete Verletzungen und wurden dadurch schwer krank. Ich fürchte, Jackson ist dasselbe passiert und man hat ihn hier unten eingesperrt. Irgendwann hatte er es geschafft, sich zu befreien und ist fortgelaufen. Eine Polizeistreife hat ihn aufgegabelt und zurückgebracht.“

„Aber warum denn?“

„Jackson weigerte sich, den Grund für seinen Ausriss zu nennen. Er sagte gar nichts und als man ihn in den Wagen bringen wollte, ist er durchgedreht und hat sich so heftig zur Wehr gesetzt, dass mein Vater vier Leute brauchte, um ihn festzuhalten. Einem Polizisten hat er in den Arm gebissen und einem anderen die Nase gebrochen. Er war wie ein wildes Tier. Inzwischen kann ich gut nachvollziehen, warum sich der Junge so verhalten hat.“

„Ich verstehe nicht, warum er überhaupt zu seiner Tante kam. Ich meine, es muss doch einen Grund dafür geben.“

„Das weiß ich, aber leider ist der Fall schon zwanzig Jahre alt und danach werden die Akten ins Archiv gebracht. Bedauerlicherweise ist vor dreieinhalb Jahren ein Feuer ausgebrochen und mehrere Akten wurden zerstört. Darunter war auch die Fallakte Cohan. Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Polizisten zu befragen, die damals dafür gesorgt haben, dass Jackson von seiner Familie getrennt wurde. Problem ist nur, dass fast alle tot sind. Der Sozialarbeiter des Jugendamtes sowie auch der Pfarrer, der den Jungen betreute als auch zwei der Polizisten wurden Opfer des Scarecrow Killers.“

„Und was ist, wenn der Killer auch das Archiv in Brand gesteckt hat, um die Akten über Jacksons Vergangenheit zu vernichten? Vielleicht wollte er ja verhindern, dass die Polizei die anderen Beteiligten in Sicherheit bringt.“ Officer Morgan nickte bedächtig und gab zu, dass er darauf auch schon gekommen war. Die Schwierigkeit lag jedoch darin, dass es keine Beweise gegen Jackson Cohan gab, nur einige Indizien und die waren so lange wackelig, bis sich herausstellte, dass es damals nicht seine Leiche war, die im Wald gefunden wurde. Sollte es sich tatsächlich nicht um Jacksons Leiche handeln, dann war er der Killer, ganz ohne Zweifel. Doch was war, wenn er es nicht gewesen sein konnte, weil er damals wirklich bei dem Brand starb? Das könnte zum Problem werden. Mir spukten die Worte des Pfarrers wieder durch den Kopf. Er hatte mit fester Überzeugung gesagt, er hätte die Vogelscheuche gesehen und sie wäre das Karma von Annatown. Was meinte er bloß damit? Welches Geheimnis hüteten die Bewohner bloß? Schließlich gingen wir die marode Treppe nach oben, wo die Schlafzimmer, das Bad und auch Jacksons Kinderzimmer lagen. Auf dem Boden lag ein alter Teppich, der vor zwanzig Jahren in einem schönen rot geleuchtet haben mochte, der aber nun in einem grünlichbraunen Farbton dahinmoderte. Das Schlafzimmer der Cohans war klein, dennoch hübsch eingerichtet und auch hier mit einem kleinen Altar versehen. Das Bett jedoch war aufgeschlitzt worden, die Kissen und Decken lagen zerrissen und zerfetzt auf dem Boden und die Matratze wies einen riesigen dunklen Fleck auf, der höchstwahrscheinlich Blut war. „Sieht so aus, als seien sie hier ermordet worden“, murmelte ich und ergriff instinktiv Officer Morgans Arm. „Meine Güte… so viel Blut.“

„Vermutlich hat Jason sie im Schlaf überrascht und ihre Leichen im Bett liegen gelassen, bis sie mumifizierten. Nur warum wurde John Cohans Leiche als Vogelscheuche verkleidet? Das verstehe ich noch nicht wirklich.“ Wir verließen das Schlafzimmer und gingen in Richtung Bad, wo wir mehrere verweste Tierkadaver fanden, die allesamt ausgenommen worden waren. Schnell verließen wir den Raum wieder und erreichten schließlich Jacksons Zimmer. Mit Blut stand an der Tür geschrieben „Nicht reinkommen!“ Die Tür war die einzige im Haus, die abgeschlossen war und wieder einmal brauchte ich die Hilfe von Officer Morgan, um sie aufzukriegen. Das, was uns dahinter erwartete, war bei weitem schlimmer als in den anderen Räumen. Das Kinderzimmer war eine kalte, nackte Zelle mit vergitterten Fenstern. Es gab keine Tapeten, keine Farbe, keine Wärme. Nur eine alte Matratze auf dem harten Boden mit einer löchrigen alten Decke. Das hier war kein Kinderzimmer sondern eine Zelle. Die Wände waren mit Botschaften vollgekritzelt, die nur einen Teil von dem wiedergaben, was Jackson vor zwanzig Jahren durch den Kopf gegangen war.

„Schrei kleines Schweinchen, schrei!“

„Sie haben mich das tun lassen!“

„Es gibt keinen Gott“

„Sie alle sollen sterben“

„Ich kann nicht damit aufhören.“
 

Wir lasen uns die Botschaften durch, die für mich als Mutter einfach nur schockierend und beängstigend waren. Diese Dinge, die da an die Wand geschrieben waren, das waren Spiegel von Jacksons völlig kranker Psyche. Ich hatte ja schon immer gewusst, dass Jackson nicht normal gewesen war, aber das hier toppte einfach alles. „Meine Güte“, murmelte Officer Morgan und sah sich im Zimmer um. „Die Zeit hier muss ihn wirklich geprägt haben. Wenn ich mir das hier ansehe, würde ich fast sagen, dass es seinen Verstand gekostet hat.“

„Nicht ganz. Er war schon so seltsam, als er zu seiner Tante gezogen ist. Ich glaube, dass das hier nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nein, irgendetwas muss passiert sein, bevor er hierher kam.“ Officer Morgan ging zu der Matratze hin und zog sie beiseite. Er entdeckte eine lockere Diele, die er herauszog und beiseite legte. Seinen Blick konnte ich nur schwer in der Dunkelheit erkennen, jedoch glaubte ich so etwas wie Beunruhigung zu erkennen. „Können Sie mal kurz kommen und die Taschenlampe halten?“ Ich trat mit einigem Widerwillen näher und leuchtete in das Loch hinein. Vorsichtig holte Officer Morgan eine Tüte heraus, in der sich etwas Rundes befand. Er holte den Inhalt heraus und ich ließ schreiend die Taschenlampe fallen, als ich sah, dass es ein Kopf war. Officer Morgen selbst reagierte da um einiges gefasster und legte den Kopf zurück in die Tüte. „Ein Frauenkopf und schon völlig verrottet. Das muss der Kopf von Teresa Cohan sein. Fragt sich nur, wo der Rest von ihr geblieben ist und warum er in diesem Loch war.“ Wieder griff Officer Morgan ins Loch und holte eine zweite Tüte heraus, in der sich ein altes Skizzenbuch befand. Im Lichte der Taschenlampe erkannte ich, dass es Jacksons Skizzenbuch war, welches er immer zur Schule mitgenommen hatte. Neugierig durchblätterte der Polizist die Seiten, welche genau das Gleiche wiedergaben, wie es in dem Zimmer hier aussah. Die erste Seite stellte zwei Menschen dar, eine Frau und einen fetten Mann. Der fette Mann hatte ein grimmiges Gesicht und hatte ein Beil oder ein Messer in der Hand. Er trug eine weiße Schürze mit roten Flecken und die Frau war dürr und abgemagert. In einem großen Abstand zu den beiden war ein Junge mit schwarzem Haar zu sehen, der gewisse Ähnlichkeiten mit Jackson hatte. Offenbar hatte er sich zusammen mit seinen Eltern gemalt. Nur irgendwie wirkten sie nicht wie eine glückliche Familie, man sah deutlich, dass da eine eisige Distanz zwischen den dreien herrschte. Anscheinend war Jackson unter echt schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen. Die nächste Seite zeigte mehrere zerstückelte Menschen, einen blutroten Himmel und schwarze Wolken. Die nächsten Seiten zeigten Krähen, die auf verdorrten Bäumen saßen über einem Fluss aus Blut. Jackson hatte noch schlimmere Bilder gemalt. Brennende Häuser, Kinder auf Scheiterhaufen und eine zerstückelte Frau. Eine weitere Zeichnung zeigte den Hof unserer alten Schule, zusammen mit der Schaukel und dem Klettergerüst. Doch anstatt, dass Kinder dort spielten, lagen dort Leichen, die von den Krähen gefressen wurden. Und am alten Schulbaum, wo sonst immer bunte Bänder befestigt waren, hingen Menschen an Galgenstricken herunter. Jedes darauf folgende Bild offenbarte immer schlimmere Schrecken, bis schließlich nur noch Bilder von Vogelscheuchen zu sehen waren. Vogelscheuchen, umgeben von riesigen Krähenschwärmen auf einem gigantischen Friedhof. Das allerletzte Bild zeigte das, was ich selbst vorausgeahnt und doch gefürchtet hatte: Es zeigte Jackson, der selbst auf einem Scheiterhaufen brannte. Jahrelang hatte niemand eine Erklärung dafür gefunden, wie der Waldbrand vor zwanzig Jahren geschehen konnte. Keine einzige Leiche wurde gefunden, bis auf die von Jackson. Nun wurde auch Officer Morgan blass im Gesicht und er sah das Bild noch eine Weile an. „Deshalb ist er weggelaufen“, murmelte er und steckte den Skizzenblock ein. „Er wusste, dass sie ihn töten würden.“

„Dann… dann haben sie ihn tatsächlich wie eine Hexe auf einem Scheiterhaufen verbrannt? Das ist doch krank!“

„Wahrscheinlich war es Jacksons gestörtes Verhalten, was dazu geführt hat. Sie glaubten offenbar, er wäre vom Teufel besessen und daraufhin hat die „Vereinigung der wahren Christen“ ihn hingerichtet, um ihn zu erlösen. Jackson musste es wahrscheinlich mitgehört haben, wie sie darüber gesprochen haben und als er das erfuhr, ist er weggelaufen.“

„Aber warum hat er denn nicht gesagt, was sie ihm antun wollten?“

„Weil irgendetwas passiert ist, dass er einfach nicht mehr in der Lage war, es jemandem zu sagen. Es muss einen Schlüsselmoment in seinem Leben gegeben haben, dass er unfähig wurde, sich anderen Menschen mitzuteilen. Und als er wieder zurückgebracht wurde, hat er nur noch eine einzige Möglichkeit gesehen: Seine Tante und seinen Onkel zu töten. Wenn ich so an die Tierkadaver denke, die wir gefunden haben, glaube ich, dass Jackson bereits Übung im Töten hatte. Offenbar hat er schon früh ein soziopathisches Verhalten entwickelt. Naja, als er dann die beiden umgebracht hat, wollte er weglaufen, stieß aber auf die Vereinigung und die brachte ihn in den Wald, um ihn auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Dabei gab es einen unerwarteten Zwischenfall, bei dem sich das Feuer immer weiter ausbreitete und den ganzen Wald niederbrannte.“ Mir wurde ganz anders, als ich darüber nachdachte und ich wusste nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Ich war fassungslos über diese Geschichte und konnte nicht glauben, dass es tatsächlich eine Sekte in Annatown gab, die Jackson damals getötet haben soll. Außerdem verstand ich nicht, warum all die Jahre niemand Verdacht geschöpft hatte. Irgendjemand hätte doch merken müssen, was für kranke Sachen auf der Cohan Farm abgingen. Oder war es etwa das schreckliche Geheimnis von Annatown, dass man davon gewusst und absichtlich geschwiegen hatte? Ich wurde von einem Schauer ergriffen und wollte so schnell wie möglich das Haus verlassen. Officer Morgan begleitete mich und rief sofort die Kollegen an, um das Haus zu durchsuchen und den Kopf in die Autopsie zu bringen.
 

Zwei Tage später sollten wir erfahren, dass der Kopf, den er im Zwischenboden gefunden hatte, nicht der Kopf von Teresa Cohan war, sondern von ihrer Schwester Lilith. Das bedeutete im Klartext, dass es der Kopf von Jacksons Mutter war. Er hatte ihren Kopf im Zwischenboden unter seiner Matratze versteckt. Teresas Leiche blieb nach wie vor verschwunden und selbst eine gründliche Durchsuchung der Farm blieb erfolglos. Ich saß lange mit einer Flasche Wein auf der Veranda und starrte zur Farm hinüber. Immer und immer wieder schossen mir zwei Fragen durch den Kopf, die mich noch sehr lange verfolgen sollten. Wer hatte Jacksons Mutter enthauptet und warum hatte er ihren Kopf im Zimmer versteckt? Aber dies sollte mich erst später beschäftigen. Zu dem Zeitpunkt, als wir noch nichts über die genauere Identität des Kopfes wussten, machte ich mir genug Gedanken über die Sache mit Jackson und fragte mich, wie Menschen nur so unsagbar grausam sein und ein Kind derartig misshandeln konnten. Und außerdem beschäftigte mich die Tatsache, dass man Jackson wieder zurückgebracht hatte, obwohl man von den Machenschaften der Sekte wusste. Auf dem Weg nach Hause merkte ich, dass ich Kopfschmerzen hatte und mir war schlecht. Da es dunkel wurde, bot Officer Morgan an, mich bis zur Haustür zu begleiten. Ich bemerkte sofort, dass im Haus kein Licht brannte und das verwunderte mich. Zwar wusste ich, dass Lewis an diesem Tag bei einem Freund schlief, aber Charles musste doch noch wach sein. Die Haustür stand auch offen. Officer Morgan zog seine Waffe und ging als Erstes hinein. Ich folgte ihm und hörte ein manisches Kichern von irgendwo her, gefolgt von einem leisen Gesang, den ich als das Totengräberlied wieder erkannte. Der Scarecrow Killer war hier. Officer Morgan gab einen Funkspruch durch und forderte sofortige Verstärkung an. Zwar wies er mich an, sofort das Haus zu verlassen, aber ich wollte unbedingt wissen, ob es Charles gut ging oder ob der Killer ihn auch schon umgebracht hatte. Langsam gingen wir den Flur entlang und ich hörte, dass die Stimme aus dem Wohnzimmer kam. Ich ging zur Seite, während Officer Morgan die Tür einen Spalt breit öffnete und hineinlugte. Er zog seine Pistole, dann stieß er die Tür auf und rief „Keine Bewegung! Hände über den Kopf und weg von der Leiche!“ Leiche? Als ich das hörte, stürmte ich ins Wohnzimmer hinein und glaubte schon, Charles sei tot, doch es war gar nicht er. Auf dem Boden lag Madison, ausgeweidet und ihr Körper und ihre Kehle mit Bonbons und Süßkram vollgestopft. Sie sah entsetzlich aus. Ihre Augen und ihre Nase waren abgeschnitten worden, ihr Gesicht und ihre Kleider zerfetzt und ein Arm lag etwas weiter weg, offensichtlich abgetrennt. Über ihr kniete der Vogelscheuchenmörder, seine Hände waren Klingen, schärfer als Skalpelle und die Zähne waren spitz gefeilt, das schwarze Haar verlieh ihm etwas noch Unheimlicheres. Am Mantel als auch am Pullover und am Schal klebte Blut, lediglich sein Hut, an dem eine dicke Tarantel krabbelte, war halbwegs sauber. Zwei monströse gelbe Augen starrten und an uns ein teuflisches Grinsen zierte dieses unechte Stoffgesicht. „Na, habt ihr euch gut amüsiert?“ fragte der Killer mit einer rauen und Furcht einflößenden Stimme, die einer Krähe nicht unähnlich klang. „Hat euch der kleine Ausflug Spaß gemacht?“ Langsam richtete sich die unheimliche Gestalt in ihrer ganzen, abscheulichen Größe auf. Sie reichte fast bis an die zwei Meter heran. Die Klingenhände leuchteten blutrot im Lichte der Abendsonne und ein widerlicher Gestank ging von ihr aus. „Ich sage es nicht noch mal“, sagte Officer Morgan und trat vorsichtig näher. „Hände über den Kopf, auf die Knie und keine Spielchen.“

„Glaubst du im Ernst, dass du mich mit diesem Spielzeug beeindrucken könntest, Bulle? Nein, ich habe ganz andere Spielzeuge und zwar sehr viele.“

„Das ist die letzte Warnung!“ rief Officer Morgan mit mahnender Stimme und machte sich bereit zu schießen. „Jackson, das Spiel ist aus. Es ist besser du ergibst dich.“ Als der Scarecrow Killer das hörte, brach er in ein wahnsinniges Gelächter aus, welches auch den Polizisten erschaudern ließ. Der Killer legte beim Lachen den Kopf in den Nacken und lachte so laut, als wolle er es die ganze Welt wissen lassen. Dann aber wandte er den Blick wieder zu uns und begann spielerisch die Finger zu bewegen. „Das ist eure Schlussfolgerung? Ach bitte, das kann doch wohl nicht euer Ernst sein. Jackson ist tot, er ist damals bei dem Brand ums Leben gekommen. Sie haben ihn gegrillt wie ein Spanferkel. Ihr habt ja keine Ahnung, nicht die geringste. Aber was will man schon von dummen kleinen Schweinchen erwarten?“ Sofort ging er auf uns zu und erhob seine Klingenhand zum Angriff, in diesem Moment schoss Officer Morgan und traf ihn in die Brust und mitten in die Stirn. Der Scarecrow Killer verharrte in der Bewegung, blieb wie erstarrt stehen, doch dann fing er sich wieder. Officer Morgan und ich konnten es nicht fassen. Das waren tödliche Schüsse, die ihn hätten umbringen müssen. Jeder Mensch wäre sofort umgefallen, warum er nicht? Die Antwort war entsetzlicher als alles, was ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen hätte ausmahlen können. Aus den Einschusslöchern in seinem Körper kroch Ungeziefer heraus. Aus dem Stirnloch wand sich ein Tausendfüßler heraus und krabbelte ihm über das Gesicht und verschwand schließlich in seinem Mund. Eine Hand voll Schaben fiel aus den Brustlöchern und ein paar Würmer wanden sich umher. Ich schrie auf, als ich das sah und glaubte schon fast, den Verstand zu verlieren. Das, was da vor uns stand, war kein Mensch in einem Vogelscheuchenkostüm. Es war eine richtige Vogelscheuche, in deren Inneren Ungeziefer hauste. Eine Spinne krabbelte aus dem Mantel hervor und verschwand wieder darin, Officer Morgan schoss noch einmal, doch der Schuss ging einfach durch den Kopf der Vogelscheuche hindurch und schleuderte weiteres Ungeziefer ins Freie. „Glaubt ihr es jetzt, da ihr es seht? Die Leute in dieser Stadt haben es von Anfang an begriffen, nur ihr beide nicht. Aber es gibt Dinge, die man nicht mit Logik und Wissenschaft beantworten kann. Und gegen eine Vogelscheuche könnt ihr mit euren lächerlichen Spielzeugpistolen nichts ausrichten.“ Ich stolperte zurück und spürte, wie ein erneuter Asthmaanfall sich anbahnte. Meine Atmung wurde immer schneller, jedoch wurde immer weniger Sauerstoff in die Lungen gepumpt. Zitternd griff ich nach dem Inhalator in meiner Tasche und versuchte, das Gerät zu bedienen, doch ich hatte meine Hände kaum noch unter Kontrolle. Das alles konnte nur ein schrecklicher Alptraum sein. Es gab keine lebendigen Vogelscheuchen, es musste ein Trick dahinter stecken. Aber wie sollte das denn gehen, wenn selbst Kopfschüsse nichts ausrichten konnten und statt Blut nur Ungeziefer herausquoll? In der Ferne waren bereits Polizeisirenen zu hören, doch selbst die Verstärkung könnte diesem Monster nichts anhaben. Scarecrow Jack hätte uns leicht umbringen können, jedoch entschied er sich anders und sprang durchs Fenster. Officer Morgan eilte hin und wir sahen, wie die Vogelscheuche über die Häuserdächer sprang und in der Ferne verschwand. Ich kauerte zitternd da, kämpfte mit den Tränen und hielt den Inhalator fest umklammert. Auch Officer Morgan, der bis vorhin noch so beherrscht war, stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Apathisch starrte er ins Leere, bis die Kollegen das Zimmer stürmten und das Blutbad sahen. „Hey Vince, alles in Ordnung? Was ist passiert?“ Doch das Einzige, was der Officer zu Stande brachte, waren die Worte „Eine Vogelscheuche… es ist tatsächlich eine Vogelscheuche…“

Scarecrow Jack Teil 4: Priest

Ich wollte nicht noch einen Moment länger in dieser gottverfluchten Stadt bleiben und packte sofort meine Sachen. Charles, der an diesem Abend in der Kneipe war, reagierte zu meinem Ärger gelassen und hielt an seiner Meinung fest, ich hätte alles nur geträumt. Officer Morgan bestätigte meine Worte und er erzählte, dass er den Mörder meiner besten Freundin mehrmals tödlich getroffen habe, jedoch bestünde das Innere der Vogelscheuche lediglich aus Ungeziefer. „Ungeziefer?“ fragte Charles ungläubig und sah Officer Morgan ungläubig an. „Die Vogelscheuche besteht aus Ungeziefer?“ „Anders kann ich mir die Sache nicht erklären“, murmelte der Polizist und fuhr sich über sein blondes Haar. „So etwas ist mir in meiner ganzen Laufbahn nicht untergekommen. Ich weiß genau, dass ich das gottverdammte Vieh ins Gesicht und in die Brust getroffen habe. Jeder Mensch wäre sofort gestorben oder umgefallen. Jeder andere hätte geblutet, aber aus den Einschusslöchern kam nur dieses widerliche Ungeziefer heraus. Und leider kann es sich tatsächlich nicht um Jackson Cohan handeln. Die Leiche wurde bereits exhumiert und sowohl DNA- als auch Gebissanalyse sind eindeutig: Jackson Cohan ist vor zwanzig Jahren verbrannt. Das bedeutet, dass wir es tatsächlich mit einer lebendig gewordenen Vogelscheuche zu tun haben.“

„Aber… so etwas gibt es doch nicht!“ rief Charles und machte einen halben Schritt zurück. „So etwas kann es doch nicht geben.“

„Das weiß ich selbst, trotzdem habe ich selbst gesehen, wie diese Viecher aus der Vogelscheuche herausgekrochen sind.“

„Und was, wenn die Vogelscheuche ferngesteuert wird?“

„Das würde ich auch sagen, wenn sie sich nicht so bewegt und nicht so gesprochen hätte. Nein, das ist keine ferngesteuerte Maschine. Charles, wir sind da in etwas hineingeraten, das über das Normale hinausgeht und wir müssen sofort weg. Denk an Lewis. Die Vogelscheuche war bereits in seinem Zimmer und wir können von Glück reden, dass er noch lebt.“ Das überzeugte ihn endgültig und somit begannen wir, das Nötigste zu packen. Wir wollten nur noch eines: Annatown so schnell wie möglich verlassen. Nichts hielt mich noch länger an diesen Ort und kaum war alles im Wagen verstaut, wollten wir auch sofort losfahren, jedoch sprang der Wagen nicht an. Ich ahnte Schlimmes und als Charles sich das Innere des Wagens genauer ansah, bestätigte er meine Vorahnung. Jemand hatte den Motor und die Batterie zerstört und sämtliche Schläuche durchschnitten. Der Wagen war vollkommen unbrauchbar. Diese Nachricht war so niederschmetternd, dass ich einen Heulkrampf bekam und eine Stunde lang weinend im Wagen saß, während mein Mann versuchte, unseren Sohn zu beruhigen. Die Vogelscheuche wollte nicht, dass wir von hier fortgingen. Sie war es, die den Wagen untauglich gemacht hatte, weil sie uns hier in Annatown töten wollte. Wir waren die Ratten auf einem sinkenden Schiff. Schließlich, als ich mich halbwegs beruhigt hatte, kam Officer Morgan und versicherte uns, jederzeit zu kommen, wenn etwas sein sollte oder wenn er selbst etwas Wichtiges in Erfahrung brachte. „Ich habe auch mit den Kollegen gesprochen. Abends wird ein Wagen kommen und das Haus im Auge behalten, falls die Vogelscheuche wiederkommt. Ich werde in der Zwischenzeit mehr über die Geschehnisse von vor zwanzig Jahren recherchieren. Zwar ist Jackson damals gestorben, aber mich lässt trotzdem das Gefühl nicht los, als hätte er trotzdem etwas damit zu tun. Vielleicht finde ich dann auch eine Möglichkeit, wie ich die Vogelscheuchemorde beenden kann.“ Ich dankte Officer Morgan für die Hilfe, allerdings hatte ich so meine Zweifel, ob uns das wirklich vor diesem Monster schützte. Vor allem stellte sich die Frage, wie man diese Vogelscheuche effektiv bekämpfen konnte, da Schusswaffen nicht die geringste Wirkung zeigten. Feuer wäre vielleicht eine Alternative. Feuer und Insektizide. Ich ging ins Wohnzimmer und goss mir ein Glas Schnaps ein. Auch Charles genehmigte sich einen Schluck und während wir vor Lewis eine heile Welt vorzuspielen versuchten, um ihm nicht noch mehr Angst einzujagen, schwiegen wir uns an und ertränkten unsere Angst in Alkohol. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich von einer mit Ungeziefer ausgestopften Vogelscheuche umgebracht werde“, sagte er schließlich nach einer langen Pause und nahm einen kräftigen Schluck. „Ich hätte auch niemals gedacht, dass so etwas überhaupt jemals passieren könnte.“

„Tja, das hätte niemand von uns gedacht, aber leider ist das nun mal so. Zum Glück ist Officer Morgan bemüht, uns in dieser Sache zu unterstützen und diesen Wahnsinn zu beenden. Es muss irgendwo eine Ursache dafür geben, dass die Vogelscheuche zum Leben erwacht ist und wahrscheinlich ist Jackson in dieser Sache verwickelt. Das sagt mir einfach mein Gefühl. Ich meine, wir haben ihn immer wieder eine Vogelscheuche genannt, weil er so verwahrlost aussah. Dabei hat uns nie wirklich interessiert, was dahinter steckte. Nachdem ich erfahren hatte, was ihm angetan wurde, fühle ich mich echt schlecht deswegen.“

„Kinder können echt grausam sein.“ Ich stimmte zu und lehnte mich zurück ins Sofa und gähnte laut. Es war schon spät, trotzdem konnte ich nicht schlafen. Die Angst, dass Lewis etwas zustoßen könnte, war unerträglich, trotz des Polizeiwagens vor der Haustür. Wenn ich wenigstens wüsste, dass es ein verrückter Killer war, dann wüsste ich wenigstens, dass man ihn erschießen konnte. Aber eine lebendige Vogelscheuche ging bei weitem über das hinaus, was ich bisher begreifen konnte. Wie um alles in der Welt war so etwas möglich? Wie zum Teufel konnte eine gewöhnliche Vogelscheuche ein Eigenleben entwickeln? Ich musste an die Chucky-Filme denken, wo ein verrückter Mörder mittels Voodoo Magie seine Seele in einen Puppenkörper transferiert hatte. Hatte Jackson so etwas in der Art getan? War seine Seele in eine Vogelscheuche gefahren? Das klang total verrückt, aber andererseits ließ das kaum andere Schlussfolgerungen zu.
 

Die Nacht verging quälend langsam und ich war völlig übermüdet und erschöpft. Zum Glück hatte sich die Vogelscheuche nicht blicken lassen, sondern hatte Jagd auf eine Gruppe älterer Damen gemacht, die sich am Abend getroffen hatten. Sie waren genauso übel zugerichtet wie die letzten Mordopfer vom Vogelscheuchenmörder, den jetzt alle inzwischen Scarecrow Jack nannten. Ich erfuhr durch einen Anruf von Officer Morgan von dieser Sache, reagierte aber weniger geschockt, als ich selbst angenommen hatte. Dafür war ich einfach zu erleichtert, dass meine Familie verschont geblieben war. „Ich habe mich übrigens näher informiert und ich glaube, an einer echt großen Sache dran zu sein“, erklärte er mir am Telefon und klang aufgeregt, als hätte er eine großartige Entdeckung gemacht, die den Fall weiter voranbrachte. „Ich habe mir die Vergangenheit der Opfer näher angeschaut und festgestellt, dass alle älteren Mordopfer, darunter auch die alten Damen und der Pfarrer, Verbindungen zu dieser Sekte „Vereinigung der wahren Christen“ hatten. Auch Madison Carters Eltern waren engagierte Mitglieder dieser Sekte und sie selbst trat der Gruppe auch bei, nachdem sie achtzehn wurde. Ziemlich viele sind Mitglieder, allerdings verschweigen sie es, da die Sekte bereits mehrmals ins Visier der Polizei geraten ist. Ich glaube, dass Scarecrow Jack darauf aus ist, die Mitglieder der Sekte zu töten und das wirft den Verdacht auf, dass er den Mord an Jackson Cohan rächen will. Ich werde versuchen, einen Zeugen aufzutreiben, der uns mehr zu der Sache erzählen kann. Vielleicht haben wir ja Glück und erfahren endlich mehr über die Geschehnisse von vor zwanzig Jahren.“

„Aber warum jagt Scarecrow Jack auch uns? Weder ich noch meine Eltern waren in dieser Sekte, das weiß ich genau!“

„Tja, wahrscheinlich will er auch Rache an Jacksons Peinigern üben. Aber so wie es scheint, liegen seine Prioritäten eher in der Verfolgung der Sektenmitglieder. Ich melde mich heute Nachmittag noch mal, wenn ich mehr dazu weiß.“ Da mir nach häuslicher Arbeit nicht zumute war, setzte ich mich stattdessen an den Laptop und versuchte, mich mehr über diesen religiösen Verein zu informieren. Ich war mir nicht sicher, trotzdem glaubte ich, den Namen irgendwoher schon mal gehört zu haben. Leider stand nicht viel Hilfreiches über die „Vereinigung der wahren Christen“ im Internet, ich erfuhr höchstens, dass sie einige wohltätige Projekte unterstützten und sie in den meisten Staaten gar nicht als eigenständige Sekte oder Kirche anerkannt waren. Lediglich in Ohio, Kalifornien, Washington und Virginia wurde diese Vereinigung als Sekte deklariert und war in Ohio und Kalifornien bereits verboten worden. In den anderen Staaten gehörte sie der katholischen Kirche an und war im Gegensatz zu den Baptisten oder Mormonen eher unbekannt und zählte anscheinend hauptsächlich in den Südstaaten viele Mitglieder. Sie engagierte sich für soziale Projekte und legte großen Wert auf frühe religiöse und erzkonservative Erziehung. Homosexualität und Ehebruch waren ihrer Auffassung nach genauso schlimm wie Mord und Totschlag. Die Vereinigung der wahren Christen lehnte andere Religionen strikt ab und ihr wurde Rassismus, Antisemitismus und kriminelle menschenverachtende Methoden vorgeworfen. Ich fragte mich, was für eine Rolle sie damals in Annatown innehatten, dass sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Ich forschte weiter nach, fand aber nichts Hilfreiches, weshalb mir wohl keine andere Wahl blieb, als ins Zeitungsarchiv zu gehen und dort nachzuforschen. Zwar wollte sich Officer Morgan um diese Sache kümmern, aber ich hielt es einfach nicht aus, untätig herumzusitzen und darauf zu warten, dass sich endlich etwas tat. Das war die schlechteste Option. Das Zeitungsarchiv lag nahe der Stadtgrenze und ich entschied mich, mit dem Bus dorthin zu fahren, weil unser Auto immer noch nicht repariert war. Irgendwie herrschte eine seltsame Atmosphäre in der Stadt, das spürte ich sofort. Die Leute schienen irgendwie die Köpfe zusammenzustecken und zu tuscheln, benahmen sich seltsam. Was mir besonders auffiel war, dass sich sehr viele in der Kapelle der Stadt aufhielten, wohl um dort zu beten oder sich zu beratschlagen. Ich hatte das ungute Gefühl, dass bald etwas passieren würde, allerdings konnte ich noch nicht sagen, was es sein würde. Der Bus erreichte schließlich die Haltestelle, wo ich aussteigen musste und bereits vom Fenster aus sah ich einen großen Polizeitrubel. Beim näheren hinsehen erkannte ich, dass eine weitere Leiche gefunden wurde, allerdings war sie gar nicht so zugerichtet wie die anderen Leichen, sie sah schwarz verbrannt aus, als hätte man sie angezündet. Man hatte sie an einer Stange befestigt, sodass sie aus der Ferne wie eine Vogelscheuche wirkte. Mit dunkelroter Farbe stand auf dem Boden geschrieben „Er war bereits tot!“ Officer Morgan war vor Ort und sofort eilte ich zu ihm, um mit ihm zu sprechen. Ich durfte zwar nicht die Absperrung übertreten, dafür aber kam er zu mir und klärte mich über die Situation auf. „Vor knapp einer halben Stunde hat jemand die mumifizierte Leiche von Teresa Cohan hier platziert, mit Benzin übergossen und dann angezündet. Keiner hat den Täter gesehen, allerdings hab ich soeben erfahren, dass ein Passant fünf Straßen weiter von der Vogelscheuche umgerannt worden war.“

„Dann hat die Vogelscheuche also die Leiche angezündet. Aber was hat diese Botschaft zu bedeuten? Ist damit vielleicht Jackson gemeint?“

„Das kann ich noch nicht sagen. Was haben Sie eigentlich vor?“

„Ich wollte zum Zeitungsarchiv und nach Informationen über diese Sekte suchen.“

„Sie sollten besser nach Hause gehen, solange sich Scarecrow Jack noch in der Nähe aufhält. Es könnte gefährlich werden.“

„Aber Scarecrow Jack greift doch immer nur nachts an. Tagsüber stiftet er nur Chaos, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Ich glaube, dass er diese Botschaft nur zu einem bestimmten Zweck hinterlassen hat: Er will die letzten Anhänger der Sekte, die damals Jackson Cohan getötet haben, aus der Reserve locken und sie töten. Und ich werde nichts unversucht lassen, um meine Familie zu schützen.“ Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Weg ins Archiv. Es fiel mir nur sehr schwer, meine Angst zu verbergen.
 

Lewis saß an diesem Tag alleine auf der Schaukel und beobachtete die anderen Kinder beim Spielen. Normalerweise würde er mit ihnen spielen, aber heute war ihm nicht danach zumute. Zwar hatten seine Eltern versucht, ihn weitestgehend zu schützen und ihm keine Angst zu machen, aber selbstverständlich spürte Lewis, dass seine Eltern Angst hatten und dass ihnen diese Vogelscheuchengeschichte zu schaffen machte. Und der Schreck, als die Vogelscheuche in seinem Zimmer war und vor seinem Bett gestanden hatte, saß noch immer tief. Immer und immer wieder beschäftigten ihn die Fragen „Warum lässt die Vogelscheuche uns nicht in Ruhe?“ und „Was wollte sie von mir?“ Er hatte immer geglaubt gehabt, dass es keine Monster gab und diese nur in seiner Fantasie und seinen Alpträumen existierten. Auch als die Vogelscheuche vor seinem Bett gestanden hatte, dachte er zunächst, dass er träumte, aber es war echt gewesen. Die Vogelscheuche lebte und sie war sehr böse. Ein lautes Krächzen ertönte in den Bäumen und als Lewis sich umschaute, sah er die Vogelscheuche auf einem Ast hockend. Ihre Messerhände glänzten wie poliertes Silber und in der einen hielt Scarecrow Jack den Süßigkeitenbeutel. „Na Lewis“ sagte sie mit einem breiten, hässlichen Grinsen „möchtest du ein paar Süßigkeiten?“ Lewis war vor Angst erstarrt, schaffte es aber nicht, zu schreien oder um Hilfe zu rufen. Stattdessen sah er die Vogelscheuche mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte langsam den Kopf. „Och warum denn? Die sind doch lecker. Ich habe die allerbesten Süßigkeiten der Welt hier. Ich habe Karamell, Dauerlutscher, Schokolade, Bonbons, Kaugummi, Brausekugeln und noch viel mehr. Du kannst so viel davon essen, wie du nur willst! Na, wie klingt das denn? Möchtest du ein Bonbon?“ Lewis erinnerte sich noch gut daran, dass seine Eltern ihm mehr als oft genug gesagt hatten, er dürfe niemals etwas von Fremden annehmen oder mit ihnen mitgehen. Sie hatten ihm erklärt, dass man sonst sehr schlimme Dinge mit ihm machen würde. Aber der Hauptgrund für seine Ablehnung war seine Angst vor der Vogelscheuche. Sie war von etwas abgrundtief Bösem erfüllt… etwas Monströsem. Langsam kam Scarecrow Jack vom Baum runter und eine Krähe landete auf seiner Schulter. Vorsichtig strich die Vogelscheuche mit ihrem Handrücken über das pechschwarze Gefieder. „Ist er nicht hübsch? Edgar hier ist mein allerbester Freund. Hast du auch einen?“ Lewis antwortete nicht auf die Frage, seine Hände umklammerten die Seile der Schaukel nur noch fester und sein ganzer Körper war erstarrt vor Angst. Die Vogelscheuche kam immer näher und langsam ließ sie einen ihrer Klingenfinger ganz dicht an Lewis’ Hals entlangfahren. Sie sahen sich beide in die Augen und Lewis verschlug fast der Atem, als er diesen fauligen Verwesungsgestank einatmete, der von Scarecrow Jack ausströmte. „Soll ich dir etwas Lustiges erzählen? Dort, wo du gerade sitzt, hat einst ein Junge gesessen, ganz alleine. Er war genauso alt wie du… und er hatte keinen einzigen Freund. Willst du ihn kennen lernen? Ich wette, ihr beide würdet euch wirklich gut verstehen.“ Wieder antwortete Lewis nicht, er versuchte so wenig wie möglich zu atmen, weil der Verwesungsgestank dieser Kreatur einfach unerträglich war. Als sie sich langsam vorbeugte, krochen Schaben und Asseln aus ihrem Ärmel und fielen zu Boden. Und unter dem Schal kam eine riesige Tarantel zum Vorschein. „Sieh nur, das sind alle meine Freunde. Willst du auch ein paar haben? Hier! Ich gib dir welche!!“ Und damit legte die Vogelscheuche einen Arm über Lewis’ Kopf und ein Schwall von Würmern, Larven, Spinnen und Kriechgetier regnete auf den Jungen nieder. Dieser schrie laut auf und fuchtelte wild umher, um die Viecher abzuschütteln. Die Vogelscheuche lachte und rief „Na los kleines Schweinchen, schrei! Schrei für mich! Ich habe noch mehr Freunde für dich. Sie sind alle hier bei mir! Sie zerfressen mein Innerstes, zerfressen meinen Verstand. Sie fressen meine Augen und meine Haare, sie fressen meine Haut und meine Eingeweide. Mal sehen, was sie mit dir tun werden! Mal sehen, ob sie dich auch fressen werden! Bald schon wirst du sie auch lieben Lewis. Und dann wirst du auch den Gestank der Verwesung und des Blutes lieben lernen.“ Das Gelächter der Vogelscheuche hallte in Lewis’ Ohren wieder und wieder und schließlich erreichten die Lehrer, die die Pausenaufsicht innehatten, den Jungen und versuchten ihn zu beruhigen. Sie befreiten Lewis von dem Ungeziefer und fragten, wer ihm das angetan habe, doch Lewis bekam vor Angst kein Wort heraus. Er weinte nur und rief immer wieder nach seinen Eltern. Es hatte keinen Sinn mit ihm, man musste ihn nach Hause schicken. Während man wartete, dass sein Vater kommt und ihn abholen würde, betreute der Schulpsychologe den kleinen Lewis und versuchte, mit ihm zu reden. Aber auch hier stieß er auf Granit, der Junge hatte einfach zu viel Angst. Wenigstens schaffte er es, Lewis einigermaßen zu beruhigen. Zumindest so lange, bis der Junge die Hände in die Taschen steckte und plötzlich ganz blass wurde und aussah, als hätte er ein Gespenst gesehen. Langsam nahm er die Hände wieder aus den Taschen und hielt Karamellbonbons, saure Drops, Dauerlutscher und andere Süßigkeiten in der Hand. Alle waren in einer orangeschwarzen Folie eingewickelt. Es waren Halloweensüßigkeiten. Als Lewis das sah, schrie er so laut auf, dass ihn die halbe Schule hören konnte. Der Schulpsychologe verstand zunächst nicht, was das zu bedeuten hatte und versuchte, mit Lewis zu reden. Dieser wurde völlig panisch und verkroch sich in die Ecke des Zimmers, wo er sich ängstlich zusammenkauerte. „Lewis, nun sag doch endlich was mit dir los ist. Was hast du?“

„Die Vogelscheuche will mich holen. Scarecrow Jack ist hinter mir her. Er ist immer da, er beobachtet mich. Er steht da draußen, sehen Sie?“ Der erfahrene Sozialpädagoge ging zum Fenster, um nachzusehen, jedoch konnte er nichts erkennen. „Lewis, da draußen ist niemand.“ „Er ist aber da! Nachts steht er an meinem Fenster und singt. Ich will nicht, dass er mich holt!“ Lewis wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und zitterte am ganzen Körper. Die letzten Tage hatte er geschwiegen und versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber diese Konfrontation mit Scarecrow Jack war zu viel gewesen. Diese Vogelscheuche hatte es auf ihn abgesehen, das wusste er genau. Sie verfolgte und quälte ihn aus einem sadistischen Vergnügen heraus und versuchte, seine Eltern zu töten. Und dieser Gestank. Dieser Übelkeit erregende widerliche Gestank, als würde eine Leiche verwesen…. Seitdem die Vogelscheuche ihre Insekten auf ihn ausgeschüttet hatte, schien der Gestank nun auch an ihn zu kleben. Er fühlte sich schmutzig und elend, er ekelte sich vor diesem Gestank, ekelte sich vor sich selbst und hatte das Gefühl, als würde dieser Todesgeruch wie eine zweite Haut an ihm kleben. Es war, als trüge er bereits die ebenso stinkende Kleidung dieser Vogelscheuche.
 

Da ich vergessen hatte, dass ich mein Handy auf lautlos gestellt hatte, erfuhr ich erst zuhause, was Lewis auf dem Schulhof zugestoßen war. Im Zeitungsarchiv hingegen ahnte ich noch nichts dergleichen, sondern suchte konzentriert nach Artikeln aus jener Zeit, kurz bevor der Brand ausgebrochen war und was danach geschehen war. Die Suche erwies sich jedoch als äußerst schwierig, da die „Vereinigung der wahren Christen“ nirgendwo namentlich erwähnt wurde. Das machte es mir fast unmöglich, mehr über diese Sekte herauszufinden. Ich wühlte mich durch sämtliche Zeitungsstapel und je länger ich suchte, desto mehr stellte sich ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ein. Nach einer geschlagenen Stunde vergeblicher Suche lehnte ich mich laut seufzend in meinem Stuhl zurück und massierte meine Schläfen. Es musste doch etwas geben, niemand konnte so gut dreckige Wäsche verstecken. Ich war mir sicher, dass diese Stadt Leichen im Keller hatte und irgendwo musste die Antwort sein. Vor mir lagen diverse Stapel und da ich allmählich den Überblick verlor, entschied ich mich dazu, kurz eine Pause einzulegen und draußen eine Zigarette zu rauchen. Als ich wieder zurückkam, fand ich einen Zettel, auf dem zwei Zeitdaten geschrieben standen. Die Handschrift war nicht meine und ich glaubte zunächst, dass die Vogelscheuche die Nachricht hinterlassen haben könnte. Aber als ich die Verwaltungsangestellte fragte, sagte sie nur, dass ein Mann hier war und auch schon wieder gegangen sei. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte aber zumindest war es nicht Scarecrow Jack. Vielleicht war es ja jemand, der über die wahren Geschehnisse von damals Bescheid wusste und mir einen Tipp geben wollte. Aber warum dann diese Geheimnistuerei? Vielleicht versteckte er sich aus Angst davor, ebenfalls von der Vogelscheuche verfolgt zu werden. Ich suchte die Zeitungen mit dem entsprechenden Datum heraus und konnte zuerst nichts Ungewöhnliches feststellen. Es gab weder eine Erwähnung über die Sekte noch etwas anderes Religiöses, welches verdächtig schien. Aber als ich genauer hinsah, wurde ich doch stutzig: Vor zwanzig Jahren steckte die Gemeinde in großen finanziellen Schwierigkeiten. Um es besser auszudrücken: Annatown stand damals am Rande des Bankrotts und lebte auf Pump. Die Stadt hatte sich durch schlechte Wirtschaft und hohe Ausgaben in die Millionenhöhe verschuldet und sogar die Schließung der Schule wurde diskutiert. Aber dann, knapp wenige Tage nach Jacksons Tod am 31. Oktober, ging es wieder bergauf oder zumindest schien es so. Es wurde Geld mit vollen Händen ausgegeben und Straßen wurden zusammen mit der Schule saniert. Das war verdächtig. Wie zum Teufel konnte eine vor dem Bankrott stehende Stadt solche Ausgaben machen, wenn sie es sich unmöglich leisten konnte? Offenbar war irgendwo Geld geflossen und das nicht gerade wenig. Es war genug, damit Annatown wieder florieren konnte. Woran erinnerte mich das nur? Als ich noch europäische Literatur studiert hatte, kam mir doch schon mal so eine Geschichte unter. Wenn ich mich recht erinnerte, war es eine deutsche Komödie, in der eine alte Milliardärin ihre Heimatstadt zuerst in den Ruin trieb und dann eine Milliarde zahlte, wenn die Leute ihre alte Jugendliebe tötete, die sie vor langer Zeit betrog. Konnte es vielleicht sein, dass es sich bei Jackson genauso verhielt? Hatte diese Sekte etwa Geld gezahlt, um ihn töten zu können? Wenn dem so war, würde das erklären, warum weder die Polizei noch das Jugendamt etwas unternommen hatten, als Jackson immer mehr verwahrloste und innerlich verkümmerte. Das Ganze war eine ungeheure Verschwörung, welche all die Jahre vertuscht worden war. Das hatte der Pfarrer also mit dem Geheimnis gemeint. Annatown hatte das Leben des Jungen verkauft, um sich selbst aus dem Schuldensumpf zu befreien. Ich kopierte die Zeitungsartikel und nahm die Kopien mit. Diese Erkenntnis war so unglaublich, dass ich sie unbedingt Charles mitteilen musste. Doch zuhause sollte ich wohl die nächste Hiobsbotschaft entgegennehmen, denn ich fand Lewis völlig verstört im Wohnzimmer vor, Charles war bei ihm und versuchte ihn zu trösten. Von ihm erfuhr ich, dass Lewis mit Ungeziefer überschüttet wurde und er glaubte, die Vogelscheuche würde ihn verfolgen. Dies veranlasste mich dazu, erst einmal über meine Erkenntnisse zu schweigen und meinem Sohn beizustehen. Es brach mir das Herz, mein Kind so verängstigt und hilflos zu sehen und ich brachte ihn erst einmal ins Bad, damit er diesen unangenehmen Geruch loswerden konnte, der an ihm haftete. Wir sprachen erst einmal über den Vorfall in der Schule, bevor ich Charles über meine Erkenntnisse informierte. Dass er jedoch wenig Interesse daran zeigte, konnte ich jedoch nicht verstehen und ich reagierte daraufhin ein wenig gereizt. „Mal ganz im Ernst: Was hilft uns dieses Wissen denn weiter? Und wenn die Leute hier ihre Seele an den Leibhaftigen gegen Bares verkauft haben, es hilft uns rein gar nichts gegen die Vogelscheuche.“

„Das weißt du doch nicht. Ich für meinen Teil bin sicher, dass Jackson etwas damit zu tun hat. Vielleicht ist sein Geist in dieses Scheißteil reingefahren und jetzt macht er Jagd auf die Sekte. Und irgendetwas hat er mit Lewis vor und deshalb müssen wir weiter nachbohren, um zu erfahren, wie wir ihn aufhalten können. Du kannst ja meinetwegen am Schreibtisch sitzen und deine Groschenromane schreiben, ich werde nicht einfach so aufgeben.“ Wütend über die Reaktion meines Mannes ging ich in die Küche und kochte mir einen Kaffee. Bei der Gelegenheit wählte ich direkt Officer Morgans Nummer und rief ihn an. Als ich ihm von meinem Verdacht erzählte, zeigte er da schon mehr Interesse und auch er hatte gute Nachrichten. Es war ihm gelungen, den Pfarrer von damals ausfindig zu machen, der es als Einziger geschafft hatte, mehr über Jackson zu erfahren. Ich war ein wenig irritiert und fragte ihn, ob nicht eigentlich Pater Maxwell der Pfarrer von damals war. „So ganz stimmt das nicht. Vor zwanzig Jahren war Pater Martin noch der für Annatown zuständige Pastor. Aber dann hat er kurz nach dem Brand sein Amt aufgegeben und lebt seitdem so zurückgezogen, dass die meisten ihn schon für tot halten. Ich habe bereits mit ihm gesprochen und werde ihn vernehmen.“

„Könnte ich dabei sein?“

„Eigentlich nicht, aber da sie Opfer der Vogelscheuche sind, dürfen Sie hinter der Spiegelwand gerne mithören.“

„Danke, wann ist das Verhör?“

„Gleich in einer Stunde. Schaffen Sie es noch rechtzeitig zum Revier?“

„Ich denke schon. Danke noch mal für alles.“ Ich zog meine Jacke wieder an und bat Charles, während meiner Abwesenheit auf Lewis aufzupassen. Mit dem Taxi erreichte ich das Polizeirevier in einer Viertelstunde und wurde bereits im Eingangsbereich von Officer Morgan empfangen, der mir einen Besucherausweis aushändigte und mich in den Raum führte, von wo aus ich einen guten Blick auf den Verhörraum hatte. Da ich mich nicht gut fühlte, nahm ich auf einen der Stühle Platz und sah, wie ein Mann hereingeführt wurde, der um die Mitte fünfzig oder sechzig sein musste. Er hatte bereits keine Haare mehr und war braun gebrannt, als Zeichen dafür, dass er wohl in der Vergangenheit häufig draußen gearbeitet hatte. Um seinen Hals trug er einen Rosenkranz, sein Blick sah müde und erschöpft aus. Ab und zu fuhr er sich über seinen weißen Bart und schaute ins Leere. Er saß die ganze Zeit schweigend da und machte nicht dem Anschein, als bereite ihm das bevorstehende Verhör Sorgen. Nein, der Mann sah irgendwie teilnahmslos und abwesend aus. Als schließlich Officer Morgan den Raum betrat und sich ihm gegenübersetzte, nahm der alte Mann kurz seine Brille ab und putzte die Gläser mit einem Taschentuch. „Also gut Mr. Helmholtz, fangen wir doch erst einmal mit den persönlichen Daten an. Ihr Name ist Mathias Helmholz, 62 Jahre alt und geboren in Berlin Deutschland, richtig?“

Der alte Mann bestätigte und fügte hinzu, dass er in Berlin Kreuzberg gelebt habe, bis er im Alter von 18 Jahren in die USA ausgewandert sei. „Sie haben hier in Ohio, nachdem Sie Ihr Theologiestudium beendet hatten, als Priester in Annatown gearbeitet.“

„Das ist richtig. Eigentlich sollte ich nach Beendigung meines Studiums nach Deutschland zurückkehren, aber ich hatte mich entschieden, hierzubleiben und besitze seit dreißig Jahren amerikanische Staatsbürgerschaft.“

„Und wann genau haben Sie Ihr Priesteramt niedergelegt?“

„Das war direkt am Tag nach dem großen Brand in Annatown.“

„Und Sie kannten einen Jungen namens Jackson Cohan?“

„Ja, wahrscheinlich sogar besser als jeder andere…. Er hat mich oft in der Kirche besucht und sich mir anvertraut.“

„Können Sie uns mehr darüber erzählen?“ Der ehemalige Pfarrer atmete tief durch und rieb sich kurz die Augen, bevor er mit seiner Geschichte begann. „Jackson war bereits tot, als ich ihn kennen lernte. Zwar lebte sein Körper noch, aber er selbst war gestorben, das sah man ihm sofort an. Ich kam damals frisch von der Priesterschule und war noch jung und voller Tatendrang. Ich dachte, ich könnte irgendwie zu dem Jungen durchdringen, sein Vertrauen gewinnen und ihm helfen. Aber Jackson war mehr ein Tier als ein Mensch. Er traute niemandem, blieb lieber allein und blieb still. Ich habe alles versucht, um irgendwie an ihn ranzukommen, aber Jackson schien völlig tot zu sein. Er lachte nie, weinte auch nie oder wurde wütend. Damals spürte ich schon, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war, dass irgendetwas Schreckliches geschehen sein musste, dass er so geworden war. Ich habe viele traumatisierte Kinder während meiner Zeit in einer Missionsstation zu tun gehabt, aber keines war wie er. Mir viel schon früh auf, dass Jackson ein äußerst gestörtes Bild von seiner Umwelt hatte und einen sadistischen Trieb hatte. Seine Zeichnungen zeugten immer wieder von Tod und Verstümmelungen, außerdem kam mir sehr früh der Verdacht, dass er seinen… Drang… an Tieren ausließ. Seine Familie wollte mir aber nicht sagen, was mit ihm war und sie schien auch kein Interesse daran zu haben, Jackson in psychologische Obhut zu schicken. Ich weiß es noch genau: Ich habe ihn an einen Mainachmittag getroffen, da hatte er ein Messer in der Hand und stach sich damit in den Handrücken. Stellen Sie sich vor: Er hat sich erschrocken, weil er geblutet hat. Er sah mich völlig verwirrt und aufgelöst an und fragte mich, warum er denn blute.“

„Das klingt danach, als hätte Jackson ernsthafte psychische Probleme gehabt.“

„Das ist noch weit untertrieben. Der Junge wusste nicht einmal, dass er ein Mensch war. Deshalb war er so entsetzt, als er sein eigenes Blut gesehen hat. Sie können mir ruhig glauben, dass ich in dem Moment genauso entsetzt war. Ich kenne ja Menschen, die sich selbst verletzen, um Schmerz empfinden zu können, weil sie emotional labil sind. Mir ist aber noch niemals ein achtjähriges Kind untergekommen, welches nicht wusste, dass es menschlich war. Jackson kam seitdem ab und zu in die Kirche, meist schwieg er nur und malte seine Bilder. Aber dann, ich weiß nicht genau, was ihn dazu bewegt hatte, wollte er mit mir reden.“ Officer Morgan sah Mr. Helmholtz verdutzt an und ließ diese Worte erst einmal auf sich wirken, bevor er fragte „Worüber hat er mit Ihnen gesprochen?“

„Meist über seine Träume und was ihm durch den Kopf ging. Da er sehr labil war, sprach er manchmal zusammenhanglos, aber was er mir erzählte, beunruhigte mich. Er gestand, dass er immer wieder den Drang verspüre, seine Tante mit einem Messer abzustechen und dass er sich immer wieder lebhaft vorstelle, wie er seine Mitschüler zerstückelt. Auch was das Töten der Tiere betraf, gestand er, dass es in ihm Glücksgefühle auslöste. Er hatte Gewaltfantasien eines gefährlichen Psychopathen, wenn Sie es so hören wollen. Und dann vertraute mir Jackson an, dass seine Tante ihn immer, wenn er das Haus verließ, in den Keller sperrte und dann an den Füßen festkettete, damit er nicht weglaufen konnte. In den Ferien verbrachte er seine Tage nur in dem dunklen Keller.“

„Und Sie haben nichts unternommen, um ihm zu helfen?“

„Natürlich war mein erster Gedanke, mit seinem gesetzlichen Vormund zu sprechen und das war nun mal Teresa Cohan. Aber die sagte mir, dass der Junge nicht krank, sondern besessen sei und er deshalb gereinigt werden solle. Damals wusste ich nur von Gerüchten her, dass Teresa und John in dieser Sekte waren. Und von der bevorstehenden Hinrichtung des Jungen erfuhr ich, als er mich von einer Telefonzelle aus anrief. Er sagte mir, er sei fortgelaufen, weil seine Tante ihn auf dem Scheiterhaufen verbrennen wolle. Ich dachte zuerst, das sei nur ein Teil von Jacksons Krankheit, aber er klang nicht danach, als würde er mir was vorlügen. Ich riet ihm, erst einmal zu mir in die Kirche zu kommen, wo ich ihn so lange dabehalten würde, bis wir eine Lösung finden könnten. Aber dazu kam es nicht. Die Polizei fing ihn unterwegs ab und brachte ihn zurück. Jackson glaubte, ich hätte ihn verraten und hintergangen und er sah mich mit einem hasserfüllten Blick an, der wirklich Angst einjagte.“

„Warum hat die Polizei ihn zurückgebracht?“

„Annatown war damals hoch verschuldet, beinahe bankrott. Die Sekte wollte unbedingt diesen Jungen haben und traf ein Abkommen mit dem Stadtrat: Sie bekommen Jackson und dafür würde die Stadt wieder florieren. Ich war fassungslos, als ich davon erfuhr und ich wandte mich an den Bischof, aber der sagte mir nur, man müsse für das Wohl vieler auch gelegentlich Opfer bringen. Das hieß also: Die Sekte bestach den Bischof und der würde nichts dergleichen unternehmen, um dem Jungen zu helfen. Die ganze Stadt stand geschlossen hinter dieser Sache. Warum sollte man auch auf so eine einmalige Gelegenheit verzichten? Es war sowieso ein psychisch kranker Junge mit Potential zum Psychopathen, den niemand auf der Welt vermissen würde. Zwar bin ich in den Wald gegangen, um Jackson vor dem Tod zu retten, aber ich kam zu spät. Der Scheiterhaufen brannte längst, als ich hinzukam und Jackson starb. Und in dem Moment, in dem er sein Leben aushauchte, erwachte ein weitaus schlimmerer Schrecken zum Leben.“

„Sie meinen die Vogelscheuche? Glauben Sie, dass Jacksons Seele in die Vogelscheuche gefahren ist?“ Der alte Mann gab ein kraftloses Lachen zurück und schüttelte den Kopf. „Ich habe mich sowieso immer gefragt, warum die Sekte ausgerechnet Jackson haben wollte. Inzwischen glaube ich, dass sie das „Dunkle“ in ihm austreiben wollten.“

„Können Sie mir das mal genauer erklären?“

„Ich glaube, dass da etwas Unmenschliches in ihm steckte. Etwas Lauerndes und Bösartiges, das da in ihn schlummerte. Und das wollten sie ihm austreiben. Die Ironie war jedoch, dass sie das Böse gar nicht ausgetrieben haben. Nein, sie haben ihm systematisch die Menschlichkeit ausgetrieben und das Böse erschaffen.“ Der ehemalige Pfarrer wurde ein wenig blass und wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Da er nicht mehr sagte, fragte Officer Morgan „Hat Jackson Ihnen jemals erzählt, was passiert war, bevor er zu seiner Tante kam?“

„Nicht direkt, nur zusammenhangloses Gerede. Mir fiel aber auf, dass er sofort aggressiv und gewalttätig wurde, sobald man ihn anfasste. Ich fürchtete schon, seine Eltern könnten ihn missbraucht haben aber dann sah ich, was da wirklich unter der Kleidung verborgen lag: Sein ganzer Rücken war vernarbt. Es sah aus, als hätte man ihn ausgepeitscht. Immer, wenn ich Jackson darauf ansprach, sah er mich ganz komisch an und sagte wortwörtlich „Er hasste es, wenn die kleinen Schweinchen schrieen.“ Ich erinnerte mich noch gut, als ich Jackson in der Nachmittagsbetreuung besuchen gehen wollte. Er war auf dem Schulhof und prügelte mit einem armdicken Ast auf einen Hund ein und rief immer wieder „Na los du kleines Schweinchen, schrei!“ Aber von den Kindern hat er sich die ganze Zeit herumschubsen und auslachen lassen. Mich wunderte es, warum er ausgerechnet Tiere quälen musste und nicht direkt auf Menschen losging. Aber dann wurde es mir klar: Er suchte sich instinktiv die Schwächeren und da er anderen Kindern unterlegen war, ließ er all seine Aggressionen an Tieren aus. Jackson war sehr intelligent, auch wenn man es ihm nicht ansehen mochte. Er neigte dazu, alles sehr schnell zu durchschauen und so wie ich von ihm erfuhr, hat er bis zu seinem Umzug nie eine Schule besucht oder jemals mit anderen Kindern zu tun gehabt. Auch als er bei seiner Tante lebte, besuchte er nur selten die Schule, da er oft in den Keller gesperrt wurde. Also hatte er sich selbst Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Aber das änderte auch nichts an der Tatsache, dass er keinerlei soziale Kompetenzen besaß und unfähig war, unter Menschen zu leben, weil er immer wieder isoliert worden war. Den meisten Kontakt hatte er nur zu seiner Familie und die war, wie Sie ja inzwischen herausgehört haben, nicht gerade das perfekte Vorbild. Es war also nur natürlich, dass Jackson so wurde, wie er war. Aber mich lässt immer noch nicht diese Szene los, wo er mich verwirrt anstarrte und fragte, warum er denn bluten würde.“

„Können Sie sich vielleicht den Grund erklären, warum er glaubte, er könne nicht bluten?“

„Jackson war nie das Gefühl vermittelt worden, dass er ein menschliches Wesen sei. Weder von seiner Familie noch von seinem Umfeld. Er war als alles Mögliche bezeichnet worden, aber nie als Mensch, deswegen hat er sich auch selbst nie für einen Menschen gehalten.“

„Was bedeuteten Vogelscheuchen für Jackson?“ Mr. Helmholtz sah Officer Morgan zunächst verwirrt an und schien zunächst die Frage nicht zu verstehen, aber dann schien er doch kapiert zu haben und erklärte „Die Vogelscheuchen waren sein Hassobjekt. Er wurde selbst immer so genannt, weil er so verwahrlost war. Für ihn waren diese Vogelscheuchen sein Fluch, außerdem konnte er sie wegen seiner „Freunde“ nicht leiden.“

„Welche Freunde?“

„Jackson hatte scheinbar gegen alles eine Abneigung oder hegte eine kühle Distanz. Lediglich zu Krähen schien er sich hingezogen zu fühlen. Ich glaube, dass er deswegen so eine besondere Verbindung zu diesen Tieren hatte, weil er sich mit ihnen in seinem Schicksal verbunden fühlte. Krähen sind die Boten des Todes, die Menschen meiden sie als Unheilbringer und vor allem sind sie keine schönen Vögel. Aber besonders, weil sie die Begleiter des Todes sind, war Jackson von ihnen fasziniert. Und der Tod war für Jackson besonders prägend. Den Jungen haben sie mehr als ein Mal umgebracht.“ Nun wurde ich hellhörig und musste an die Worte denken, die die Vogelscheuche vor Teresas brennender Leiche zurückgelassen hatte.
 

Er war bereits tot
 

Auch Officer Morgan erkannte sofort den Zusammenhang, fragte aber geschickterweise zuerst „Was genau meinen Sie damit?“

„Jackson war innerlich längst tot, als ich ihn kennen lernte. Im Grunde starb er drei Male. Das erste Mal war in der Zeit, von der ich nur Gerüchte her kenne, der zweite Tod erfolgte auf dem Scheiterhaufen. Der dritte geschah, als Jackson zurückkehrte.“

„Er kehrte zurück? Dann steckt er also hinter Scarecrow Jack?“ Der ehemalige Pfarrer lachte müde und schüttelte den Kopf. „Nein, das ist schon längst nicht mehr Jackson. Er war es vielleicht am Anfang. Aber als er erkannt hat, dass er nicht mehr in seinem alten Körper steckte, sondern in dieser ihm so verhassten Vogelscheuche, starb das letzte bisschen Menschlichkeit in ihm, was er noch besaß. Das, was da in dieser Vogelscheuche steckt, hat rein gar nichts mehr mit einem Menschen gemeinsam, es ist das absolute Böse, die reine Dunkelheit in Jacksons Herzen. Diese Kreatur kann man nur noch als einen Dämon beschreiben. Sie wird von einem unstillbaren Durst nach Blut, Rache und Chaos geleitet. Sie empfindet weder Liebe noch Gnade und ist allein auf ihr sadistisches Vergnügen aus. Jackson Cohan existiert gar nicht mehr sondern nur noch diese blutrünstige Bestie, die sie geweckt haben.“

„Haben Sie die Vogelscheuche schon mal selbst gesehen, wie sie umhergewandelt ist?“

„Ja, das war kurz nach Jacksons Tod, als der Waldbrand ausbrach. Ich sah auf dem Kirchengelände plötzlich eine Vogelscheuche herumkriechen, die offenbar zu laufen versuchte. Ich war so erschrocken, dass ich zunächst das Weite suchen wollte, aber dann sah sie mich an und streckte ihre Hand nach mir aus. Sie rief mir zu „Helfen Sie mir, Pater Martin!“ und ich erkannte sofort Jacksons Stimme wieder. Aber ich hatte einfach zu große Angst. Ich lief davon und konnte nicht glauben, was ich da gesehen hatte. Da hatte eine lebendige Vogelscheuche zu mir gesprochen und sie klang genau wie Jackson. Ich dachte, das sei Teufelswerk! Als ich am Abend zurückkehrte, war die Vogelscheuche allerdings wieder verschwunden und knapp sechzehn Jahre habe ich nichts von ihr gehört. Erst vor vier Jahren habe ich sie gesehen, wie sie sich auf dem Friedhof herumtrieb und die Holzkreuze zerstörte. Ich eilte hin und rief „Jackson, bist du es?“ Doch der Blick, den mir die Vogelscheuche zuwarf, war nicht mehr der eines Menschen. Sie grinste mich breit an und lachte, während sie eine ihrer Klingen in die Brust stieß. Dann rief sie mir zu „Sehen Sie Pater, jetzt blute ich nicht mehr. In mir drin ist nur noch Ungeziefer und es zerfrisst meinen Körper und meinen Verstand.“ Es war nicht mehr Jacksons Stimme, die da zu mir sprach und ich merkte auch, dass ein furchtbarer Pesthauch von dieser Kreatur ausging. Sie stank wie eine verwesende Leiche und was aus ihr herausströmte, war pure Bosheit und Ungeziefer. Da erkannte ich, dass Jackson endgültig fort war. Ich zog mich daraufhin vollständig zurück mit dem Entschluss, das Unvermeidbare zu akzeptieren und mich auf mein bevorstehendes Ende vorzubereiten, wenn Scarecrow Jack erst einmal die restlichen Sektenmitglieder getötet hat. Wir alle müssen für unsere Fehler bezahlen. Sie dachten, sie würden einen Jungen von einem Monster befreien, aber im Grunde waren sie es, die dieses Monster erschaffen haben. Und nun sollen sie zusehen, wie sie ihr Monster in den Griff bekommen.“ Mr. Helmholtz nahm ein Schluck aus dem Wasserglas, welches man ihm anbot und sah sogleich ein klein wenig besser aus. „Dass er ausgerechnet im Körper einer Vogelscheuche wiedererwachen musste, hat ihm letzten Endes den Rest gegeben. Er war das geworden, als welches ihn die Menschen immer beschimpft hatten. Die Kinder in der Schule haben ihn immer verspottet und ihn Scarecrow Jack genannt und ihn mit einer Vogelscheuche verglichen. Und dann musste er auch noch in solch einem Körper erwachen. Das war einfach zu viel für ihn.“

„Haben Sie eine Ahnung, wie wir Scarecrow Jack aufhalten können?“

„Nichts kann ihn aufhalten, weil nichts ihn umbringen kann. Ihre lächerlichen Schusswaffen bringen rein gar nichts und er wird auch niemals damit aufhören, Leute zu töten. Er wird niemals zufrieden sein, niemals müde und niemals satt werden, denn in ihm herrscht nur noch eine gewaltige Leere, die er zu füllen versucht. Was glauben Sie wohl, warum dieses Ungeziefer in ihm haust? Weil er etwas Lebendiges in sich haben wollte. So ist das! Er wird von einer unstillbaren Gier getrieben, die Gier nach Leben. Scarecrow Jack kennt keine Sehnsucht und keine Wünsche, es ist die rein selbstsüchtige und egoistische Gier danach, sein verdorbenes Inneres mit etwas Menschlichem zu füllen, deshalb hat er auch solch ein sadistisches Vergnügen darin, seine Opfer zu quälen und zu töten. Seine Gier ist wie eine Sucht. Menschen versuchen durch Süchte, alles Negative um sich herum zu verdrängen und stattdessen in eine euphorische Traumwelt zu fliehen, die nur so lange Bestand hat, wie sie an ihrem Stoff hängen. Und Jacks Sucht ist das Abschlachten von Leuten, weil genau dieses perverse und sadistische Vergnügen das Einzig Menschliche ist, was ihm geblieben ist!“ Mr. Helmholtz war mit jedem Satz immer wütender geworden und war schließlich aufgestanden und hatte diese letzten Worte in Officer Morgans Gesicht gebrüllt. Mir wurde auf der anderen Seite des Sicherheitsglases schlecht und ich musste schnell raus. Es war also doch so, wie ich vermutet hatte. Jackson Cohan war Scarecrow Jack. Sein Geist war in diese unheimliche Vogelscheuche gefahren, mit der er immer wieder verglichen worden war und das hatte ihn zum Monster gemacht, das er jetzt war. Wir hatten es mit einem rachsüchtigen Geist im Körper einer Vogelscheuche zu tun, der ein unstillbares Verlangen nach Mord und Folter hatte. Und er würde niemals aufhören, selbst wenn er all seine ehemaligen Peiniger umgebracht hatte…. Noch nie habe ich mich so hilflos gefühlt wie in diesem Moment und langsam begann ich mit dem Gedanken zu spielen, dass wir das Ganze vielleicht nicht überleben würde.
 

Nach dem Verhör blieb ich noch eine Weile sitzen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Mir schossen so viele Fragen und Gedanken durch den Kopf und auch die Angst vor dem, was uns bevorstünde, wenn wir Jackson nicht aufhielten. Doch dann kam mir eine Idee: Ich wollte Mr. Helmholtz persönlich sprechen. Sofort verließ ich das Gebäude und sah noch, wie der Ex-Pfarrer um die Ecke bog. „Warten Sie!“ rief ich und begann zu rennen. „Mr. Helmholtz!“ Doch dann hörte ich plötzlich ein lautes Schreien und als ich nach links abbog, sah ich Scarecrow Jack über den Leichnam des alten Mannes gebeugt. Seine Klingenhände waren blutig, an ihnen hingen Fleischfetzen und einige Organe waren an den langen Messern aufgespießt. Und während er das tat, sang er mit einem breiten Grinsen
 

„Here’s the little piggy,

See his snout

Slit him open

And guts fall out”
 

Ich versuchte, nicht zu schreien und wich langsam zurück. Doch die Vogelscheuche hatte mich längst bemerkt. Langsam erhob sie sich und starrte mich mit diesen leuchtenden, bösartigen gelben Augen an. Dann öffnete sie ihren Mund und fragte mich mit einer unmenschlich klingenden Stimme „Na? Gefällt es dir, was ich mit dem kleinen Schweinchen gemacht habe? Jetzt schreit es nicht mehr so laut herum. Ich werde alle kleinen Schweinchen zum Schreien bringen…“ Ich wich zurück und versuchte, nicht panisch zu werden, da ich sonst einen weiteren Asthmaanfall befürchten musste. Doch schon schnürte sich mir wieder die Brust zu und ich bekam keine Luft mehr. Schnell griff ich in meine Handtasche, während ich weiter vor der Vogelscheuche zurückwich, die einfach da stehen blieb und mich beobachtete. Ich nahm einen kräftigen Zug und spürte, wie wieder Luft in meine Lunge kam. Einen Moment lang sah mich Scarecrow Jack mit einem etwas merkwürdigen Blick an, der gar nicht zu ihm passen wollte und dann fragte er „Na? Kriegst du wieder Luft?“ Ich antwortete nicht, sondern drehte mich um und rannte davon. Die Polizei war schon längst im Anmarsch und die fünf Polizisten hatten bereits ihre Waffen gezogen. Scarecrow Jack lachte nur und sagte „An eurer Stelle wäre ich nicht so dumm!“ „Nein! Nicht!!!“ rief ich noch, aber da machte die Vogelscheuche einen Satz nach vorne und es wurde geschossen. Doch sämtliche Schüsse gingen durch ihn hindurch und aus den Löchern kroch nur Ungeziefer und ein wenig grünschwärzlicher Schleim. Manisch lachend hob Jackson einen Arm und schlug seine Klingenhände in die Brust eines Polizisten. Blut schoss wie eine Fontäne aus dem Körper und ein weiterer Hieb schlug dem tödlich Verletzten einen Arm ab. Einen fliehenden Polizisten bekam Jackson am Kopf zu fassen. Er legte seine Krallen um ihn und riss tiefe Wunden, dann stach er ihm die Augen aus, bevor er ihm die Kehle zerfetzte. Das, was sich da vor meinen Augen abspielte, war ein einziges, blutiges Massaker. Jeder Versuch, Jackson anzugreifen oder vor ihm zu fliehen, endete sofort mit dem Tod. Gegen diesen Gegner konnte man einfach nicht gewinnen. Und während ich dieses schreckliche Blutbad mit ansah, stellte sich mir immer und immer wieder die gleiche Frage: Warum ließ er mich am Leben?

Scarecrow Jack Teil 5: Piggies

Officer Morgan hatte noch nicht einmal seinen Kaffee trinken können und wurde schon zum Tatort zitiert, wo die Vogelscheuche das grausame Blutbad angerichtet hatte. Es sah bei weitem schlimmer aus, als man für möglich gehalten hätte bei einer Kreatur, die Messerhandschuhe wie Freddy Krueger trug. Ich werde nie vergessen, wie blass er wurde, als er die Leichen seiner Kollegen sah, die vor wenigen Minuten noch gelebt hatten. Einer davon war ein guter Freund aus Kindertagen und nun hatte die Vogelscheuche ihm die Augen ausgestochen und die Kehle zerfetzt. Ich glaube, als Polizist stumpft man irgendwann gegen Gewalt und Tod ab,. Man glaubt, man hätte alles gesehen und es könnte einen nichts mehr überraschen. Doch wenn plötzlich ein Kollege auf solch furchtbare Weise getötet wird, bricht diese Schutzmauer zusammen wie ein Kartenhaus. Officer Morgan stand wie betäubt da, er weinte nicht, er wurde auch nicht wütend. In diesem Moment erinnerte er mich an Jackson. Was hatte er damals gesehen, dass er für immer so erstarrte? Ich wurde von einem Sanitäter betreut, der seinerseits überrascht war, dass mir rein gar nichts fehlte. Zwar waren die Schnitte an meinem Arm noch nicht ganz verheilt, aber ansonsten war alles in Ordnung. Ich konnte also gehen, jedoch wurde ich sogleich von Officer Morgan aufgehalten. Irgendwie wirkte er nicht mehr so nett und hilfsbereit wie zuvor. „Erklären Sie mir eines“, sagte er in einem leicht anklagenden Ton, wie ihn Polizisten in Verhören anwendeten. „Immer wieder laufen Sie und Scarecrow Jack sich über den Weg und immer sind Sie und Ihre Familie die Einzigen, die er am Leben lässt.“ Die Art, wie Officer Morgan mit mir redete, gefiel mir überhaupt nicht. Vielleicht lag es an dem Schock über den Verlust seiner Kollegen, dass er so reagierte. Wahrscheinlich war es seine Art der Trauer. Ich selbst fühlte mich gegen die Wand gedrängt und versuchte beim besten Willen, selbst nicht die Nerven zu verlieren. „Ich weiß es doch selbst nicht. Wenn ich etwas wüsste, hätte ich es Ihnen doch schon längst gesagt!“

„Schön und gut, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass da zwischen Ihnen und Jackson mehr war.“

„Da war nie etwas. Ich habe ihn nur ein einziges Mal angesprochen und das war alles!“ Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, als hätte Officer Morgan sich in den Kopf gesetzt, als würde ich gemeinsame Sache mit der Vogelscheuche machen. Zugegeben, es war schon sehr merkwürdig, dass ich immer am Leben gelassen wurde, aber deshalb durfte dieser Kerl noch lange nicht auf ein gemeinsames Spiel schließen. Das war mir gegenüber einfach nicht fair. Ich stand doch auch Ängste aus und wachte jede Nacht schweißgebadet auf, weil ich Angst habe, dass meinem Kind etwas passiert sein könnte. Ich beschloss, erst einmal nach Hause zu gehen und Officer Morgan eine Weile aus dem Weg zu gehen. Zuhause legte ich mich sofort aufs Sofa und versuchte, ein wenig Ruhe zu finden. Lewis war fürs Erste vom Schulunterricht befreit und Charles schrieb an seinem Roman. Während ich so da lag und nebenbei eine Talkshow im TV ansah, dachte ich über die Worte nach, die die Vogelscheuche zu mir gesagt hatte. Die Frage, die sie mir stellte, hatte nichts Schadenfrohes an sich gehabt, aber besorgt hatte sie auch nicht geklungen. Und auch dieser Zwischenfall im Haus gab mir zu denken. Ich hatte einen schweren Asthmaanfall bekommen und meinen Inhalator verloren und war gestürzt. Die Vogelscheuche hat dann nach mir gegriffen, aber nicht versucht, mich zu töten. Wollte sie mich etwa gar nicht verletzen? Konnte es sein, dass Officer Morgan irgendwie Recht hatte und Jackson Sympathie für mich hegte? Verfolgte er mich und meine Familie aus einem völlig anderen Grund, den ich bis jetzt noch gar nicht in Erwägung gezogen hatte? Ich wusste es nicht und Jackson war für mich sowieso schon immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Zwar hatte ich ihn mal angesprochen, aber nur weil ich dachte, hinter dieser rauen Schale würde ein weicher Kern stecken und irgendwie hatte er mir Leid getan. Aber sollte das allein wirklich der Grund sein, warum er immer wieder meinen Weg kreuzte und mich am Leben ließ. Aber je mehr ich über diese ganze Sache nachdachte, desto klarer wurde es und ich begriff immer mehr, was in Jacksons Kopf vor sich ging. Wenn Mr. Helmholtz Recht hatte und Jackson wirklich danach gierte, seine verdorbene Seele mit etwas Menschlichem zu füllen, dann hatte er sich als Ziel eine Familie gesetzt. Jackson wollte eine Familie und ausgerechnet meine hatte er sich ausgesucht, weil ich ein Mal nett zu ihm war. Und solange er diese Pläne nicht verwirklichen konnte, tötete er jeden, mit dem er noch eine Rechnung offen hatte oder ließ seinen sadistischen Gelüsten freien Lauf. Ich recherchierte ein wenig im Internet, um mir ein genaueres Bild von Jacksons Krankheitsbild zu machen und herauszufinden, wie er eigentlich tickte. Ich fand mehrere Möglichkeiten heraus, eine davon war eine antisoziale Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-aggressivem Verhalten. Dies passte sogar wie die Faust aufs Auge. Betroffene waren normalerweise zurückhaltend, schüchtern und unauffällig. Aber in Extremsituationen hatten sie Gewaltausbrüche, die alles andere übertreffen konnten. Und für Jackson war Körperkontakt oder eine geringe physische Distanz zu anderen Menschen eine extreme Stresssituation gewesen, weil er die meiste Zeit völlig isoliert war und kaum unter Menschen gelebt hatte. Hinzu kommt sein schweres Trauma, dessen Ursprung bislang noch im Verborgenen blieb. Interessant war auch, dass solche Störungen auch genetisch bedingt waren. Mir kam ein Zitat von Officer Morgan in den Sinn, welches er von seinem Vater aufgeschnappt hatte. „Wenn man so darüber nachdenkt, stimmte was mit der ganzen Familie nicht.“

Was, wenn Jackson nicht der einzig psychisch Kranke in der Familie war? Vielleicht waren seine Eltern das ja auch und es hatten bei ihnen so schreckliche Zustände geherrscht, dass man sie dem Jungen nicht mehr zumuten konnte. Nur eines gab mir Rätsel auf: Jacksons Worte, die er zu seinen Opfern sagte, während er sie folterte oder tötete: „Schrei kleines Schweinchen!“ So etwas sagte er doch nicht einfach so aus reinem Spott heraus, für ihn waren diese Worte sehr prägend gewesen in seiner Vergangenheit. Vielleicht hatte sein Vater diese Worte immer gesagt, wenn er ihn verprügelt oder missbraucht hatte, was auch immer Jackson zugestoßen war. Vielleicht wollte er ja auch deswegen nie angefasst werden und rastete dann gleich aus. Man hätte fast meinen können, Jackson hätte das Asperger-Syndrom, weil er sein Leben nach eigenen bestimmten Regeln und Vorschriften führte. Aber er hatte es nicht, er war einfach unter katastrophalen Verhältnissen aufgewachsen und wenn man so aufwuchs, dann war es eigentlich gar nicht verwunderlich, dass er zu dem geworden war, was er war. Man hatte, wie Mr. Helmholtz richtig gesagt hatte, die Menschlichkeit aus ihm ausgetrieben und ihn zu einem Monster gemacht. Jackson war unfähig geworden, Mitgefühl oder Gnade zu empfinden, geschweige denn, sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen. Sein Verstand konzentrierte sich nur noch auf die rudimentärsten Dinge: Überleben und den größtmöglichen Vorteil herausschlagen. Und dazu war ihm jedes Mittel recht. Hätte Jackson nicht diese einfachen Prinzipien zu seinen Prioritäten gesetzt, wäre er wahrscheinlich schon viel früher gestorben, da bin ich mir sicher. Aber was genau hatte er denn mit uns vor? Was für eine Rolle spielte Lewis in seinem Plan? Ich musste unbedingt dieses letzte Kapitel in Jacksons Vergangenheit aufdecken, um mehr über seine Ziele zu erfahren. Vielleicht gelang es mir, eine Schwäche zu finden und ihn von meiner Familie fern zu halten. Ich ging zum Telefon, suchte im Telefonbuch nach und rief Officer Morgans Vater an, der schon lange pensioniert war und in einem kleinen Haus am Stadtrand lebte. Ich erklärte ihm die Sache und bat ihn um Hilfe, doch er schien nicht wirklich begeistert von meinem Anruf zu sein. Aber dann erklärte er sich einverstanden und bat mich, zu ihm in die Walnut Street zu kommen. Ich fuhr mit dem Taxi und war nach einer viertelstündigen Fahrt da. Das Haus, welches Harry C. Morgan bewohnte, war klein und beschaulich, wirkte aber trotzdem einladend und gemütlich. Ich klingelte und eine hübsche blonde Pflegekraft empfing mich. Mr. Morgan war bereits 83 Jahre alt und hatte bereits vor der Pension gestanden, als er Jackson von seiner Familie mit der Hilfe des Jugendamtes wegholte. Direkt nach diesem Einsatz hatte er seine Pension angetreten und war seit einem Autounfall auf eine Pflegekraft angewiesen. Er saß in einem großen Sessel und sah aus, als wäre er gerade aus einem Schläfchen aufgewacht. Ich nahm auf dem Sofa Platz und nahm dankend ein Stück Kuchen an, welches die Pflegerin mir brachte. Ich kam gleich zum Punkt und erzählte Mr. Morgan noch einmal, weshalb ich mich an ihn gewandt hatte und bat ihn darum, mir mehr über die Zustände von damals zu erzählen, in denen man Jackson vorgefunden hat. Der alte Mann schloss die Augen und sammelte seine verbliebenen Kräfte. „Ich möchte ganz ehrlich zu Ihnen sein: Dass das alles passieren musste, war mir schon seit Jahren klar gewesen. Nur die Frage, wann der Sturm losbrechen würde, war ungewiss. Wissen Sie, Jacksons Eltern hätten eigentlich niemals Eltern werden dürfen, es gibt seltene Fälle, in denen erst ein Kind alles in eine große Katastrophe steuert. Das Kind kann nichts dafür, dennoch ist es die Ursache. Das Gleiche lag bei Jackson vor. Seine Mutter konnte aufgrund ihrer Depressionen keinen Job lange halten und war lange Zeit in einer Klinik, konnte aber tatsächlich ihre Krankheit besiegen und wieder Kraft schöpfen, dabei hat auch ihr Mann geholfen. Mit den beiden war alles in bester Ordnung, bis das Baby zur Welt kam. Die Zeit, in der ein Säugling tags und nachts am Schreien ist, stellt für viele eine harte Herausforderung dar. Und die konnte diese Familie einfach nicht schaffen, die Cohans waren alle mental schwache Leute. Lilith gab ihr Bestes, um eine gute Mutter zu sein, bekam aber ein Mal einen heftigen Nervenzusammenbruch und war die ganze Zeit am Weinen. Und dieses Geheul und das nicht enden wollende Geschrei des Kindes war wahrscheinlich der Auslöser dafür, dass Neil Cohan durchdrehte und Lilith krankenhausreif prügelte und das Kind auf den Boden warf. Jackson kam mit einer Kopfverletzung davon, aber Lilith hatte er den Kiefer und die Nase gebrochen und ihr weitere erhebliche Verletzungen zugefügt. Sie selbst bestritt immer wieder, dass Neil ihr das angetan habe und sie wollte ihn auch nicht anzeigen. Ich riet ihr trotzdem, diesen Grobian zu verlassen, alleine um des Kindes Willen. Lange Zeit hörte ich nichts von ihr, allerdings beschwerten sich die Nachbarn wegen des Lärms. Eines Tages, es war vor 23 Jahren, da war Jason gerade fünf Jahre alt, da rief er mich an. Er hörte sich schwach und heiser an und sagte mit stockender Stimme, dass sein Vater Lilith zersägt hätte und er den Kopf gestohlen hätte. Er fragte mich, ob ich auf seine Mutter solange aufpassen könne. Ich hab mir darauf keinen Reim machen können und dachte, der Junge spinnt. Aber dann hörte ich Neil im Hintergrund schreien und ich hörte es laut knallen. Der Junge schrie vor Schmerzen auf und ich bin sofort mit den Jungs losgefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Aber wir fanden das Haus leer vor, im Garten lag die Leiche von Lilith vergraben. Sie war mit einer Knochensäge zerstückelt worden und ihr Kopf fehlte. Da war mir klar, dass Jackson die Wahrheit gesagt haben musste. Neil hatte Jacksons Mutter vor seinen Augen umgebracht und in Stücke gesägt. Wir haben die ganze Stadt durchkämmt aber weder Jackson noch seinen Vater gefunden. Selbst in seinem Laden war er nicht. Neil Cohan hatte eine Metzgerei, wissen Sie? Nach vier Monaten vergeblicher Suche hatten wir schließlich aufgegeben und mussten mit dem Schlimmsten rechnen. Es war der reine Zufall, der uns schließlich auf die entscheidende Spur brachte. Ein paar Nachbarn hatten sich über den unangenehmen Gestank in einem alten Haus beschwert und als wir dort nachsahen, fanden wir Neil vor, blutverschmiert und mit einem Beil in der Hand. Das ganze Haus stank nach verwesendem Fleisch und Blut. Überall schwirrten Fliegenschwärme umher und ich empfand diesen Ort nur noch als die Hölle. Aber die wahre Hölle kam über uns, als wir Jackson fanden. Er lag in einem Loch, das mal zu einem alten Brunnen gehört hatte. Da drin hatte der Mistkerl unzählige Leichen entsorgt. Von Menschen und von Tieren. Den Jungen hatte er gleich mitentsorgt. Der Kleine stand bis zu den Knien in Gedärmen und Leichenteilen und so wie es den Anschein hatte, war er schon länger dort unten. Als ich den Jungen rausholte, dachte ich, er würde mir zusammenbrechen oder anfangen zu weinen. Stattdessen streichelte er eine Krähe, die er mit Fleischstücken fütterte und sie „Edgar“ nannte. Dann begann er dieses Lied zu singen…“

„Sie meinen das Totengräberlied?“

Mr. Morgan nickte und rückte seine Brille zurecht. „Ich dachte schon, der Junge hätte inmitten der stinkenden und verwesenden Kadaver und all dem Blut den Verstand verloren.“ Wir beide schwiegen eine Weile und ich war zutiefst geschockt über diese Geschichte. Das war es also, was alle verschweigen wollten. Jacksons Vater war ein Serienmörder gewesen, der zuerst seine Frau und dann noch andere Menschen getötet hatte. Und als er es müde war, seinen Sohn zusammenzuschlagen, hat er ihn in dieses Loch geworfen, damit er dort verreckt. Einfach unvorstellbar grausam und abartig. „Wie konnte dieser Mann nur so etwas tun?“

„Die ganze Familie hat einen Dachschaden, wenn Sie mich fragen. Die Mutter war die Einzige, die sich wirklich Mühe gegeben hat, ihrem Kind ein normales Umfeld bieten zu können und mit ihrer Krankheit umzugehen. Lilith war eine gute Mutter, aber leider war Neil weder ein guter Ehemann, noch ein guter Vater.“

„Warum hat er sie umgebracht? Was war der Auslöser?“

„Sie wollte ihn verlassen, insbesondere weil er Jackson einmal so verprügelt hatte, dass dem Jungen ein Sehnerv so beschädigt wurde, dass er auf dem rechten Auge nichts mehr sehen konnte. Ich kannte sie schon von klein auf her und bot ihr an, dass sie mit Jackson so lange zu mir kommen könnte. Aber als der Dreckskerl davon erfuhr, schlug er ihr den Kopf ab und zwang Jackson, ihm bei der Vergrabung der Leiche zu helfen. Und immer, wenn Jackson geschrieen oder geweint hatte, wurde er nackt an einen Pfahl gefesselt und ausgepeitscht. Danach wurde ihm ein Halsband angelegt und der musste auf den kalten Boden schlafen und aus einem Napf essen. Können Sie sich dass vorstellen? Jackson wurde wie ein Tier gehalten und dann einfach zu den Leichen geworfen, weil er eine komplette Apathie entwickelte und keine Reaktionen mehr zeigte. Aber das, was mich wirklich erschüttert hat, war die Tatsache, wie gleichgültig mir Jackson all das erzählte. Als wäre es das Normalste auf der Welt, so schwer misshandelt zu werden. Ich habe die Bilder von seiner Untersuchung gesehen und war einfach nur fassungslos. Jacksons ganzer Körper war vernarbt, er hatte mehrere offene Wunden, die entzündet waren und schwere Infektionen.“ Ich konnte nicht länger an mich halten und ließ meinen Tränen freien Lauf. Allein der Gedanke, jemand könnte meinem Sohn so etwas antun, brach mir das Herz. Nun verstand ich endlich, warum niemand darüber reden wollte. Das, was sich da abgespielt hatte, war wirklich die Hölle und in dieser hatte Jackson acht Jahre lang gelebt. Diese Worte, die er seinen Opfern sagte, musste sein Vater zu ihm gesagt haben, wenn er ihn zusammenschlug. Jackson hatte alles still ertragen und war dann einfach explodiert, weil er es nicht mehr ertragen konnte. Als diese Sektenmitglieder ihn getötet hatten, war das Maß endgültig voll gewesen und er ließ all seinen Hass und all seinen Zorn raus. Mr. Helmholtz hatte Recht mit seinen Worten, als er sagte, dass sie Jackson drei Male umgebracht hatten. Sein Vater hatte ihn getötet, die Sekte hatte ihn getötet und die Menschen haben ihn mit ihrem Hass und ihrem Spott getötet. „Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Jackson sich verprügeln ließ, aber bei einer einfachen Berührung ausgerastet ist?“

„Ich vermute, es war ein Schutzreflex. Er war auf einem Auge blind und wenn er überrascht wurde, schlug er sofort zu. Jackson, der nie gelernt hat, was Menschsein bedeutet, nahm tierische Züge an, beschränkte sich auf die einfachsten Instinkte, um zu überleben. Allein schon, dass niemand gemerkt hat, dass er Gebrechen hat, kommt von seinem Überlebenswillen her. Kranke und verletzte Tiere versuchen, ihre Gebrechen zu verbergen, weil man sie sofort als leichte Beute erkennt. Dessen war sich auch Jackson bewusst. Er wehrte sich nie gegen die Prügel, weil er wusste, dass er unterlegen war und er griff jene aus reinem Selbstschutz an, die ihm nichts Böses wollten. Jackson konnte nie von Gut oder Böse unterscheiden. All seine Aggressionen ließ er an Tieren aus, weil sie ihm wiederum unterlegen waren.“

„Und warum hat man ihn dann zu seiner verrückten Tante gebracht?“

„Das habe ich auch nicht verstanden. Ich wusste, dass mit der „Vereinigung der wahren Christen“ etwas faul war, aber höhere Instanzen hatten das so beschlossen. Teresa und John Cohan hatten ihren Einfluss genutzt, um ihren Willen zu bekommen. Und dann die Blutgeldaffäre…“

„Ich weiß. Annatown hat Jacksons Leben verkauft, um sich selbst zu retten.“

„Ungeheuerlich, oder? Aber die Stadt ist sowieso dem Untergang geweiht, früher oder später auf jeden Fall. Immer mehr Leute ziehen fort, die anderen werden getötet. Das Einzige, was mir noch zu denken gibt, ist die Frage, ob Jackson aufhören wird, wenn Annatown ausgestorben ist. Denn er hat auch schon außerhalb von Annatown getötet, nämlich seinen Vater. Der war aus dem Gefängnis ausgebrochen und wurde in einem Müllcontainer gefunden. Nackt und verstümmelt und ausgeweidet, der Körper bis oben hin mit Süßigkeiten vollgestopft. Das war vor knapp fünf Jahren in einem kleinen Städtchen in North Dakota. Der einzige Grund, warum Jackson nicht viel früher in Annatown gemordet hat, lag darin, dass er zuallererst seinen Vater töten wollte. Er ist ihm durch etliche Staaten nachgefolgt, nur um ihn zu finden und zu töten. Und das ist es, was mich so erschreckt: Jacksons Zielstrebigkeit… seine sture und rücksichtslose Art, sein Ziel zu verfolgen." Unfassbar, dass er sechzehn Jahre lang seinen Vater gejagt hatte, ohne auch nur ein einziges Mal ans Aufgeben zu denken. Schließlich kam mir ein neuer Gedanke. Wenn Jackson damals an seiner Mutter hing, dann musste er doch eine Schwachstelle haben, die wir ausnutzen konnten. Ja genau, der Kopf seiner Mutter. Den konnte man doch als Druckmittel einsetzen. Und da Jackson mich als eine Art Mutterersatz betrachtete, würde er mir auch nichts antun. Zumindest glaubte ich das. „Mr. Morgan, ich glaube ich weiß nun, wie ich gegen Jackson vorgehen kann!“ Der alte Mann sah mich mit trüben Augen an. Er schien nicht sehr überzeugt zu sein und sagte schließlich „Was auch immer Sie tun, Jackson wird sein Ziel nicht aufgeben. Er ist eine rastlose Seele, die verdammt dazu ist, niemals Ruhe zu finden, weil sie nie das Gefühl der Zufriedenheit und Genugtuung kennen wird. Egal was er bekommt, es wird ihm nicht genug sein, er wird niemals aufhören. Glauben Sie mir das!“

„Mag sein, aber ich will es wenigstens versuchen.“
 

Am nächsten Tag rief ich Officer Morgan an, um ihn in meinen Plan einzuweihen. Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, ihm aus dem Weg zu gehen, aber um Jackson in die Schranken zu weisen, brauchte ich seine Hilfe. Ich traf mich mit ihm auf dem Revier und erzählte ihm das, was ich von seinem Vater erfahren hatte und von meiner Theorie. Wie ich erwartet hatte, war er ein wenig skeptisch, aber er wollte nichts unversucht lassen. Der Kopf von Lilith Cohan befand sich in der pathologischen Abteilung und wurde noch untersucht. Er würde sich darum kümmern und Schauplatz des Ganzen würde an dem Ort sein, wo alles angefangen hatte: Dort, wo man Jackson vor zwanzig Jahren gefunden hatte. Vielleicht hielt er sich auch dort auf. Und wenn nicht, mussten wir uns etwas anderes einfallen lassen, um ihn dorthin zu locken. Ich besprach mich mit Officer Morgan, dass er sich im Hintergrund halten sollte, während ich Jackson beschäftigte. „Zwar wissen wir nicht, was er alles aushält, aber vielleicht ist er ja empfindlich gegen Feuer. Immerhin ist seine Kleidung brennbar und bei Freddy Krueger hat es auch geholfen.“

„Das schon, aber Krueger ist Fiktion und Jackson ist leider real.“

Ich beschloss, Charles und Lewis im Unwissen zu lassen und sie aus der ganzen Sache rauszuhalten. Das war die einzige Möglichkeit, sie zu schützen. Wenn ich Jacksons ganze Aufmerksamkeit auf mich zog, war meine Familie wenigstens in Sicherheit. Ein kleiner Trost wenigstens. Ich fuhr zum alten Verschlag und spürte, wie mein Herz raste. Langsam wurde es dunkel und ich hatte Angst. Denn immerhin würde ich gleich einer mordlüsternen Vogelscheuche gegenüberstehen, die vom Geist eines Jungen besessen war. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, bestand das Innere der Vogelscheuche aus Schleim und Ungeziefer und sie selbst stank wie eine verwesende Leiche. Meine einzige Hoffnung war Jacksons Liebe zu seiner Mutter. Den mumifizierten Kopf trug ich in einer Plastiktüte bei mir und dieser war meine einzige Waffe gegen diese Vogelscheuche. Officer Morgan lag mit zwei Kollegen auf der Lauer, um mich aus einer eventuellen Gefahr zu befreien und Jackson zu einem Haufen Asche abzufackeln. Das Haus, wo sich Neil Cohan vor zwanzig Jahren mit seinem Sohn versteckt hatte, war ein altes Schlachthaus. Es roch nach zwanzig Jahren immer noch leicht nach Blut und Verwesung und an den Wänden waren überall tiefe Kratzer, als hätte Jackson seine Messerhände hineingeschlagen. Ab und zu huschten ein paar Ratten oder Ungeziefer herum und je näher ich dem Loch kam, wo man Jackson gefunden hatte, wurde der Verwesungsgeruch stärker. Er war noch sehr präsent, als hätte noch vor kurzem etwas Verfaultes hier gelegen. Offenbar versteckte sich die Vogelscheuche tagsüber hier drin und wartete auf die Nacht, wo sie wieder ihr Unwesen treiben konnte. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, als ich immer tiefer ins Schlachthaus vordrang und die Dunkelheit auch weiter zunahm, da im Haus der Strom nicht funktionierte. Ich hatte zu meinem größten Unglück auch noch keine Taschenlampe dabei und musste mich auf mein Gehör verlassen. Und leider war die Geräuschkulisse nicht gerade sehr angenehm, denn ich hörte alles Mögliche, was mich vor Schreck zusammenzucken ließ. Ein leises Knarren, herunterfallende Gegenstände… Alles Mögliche ließ mich sofort denken, die Vogelscheuche verfolgte mich und wartete auf einen günstigen Moment, um mich zu töten. Ich umklammerte die Plastiktüte mit dem Kopf fester und hörte die beruhigende Stimme von Officer Morgan in meinem Ohr, wo sich der kleine Empfänger für das Funkgerät befand. „Bleiben Sie ruhig und haben Sie keine Angst. Ich und die Jungs haben Sie genau im Blickfeld und sollte was passieren, kommen wir sofort, um Sie da rauszuholen.“ Das war ein wenig beruhigend und ich versuchte, meine Angst hinunterzuschlucken. Dann plötzlich hörte ich eine andere Stimme, allerdings hallte sie in den Wänden überall wider, sodass ich den Ursprung nicht bestimmen konnte. „Kleine Schweinchen müssen geschlachtet werden. Sie sollen still sein, weil sie sonst das Monster böse machen. Dann wird er wieder böse…“

„Jackson?“ rief ich vorsichtig und sah mich nach allen Seiten um, konnte aber nichts erkennen. „Jackson, bist du da?“ Ich hörte ein hohles Kratzen, als würde Metall gegen Metall schleifen. Das war eindeutig Jackson und er kam auf mich zu. Ich drehte mich ruckartig um und sah die große Silhouette der Vogelscheuche in der Nähe einer großen, verrosteten Maschine stehen. Das Kratzen wurde schließlich von einem Summen begleitet und die Melodie erkannte ich als das Lied wieder, welches Jackson kurz vor der Ermordung von Pater Maxwell gesungen hatte. Schließlich aber unterbrach er das Summen und Kratzen und blieb im Schatten stehen, sodass ich ihn nicht recht erkennen konnte. Eine lastende Stille breitete sich aus und ich spürte, wie mir vor Angst das Herz in die Hose rutschte. In dem Moment kam mir der Gedanke, dass Jackson vielleicht nicht so begeistert sein würde, wenn er sah, dass ich den Kopf seiner Mutter in den Händen hielt. Aber jetzt war es auch zu spät. Langsam, ganz langsam trat Jackson aus der Dunkelheit hervor und er sah in seiner Vogelscheuchengestalt noch schrecklicher aus als beim letzten Mal. Als wäre er der Inbegriff der schlimmsten Alpträume geworden. Seine Messerhände waren nicht mehr so blank poliert sondern hatten einen stumpfen dunkelroten Glanz von eingetrocknetem Blut, sein Mantel war durchlöchert und die Kleidung dreckig und zerschlissen. Unter dem Hut lugte ein wenig schwarzes Haar hervor und unter dem Mantel krabbelte viel Ungeziefer herum. Ich wich einen Schritt zurück und sah ihn angsterfüllt an. „Jackson…“ brachte ich hervor, jedoch blieben mir die restlichen Worte in der Kehle stecken. Die Vogelscheuche streckte langsam ihre Hand nach mir aus und ich war wie erstarrt und konnte mich nicht dagegen wehren. Vorsichtig und behutsam strich mir Jackson mit dem stumpfen Rücken der Messerklinge über die Wange und sah mich mit seinen gelben Augen an, die wie dämonische Lichter in zwei schwarzen Höhlen leuchteten. „Es ist schön, dass du mich besuchen kommst…“ sagte er mit einer ungewohnt zärtlichen Stimme und atmete rasselnd aus, wobei mir der bestialische Verwesungsgestank die Tränen in die Augen trieb. „Du bist wunderschön geworden… genau wie sie. Die gleichen warmherzigen Augen einer Mutter.“

„Jackson, warum tust du das alles? Warum terrorisierst du meine Familie und wieso lässt du mich am Leben?“

„Sie stören nur“, sagte die Vogelscheuche und nahm ihre Klingen wieder von mir weg, wohl um mich nicht zu verletzen. „Du brauchst diese kleinen Schweinchen doch gar nicht. Es ist doch ganz klar: Du bist wie sie, sie lebt in dir weiter und deshalb gehören wir als Familie zusammen.“

„Wen meinst du mit „sie“? Etwa deine Mutter?“

„Du bist meine Mutter, auch wenn du es vielleicht vergessen hast. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe Dad getötet. Ich habe ihn abgeschlachtet wie die Huren und Schweine, die er mit mir zusammen weggeworfen hat. Ich habe Tante Teresa und Onkel John abgestochen und ihre unheimlichen Freunde ebenfalls. Ich hab alles Verdorbene aus ihnen rausgeholt und mit Süßem vollgestopft. Ja genau, alles Verdorbene habe ich rausgeschnitten! Sie haben alles kaputt gemacht, sie haben mich verbrannt und getötet und sieh, was sie aus mir gemacht haben! Ich wollte nicht sterben, ich wollte bei dir bleiben, doch dann haben sie mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. All die Jahre haben sie mich als Vogelscheuchenjunge ausgelacht und dann haben sie mich zu einer Vogelscheuche gemacht. Sieh mich an! Ich bin hässlich und abscheulich. Mein Innerstes ist ebenso verfault und verdorben wie meine Leiche, meine Seele ebenso von Ungeziefer versetzt wie mein Körper. An mir klebt der Gestank des Todes und alle haben Angst vor mir. Ich habe mir das nicht ausgesucht, aber sie haben mich zu einer Vogelscheuche gemacht und jetzt bin ich in diesem von Pesthauch befallenen Körper gefangen! Und dann dachte ich mir, es ist langsam an der Zeit, diese fiesen kleinen Schweinchen zu schlachten und mich für das zu revanchieren, was sie mir angetan haben. Und es hat mir Spaß gemacht, ihre vor Schmerz verzerrten und Angst erfüllten Gesichter zu sehen und sie wie die Schweine schreien und quieken zu hören, die sie sind. Aber jetzt schreien die Schweinchen nicht mehr. Und es ist auch gut so, wenn sie still sind. Mein Vater hat es gehasst, wenn sie geschrieen haben. Deswegen hat er mich auch immer geschlagen. Immer, wenn sie laut waren, peitschte er sie und mich aus und sagte, Tiere haben gefälligst leise zu sein, wenn sie geschlachtet werden. Sonst mache es keinen Spaß.“ Jackson hatte sich regelrecht in Rage geredet und war immer lauter geworden. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber meine Beine waren wie festgewachsen. Aber dann entspannte er sich wieder und begann zu lachen. Es war ein wahnsinniges Lachen, welches nur von einem völlig kranken Geist kommen konnte. „Egal, was ich auch tue, sie alle haben Angst vor mir. Und alles, was meine Hände anfassen, geht kaputt, ob ich will oder nicht. Da hab ich mir einfach gesagt „Na und? Dann lass es doch zu! Dann soll es doch kaputt gehen!“. Mir war es egal, was meine Hände alles berühren und kaputt machen, weil diese Schweine es sowieso nicht anders verdient haben. Du und Edgar seid die Einzigen, die nicht kaputt gehen dürfen!“

„Jackson, dass du mich beschützen willst, ist wirklich lieb, aber ich bin nicht deine Mutter und bitte lass meine Familie in Ruhe! Sie ist deine Mutter!!“ Ich holte mit einiger Überwindung den Kopf hervor und zeigte ihn Jackson. Zu meinem Entsetzen schlug dieser ihn aus meiner Hand und sagte „Das ist sie nicht, die da ist kaputt aber du nicht. Deswegen bist du meine neue Mutter.“ Verdammt, das lief langsam aus dem Ruder. Offenbar war Jackson gar nicht mehr an der Leiche seiner Mutter interessiert. Kein Wunder, denn mit einer Leiche konnte er nichts anfangen. Er brauchte sie lebendig und offenbar dachte er, dass seine tote Mutter in mir weiterlebte. Ich stolperte zurück und in dem Moment, als ich weit genug weg war, kamen Officer Morgan und seine Kollegen aus der Deckung hervor und eröffneten das Feuer. Es wurde geschossen und schließlich traf eine Feuersäule, die einem Flammenwerfer entstammte, Scarecrow Jack. Er schrie, schlug um sich und stürzte auf die Polizisten. Officer Morgan versuchte, den Flammenwerfer hochzuheben und ihn als Schild zu benutzen, doch Jackson war schneller und stieß ihm die Klingen in die Kehle und zerfetzte sein Gesicht. Gleich danach stürzte er sich laut brüllend und mit gefletschten Zähnen auf den anderen Polizisten, dessen Kleidung kurz darauf selbst Feuer fing. Ein riesiger Schwall von Maden und Larven quoll aus Scarecrow Jacks Rachen und die Klauen schlitzten seinen Brustkorb auf. Der dritte versuchte noch zu fliehen, aber auch er entkam der brennenden Vogelscheuche nicht, die sich für diesen heimtückischen Angriff bitter rächte. Ich stürmte nach draußen und rief panisch um Hilfe. Ich rettete mich schließlich in ein Taxi und der Fahrer verständigte sofort die Polizei und den Notarzt. Die Sanitäter konnten Officer Morgan als Einzigen retten und ihn ins Krankenhaus bringen, wo er sofort operiert wurde. Die anderen beiden Polizisten waren auf der Stelle tot und von der Vogelscheuche fehlte jede Spur. Die Polizei gab eine Fahndung raus und wollte ganz Annatown durchsuchen. Ich aber wollte sofort nach Hause, da ich Angst um meine Familie hatte. Officer Anderson, ein guter Freund von Vince Morgan, brachte mich dorthin und wollte selbst nach dem Rechten sehen. Da ich erklärte, dass Schusswaffen gegen Scarecrow Jack nichts ausrichteten, hatte dieser einen selbst gebastelten Molotowcocktail dabei, um dem Monster eigenhändig den Garaus zu machen. Da das Licht im Haus nicht brannte und schon bereits die Sonne unterging, machte ich mir ernsthaft Sorgen. Die Haustür stand offen und das war für mich das größte Alarmsignal. Ich stürmte ins Haus und rief nach Lewis und Charles, aber ich erhielt zunächst keine Antwort. Dann aber hörte ich einen lauten vom Kinderzimmer her und eilte direkt dorthin. Officer Anderson folgte mir und zog dabei seine Waffe. Wir stießen die Tür auf und sofort rannte Lewis auf mich zu und schloss mich fest in die Arme. „Mommy! Mommy!!!“ rief er verängstigst und weinte laut. Wir waren noch rechtzeitig gekommen, allerdings kam für Charles jede Rettung zu spät. Er lag auf dem Boden in einer Blutlache, der ganze Körper mit tiefen Schnittwunden übersät. Scarecrow Jack oder zumindest seine qualmenden Überreste lagen auf dem Boden und er versuchte mit Mühe, sich auf uns zuzubewegen. Er lag auf dem Bauch und zog sich langsam mit seinen Messerhänden in unsere Richtung. Sein Atem war laut und rasselnd und aus seinem Körper trat immer mehr Ungeziefer hervor. Sein Mantel war verbrannt, ebenso ein Teil seiner Kleidung. Das Gesicht war halb zerfallen und er sah aus, als läge er in den letzten Zügen. Mit letzter Kraft streckte er einen Arm aus, um Lewis zu greifen und dabei brachte er mit leiserer und krächzender Stimme irgendetwas hervor, was ich nicht verstand. Ich legte schützend meine Arme um Lewis und rief „Officer!!!“ und der Polizist begann schnell, den Molotowcocktail vorzubereiten. Als Scarecrow Jack sah, was geschah, weiteten sich seine Augen und ich sah, dass er Angst hatte. Es waren nicht die Augen eines geisteskranken Psychopathen sondern die eines Kindes. Alles geschah daraufhin ganz schnell. Officer Anderson warf den Cocktail und die Vogelscheuche ging in Flammen auf. Sie brannte lichterloh und alles Ungeziefer verbrannte mit ihr. Der faule Leichengestank wich dem von Feuer und zurück blieb nur ein Haufen Asche. Es war endlich vorbei… Scarecrow Jack war endlich weg und er würde nie wieder jemandem etwas antun.

Scarecrow Jack Teil 6: Requiem

Kurz nachdem der ganze Alptraum um Scarecrow Jack vorbei war, packten wir unsere Sachen und kehrten Annatown für immer den Rücken. Es war einfach zu viel in dieser Stadt passiert, als dass ich hier noch mit Lewis hätte weiterleben können. Charles war tot, Officer Morgan war an den Folgen seiner Verletzungen gestorben… Madison war tot und mit diesem Ort verband ich zu viel Angst und Schmerz. Lewis war ein wenig still geworden und traute sich nicht mehr, alleine im Bett zu schlafen. Ich konnte es ihm nicht verdenken und so lagen wir nachts im Hotel und ich blieb wach, weil mich immer noch die leise Angst verfolgte, dass Scarecrow Jack noch nicht besiegt war. Mr. Morgan hatte mir gesagt, nichts und niemand könne die Vogelscheuche aufhalten. Er würde niemals zufrieden sein, niemals genug haben und er würde niemals aufhören. Zwar hatten wir die Vogelscheuche zu einem Haufen Asche verbrannt, aber ich war mir trotzdem nicht sicher, ob es wirklich schon vorbei war. Nach der ganzen Aufregung hatte ich einen erneuten Asthmaanfall erlitten und musste zur Beobachtung ins Krankenhaus, Lewis ebenfalls. Zum Glück war aber alles in Ordnung, zumindest äußerlich. Innerlich waren wir alles andere als in Ordnung. Ich hatte meinen Mann verloren und Lewis seinen Vater. Für unser Überleben hatten wir einen sehr hohen Preis bezahlt und es würde nichts mehr so wie früher sein, das stand fest. Wie es weitergehen würde, konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur, dass ich weit weg ziehen wollte. So weit weg wie möglich und versuchen, irgendwann wieder ein normales Leben führen zu können, auch wenn es bis dahin noch ein langer Weg werden würde. Ein Leben mit Lewis, das war es, was mich noch bei Kräften hielt. Immer, wenn ich alleine war, weinte ich und vor Lewis versuchte ich stark zu bleiben. Er brauchte mich und ich musste für ihn da sein. Wir verließen Annatown so schnell es nur ging, ohne uns zu verabschieden. Die ersten drei Tage schliefen wir in einem Hotel und fuhren dann zurück nach Sandlefort, wo wir zuvor gelebt hatten. Wir zogen in ein kleines Apartment und gegenüber meinen Freunden, die ich hier zurückgelassen hatte, schwieg ich größtenteils über die Geschehnisse in Annatown. Nicht einmal meiner Schwester Bridget erzählte ich von Jackson, der als Vogelscheuche zurückgekehrt und dieses schreckliche Unheil angerichtet hatte. Als sie mich nach Charles fragte, brach ich wieder in Tränen aus und konnte ihr nur sagen, dass er von einem Verrückten ermordet worden war. Da ich die Miete nicht aufbringen konnte, mussten wir die Wohnung schnell wieder räumen und solange unsere Lage schwierig blieb, nahm Bridget uns bei sich auf. Sie stellte keine Fragen über das, was wir erlebt hatten, sie spürte selbst, dass es etwas wirklich Schreckliches gewesen sein musste, über das ich noch nicht sprechen konnte.

Die meiste Zeit, wenn ich nicht gerade versuchte, einen Job zu finden, verbrachte ich mit Lewis, der seit diesen Ereignissen deutlich anhänglicher geworden war und am liebsten gar nicht mehr allein sein wollte. Meist spielten wir Spiele zusammen oder ich las ihm Geschichten vor, wonach er mich vorher noch nie gefragt hatte. Zu meiner Erleichterung konnte er wieder auf seine alte Schule gehen, obwohl das erste Halbjahr sich bald dem Ende zuneigte. Da ich mit der Rektorin der Schule gut bekannt war, bot sie mir den Job als Sekretärin in der Schule an. Es war ein Halbtagsjob und von dem Geld kamen wir einigermaßen über die Runden und ich hatte genügend Zeit für Lewis. Die Ersparnisse, die wir dank Charles’ Schriftstellerei zusammengespart hatten, wurden durch die Beerdigung vollständig geschluckt und ich musste mein Elternhaus verkaufen. Während der ganzen Zeremonie stand Lewis still schweigend da und starrte auf den Sarg und vergoss nicht eine einzige Träne. Er verstand es noch nicht richtig, er musste es erst für sich selbst begreiflich machen, dass sein Vater nicht mehr wiederkommen würde. Ich hielt seine Hand fest und versuchte selbst, meine Trauer vor Lewis zu verbergen. Die darauf folgende Zeit war hart aber wir schafften es irgendwie. Nachdem ich genug Geld verdient hatte, zog ich mit Lewis in ein kleines billiges Apartment und ich sorgte dafür, dass er möglichst nicht alleine war. Die Lehrer in der Schule hatten großes Verständnis für Lewis und ich war unendlich dankbar, dass sie ihm einiges nachsahen, eben weil sie wussten, dass sein Vater von einem gefährlichen Serienmörder vor seinen Augen umgebracht worden war. Aber es ließ sich leider nicht leugnen, dass Lewis’ Freundschaften nach und nach in die Brüche gingen. Seine Freunde spürten, dass er sich verändert hatte und wollten nicht mehr mit ihm spielen und die Lehrer kamen oft nach der Schule zu mir, um mit mir über meinen Sohn zu sprechen. Da ich sein Verhalten immer wieder neu erklären musste, war ich gezwungen, immer mehr von den Geschehnissen in Annatown preiszugeben und dabei versuchte ich möglichst zu vermeiden, von der Vogelscheuche zu sprechen, die von Jacksons wahnsinnigem Geist besessen gewesen war. Ich sprach höchstens von einem Psychopathen im Vogelscheuchenkostüm. Etwas anderes hätte man mir nicht geglaubt oder man hätte mich für verrückt erklärt. Leider blieb es nicht lange vor den anderen Kindern verborgen, weshalb Lewis oft mit unangenehmen Fragen belästigt wurde. Seine alten Freunde begannen nun, ihn zu hänseln und ihn damit aufzuziehen, dass sein Dad von einem Psychopathen umgebracht worden war. Es tat mir in der Seele weh, mein Kind so leiden zu sehen und in mir wuchs die Wut, als auch noch die Eltern hinter unserem Rücken zu tuscheln begannen. Ich besprach mich mit der Rektorin, die daraufhin ein Treffen einberief, um mit den Eltern der Kinder zu reden und damit ich endlich eine Gelegenheit bekam, meinem Ärger und meiner Wut Luft zu machen. Aber wie sich herausstellte, hatten mir sowohl Lewis als auch die Lehrer einiges verschwiegen. Wie ich nämlich erfuhr, verhielt sich Lewis auffällig, seit er wieder auf seiner alten Schule war. Meist saß er auf der Schaukel und beobachtete die anderen beim Spielen aber wenn er geärgert wurde oder die Kinder über mich gespottet hatten, rastete er aus und begann sich zu prügeln. Mir wurde dringend angeraten, den Schulpsychologen zu sprechen, damit er Lewis helfen konnte. Ich hätte eigentlich viel früher ahnen müssen, dass Lewis irgendwann explodieren würde. Der Schulpsychologe war mir gleich von Anfang an sympathisch und erklärte sich sofort bereit, Lewis zu helfen. Doch es war Lewis, der sich scheinbar nicht öffnen wollte, sondern nur schwieg. Also redete ich ihm ins Gewissen und erst dann versprach Lewis mir, sich helfen zu lassen und mit dem Schulpsychologen zu reden. Währenddessen versuchte ich, die Situation in der Schule zu bessern, auch wenn es nicht gerade einfach zu sein schien. Die Kinder hatten es regelrecht auf Lewis abgesehen und als ich sie fragte, warum sie das alles taten, sagten sie alle, er sei ein gruseliger Freak. Die Rektorin riet mir an, besser auf eine andere Schule zu wechseln, wo man Lewis’ Vergangenheit nicht kannte und wo er gute Chancen auf einen Neuanfang hatte. Ich war wütend über diese Schikanen und fragte mich, wie manche Kinder und Eltern nur so grausam sein konnten, ein traumatisiertes Kind zu schikanieren, welches vor kurzem erst seinen Vater verloren hatte. Lewis selbst war in eine völlige Lethargie verfallen, offenbar auch auf das Trauma zurückzuführen. Ihm schien wirklich alles egal geworden zu sein. Meist saß er still für sich alleine da und malte. Die einzigen Momente, wo seine Lethargie wich, war dann, wenn wir beide zusammensaßen und zusammen spielten. Da schien Lewis ganz der Alte zu sein.

Als ich eines Tages ganztätig arbeiten musste, weil eine Kollegin sich krank gemeldet hatte, bat ich Bridget, solange auf Lewis aufzupassen. Sie war begeistert davon und freute sich auf einen netten Tag mit ihrem Neffen, aber wie ich später erfuhr, wurde daraus nicht viel. Bridget zog mich beiseite und sagte „Ich weiß ja nicht, wie du ihn so erlebst, aber Lewis hat sich ziemlich verändert. Er wirkt auf mich wie jemand anderes…“

„Du hast ja Recht, aber der Schulpsychologe hat gesagt, dass ein völliges Zurückziehen typisch für traumatisierte Kinder ist. Alles, was wir tun können ist, Lewis das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Er gibt sich ja auch Mühe und versucht, sich an seiner neuen Schule zurechtzufinden.“ Bridget schwieg dazu und kehrte wieder zu Lewis zurück, dem sie ein kleines Geschenk bereitete: Malstifte. Darüber freute sich Lewis und sogleich begann er zu malen. Die meiste Zeit malte er uns beide zusammen und immer, wenn ich ihm dabei zusah, lächelte er mich an und sagte „Ich hab dich lieb, Mommy!“ Bei mir war er ganz mein kleiner Liebling.

Knapp zwei Monate nach der Beerdigung von Charles erfuhr ich, dass Lewis auch an seiner neuen Schule nicht wirklich Anschluss fand und offenbar keinerlei Wert darauf legte, mit anderen Kindern Freundschaft zu schließen. Dabei hatte mir der Schulpsychologe gesagt, er hätte großartige Fortschritte gemacht. Sprach ich ihn darauf an, sagte er, dass alles in Ordnung sei und ich mir keine Sorgen machen müsse. Ich wollte mir selbst ein Bild machen und begann daraufhin, Lewis heimlich zu beobachten, wenn er unterwegs war. Und tatsächlich bestätigte sich schnell das Bild, welches mir die Eltern, Lehrer und Schüler beschrieben hatten: Lewis saß immer abseits und malte oder schrieb irgendetwas. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, denn Lewis verhielt sich irgendwie… wie Jackson. Da ich nicht wollte, dass Lewis genauso wie er wurde, suchte ich einen richtigen Psychologen und schickte meinen Sohn in Therapie. Das war das einzig Richtige, was ich tun konnte. Aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass Lewis nicht mehr der Gleiche war. Zumindest nicht dann, wenn ich nicht in seiner Nähe war. Das Verhalten meines Sohnes wurde immer seltsamer. Manchmal schlich er sich aus dem Haus und blieb ein oder zwei Stunden weg, bis er wieder zurückkehrte und hatte irgendwelche Ausreden. Der erste seltsame Vorfall ereignete sich mit dem Nachbarhund. Unsere neuen Nachbarn hatten einen Hund im Garten, der ununterbrochen laut bellte und selbst nachts keine Ruhe gab, was mir sehr zu schaffen machte. Eines Tages jedoch blieb er plötzlich ruhig und so wie ich erfuhr, hatte jemand Gift ins Futter gemischt. Natürlich war ich mir sicher, dass Lewis nichts damit zu tun haben konnte, denn immerhin hatte er große Angst vor Hunden, aber er war so seltsam geworden. Mich ließ das Gefühl nicht los, als wäre dieser ganze Alptraum noch nicht ganz vorbei, als würde sich noch ein Unheil zusammenbrauen. Die Angst, Jackson könnte vielleicht wieder zurückgekehrt und für das seltsame Verhalten meines Jungen verantwortlich sein, weil er ihn wieder bedrohte. Ich war durcheinander und fühlte mich hilflos. Nach der Schule kam Lewis nach Hause und setzte sich still an den Tisch und las das Buch, welches sie gerade im Unterricht bearbeiteten. Normalerweise las Lewis nie Bücher, er war einmal richtig sauer geworden, als ich ihm ein Buch zu Weihnachten geschenkt hatte. Seit wann also las er denn so gerne? Und das Malen…. Lewis hasste Kunstunterricht und war sonst immer eine Sportskanone gewesen. In Sport hatte er immer zu den Klassenbesten gehört, aber jetzt hatte sich seine Note um zwei verschlechtert und auch im Sozialbetragen war er spürbar abgesunken. Dafür aber gehörte er in Mathe nun zu den Besten und war von einer vier auf eine eins hochgestiegen. Auch im Lesen und in Kunst war er hervorragend und eigentlich wäre dies ein Grund gewesen, sich zu freuen, aber stattdessen war mir das Ganze sehr merkwürdig. Ich setzte mich schließlich zu Lewis und fragte ihn, wie denn die Schule so war. „Ganz toll. Wir haben Bilder aus der Vogelperspektive gemalt und Rechnen war auch ziemlich einfach. Ich hab auch einen Test zurückbekommen!“ Lewis präsentierte mir freudestrahlend den Test, der mit der Bestnote ausgezeichnet war. „Super mein Schatz. Wie wäre es, wenn es zur Feier des Tages Pizza gibt?“

„Au ja gerne!“

„Mit extra viel Pepperoni?“

„Nein, lieber mit Salami!“

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, als ich zum Telefon ging und den Pizzaservice anrief. Dabei schaute ich immer wieder zu Lewis hinüber, der in seinem Buch vertieft war. Lewis liebte Pepperoni Pizza über alles. Warum auf einmal mochte er sie nicht mehr bestellen? Mir war unbehaglich zumute und ich begann, wilde Theorien in meinem Kopf zusammenzuspinnen. Was, wenn Jackson gar nicht tot war? Was, wenn er versuchte, Besitz von meinem Jungen zu ergreifen und dieser immer mehr die Persönlichkeit von Jackson annahm? So etwas hatte ich bereits in diesem Stephen King Roman „Christine“ gelesen. Aber steigerte ich mich nicht vielleicht in irgendetwas rein? Was sollte ich bloß tun? Ich musste mir ganz sicher sein. Ich musste mein eigenes Kind beschatten, um herauszufinden, ob wirklich Jackson in ihn gefahren war. In den nächsten Tagen begann ich damit, heimlich Kameras in Lewis’ Zimmer anzubringen und ihn immer aus den Augenwinkeln zu beobachten. Zunächst war alles ganz ruhig und Lewis benahm sich relativ normal, aber dann geschah etwas, das mich sehr schockierte. Zwei Mitschüler von Lewis waren brutal zusammengeschlagen und über zwei Tage in einem Container eingeschlossen worden. Sie hatten mehrere Knochenbrüche und einer der Jungs starb schließlich an inneren Blutungen. Dem anderen wurden die Augen regelrecht eingedrückt und er konnte nicht sprechen, weil man ihm die Zunge rausgeschnitten hatte, nachdem er zusammengeschlagen worden war. Das Ganze war am Abend passiert und als ich mir die Aufnahmen der Kameras ansah, bemerkte ich, dass Lewis mitten in der Nacht in sein Zimmer zurückgekehrt sei. Und er hatte eine Tasche bei sich, die er unter seinem Bett versteckte. Daraufhin ging ich sofort in sein Zimmer und zog die Tasche hervor. Ich öffnete sie und erstarrte, als ich das viele Blut sah… und das Messer. Schritte ertönten vom Flur her und ich sah zur Tür und im Rahmen stand Lewis. Er sah mich erschrocken, fast schuldbewusst an und sagte leise „Mommy… was machst du da?“

Ich schüttelte den Inhalt der Tasche aus und zum Vorschein kam das Messer, blutverschmierte Taschentücher und etwas, das wie eine Zunge aussah. Lewis wurde blass und sah aus, als würde er sich ertappt fühlen. Seine Augen schauten mich schuldbewusst an und er sagte „Mommy, ich kann das erklären!“

Doch ich schüttelte nur den Kopf und ich war nicht imstande, die Tränen aus meinen Augenwinkeln zu wischen. „Was hast du mit meinem Jungen gemacht?“

„Mommy, was redest du denn da?“

„Hör auf damit!“ rief ich und warf die Tasche von mir. Lewis zuckte zusammen und begann selbst in Tränen auszubrechen. Doch das kaufte ich ihm nicht mehr ab. Das da war nicht mehr mein kleiner Junge. Das war Jackson, da war ich mir jetzt ganz sicher. „Hör auf, mich für dumm zu verkaufen. Du hast wohl geglaubt, ich merke es nicht. Dein seltsames Verhalten, die Veränderung deiner Noten und die aggressiven Angriffe auf deine Mitschüler. Ich war so naiv und dachte, es läge an dem Trauma aber jetzt wird mir alles klar. Du hast mich die ganze Zeit hinters Licht geführt.“

„Nein!“ rief er und klang dabei so hilflos und verzweifelt, dass ich für einen Moment glaubte, wieder meinen Jungen vor mir zu haben. Aber ich versuchte mir klar zu machen, dass es nicht Lewis war. Auch wenn es sein Aussehen und seine Stimme waren. In meiner Wut und Verzweiflung rutschte mir schließlich die Hand aus und ich gab ihm eine Ohrfeige. „Wie konntest du mir das nur antun? Hat es dir nicht gereicht, meinen Mann umzubringen du Mistkerl?“

„Ich hab das doch nur gemacht, damit wir beide glücklich werden. Wir sind eine Familie und wir brauchen niemanden, außer uns beide.“

„Hör auf!“ schrie ich und gab ihm noch eine Ohrfeige. Nun begann er zu heulen, aber das machte mich nur noch wütender. „Was hast du mit meinem Kind gemacht, Jackson? Was hast du mit Lewis gemacht?“ Doch er antwortete nicht, sondern weinte nur. Er weinte nur und egal wie sehr ich ihn durchrüttelte, ich konnte keine Antwort aus ihm herausbekommen. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen und es war noch schlimmer, als es aus seinem Munde zu hören. Ich erinnerte mich nämlich an den Blick der Vogelscheuche. Wie verängstigt und verzweifelt sie mich ansah, als sie auf mich zukam. Sie hatte die Hand nach mir ausgestreckt und versucht, etwas zu sagen, hatte aber kein Wort herausbekommen. Ihre Stofflippen hatten Worte geformt, die stumm blieben. Und jetzt verstand ich endlich, warum sie sich in ihren letzten Momenten so seltsam verhalten hatte. Es war gar nicht Jackson gewesen. Es war Lewis. Jackson hatte Lewis in diesen von Ungeziefer verseuchten, nach Verwesung stinkenden Vogelscheuchenkörper gesperrt und ich hatte ihn getötet…. Ich hatte mein eigenes Kind getötet. Mir wurde schlecht, als ich daran dachte. Tausende schreckliche Szenarien rasten mir durch den Kopf. Ich sah Lewis vor mir, gefangen in diesem stinkenden Vogelscheuchenkörper, der hilfesuchend die Hand nach mir ausstreckte und kraftlos hervorbrachte „Mommy, hilf mir!“ Und ich brachte ihn einfach um. Großer Gott, was hatte ich nur getan. Ich hatte mein Kind getötet. Mein Kind musste grausam in diesem von Ungeziefer und Tod verseuchten Körper sterben und ich hatte es nicht gemerkt. Das war das allerschlimmste, was Jackson oder irgendjemand anderes mir antun konnten. Wütend und unendlich verzweifelt nahm ich das Messer und stieß Jackson zu Boden und drückte ihn nach unten. Er seinerseits sah mich genauso hilflos und verzweifelt an. „Mommy, bitte… ich will doch nur…“

„Ist mir egal was du willst du mieses Stück Scheiße!! Du hast meine Familie getötet, du hast mir mein Kind genommen und dafür sollst du krepieren!“

„Aber ich wollte doch nur eine Familie haben. Ich wollte, dass wir eine Familie sind. Bitte Mommy…“

„Hör endlich auf damit. Ich bin nicht deine Mommy!“ Und das waren die letzten Worte, die ich zu Jackson sagte, bevor er noch einmal starb…. Während ich mit dem Messer auf ihn einstach, versuchte ich nicht in diese verzweifelten Augen zu sehen, die sich nach der Liebe einer Mutter sehnten. Ich versuchte zu verdrängen, dass es die Augen meines Kindes waren. Wie viel Zeit danach verging, kann ich nicht sagen. Ich hatte jegliches Gefühl dafür verloren. Aber das war für mich bedeutungslos geworden. Alles war bedeutungslos geworden. Ich hatte meinen Mann verloren… ich hatte mein eigenes Kind getötet. Wie sollte ich mir das jemals verzeihen? Als ich mein Kind da liegen sah… blutüberströmt mit einem Messer in der Brust, die Augen von Angst und Hilflosigkeit zeugend, wurde mir klar, was ich tun musste. Aber ich ließ mir noch Zeit. Ich musste diese schrecklichen Ereignisse noch einmal Revue passieren lassen. Und dann beschloss ich, all diese Dinge niederzuschreiben. Das hier ist mein Abschiedsbrief und meine letzte Beichte, zu Papier gebracht, damit jemand die Wahrheit erfährt. Wer mich hier findet, der soll nicht eine verrückte Selbstmörderin vorfinden, die im Wahn ihr Kind abgestochen hat. Nein, die Wahrheit ist, dass mein Sohn bereits tot war. Das, was da in seinem Körper steckte, war ein Toter! Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich meinen kleinen Lewis getötet habe…. Wäre ich niemals in diese Stadt zurückgekehrt, dann wäre unser Leben ganz normal verlaufen. Lewis wäre eines Tages Profisportler geworden, so wie er es sich immer gewünscht hätte und Charles hätte den großen Durchbruch geschafft.
 

Heute Morgen habe ich die Zeitung gelesen, einzig aus dem Grund, weil da drin die Meldung von einer Reihe bizarren Morden stand, die vor kurzem begangen worden waren. Vier Menschen wurden in der Nacht brutal ermordet, aufgeschlitzt und ausgeweidet. Ihre Körper hatte man mit Süßigkeiten ausgestopft. Mir ist klar geworden, dass Mr. Helmholtz Recht hatte. Jackson kann man nicht aufhalten. Er wird niemals aufhören, Jackson wird sein Ziel nicht aufgeben, sondern es stur weiterverfolgen, ganz egal was auch kommen mag. Ich werde nicht versuchen, ihn weiter zu bekämpfen, für mich ist der Kampf vorbei. Es tut mir Leid mein Liebling… bitte verzeih Mommy, dass sie dich nicht beschützen konnte. Aber hab keine Angst, gleich ist sie bei dir…

Mary Lane: Der Selbstmordclub

Es geschah vor fast einer Woche, als sich an meiner Schule ein schrecklicher Vorfall ereignete. Alles war so schleichend und ruhig verlaufen, trotzdem hätte ich die Zeichen richtig deuten sollen, aber ich hätte auch nicht ahnen können, dass sich knapp dreißig Schüler zusammen das Leben nehmen. Allein die Szene, die sich uns allen geboten hatte, war so verstörend und bizarr gewesen, dass keiner es wirklich glauben konnte. Es waren nicht nur Schüler aus meiner Klasse gewesen, sondern auch aus der Parallelklasse oder den höheren Jahrgängen. Mir war aufgefallen, dass der Platz von Elly, meiner besten Freundin, leer war und auch der von zwei anderen Mädchen. Dann hatten wir lautes Rufen von draußen gehört, jemand zählte runter wie bei einem Countdown. Neugierig, was da los sei, schauten wir aus dem Fenster und in dem Moment, wo auf Null hinuntergezählt war, sahen wir mehrere Schüler herunterstürzen. Ein paar von uns schrieen auf und rissen die Fenster aus, um sich hinauszubeugen, andere wiederum rannten in Richtung Tür, um schnellstmöglich auf den Hof zu gelangen. Es war ein fürchterliches Durcheinander und uns allen stand das Entsetzen im Gesicht geschrieben, als wir die Leichen der 30 Schüler zerschmettert da unten liegen sahen. Überall breiteten sich Blutpfützen aus und die Zeit schien völlig still zu stehen. Nie werde ich die Tränen von Samantha vergessen, die den Leichnam ihrer jüngeren Schwester dort unten liegen sah. Alle dreißig Schüler hatten sich an den Händen gehalten und bildeten eine Art blutigen Kreis aus Leichen. Die Lehrer taten ihr Bestes, die unter Schock Stehenden zu beruhigen und schon mal Erste Hilfe zu leisten, während man auf den Notarzt wartete. Doch überall lagen nur Leichen… Aber dann entdeckte Mr. Adler, unser Geschichtslehrer, einen Überlebenden des Massenselbstmordes im Gebüsch. Es war Elly, meine beste Freundin. Sie war am ganzen Körper zerkratzt, aber sie lebte. Es grenzte schier an ein Wunder, dass sie den Sprung vom Dach (unsere Schule hat immerhin drei Stockwerke) überlebt hatte. Als man sie herauszog, war sie völlig hysterisch und verzweifelt und weinte laut. Sie wehrte sich nach Leibeskräften und schrie immer wieder „Nein, lasst mich zu ihr! Ich muss ihr folgen!“ und weiterhin rief sie einen Namen: Mary. Das war natürlich das Einzige, an das sie jetzt denken konnte, obwohl sie gerade eben dem Tod von der Schippe gesprungen war: Diese verdammte Mary Lane Johnson.
 

Die ganze Tragödie nahm ihren Lauf, kurz nachdem Elly und ich in die High School kamen. Elly hatte schon seit der Middle School erhebliche Probleme gehabt, nachdem ihr Vater ihre Mutter hatte sitzen lassen. Ihre Mutter war seitdem schwer depressiv und sie kümmerte sich kaum noch um Elly. Ich selbst versuchte meiner besten Freundin beizustehen, aber als ich mich verliebte und eine Beziehung zu einem Jungen aus einem anderen Jahrgang hatte, entwickelten wir uns langsam auseinander. Schon vorher hatte ich gespürt, dass Elly sich von mir abkapselte und lieber alles still mit sich selbst ausmachte. Wir sahen uns immer seltener, sowohl in der Schule als auch sonst. Ich dachte mir nichts Schlimmes dabei, denn ich dachte, dass Elly schon zu mir kommen würde, wenn sie mich brauchte. Als meine Beziehung in die Brüche ging, spürte ich, wie ich Elly wieder brauchte, aber da erkannte ich bereits, dass sie sich jemand Neues gesucht hatte, der ihr seelischen Beistand leistete. Es war eine Schülerin namens Mary Lane, die von einer anderen Schule in der Nachbarschaft kam. Sie hatten sich im Park getroffen, wo Elly sich oft zurückzog, um von allen Sorgen und Problemen zu flüchten. Mary hatte eine Anziehungskraft auf Elly gehabt, die mir ein wenig unheimlich erschien. Immer, wenn Elly und ich uns trafen, erzählte sie mir, wie großartig und liebevoll Mary Lane doch war. Sie schwärmte regelrecht von ihr und kannte schon bald kein anderes Thema mehr. Ich freute mich natürlich, dass Elly jemanden gefunden hatte, der für sie da war und der ihr Kraft gab. Aber trotzdem hatte ich kein gutes Gefühl bei dieser Mary Lane. Und das sollte sich auch bald bestätigen. Als wir nämlich zum Sportunterricht gehen mussten, bemerkte ich mehrere Schnittwunden an Ellys Unterarm. Es sah nicht nach harmlosen Kratzern, sondern eindeutig nach selbst zugefügten Verletzungen. Noch nie war Selbstverletzung ein Thema für Elly gewesen. Auch wenn sie ihre depressiven Phasen hatte, so hatte sie niemals daran gedacht, sich zu ritzen. Ich stellte sie zur Rede und fragte sie, warum sie das getan habe. Es dauerte etwas, bis Elly zögernd erzählte, dass sie einem Club beigetreten sei, den Mary gegründet habe. Es wäre eine Art Selbsthilfegruppe für Schüler, die mit ihren Problemen nicht fertig werden. Und Mary habe erklärt, dass solche Schnitte die Spiegel ihrer eigenen Seele seien und die Menschen sehen sollten, wie zernarbt ihre Seele eigentlich war. Ich konnte nicht fassen, dass Elly tatsächlich so unfassbar dumm war und sich von diesem Geschwätz breitquatschen ließ. „Sag mal, bist du denn völlig bescheuert? Nur weil diese Mary sagt, es sei toll, sich zu verstümmeln, musst du das noch lange nicht selbst machen. Was, wenn sie sagt, die einzige Lösung sei es, vom Dach zu springen? Würdest du das auch tun?“

„Du hast nicht das Recht, Mary schlecht zu machen. Sie war für mich da, als ich jemanden brauchte. Du hattest doch deinen Freund gehabt und mich hast du auf die Ersatzbank abgeschoben. Für dich war es immer so einfach, aber wie es mir ging, da hast du dich einen feuchten Dreck um mich gekümmert. Mary kennt meinen Schmerz, deshalb versteht sie mich auch!“ Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Denn Elly hatte leider Recht. Ich habe sie wie eine Ersatzbankfreundin behandelt und mich nur noch um mich selbst gekümmert. Also hatte ich auch nicht das Recht, ihr in die Freundschaft mit Mary Lane einzureden. Doch trotzdem hatte ich Angst um sie. Diese Mary Lane war seltsam in meinen Augen und ich wollte mir ein eigenes Bild von dieser Person machen. Gleich nachdem der Unterricht vorbei war, ging ich zur Schule hin, auf die Mary Lane ging und wartete dort auf sie. Doch ich war nicht die Einzige, die auf sie wartete. Mehrere Mädchen und Jungen standen ebenfalls am Schultor und kaum, dass Mary dieses durchschritt, war sie von unzähligen Schülern umgeben, die sich regelrecht um sie rissen. Einige stritten sich darum, wer ihre Tasche tragen durfte und wiederum boten andere ihr Kleinigkeiten und Geschenke an. Ich versteckte mich hinter einem Baum, als ich sah, dass Elly herbeigeeilt kam und sich dazugesellte. Ihr Geschenk war ein persönlicher Dankesbrief an Mary. Dieser Anblick war einfach nur befremdlich und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Also folgte ich der Gruppe unauffällig und fragte mich, warum zum Teufel alle sich so um Mary rissen und sie so verehrten. Aber dann ging es mir auf: Mary kannte das Leid der Schüler. Sie verstand ihren Schmerz und sie sprach das aus, was andere fühlten oder dachten. Das Ganze wirkte auf mich wie so eine obskure Sekte, die aus Schülern bestand.

Die Gruppe um Mary ging schließlich auf das Dach eines leeren Parkhauses und bildete einen Kreis um sie. Mary sprach zu ihnen, dass sie all ihren Schmerz frei herausschreien sollten und ruhig weinen konnten, so viel sie nur wollten. Sie würde für sie alle da sein und den Schmerz teilen. Ich beobachtete, wie sie alle weinten, sich in den Arm nahmen oder laut schrieen, wie sehr sie sich von den Eltern im Stich gelassen fühlten, wie sehr sie das Mobbing ihrer Mitschüler quälte und dass sie nicht mehr leben wollten. Mary blieb regungslos stehen, sie weinte nicht sondern hatte ein ernstes Funkeln in den Augen, so als wolle sie der Fels in der Brandung sein… oder der Prediger, der seine Schäfchen führte. Mir wurde die ganze Sache zu unheimlich und ich machte mich aus dem Staub. Elly ging jeden Tag regelmäßig zur anderen Schule, um Mary von dort abzuholen. Sie selbst wirkte überglücklich und sie lachte wieder, wenn wir uns trafen. Es schien, als hätte Mary tatsächlich ihre Lebensfreude zurückgebracht, aber der Schein trog, das sah ich an den frischen Schnittwunden an ihren Armen, die immer mehr wurden. Selbst ihre Beine bearbeitete sie mit der Rasierklinge und ihre schönen langen Haare schnitt sie auch ab und trug sie nun kurz. Und zusätzlich zu dieser Selbstverstümmelung begann sie nun damit, nur noch schwarz zu tragen. Dass dieser Club damit enden würde, dass sie alle Selbstmord begehen würden, hätte ich nicht gedacht, aber ich hätte es eigentlich wissen müssen…
 

Nach knapp vier Wochen wurde Elly aus der Jugendpsychiatrie entlassen, aber sie war trotzdem nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie schwänzte immer häufiger die Schule und begann zu trinken. Auch mit dem Ritzen fing sie wieder an und sie war wortkarger denn je. Ich versuchte, sie ein wenig aufzubauen, indem ich sie zum Eisessen einlud. Zu meiner Erleichterung kam Elly mit, aber sie zog eine Trauermiene, als wäre ihre ganze Familie gestorben. „Ich kann es einfach nicht fassen, dass du das tatsächlich tun wolltest. Warum nur hast du das gemacht?“

„Das verstehst du nicht. Ich habe einfach das Gefühl gehabt, es gäbe keinen Platz in der Welt. Ich meine, was soll denn aus mir werden, wenn ich mit der Schule fertig bin? Ich wäre doch nur irgendwo irgendein kleines unbedeutendes Zahnrädchen geworden, das man nach Belieben wieder austauschen kann. Der Gesellschaft ist es egal, was dann aus mir wird, es denkt doch sowieso jeder an sich. Mary war der einzige Hoffnungsschimmer, den ich hatte. Durch sie habe ich mich lebendig gefühlt, aber jetzt ist sie fort… Alle haben es geschafft, aber ich nicht. Ich habe Mary im Stich gelassen. Ich bin gefangen in dieser unrealen Welt, in der es nichts als Trostlosigkeit und Eintönigkeit gibt. Das alles ist wie ein schrecklicher Alptraum, aus dem ich einfach nur noch aufwachen will. Im Grunde sind wir doch alle nur Gefangene.“ Solch hoffnungslose Worte waren das Einzige, was Elly von sich gab. Die Schnitte, die sie sich zufügte, wurden immer tiefer und sie magerte merklich ab. Und auch in der Schule verschlimmerte sich ihre Lage. Da Elly ein perfektes Ziel für allerlei Schikanen bot, wurde sie schnell zum Mobbingopfer mehrerer Schüler. In den sozialen Netzwerken wurde sie als die Verrückte bekannt und es tauchten mehrere Bilder auf, die mit Fotoshop bearbeitet worden waren und eine nackte Frau zeigten, auf die man Ellys Kopf eingefügt hatte. Dick und fett stand geschrieben „Elly besorgt es jeden für ein paar Cents!“ Schließlich tauchten mehrere Videoaufnahmen im Internet auf, in denen Elly zu sehen war, die vor laufender Kamera strippte. Sowohl ich als auch die Lehrer versuchten, diese Flut zu stoppen, aber Elly selbst nahm es einfach hin. Auf die Frage hin, warum sie solche Videos drehte, erklärte sie trocken, dass sie sich damit ihr Taschengeld verdiente, weil ihre Mum nicht arbeiten ging. Außerdem verdiene sie gutes Geld damit. Ihr Verhalten wurde immer extremer und als ich sie nachmittags besuchen ging, sah ich sogar, dass Elly eine Art Altar für Mary errichtet hatte. Dieser Anblick als auch die Erinnerung an diese bizarren Gruppensitzungen des Selbstmordclubs behagten mir ganz und gar nicht, dann aber versuchte ich, mich in Ellys Lage hineinzuversetzen und kam zu der Erkenntnis, dass es vielleicht ihre eigene Art der Trauerbewältigung war. Außerdem war es nicht meine Aufgabe, sie zu bemuttern. Aber leider schätzte ich die Lage erneut falsch ein und drei Wochen nach diesen schockierenden Mobbingattacken gab es drei Todesfälle. Ruby Grey, Nelson Carter und Maddie Blackstone, die die Drahtzieher dieser gemeinen Angriffe auf Elly waren, begingen nacheinander Selbstmord. Ruby stürzte sich vor einen Zug und Nelson vor ein Auto, während sich Maddie in der Garage ihres Elternhauses einschloss und mit Autoabgasen tötete. Das geschah so plötzlich und unerwartet, vor allem weil keiner der drei einen Grund dafür gehabt hätte. Unsere Schule, die durch diese Selbstmorde ziemlich in Verruf geriet, versuchte dem entgegenzuwirken, indem ein weiterer Schulpsychologe eingestellt und zusätzlich Sozialarbeiter engagiert wurden, die uns über Mobbing, schwierige Familienverhältnisse und andere Probleme aufklären sollten. Aber ob das wirklich etwas brachte, wagte ich zu bezweifeln. Ich selbst bemerkte, dass sich Elly oder etwas um sie herum verändert hatte. Die Schüler tuschelten zwar immer noch über sie, aber sie sprachen nicht mehr von ihr, wie von einer Verrückten. Das bemerkte ich zum ersten Mal, als ein ziemlich dickes Mädchen namens Patty nach dem Unterricht zu Elly kam und sie fragte, ob sie sie nach Hause begleiten dürfe. Auch ein anderes Mädchen gesellte sich dazu. Ich freute mich natürlich für Elly, weil sie endlich Ruhe vor diesen Mobbingattacken hatte und sie nun auch endlich Kontakte zu anderen Mitschülern knüpfen konnte. Vielleicht überwand sie ihre Selbstmordgedanken und fand endlich wieder einen Sinn zu leben, der nicht allein Mary Lane war. Dann aber begannen die Herbstferien und in der Zeit verreiste ich mit meiner Familie nach Kalifornien, weshalb ich in der ganzen Zeit nur ein wenig telefonischen Kontakt mit Elly hatte. Sie selbst klang ein wenig lebendiger als sonst und ich konnte deutlich heraushören, dass sie ihre Depression zu überwinden begann, was mich natürlich unsagbar freute. Als wir am Abend wieder telefonierten, erzählte sie mir, dass ihr etwas klar geworden sei. „Mary ist nicht mehr da um für mich da zu sein. Aber vielleicht war die Tatsache, dass ich als Einzige überlebt habe, ein Zeichen, dass ich für andere da sein soll. Es gibt so viele Menschen, die unglücklich sind und sie brauchen jemanden, der ihnen zuhört.“

„Das klingt ja schön, aber du solltest dich erst mal um dich selbst kümmern.“

„Keine Sorge, ich weiß was ich tue.“ Und es klang danach, als wollte sie noch etwas sagen, aber sie beließ es bei dieser Antwort. Ich aber wusste schon, was sie beinahe gesagt hätte: „Jemand muss Marys Erbe fortführen.“ Nachdem wir aus dem Urlaub zurückkehrten, versuchte ich, Elly zu erreichen, um mich mit ihr zu treffen. Jedoch war sie nicht zuhause und auch in der Stadtbibliothek, wo sie gewöhnlich ihre Lieblingslektüre „Also sprach Zarathustra“ zu lesen pflegte, fand ich sie nicht. Dafür aber, als ich durch die Innenstadt ging, traf ich Mr. Fillmore, unseren Geschichtslehrer. Er war ein netter Lehrer und ich ging direkt zu ihm, um ihn zu grüßen. „Tag Mr. Fillmore, wie geht es Ihnen.“

„Ganz gut, ganz gut. Ich kann nicht klagen. Und du hattest einen schönen Urlaub? Das ist schön zu hören. Sag mal, hast du vielleicht mit Elly reden können? Wie geht es ihr denn?“

„Ihr scheint es wohl langsam wieder besser zu gehen. Sie trifft sich wohl mit anderen Schülern und versucht gegen ihre Depression anzukämpfen. Inzwischen kann sie wieder lachen und dann vergisst sie wenigstens diese Mary.“ Hier sah mich Mr. Fillmore mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an und legte die Stirn in nachdenkliche Falten. Schließlich aber lockerte sich diese Miene wieder und er verabschiedete sich. Er ging ziemlich schnell, beinahe überhetzt, so als hätte er etwas sehr wichtiges vergessen. Ich schenkte dem keine sonderliche Beachtung und ging nach Hause, um mich auf die Schule vorzubereiten. Ich freute mich auf den Sportunterricht und ich freute mich darauf, Elly wiederzusehen. Gleich am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad zu ihr, um sie abzuholen und sah sogleich eine ziemlich große Gruppe von Schülern vor dem Haus stehen. Einige kamen sogar von anderen Schulen. Ich bremste knapp 20 Meter vorher ab, stieg vom Fahrrad und beobachtete ein wenig ungläubig die Versammlung. Was machten sie alle vor Ellys Haus? War da etwas passiert? Da ich ein komisches Gefühl bei dieser merkwürdigen Versammlung hatte, beschloss ich, auf Abstand zu bleiben und beobachtete, wie Elly aus dem Haus kam und von den ca. 15 Schülern begrüßt wurde. Sie alle drängten sich um sie und einige baten auch darum, ihre Tasche tragen zu dürfen. Offenbar war Elly in den Herbstferien zu einer richtig beliebten Schülerin geworden, dabei war sie sonst immer nur das Prügelopfer. Das alles erinnerte mich irgendwie an diese Szene mit Mary, die ich gesehen hatte. Aber sie war doch tot, das hatte ich selbst gesehen. Ich setzte mich wieder aufs Fahrrad und fuhr zur Schule. Aber wie es schien, hatte Elly dort eine regelrechte Anziehungskraft auf andere entwickelt. Selbst Miranda, die allseits beliebte Cheerleaderin, die immer nur Spott und Gemeinheiten für andere übrig hatte, war auf einmal so freundlich zu Elly. Mich überkam ein Schauer. Natürlich freute ich mich für meine beste Freundin, dass sie so beliebt wurde, aber das alles war einfach… unnormal. Als wäre die ganze Schule mit einem Male verhext worden und ich wäre die Einzige, die noch klar denken konnte. Instinktiv begann ich damit, Elly zu meiden und mich auch von den anderen zu distanzieren. Ich hatte insgeheim Angst davor, genauso bescheuert zu werden wie der Rest der Schule. Es war wie ein Virus, das rasend schnell auf die ganze Schule übergriff. Diese ganzen Gedanken verfolgten mich so sehr, dass ich nachts nicht schlafen konnte und dann im Unterricht einschlief. Das passierte mir unglücklicherweise in Mr. Fillmores Unterricht, woraufhin er mich verwarnte und sagte, er wolle mich nach dem Unterricht noch mal sprechen. Das war mir so peinlich, dass ich am liebsten gestorben wäre, aber erstaunlicherweise kam Mr. Fillmore gar nicht auf mein Schläfchen zu sprechen, sondern auf Elly. „Ich bin mir sicher, du hast es inzwischen auch schon gemerkt, was hier an dieser Schule vor sich geht.“

„Ja, sie alle sind wie verhext und total auf Elly fixiert, dass es schon fast unheimlich ist. Was wissen Sie darüber?“

Doch Mr. Fillmore zögerte noch eine Weile, bis er schließlich mit der Sprache rausrückte. „Du weißt ja, dass ich noch nicht lange an dieser Schule bin. Zuvor war ich an der Carterfield High School und dort hatte ich eine Schülerin, die Elly ziemlich ähnlich war. Sie hieß Lola Green und wuchs in schwierigen Familienverhältnissen auf. Sie klaute, prügelte sich und kam sogar für zwei Wochen in den Jugendarrest. Keiner schaffte es, zu ihr durchzudringen. Aber dann eines Tages hatte sie sich vollkommen verändert. Sie sagte, sie wäre einem Club beigetreten und seitdem war sie richtig fröhlich und zugänglich. Dieser Club wurde von einer gewissen Mary Lane angeführt. Der Club bestand nur aus fünf Mädchen und sie alle wurden im Chemiesaal gefunden, wo sie das Gas aufgedreht hatten und an den Folgen verstorben waren. Nur eine von ihnen konnte wie durch ein Wunder überleben.“ Mr. Fillmore holte ein Foto hervor und zeigte es mir. Ich erstarrte vor Schreck als ich erkannte, dass es die Mary Lane war, von der mir Elly erzählt hatte. „Das ist Lola Green. Sie überlebte und gründete einen neuen Club. Später ließ sie sich Mary Lane nennen. Ich habe recherchiert und herausgefunden, dass das Mädchen aus dem Fünferclub, welches sich Mary Lane genannt hat, in Wahrheit Nora Jenkins hieß und ebenfalls die Überlebende eines Selbstmordclubs war.“ Ich sah Mr. Fillmore verwirrt an und verstand nicht, was er mir damit sagen wollte. Es gab mehrere Mary Lanes und alle hatten einen Selbstmordclub angeführt und waren dann gestorben? „So wie ich das sehe, haben wir es hier mit einem sehr seltsamen Phänomen zu tun. Es gibt immer einen Club, der von einer „Mary Lane“ angeführt wird. Beim Suizid verstirbt sie, eine andere überlebt und wird später zur neuen „Mary Lane“. Ich habe versucht, die erste Mary Lane zu finden, aber anscheinend geht diese Geschichte sehr weit zurück, vermutlich sogar bis in die 40er Jahre.“ Ich war fassungslos, als ich hörte, wie lange dieses Phänomen bereits existierte. Aber noch schlimmer war die Erkenntnis, als mir klar wurde, dass Elly auch auf den Weg war, die neue Mary Lane zu werden. Aber warum passierte das alles? Wer war Mary Lane wirklich und übertrug sie sich wirklich auf andere? Was war sie dann? Genau diese Frage stellte sich auch Mr. Fillmore, jedoch hatte er bislang noch keine Antwort finden können. Da sich mir alles so im Kopf drehte und mir davon schlecht wurde, schwänzte ich die letzte Stunde und ging nach Hause. Meine Eltern waren sowieso arbeiten und würden erst am Abend nach Hause kommen. Schon von weitem sah ich, dass jemand mit roter Farbe „Finde Mary Lane“ an die Tür geschrieben hatte. Beunruhigt sah ich mich um, doch hier war niemand. Aber wirklich beunruhigend war die Tatsache, dass die Haustüre ein Spalt breit offen stand. Jemand war ins Haus eingedrungen. Zögernd ging ich hinein und rechnete damit, dass Einbrecher alles leer geräumt hätten, aber seltsamerweise waren der Fernseher und der Computer noch da, auch der Schmuck meiner Mutter und der Laptop meines Vaters befanden sich dort, wo sie hingehörten. Wer auch immer ins Haus eingedrungen war, er wollte offenbar nichts stehlen. Schließlich aber wurde ich in meinem Zimmer fündig. Auf dem Schreibtisch lag ein Strauß weißer Rosen und eine Art Dokument. Seltsam, warum hatte der Einbrecher auf meinem Schreibtisch Dokumente hinterlassen? Ich legte meine Tasche beiseite und schaute mir das Dokument an. Es war von Hand geschrieben, die Schrift war sehr fein und geschwungen, aber trotzdem sehr gut zu lesen. Es sah wie ein Forschungsbericht aus und als Titel stand da „Projekt Dream Weaver“:
 

„Die Tests sind bereits in der zweiten Durchlaufphase und es konnten bereits erste erkennbare Erfolge verzeichnet werden. Es scheint tatsächlich so, als würde es eine Art Verbindung zwischen den Geistern einzelner Individuen existieren. Es scheint, als würden die Gehirnströme ähnlich wie Funksignale ausströmen und könnten sogar abgefangen und entschlüsselt werden. Würde ein Mensch diese Fähigkeiten erlangen, könnte er die Gedanken anderer Menschen lesen oder sogar diese bewusst beeinflussen. Doch bis wir soweit sind, den entscheidenden Durchbruch im Projekt Dream Weaver zu schaffen, werden wohl noch eine ganze Reihe von Versuchen durchgeführt werden. Dank der Forschungen von Dr. Johann Hinrich Helmstedter konnten wir unsere Forschungen sehr schnell voranführen. Ich sprach schon mit dem Stabsgeneral, um Dr. Helmstedter einen Persilschein auszuhändigen, um ihn für unser Projekt zu gewinnen. Seine Erkenntnisse über die Anatomie und die Funktion des menschlichen Gehirns sowie die damit verbundene Tiefenpsychologie wären uns zum großen Vorteil.“
 

Ich verstand überhaupt nichts von dem, was da drauf stand. Weder, warum der Name dieses komischen Arztes unterstrichen war, noch was ein „Persilschein“ war. Aber offenbar wollte der Einbrecher mir etwas mit diesem Dokument mitteilen. Ich beschloss, sofort zur Schule zurückzugehen, auch auf das Risiko hin, einen Riesenärger zu kriegen. Aber ich musste unbedingt Mr. Fillmore sprechen. Zum Glück fand ich ihn auf dem Gang und als ich ihm das Dokument zeigte, bat er mich, mit ihm in den Computerraum zu gehen, wo wir ungestört reden konnten. Irgendwie wirkte er nervös und beunruhigt, als würde sich ein schlimmer Verdacht bei ihm erhärten. Außerdem wurde er ziemlich blass im Gesicht und begann ein wenig zu schwitzen. „Mr. Fillmore, was genau wissen Sie über das, was in diesem Dokument steht?“

„Nun, ich habe während meiner Unizeit sehr intensiv Geschichte studiert, insbesondere die Nachkriegszeit in Europa. Du musst wissen, dass damals in Deutschland so genannte Persilscheine ausgeteilt wurden. Damit konnten sich die Leute vom Verdacht reinwaschen, dass sie Nazis waren oder mit ihnen zu schaffen hatten. Und dieser Johann Hinrich Helmstedter war ein KZ-Arzt. Er führte grausame Experimente an Juden, Rebellen und Behinderten durch, allerdings kamen seine kriminellen Machenschaften erst viel später ans Tageslicht, nachdem er spurlos verschwand. Die Amerikaner haben ihn damals vom Verdacht mithilfe des Persilscheins freigesprochen und ihn vom Verdacht reingewaschen. Höchstwahrscheinlich im Austausch für seine Mitarbeit.“

„Aber warum haben sie das getan?“

„Weil die Amerikaner nach Möglichkeiten gesucht hatten, gegen die Kommunisten vorzugehen. Und Projekt Dream Weaver basierte auf ein Experiment der Nazis, wodurch sie versuchen wollten, die Gedanken und Erinnerungen Fremder auszuspionieren und sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen. Ich weiß nicht viel darüber, das Meiste basiert auf Verschwörungstheorien.“ Ein altes Naziexperiment, welches vom gleichen KZ-Arzt unter der Leitung der Amerikaner weitergeführt wurde… Ein Projekt, um Gedankenspionage zu ermöglichen. Das klang ziemlich beunruhigend, trotzdem verstand ich nicht, was das mit Mary Lane und dem Selbstmordclub zu tun hatte. Auch Mr. Fillmore war sich nicht sicher. „Vielleicht… vielleicht haben sie das Projekt ja wieder aufgenommen und der Suizidclub von Mary Lane ist entweder ein Teil der Testreihe oder aber ein unvorhergesehener Unfall. Und du sagst, der Einbrecher hätte an die Tür geschrieben „Finde Mary Lane“? Das würde eigentlich keinen Sinn ergeben, es sei denn, es gibt noch eine weitere Mary Lane.“

„Wollen Sie etwa damit sagen, dass sie die anderen dazu bringt, die Selbstmordclubs zu gründen und dass sie die ganze Schule hier verrückt macht?“ Mr. Fillmore fuhr sich über seinen Dreitagebart und legte die Stirn in tiefe Falten. „Das alles klingt wirklich aus der Luft gegriffen, aber warum sonst sollte jemand einbrechen und gefälschte Dokumente hinterlassen, ohne etwas zu stehlen? Wichtig aber wäre die Frage: Wer hat dieses Dokument hinterlassen? Die ganze Sache ist sehr rätselhaft. Ich werde mich etwas umhören, vielleicht finde ich etwas über das Projekt heraus oder bekomme Informationen über Mary Lane. Dich möchte ich bitten, ein Auge auf Elly zu haben. Und gib mir sofort Bescheid, wenn sie sich verändert oder auffällig verhält.“ Ich versprach es Mr. Fillmore und gleich im Anschluss wollte ich noch mit Elly sprechen. Da sie um diese Zeit meistens in der Bibliothek saß und ihre Lieblingslektüren las, ging ich zuerst dorthin, allerdings war sie auch dort von anderen Mädchen umgeben. Doch dieses Mal wollte ich nicht das Feld räumen. Ich musste unbedingt mit Elly reden und nahm deshalb all meinen Mut zusammen, um mich an den Mädchen vorbeizudrängeln. Einige von ihnen begannen zu protestieren und zu schimpfen, aber Elly wies sie an, still zu sein. Sie lächelte zwar, aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Nein, in ihnen war ein fremder Glanz zu sehen, der gar nicht Elly gehörte. „Elly, könnte ich dich vielleicht unter vier Augen sprechen?“

„Na klar, kein Problem.“ Auch wenn sie lächelte und fröhlich wirkte, klang sie kühl und distanziert und ich bemerkte auch, dass sie sich irgendwie anders bewegte als sonst. Statt ihre Bücher unter dem Arm zu klemmen, presste sie es mit überkreuzten Armen an die Brust und ihr Gang hatte nicht mehr dieses schleichende Etwas an sich sondern war viel energischer und direkter als sonst. Wir verließen die Bibliothek und suchten uns eine ruhige Ecke zum Reden. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich eigentlich Elly sagen sollte, ich hatte nämlich die leise Angst, dass eine unvorsichtige Bemerkung auch den letzten Rest unserer Freundschaft zerstören würde. „Ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen um dich. Du hast dich in der letzten Zeit so sehr verändert, dass ich dich kaum wieder erkenne. Ich meine, seit dieser Sache mit dem Selbstmordclub…“

„Es ist okay, klar? Menschen verändern sich nun mal und nur weil ich ein wenig Selbstvertrauen gewonnen habe, brauchst du dir keine Sorgen machen.“

„Nun hör mir doch mal zu Elly. Die Mary Lane, die du gekannt hast, hieß eigentlich Lola Green und gehörte vorher auch einem Selbstmordclub an, dessen einzige Überlebende sie war. Und davor gab es noch weitere Mary Lanes und Clubs. Verstehst du denn nicht? Wenn du nicht damit aufhörst, wird sich das Gleiche wiederholen!“

„Na und? Dann bin ich bei Mary und den anderen. Verstehst du es denn nicht? Für mich hat das Leben keinen Wert so wie für dich. Vielleicht ist es besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Ich habe keine Lust, mit anzuhören, wie du Mary in den Dreck ziehst. Du hast sie nicht so gekannt wie ich!“ In dem Moment konnte ich einfach nicht anders, sondern gab Elly eine Ohrfeige. Ich war so verzweifelt und hilflos, weil ich tatenlos mit ansehen musste, wie Elly sich immer mehr von mir entfremdete und sich veränderte. Sie wurde mehr und mehr zu dieser verdammten Mary Lane und ich wusste nicht, wie ich sie wieder zur Vernunft bringen konnte. Vielleicht gar nicht mehr, womöglich war es schon längst zu spät. Elly verzog keine Miene, als ich sie schlug, sie nahm das völlig gleichgültig hin. Als ich ihr aber sagte, dass ich nicht zulassen würde, dass sie genauso Menschen in den Tod reißen würde wie Mary, da flammte der Zorn in ihr auf. Ihr Blick bekam ganz plötzlich etwas Manisches und Beängstigendes und dann verzerrte sich Ellys Gesicht vor Zorn. Sie stieß mich mit einer ungeheuren Kraft gegen die Wand und begann mich mit einer Hand zu würgen. Nie hätte ich gedacht, dass Elly so ausrasten könnte bzw. über solch eine Kraft verfügte. „Wag es nie wieder, schlecht über Mary zu reden. Hörst du? Wag es niemals wieder oder sonst… wirst du sehen, was passieren kann.“ In diesen Moment war es nicht Elly, die da zu mir sprach. Es war jemand anderes und genau das machte mir Angst. „Wer bist du eigentlich? Bist du noch Elly oder etwa Mary?“ Doch Elly antwortete nicht auf diese Frage. Stattdessen ließ sie mich los und wandte sich von mir ab. „Du solltest dich besser nicht mehr in meiner Nähe blicken lassen.“

„Aber Elly, Mr. Fillmore und ich wollen dir doch nur helfen! Es wird sich irgendeine Lösung finden. Merkst du denn nicht, dass die ganze Schule schon verrückt spielt? Ich will nicht, dass noch eine Katastrophe passiert.“ Doch meine Worte drangen gar nicht mehr zu Elly durch. Stattdessen ging sie zurück in die Bibliothek.
 

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Mr. Fillmore verstorben war. Er war mitten auf der Straße stehen geblieben und wurde daraufhin von einem Bus überrollt. Man ging von Selbstmord aus, aber ich glaubte, dass Elly dahinter steckte. Sie oder besser gesagt Mary Lane musste irgendetwas gedreht haben, um ihn endgültig loszuwerden. Aber wie sollte sie das denn geschafft haben, dass sie Mr. Fillmore in den Selbstmord trieb? Ich bekam Angst. Wenn Elly schon einen Lehrer tötete, der weiter nachfragte, was würde sie dann mir antun? Würde sie mich etwa auch sterben lassen? Tatsache war, dass die ganze Schule sich jetzt noch merkwürdiger verhielt als sonst. Keiner schien den Tod des Lehrers sonderlich zu erschüttern. Alle gingen ganz normal ihren Alltag nach und selbst Mrs. Fuller, die ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu Mr. Fillmore gepflegt hatte, verlor kein einziges Wort darüber und als ich sie darauf ansprach, zuckte sie nur mit den Achseln und sagte „Na und? So was kann passieren.“ Und so verhielten sich alle, die ich ansprach, selbst der Schulrektor. Die Schule wurde mir immer unheimlicher und ich bekam richtig Angst vor den anderen. Ich wusste nicht, was als Nächstes geschehen würde, wenn schon Mr. Fillmore sein Wissen das Leben gekostet hatte. Ich eilte zu meinem Spind und sah, dass jemand einen Brief durch den Schlitz geschoben hatte. Im Umschlag lag ein Schlüssel, auf dem die Zahl 12 stand. Es war der Schlüssel für die Schließfächer vor der Schulbibliothek. Aber wer hatte mir den Schlüssel gegeben? Da die Pause gerade erst angefangen hatte, eilte ich ins Erdgeschoss und schloss Spind Nummer 12 auf. Darin befand sich ein weiteres Dokument. Offenbar hatte der Einbrecher, der mir die erste Nachricht hinterlassen hatte, mir einen weiteren Hinweis zukommen lassen. Um ungestört lesen zu können, ging ich in die Bibliothek und verschanzte mich im Medienraum, der nur für die älteren Jahrgänge zugänglich war und begann zu lesen.
 

„Das Projekt war erfolgreicher, als wir es uns jemals hätten vorstellen können. Nach über zweihundert Versuchen und zahlreichen Verlusten an Testpersonen ist uns endlich der große Durchbruch gelungen. Doch zu welchem Preis haben wir diesen Sieg errungen? Wie viele Menschen haben wir durch unsere Eingriffe getötet oder verstümmelt? Was geschieht, wenn sich diese Macht, die wir erlangt haben, gegen uns richtet? Dr. Helmstedter ist begeistert von seinem Erfolg und die Regierung will nun damit beginnen, die Dream Weaver als Waffe für den Konflikt gegen sie Sowjetunion einzusetzen. Doch die DWs beginnen damit, gegen die Wissenschaftler aufzubegehren und ihre Fähigkeiten gegen uns einzusetzen. Ich warnte den General, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie uns alle töten würden, doch er ignorierte meine Warnung. Uns bleibt keine Wahl, wir müssen die Subjekte auf der Stelle töten, bevor sie die Chance bekommen, sich gegen uns zu stellen.
 

Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Die Dream Weaver haben sich zusammengeschlossen und konnten aus ihren Zellen entkommen. Zwar gelang es uns, sieben von ihnen zu erschießen und einen schwer verletzt wieder einzufangen, doch gelang einer von ihnen die Flucht. Zurück blieb ein blutiges Massaker. Mehr als zehn Wissenschaftler sind tot, dreißig Soldaten wurden auf grausame Art und Weisen ermordet. Wir haben einen hohen Preis bezahlt und haben doch nichts gewonnen, außer einer neuen Erkenntnis, die uns in unser eigenes Verderben stürzt. Die Dream Weaver haben ein Potential entwickelt, welches wir nicht mehr länger unterdrücken können. Sie haben einen Weg gefunden, sich unserer Kontrolle zu entziehen und wenn wir nicht alle töten, wird es eine Katastrophe von unvorstellbaren Ausmaßen geben. Gott stehe uns allen bei. Hätten wir uns doch niemals mit diesen verdammten Dr. Helmstedter verbündet. Wir haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Nun bleibt uns nichts anderes übrig. Das Projekt muss an die Öffentlichkeit, wir müssen den geflohenen Dream Weaver aufspüren und sofort töten.“
 

So langsam glaubte ich, dass sich das Puzzle zusammenfügte und ich glaubte nun endlich zu verstehen. Was, wenn Mary Lane Teil des Dream Weaver Projektes war und diese Selbstmordclubgeschichte ihr Verdienst war? Konnte sie tatsächlich die Gedanken anderer beeinflussen und ihre Erinnerungen und Charakterzüge so verändern, dass diese Marys Persönlichkeit annahmen? War dies alles eine Art krankes Spiel für sie zum Amüsement? Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass sich die ganze Schule bereits unter ihrer Kontrolle befand und dass es bald einen neuen Kollektivselbstmord geben könnte. Und Elly würde die neue Mary Lane sein! Ich musste irgendetwas tun, aber was? Was konnte ich denn tun, um sie davor zu retten? Sie wollte ja noch nicht einmal gerettet werden. Wie konnte ich nur verhindern, dass sich eine neue Tragödie ereignete? Noch nie hatte ich mich so verzweifelt und hilflos gefühlt und ich begann zu weinen. Als ich das Dokument aufhob, fiel ein Foto heraus. Es war eine alte Schwarzweißaufnahme, die wahrscheinlich in den Vierzigern entstand. Sie zeigte ein wunderschönes Mädchen mit schulterlangem Haar, doch sie sah erschöpft, traurig und abgemagert aus. An ihrem rechten Handgelenk war etwas zu sehen, das wohl eine Tätowierung war. Ich musste mich anstrengen, um zu erkennen, dass es wohl ein Zahlencode war. Das Mädchen sah der Mary Lane, welche den letzten Selbstmordclub angeführt hatte, zum Verwechseln ähnlich, nur hatte sie ein etwas anderes Gesicht. Ob das die erste Mary Lane gewesen war? Die echte musste doch schon steinalt sein, wenn sie in den Vierzigern gelebt hatte. Viel wichtiger war aber doch die Frage, wer mir diesen Brief geschickt hatte und warum er bzw. sie diese Heimlichtuerei veranstaltete. Das alles wurde immer konfuser. Die einzig vernünftige Idee wäre, die richtige Mary zu finden und dafür zu sorgen, dass dieser ganze Wahnsinn aufhörte. Doch wo sollte ich sie finden? Sie konnte überall sein. Aber wenn ich mir so überlegte, dass sie die ganze Schule verrückt spielen ließ, war es auch recht wahrscheinlich, dass sie sich hier irgendwo in der Nähe aufhielt. Ich musste eigentlich nur nach einer alten Frau suchen, die eine Zahl auf dem rechten Handgelenk tätowiert hatte. So einfach war die Sache.
 

Meine Suche verlief alles andere als erfolgreich und zu meinem Entsetzen begann sich Elly nicht nur charakteristisch sondern auch äußerlich stark zu verändern. Sie ließ sich das Haar länger wachsen und hatte sich ihre Haare rotbraun gefärbt. Auch die schwarze Kleidung hatte sie abgelegt und trug stattdessen Shirts mit weitem Ausschnitt, sodass sie ihre nackten Schultern zeigte. Ganz markant aber war, dass sie ein rotes Seidenband am linken Handgelenk trug. Ihre Haltung, ihr Blick und ihre Gangart hatten sich so stark verändert, dass ich zuerst glaubte, das wäre gar nicht Elly. Gleich in der Pause ging ich zu ihr und hielt sie am Arm fest. „Elly, ich muss mit dir reden, es ist wichtig!“ Doch sie sah mich mit einem befremdlichen Blick an und sah mich ein klein wenig hochnäsig an. „Meinst du etwa mich?“ fragte sie und riss sich los. „Falls du es noch nicht weißt: Ich heiße Mary Lane Johnson. Merk dir das gefälligst.“

„Elly, jetzt hör endlich auf mit diesem Schwachsinn. Merkst du denn nicht, dass du dich immer weiter veränderst? Ich erkenne dich ja gar nicht wieder. Du bist wie ein völlig anderer Mensch.“ Aber das war nicht mehr Elly, zu der ich sprach. Die Elly existierte nicht mehr sondern nur noch Mary. Es war, als hätte etwas Ellys Selbst regelrecht zerfressen und nach und nach durch Mary Lane ersetzt. Und das Unheimlichste daran war, dass ich mir vorkam, als würde ich zu einer Toten reden. Ich spürte, wie die Tränen kamen, doch ich hatte keine Kraft mehr, sie zurückzuhalten. „Elly, bitte du musst zu dir kommen. Du musst dagegen ankämpfen! Hör zu: Ich habe herausgefunden, dass hier eine riesige Verschwörung im Gange ist. Diese Mary war ein Teil eines Kriegsprojektes, um den Verstand von Menschen zu manipulieren. Merkst du denn nicht, dass inzwischen die komplette Schule total verrückt geworden ist? Mary gehörte während der Fünfziger Jahre zum Dream Weaver Projekt und ist geflohen. Sie ist für all das verantwortlich und wenn du dich nicht zur Wehr setzt, wirst du auch zu einer Kopie von ihr!“ Als ich „Dream Weaver“ erwähnte, da weiteten sich Ellys Augen vor Entsetzen und sie wich einen Schritt vor mir zurück. Sie wurde ganz blass im Gesicht und man konnte sehen, dass sie Angst hatte. Für einen Moment war sie wie erstarrt, doch dann stürzte sie sich auf mich und ich fiel rücklings zu Boden. Ich war so überrascht von Ellys plötzlichem Angriff, dass ich gar nicht wusste, wie mir geschah. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen, als ich mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug, doch dann spürte ich, wie Elly mich zu würgen begann. Sie drückte mit ungeheurer Kraft zu, sodass ich keine Luft mehr bekam. Ich versuchte, mich mit Händen und Füßen zu wehren, doch Elly setzte sich auf meinen Brustkorb und machte es mir unmöglich, mich zu wehren. Und während sie mich würgte, sah ich die Angst und die Verzweiflung.

Es war wirklich ein reiner Glücksfall, dass ein Lehrer vorbei kam und Elly von mir runterzerren konnte. Sie rastete total aus, begann zu schreien und um sich zu schlagen. In dem Moment kamen mehrere Mädchen aus Ellys Club herbeigeeilt und attackierten den Lehrer. Sie prügelten auf ihn ein, stachen mit Nagelfeilen und Scheren auf ihn ein und benahmen sich wie wild gewordene Furien. Ich weiß nicht, wie ich es schaffte zu entkommen, aber für mich stand fest, dass ich irgendeinen Weg finden musste, Mary aufzuhalten, bevor es zu spät war. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis die Sache noch weiter eskalierte. Ich rannte einfach drauf los und da hörte ich auch schon, wie einige laut aufschrieen und mir hinterher eilten. Sie kamen von überall und versuchten mir den Weg abzuschneiden. Bei dem Chaos konnte ich nicht sagen, wie viele es waren, aber ich fürchtete fast, es wäre die ganze Schule. Sogar der Schulrektor versuchte, mich mit einem Brieföffner zu attackieren. Auch Michael, mit dem ich mich immer so gut verstanden hatte, schlug mit dem Baseballschläger nach mir, als wolle er mich umbringen.

Ich erreichte schließlich den Schulhof, von wo ich aus zur Straße gelangen konnte, doch dort wartete bereits eine weitere Meute auf mich. Ehe ich mich versah, wurde ich von allen Seiten eingekreist und eine Flucht war unmöglich. Aus der Masse trat schließlich Elly hervor. Sie sah mich mit einem unheimlichen Blick an und stieß mich zu Boden. „Ich wünschte, ich müsste das hier nicht tun. Aber du weißt einfach zu viel. Du hättest Mary in Frieden lassen sollen.“

„Elly warte! Was hast du vor? Das kannst du doch nicht tun. Wir sind Freunde!“

„Das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass Mary nichts passiert. Schon bald wird sie nicht nur die Schule sondern auch die Stadt und bald das ganze Land unter ihrer Kontrolle haben. Und du wirst da auch nichts daran ändern.“

„Das ist doch Wahnsinn. Bitte, das musst du nicht tun. Es ist noch nicht zu spät!“

„Doch, es ist zu spät. Und zwar für dich. Los, haltet sie gut fest!“ Ich wurde von unzähligen Händen gepackt und festgehalten, versuchte noch verzweifelt, mich loszureißen und um Hilfe zu rufen. Aber als ich sah, wie sie Elly zujubelten, als sie ein Beil von einem der Anwesenden nahm und es langsam erhob, wurde mir klar, dass niemand kommen würde, um mich zu retten. Und als ich Elly in die Augen sah, erkannte ich, dass sie ernst machte. Das ohrenbetäubende Geschrei der Menge klang wie aus weiter Ferne und in meinem Kopf drehte sich alles. Wie konnte das alles nur so weit kommen? Warum habe ich das alles nicht schneller erkannt und Elly geholfen, als sie mich so gebraucht hatte? Hätte ich Mary doch viel früher gefunden, dann wäre es niemals zu dieser Situation gekommen. Doch bevor mich meine eigene Freundin töten würde, wollte ich zumindest eines wissen. „Warum das alles? Warum tut Mary das?“ Elly, die bereits die Axt zum Schlag erhoben hatte, ließ sie wieder sinken und trat beiseite. Auch die Schüler und Lehrer gingen zur Seite und bildeten einen kleinen Durchgang, durch welchen ein Mädchen kam. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, als ich dieses Mädchen als jenes wiedererkannte, welches auf dem Foto abgebildet war. Es war Mary Lane, die echte Mary Lane. Aber wie zum Teufel war das möglich. Wie konnte sie nur so jung geblieben sein? Mary Lane trat näher heran und lächelte eiskalt. In ihren Augen war nichts als Hass und Verachtung zu sehen. „Wie… wie kann das sein? Warst du etwa die ganze Zeit hier?“

„Natürlich und es hat mir wirklich Spaß gemacht, dich bei deiner Suche zu beobachten. Und du hattest tatsächlich geglaubt gehabt, ich wäre eine hässliche alte Schachtel? Wirklich amüsant. Die ganze Zeit hast du nach mir gesucht und dabei war ich die ganze Zeit in der Nähe. Aber ich mach dir keinen Vorwurf, du konntest mich ja nicht bemerken. Zwar sehen mich deine Augen, aber leider registriert dies dein Gehirn nicht, weil es deine Reize filtert.“

„Ich verstehe nicht.“

„Dann will ich es dir mal erklären: Die Nazis haben damals schon erkannt, dass der Mensch nur maximal zehn Prozent seines Hirns bewusst nutzen kann und der Rest vom Unterbewusstsein gesteuert wird. Daraufhin wollten sie einen Weg finden, das Unterbewusstsein zu kontrollieren. Aber bevor sie dazu kamen, wurde Deutschland von den Amerikanern und Sowjets belagert und die Dokumente fielen in die Hände der Amis. Weißt du, mein richtiger Name ist übrigens nicht Mary Lane Johnson, sondern Marie Lena Johann.“

„Du bist eine Deutsche?“

„Meine Mutter war Halbjüdin und ich war die Einzige aus meiner Familie, die dem Konzentrationslager entkommen konnte. Ich musste zahlreiche Experimente über mich ergehen lassen und als die Amerikaner kamen, dachte ich, dass der Alptraum vorbei ist und wir endlich befreit werden. Aber stattdessen folgten viel schlimmere Gräueltaten, die allesamt vertuscht wurden. So viele Kinder wurden von Sowjets und Amis getötet… Ich habe Vierjährige qualvoll sterben sehen, während man ihnen das Gehirn auseinandergepflückt hat. Doch dann, als ich endlich erkannte, wozu ich überhaupt in der Lage war, schaffte ich es sogar, die zweite Ebene des Unterbewusstseins, nämlich das Unbewusstsein und damit sämtliche Körpervorgänge zu kontrollieren. Ich konnte als Einzige lebend entkommen und wollte diese verdammten Mistkerle dafür büßen lassen, dass sie uns betrogen haben. Sie haben uns unsere Freiheit, unsere Hoffnung und unser Leben genommen, dafür nehme ich ihnen das Wertvollste, was sie haben: Ihre Kinder. Natürlich hätte ich sie auch durch Herzversagen, Lungenembolie oder sonst etwas umkommen lassen können, aber dann fiel mir etwas Wunderbares ein: Warum sie nicht alle von ihrem Leid erlösen, wenn sie schon mit ihrem Leben so unglücklich sind? Also entwickelte ich den Selbstmordclub. Ich ließ immer eine von ihnen am Leben und programmierte ihr Unterbewusstsein so um, dass sie zu einer perfekten Kopie von mir wurde. Mary Lane wurde zum Symbol, zur Kultfigur für Selbstmörder und irgendwann ging alles wie von selbst weiter. Ich brauchte eigentlich kaum noch etwas zu tun, als mich zurücklehnen und mich zu amüsieren.“

„Du hast also die ganze Schule gegen mich gehetzt?“

„Nicht direkt, ich kann nur das Unterbewusstsein steuern. Ich brauchte lediglich ihre Empfindungen und ihre im Unterbewusstsein abgespeicherten Gedanken zu verändern, ohne dass sie es merkten und schon wurden sie zu gehorsamen Marionetten, die nicht wissen, dass sie an Fäden hängen. Ist es nicht witzig? Die ganze Welt redet von freien Willen und eigenständigen Handeln und Denken, dabei sind die Menschen Sklaven ihres eigenen Unterbewusstseins. Selbst wenn ich die ganze Welt steuern könnte, würde es kein Schwein merken. Das, was ich mit dieser Schule gemacht habe, ist nur eine einfache Spielerei für mich. Ich werde noch viel größeres Geschütz auffahren, nur leider wirst du es nicht mehr erleben.“ Mary lachte eiskalt und trat mir in den Magen. Der Schmerz war ungeheuer und ich sank stöhnend in die Knie während mich die Schüler noch an den Armen festhielten. Mary drehte sich um und schickte sich an zu gehen, doch dann rief ich „Warum hast du mir dann diese Informationen zugespielt, wenn du sowieso vorhattest, mich zu töten?“ Als sie das hörte, erstarrte Mary und blieb stehen. Auch die anderen um uns herum ließen von mir ab und wichen erschrocken zurück. Sie alle hatten den gleichen verängstigten Gesichtsausdruck wie Mary. „Wovon zum Henker sprichst du?“

„Mir hat jemand Dokumente gegeben und einen Strauß Rosen auf den Tisch gelegt.“ Mary starrte mich lange Zeit an, regte sich nicht und ihr Blick war nur schwer zu deuten. Dann aber drehte sie sich um und lief davon. Niemand hielt sie auf, die Herumstehenden machten ihr Platz. Ich versuchte noch, ihr hinterherzulaufen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Egal wie sehr ich es auch versuchte, mein Unterbewusstsein blockierte sämtliche Bewegungen.
 

In den darauf folgenden Tagen normalisierte sich unsere Schule wieder und niemand erinnerte sich an das, was geschehen war. Auch Elly konnte sich weder an den Selbstmordclub noch an Mary Lane erinnern. Alles war so plötzlich geschehen, dass ich das Gefühl hatte, als wäre ich aus einem Traum erwacht, an den ich mich selbst nur noch sehr schwach erinnern konnte. Eigentlich sollte mich die Geschichte verfolgen, mir schlaflose Nächte bereiten, aber das tat es nicht. Es war mir gleichgültig geworden. Mary Lane war eine verblassende Erinnerung, die nicht mehr von Bedeutung ist. Inzwischen kann ich mich nur noch schwach an ihr Gesicht erinnern. Ich kann mich auch nicht mehr genau erinnern, worüber wir gesprochen hatten und warum sie so plötzlich verschwand. Und da sich niemand sonst an sie erinnern kann, kommt es mir tatsächlich so vor, als wäre Mary Lane nur ein Traum gewesen. Aber immer, wenn ich an den Blick denke, mit dem sie mich angesehen hatte, schnürt sich meine Brust zusammen und ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Ach ja, bevor ich meinen Bericht abschließe, möchte ich euch noch erzählen, was mit Elly geschah:

Nachdem sich alles wieder normalisierte, wurde Elly furchtbar apathisch und saß meistens regungslos und ins Leere starrend da und sagte nichts. Es war, als wäre sie nur noch eine leere Hülle. Sie reagierte weder auf Worte noch auf freundliche Gesten und sie aß auch nichts mehr. Das dauerte fast eine Woche so, dann fand man sie tot auf, zusammen mit ihrer Familie. Es sah aus wie in einem Horrorfilm. Die ganze Familie wurde zerstückelt und zerfetzt, als hätte ein Geisteskranker gewütet. Ob es derselbe war, der mir diese Dokumente hinterließ, kann ich nicht sagen. Aber offenbar wollte jemand, dass ich Mary fand, weil er oder sie hinter ihr her war. Irgendetwas ist in dieser Welt am Gange, was vor unseren Augen verborgen gehalten wird. Vielleicht eine Verschwörung oder etwas Ähnliches. Fakt ist, dass Mary ein Teil davon ist und dass der Weg zu ihr mit unzähligen Leichen gepflastert ist. Elly ist tot und da ich wohl die letzte Person bin, die sich an Mary und die Geschehnisse in dieser Schule erinnern kann, werde ich wahrscheinlich als nächstes sterben. Aber seltsamerweise kümmert mich das nicht weiter. Der Gedanke an meinen bevorstehenden Tod macht mir keine Angst, es ist mir einfach egal… Seltsam, nicht wahr?

Anthony Winter: Dream Weaver

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Viola: Das Labyrinth

Viola fühlte sich ein wenig benommen, als sie aufstand und direkt das Dröhnen im Kopf spürte. Ihr wurde schwindelig und sie musste sich erst einmal wieder setzen. Was genau war denn eigentlich passiert? Sie erinnerte sich, dass sie eine Kunstausstellung besucht und dann in den groß angelegten Garten gegangen war, um das große Rosenlabyrinth auszukundschaften. Dann war sie müde geworden und hatte sich auf eine Bank schlafen gelegt. Wie lange hatte sie denn geschlafen? Es war ja bereits dunkel und das Labyrinth wurde lediglich von Laternen beleuchtet. Es war kühl und still und langsam bekam sie Angst, als sie realisierte, dass sie hier ganz allein war. „Hallo?“ rief sie und stand etwas unbeholfen auf, als sie sich langsam wieder erholt hatte. „Ist hier jemand? Hallo!!!“ In der Ferne hörte sie das Krächzen von Krähen und das jagte ihr eine Gänsehaut ein. Sie zitterte am ganzen Körper und war den Tränen nahe, denn sie hatte schreckliche Angst im Dunkeln. Sie musste raus aus dem Labyrinth und zwar schnell, bevor es noch unheimlicher wurde. Also schnappte sie sich die Tasche, die sie neben die Bank gelegt hatte und in der sich zwei belegte Brote, Haarspray, ein Taschentuch und eine fast leere Wasserflasche befanden. Aber viel lieber wäre es ihr, wenn sie schon längst aus diesem gruseligen Labyrinth raus war. Das kleine Mädchen schulterte ihre Tasche und ging gleich den erstbesten Weg, den sie sah, jedoch musste sie beim Umschauen feststellen, dass die Wege irgendwie viel länger waren, als sie sich vorgestellt hatte. Der linke war ja so lang, dass sie gar nicht sehen konnte, wo er endete. Oh je, dabei hatte das Labyrinth von draußen doch gar nicht so riesig ausgesehen. Vielleicht lag es ja auch nur an der Dunkelheit, dass alles plötzlich so anders wirkte. Viola beschloss, erst einmal den langen Durchgang zu gehen. Womöglich war ja das der schnellste Weg nach draußen. Dabei beschleunigte sie ihre Schritte und summte leise ein Lied, um sich von der Dunkelheit abzulenken. Das Labyrinth selbst bestand aus sehr hoch und vor allem dicht bewachsenen Sträuchern, die mit Rosen überwuchert waren. In einigen Ecken standen Marmorsockel mit kleinen Figuren drauf, wie zum Beispiel Engel mit Pfeil und Bogen. An einigen Stellen waren sogar einzelne Gemälde aufgehängt worden, welche die unheimliche Beschaffenheit hatten, dass ihre Augen den Vorbeigehenden folgten. Eine ganze Weile lief sie, ohne dass sich irgendetwas Erwähnenswertes ereignete aber dann, als das kleine Mädchen schließlich um eine Ecke bog, trat sie auf etwas Weiches und als sie vorsichtig zurückging, sah sie einen kleinen weißen Stoffhasen auf den Boden liegen. Hey, den kannte sie doch. Das war doch ihr geliebtes Kuscheltier, welches sie immer dabei hatte. Wie kam denn der Hase hierher? Hatte sie ihn nicht im Arm gehalten, als sie auf der Bank eingeschlafen war? Merkwürdig. Vorsichtig hob sie den Hasen auf und klopfte den Dreck vom Stofffell. „Armer Herr Hase, du bist ja ganz schmutzig. Wie kommst du denn hierher? Na komm, ich pack dich in den Rucksack und dann finden wir gemeinsam einen Weg hier raus.“

„Nein…“ Als Viola diese raue und kratzige Stimme vernahm, die da dem Hasen entsprang, erschrak sie und hätte das Stofftier beinahe fallen lassen. Seltsam, normalerweise sprachen Stofftiere doch gar nicht. Aber sie hätte schwören können, dass ihr Herr Hase gerade zu ihr gesprochen hatte. „W-was?“ fragte sie ängstlich und hielt den Stoffhasen fester. Dieser drehte ruckartig seinen Kopf und starrte Viola mit rot glühenden Augen an. Ein breites Grinsen zog sich über sein Stoffgesicht und lange, rasiermesserscharfe Zähne kamen zum Vorschein. „Du wirst für immer hier bleiben, Viola. So einfach lasse ich dich nicht gehen.“ Entsetzt schrie sie auf und warf den Hasen so weit wie sie nur konnte, bevor sie die Flucht ergriff. Das konnte doch nur ein schrecklicher Alptraum sein. „Viola! Warum läufst du denn vor mir weg? Wir sind doch Freunde, erinnerst du dich? Oder hast du es etwa schon wieder vergessen?“ Viola hielt sich die Ohren zu, um nicht die unheimliche Stimme des Stoffhasen hören zu müssen. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass ihr einst so geliebtes Stofftier jetzt ein sprechendes Monster war. Aber wie war es nur so gekommen? Warum passierte das alles hier? Konnte es sein, dass sie noch schlief und das hier ein Alptraum war? Es musste so sein, Monster gab es doch nicht im echten Leben. Aber wie konnte sie wieder aufwachen? Vielleicht, indem sie diesem Labyrinth entkam. Fragte sich nur, wo der Ausgang war. Als sie links abbog und in einer Sackgasse landete, nutzte sie die kurze Pause, um Luft zu holen. Dann, nur um sicherzugehen, lugte sie langsam aus der Sackgasse hervor und sah sich um. Der Hase war nicht mehr da. So ein Glück. Sie war in Sicherheit. „Viola…“ Das kleine Mädchen fuhr erschrocken zusammen, als jemand sie von hinten an der Schulter packte und sie nach hinten zerrte. Kreischend riss sie sich los und drehte sich um. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen, als eine riesige mannsgroße Puppe, zusammengenäht aus mehreren menschlichen Körperteilen, ihre Hände nach ihr ausstreckte, während ihr Blut aus dem Mund floss. „Komm zu uns spielen, Viola! Für immer und ewig!“

Noch nie in ihrem Leben hatte Viola so etwas Entsetzliches gesehen und vor Angst war sie unfähig, sich zu bewegen. Bitte lasst mich endlich aufwachen, dachte sie und begann zu weinen. Das muss doch alles ein furchtbarer Alptraum sein. Warum nur kam niemand sie retten? Sie brauchte Hilfe! Schließlich gelang es ihr, all ihre Kraft zu sammeln, sich aus dem Griff der Puppe freizukämpfen und wegzulaufen. Blindlings rannte sie drauf los, bog um unzählige Ecken und landete immer wieder in Sackgassen, wo mordlüsternde Statuen und Tiere auf sie warteten, die sich auf sie stürzen wollten. Überall waren riesige Sträucher, die so hoch waren, dass Viola unmöglich hinaufklettern konnte. Dabei war es ihr heute Mittag noch nicht so hoch vorgekommen und da waren auch keine Monster drin gewesen. Aber vielleicht fand sie ja irgendwo etwas, was sie als Aussichtsturm benutzen konnte, um irgendwo in diesem Labyrinth das Ende zu finden. Ja, irgendeine riesige Skulptur, auf die sie klettern konnte. Also bog sie nach links ab, kam aber auf einem großen leeren Platz an, wo sie sich erneut für eine Richtung von vier entscheiden musste. Nur welche sollte sie nehmen? Ein Gefühl tief in ihrem Kopf sagte, dass sie den Gang zu ihrer linken nehmen sollte, aber gleichzeitig hatte sie Angst davor, hinzugehen. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie solch eine Angst davor hatte, also entschied sie sich, lieber zurückzugehen. Aber weit kam sie nicht, denn der Weg, durch den sie gekommen war, wurde durch eine riesige Rosenhecke blockiert, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und es sah danach aus, als wäre das eine Sackgasse. Viola geriet in Panik, als sie das sah. Wie konnte das nur passieren? Da war doch gerade noch ein Weg gewesen, wie konnte er nur so schnell zuwachsen? Jetzt konnte sie doch nicht mehr zurück. Nun hatte sie keine Wahl, sie musste sich nun für einen der anderen Wege entscheiden. Welchen sollte sie also nehmen? Ihre innere Stimme sagte, dass sie nach links gehen sollte, aber sie selbst entschied sich dann doch für den rechten. Kaum war sie hindurch, musste sie auch schon wieder um mehrere Ecken biegen, bis sie auf einer weiteren großen Fläche ankam, wo es zwei Teiche gab. Jeder Teich war gleich groß und am Ufer wuchsen Rosenbüsche. Die Rosen am rechten Teich waren strahlend weiß und makellos schön, die anderen waren gelbfarben und ein bisschen kleiner. Obwohl es bereits dunkel war, hatten sich die Blüten der Rosen noch nicht geschlossen, was besonders schön im Sternenlicht aussah. Beim Anblick dieser beiden Wasserstellen merkte Viola, wie durstig sie eigentlich war und so griff sie in ihre Tasche, um die Flasche herauszuholen. Doch in der Flasche selbst befand sich nur noch ein kleiner Bodenrest, gerade mal ein Schluck. Das reichte nie und nimmer. Viola begann zu überlegen, ob das Wasser in den Teichen eigentlich zum Trinken geeignet war. Sie musste wohl oder übel einen Versuch wagen, denn ihr Hals tat schon weh, weil er so trocken war. Also ging sie zum Teich mit den gelben Rosen hin und tauchte kurz die Wasserflasche hinein, dann trank sie einen Schluck. Doch kaum, dass das Wasser ihre Zunge berührte, spuckte sie es wieder aus und begann zu husten. Das Wasser hatte einen widerlich fauligen und vor allem so fürchterlich bitteren Geschmack, von dem ihr ganz schlecht wurde. Sie schüttete das ganze Wasser aus der Flasche wieder aus und musste sich krampfhaft erbrechen. Benommen taumelte sie zum Teich mit den weißen Rosen, füllte ihre Flasche mit Wasser und begann ihren Mund auszuspülen. Da sie merkte, dass das Wasser frisch und gut war, trank sie ein paar Schlucke und fühlte sich gleich viel besser. Daraufhin füllte sie die Flasche bis zum Rand, verschloss sie fest und steckte sie wieder zurück in die Tasche. Dabei fragte sich, ob es Zufall war, dass die weißen Rosen an der richtigen Wasserstelle wuchsen und das Wasser nahe den gelben Rosen giftig war. Das musste sie sich merken, falls sie noch einmal hier vorbei kam. Als sie fertig war, sah sie sich um und nach kurzer Suche fand sie einen weiteren Weg. Dieser war mit noch mehr Laternen erleuchtet, sodass sie sich ein klein wenig behaglicher fühlte als zuvor. Trotzdem wollte sie einfach nur aus diesem verdammten Labyrinth heraus. Ein plötzliches leises Rascheln in den Hecken machte sie nervöser und sie presste ihre Tasche an sich wie ein Kuscheltier. „Hallo?“ fragte sie zögernd und schaute sich immer wieder um. „Ist da jemand?“ Keine Antwort, doch das Rascheln war immer noch zu hören. Viola entschied sich, schneller zu laufen und begann schließlich zu rennen. Ängstlich sah sie dabei immer wieder nach hinten, da sie fürchtete, dass gleich jemand hinter ihr auftauchen und sie verfolgen würde. Doch da war nichts, oder zumindest konnte sie nichts erkennen. Schnell bog sie um eine weitere Ecke und hörte erneut ein Rascheln direkt hinter ihr, woraufhin sie noch schneller rannte. Dann aber schlang sich etwas um ihr Bein und sie stürzte zu Boden. Sie schrie auf, als sich die Dornen einer Rosenranke ins Fleisch bohrten und tiefe Wunden rissen. Blut floss Violas Bein hinunter und die Ranke zerrte sie unerbittlich nach hinten. Das kleine Mädchen versuchte sich irgendwo festzuhalten und bekam schließlich einen spitzen Stein zu fassen. Diesen packte sie und schlug mit aller Kraft auf die Ranke ein, woraufhin diese von ihr abließ. Viola wartete nicht lange, denn sie fürchtete, dass gleich die nächsten Rosenranken sie greifen würden. Schnell kam sie wieder auf die Beine, schrie aber laut auf, als der rasende Schmerz durch ihren ganzen Körper zuckte. Ihre Wunden brannten wie Feuer, während warmes Blut hinunterfloss. Viola biss sich auf die Lippen und hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben, da ihre Knie immer wieder nachzugeben drohten. Sie versuchte zu laufen, schaffte aber nur ein leichtes Humpeln. Weit kam sie aber nicht, denn ihre Tränen verwischten ihre komplette Sicht und ihre Brust schnürte sich so stark zusammen, dass sie kaum noch Luft bekam. Da auch ihr Bein unerträglich schmerzte, blieb sie stehen, um sich auszuruhen. Bei der Gelegenheit sah sie sich auch ihr Bein an. Es waren drei tiefe Schnittwunden an der Wade und in einem dieser Schnitte steckte noch ein Dorn. Viola biss die Zähne zusammen und versuchte, den Dorn herauszuziehen, doch das Blut verschmierte alles und sie rutschte immer ab, sodass es nur noch mehr schmerzte. Sie versuchte es noch ein paar Male, gab es aber auf, weil es zu sehr wehtat. Da eine der Lampen erlosch und es somit dunkler wurde, beschloss sie, weiterzugehen und schleppte sich humpelnd voran. Als der Gang irgendwann endete, bog sie nach links ab und fand schließlich etwas Interessantes: einen Rucksack. Er war ziemlich abgenutzt und so wie es schien, gehörte er jemandem. Vielleicht war sie ja doch nicht alleine. Dieser Gedanke weckte Violas Lebensgeister und sie schöpfte neue Hoffnung. „Hey, ist hier jemand? Hallo?“ Sie kramte im Rucksack herum und fand eine Taschenlampe. Der Besitzer würde sicher nichts dagegen haben, wenn sie sich die Sachen kurz ausborgte. Das helle Licht der Taschenlampe fiel auf die Hecken und etwas weiter weg sah sie in einer kleinen Heckennische tatsächlich, dass dort ein Mensch war. Es war ein Mann von vielleicht 19 oder 20 Jahren, mit hellgrauen fast weißen Haaren. Sein linkes Auge wurde von seinen Haaren verdeckt und er war von unzähligen Rosenranken umwickelt. Er schien ohnmächtig zu sein, oder zu schlafen. Die Rosen, die an diesen Ranken blühten, hatten eine dunkle und unnatürliche Farbe, man konnte schon von schwarzen Rosen sprechen. Sie strömten einen stark süßlichen aber zugleich fauligen Duft aus, der Viola ein wenig benebelte. Also hielt sie die Luft an, während sie die Taschenlampe zwischen die Zähne klemmte und mit aller Kraft an den Ranken zerrte, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich an den Händen verletzte. Doch die Ranken, die ein Eigenleben zu besitzen schienen, zogen sich immer wieder zurück und schlangen sich fester um den Bewusstlosen. Viola musste sich etwas anderes einfallen lassen, um ihn zu befreien. Sie ging zu seiner Tasche hin und fand nach einiger Suche ein Taschenmesser und ein Feuerzeug. Mit dem Taschenmesser in der Hand ging sie zurück und begann die Ranken nach und nach durchzuschneiden. Schließlich hatte sie so viele zertrennt, dass sie einen neuen Versuch wagen konnte. Da sie beim herannahen an die schwarzen Rosen wieder die Luft angehalten hatte und ihr langsam die Brust schmerzte, nahm sie zwei schnelle Atemzüge, in denen ihr wieder ganz schwindelig wurde. Sie packte den Jungen am Mantel und zerrte erneut. Dieses Mal konnten die Ranken ihn nicht festhalten und so fiel er herunter und Viola stolperte durch den plötzlichen Ruck nach hinten. Der Geruch dieser Rosen, der nun explosionsartig auszuströmen schien, war wie ein dichter, unsichtbarer Nebel und wenn sie nicht schnell da weg kam, würde sie ebenfalls ohnmächtig werden. Aber sie konnte den Jungen doch nicht zurücklassen, wo er wahrscheinlich der Einzige war, der ihr helfen konnte. Also nahm sie ihn an den Armen und zog ihn ein Stück, bis sie das Gefühl hatte, dass sie weit genug weg waren. Sie kehrte nur noch ein letztes Mal zurück, um die Tasche und das Messer zu holen. Als sie zurückkam, lag der Junge immer noch da und bewegte sich nicht, aber zumindest atmete er noch. Vorsichtig klopfte sie ihm auf die Wange und versuchte, ihn anzusprechen. Nichts zu machen, er musste wohl zu viel von diesem Duft eingeatmet haben. Erschöpft sank Viola zu Boden und holte ihr Taschentuch heraus, tränkte es im Wasser und legte es dem Bewusstlosen auf die Stirn. Dann begann sie sich das Blut vom Bein zu waschen und schaffte es nach einiger Mühe endlich, den Dorn herauszuziehen. Erschöpft von den ganzen Strapazen und der Aufregung legte sie sich hin, um sich ein wenig auszuruhen. Sie fiel in einen kurzen, traumlosen Schlaf, bis sie plötzlich ein leises Stöhnen hörte. Sofort wachte sie auf und sah, wie der Junge, den sie vorhin gerettet hatte, langsam zu sich kam. Viola kroch zu ihm hin und nahm das Taschentuch von seiner Stirn. „Hey, geht es dir gut? Kannst du dich bewegen?“ Schnell griff sie nach der Wasserflasche und gab ihm etwas zu trinken. Dann tauchte sie wieder das Taschentuch ins Wasser und legte es ihm wieder auf die Stirn. Aber es war schon deutlich merkbar, dass er sich langsam erholte. Und als er wieder zu sich kam, setzte er sich langsam auf und sah sich um. Viola war so unendlich erleichtert und brach wieder in Tränen aus. Gott sei Dank, sie war nicht mehr ganz alleine und hilflos. Jetzt hatte sie endlich jemanden an ihrer Seite. Ihre Blicke trafen sich und sie sah, dass sein Auge ein wunderschönes strahlendes Blau hatte. „Hey, wie kommst du denn hierher und was machst du noch so spät hier? Das ist kein Ort für ein kleines Mädchen für dich.“

„Ich bin eingeschlafen und dann haben mich so fiese Monster verfolgt. Ich hatte solche Angst und dann… und dann habe ich dich gefunden.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. Der Junge streichelte ihr tröstend den Kopf. „Dann hast du mich also gerettet. Vielen Dank, Kleine. Ich weiß noch, dass ich in das Labyrinth ging, aber dann wurde es immer später und ich hab mich kurz ausgeruht. Dann haben mich diese Ranken gepackt und weggezerrt und dabei hab ich wohl das Bewusstsein verloren. Wie heißt du überhaupt?“

„Viola“, antwortete sie schluchzend und rieb sich die Tränen mit ihrem Jackenärmel weg. „Und wer bist du?“

„Tja, ich weiß es leider nicht“, sagte der Junge mit einem traurigen Lächeln. „Vor einiger Zeit hatte ich einen ganz bösen Unfall und mir dabei den Kopf verletzt. Dabei habe ich mein Gedächtnis verloren.“

„Dann weißt du also nicht mehr wie du heißt?“

„Nein, ich weiß auch sonst nicht, wer ich bin. Du kannst mich ruhig nennen, wie du willst.“

„Dann nenne ich dich Grey! Ich mag nämlich deine Haare.“ Der Junge war einverstanden und nahm dankend noch einen Schluck aus der Flasche. Auch wenn er aufgrund seines zerschlissenen Mantels einen etwas verlotterten Eindruck machte, schien er ganz in Ordnung zu sein. Er machte einen richtig sympathischen und liebenswerten Eindruck und Viola hatte das Gefühl, sie konnte ihm vertrauen. Grey erzählte, dass er lange unterwegs gewesen sei, um Hinweise auf seine Vergangenheit zu finden, damit er sich wieder erinnern konnte. Dabei war er zu dieser Kunstausstellung gegangen, weil er das Gefühl hatte, dass dort etwas sehr Wichtiges sein könnte. Und dann war er ins Rosenlabyrinth gelaufen. „Wie lange ist es schon her, dass du dein Gedächtnis verloren hast?“

„Schon eine ganze Zeit, aber ich weiß inzwischen selbst nicht mehr, wie lange schon. Irgendwann hab ich einfach das Gefühl für Zeit verloren.“

„Dann warst du doch sicher ganz einsam, oder?“

„Ja das war ich. Die Menschen scheinen mich gar nicht zu beachten und manchmal hatte ich Zweifel daran, ob ich eigentlich wirklich da bin. Aber du hast mich gefunden und mich vor dem sicheren Tod gerettet. Vielleicht… vielleicht war es ja Schicksal, dass wir uns getroffen haben, Viola.“ Er also auch, dachte sie, während sie sich langsam wieder beruhigte. Er ist genau wie ich. Mich bemerken die meisten Menschen auch nicht, als wäre ich gar nicht da. Und auch ich kann mich nur schwer an meine Vergangenheit erinnern. Vielleicht war es ja tatsächlich Schicksal. Sie war unendlich froh, dass sie jetzt einen Erwachsenen an ihrer Seite hatte und sie jetzt nicht mehr alleine war. Grey, der sich einigermaßen wieder erholt hatte, kam ein wenig wankend wieder auf die Beine und nahm Violas Hand. „Ich glaube es ist besser, wenn wir zusammen bleiben. Du musst sicher furchtbare Angst gehabt haben, so ganz alleine an diesem Ort. Aber sag mal, was hast du denn da am Bein? Hast du dich verletzt?“ Die Verletzung hatte sie ja fast vergessen. Die Schnittwunden hatten bereits aufgehört zu bluten, aber sie taten immer noch weh. Grey kramte in seinen Sachen herum und holte Verbandszeug heraus, das er für den Notfall immer bei sich hatte. „Was ist denn da eigentlich passiert?“

„So eine Ranke hat mich gepackt und an meinem Bein gezerrt. Ich hab sie mit einem Stein angegriffen und konnte mich so befreien. Aber die Dornen haben mich verletzt.“

„Wow, dann bist du ja ein richtig tapferes Kind. Halt mal still, das könnte jetzt wehtun.“ Mit einem Spray desinfizierte Grey die Wunde und wie bereits vorgewarnt brannte die Wunde höllisch, sodass Viola die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht zu schreien. Grey begann dann ihr Bein zu verbinden und nahm sie auf den Rücken, damit sie erst einmal ausruhen konnte. „Sag mal Viola, wieso bist du eigentlich hier?“

„Ich wollte die Ausstellung sehen.“

„Sind deine Eltern denn nicht mitgekommen?“

„Ich habe keine mehr. Sie sind tot und Verwandte habe ich keine.“

„Dann bist du auch ganz alleine?“

„Ja, aber ich hatte mal einen tollen Freund, der mir immer zur Seite gestanden hatte, wenn es mir nicht gut ging. Aber… dann ist er einfach verschwunden.“

„Wenn er einfach so abhaut und dich alleine lässt, ist das ein echt mieser Freund, wenn du mich fragst. Ein kleines Mädchen einfach so alleine lassen… unfassbar.“ Viola schwieg dazu, aber sie musste sich insgeheim doch eingestehen, dass Grey eigentlich Recht hatte. Sir Bunnyman hatte sie einfach alleine gelassen, aus welchem Grund auch immer und nun war sie an diesem unheimlichen Ort gefangen, wo von allen Seiten nur Gefahr drohte. Grey sprach schließlich die Frage aus, die sie sich selbst schon längst hätte stellen sollen: „Wenn das hier nicht das Labyrinth ist, in welches wir hineingegangen sind, wie sind wir dann hierher gekommen?“

„Vielleicht ist das hier alles nur ein Traum, aus dem wir aufwachen sollen.“

„Tja, dann müssen wir beide in genau dem gleichen Traum sein. Ich hab zwar schon mal von kollektivem Denken und Erinnern gehört, aber noch nie von kollektiven Träumen.“

„Was bedeutet das?“

„Kollektive Träume sind welche, die mehrere Personen zusammen träumen. Stell es dir so ähnlich vor wie diesen Inceptionfilm: Alle kabeln sich an ein Gerät an und betreten zusammen eine Traumwelt, so ungefähr funktionieren Kollektivträume. Während meiner Reisen habe ich mich mit diesem Thema sehr oft beschäftigt. Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte das Gefühl, es wäre sehr wichtig.“ Während Grey redete, ging er langsam weiter und hielt die Augen offen, um auf Gefahren vorbereitet zu sein. Zunächst schien ja alles ganz friedlich zu sein, ein wenig zu friedlich für Violas Geschmack. Schließlich erreichten sie eine Abzweigung und mussten sich für eine Seite entscheiden. Grey blieb kurz stehen, um zu überlegen, wohin er gehen sollte. „Genau das mag ich an einem Labyrinth nicht“, seufzte er und trat näher heran, da entdeckte er zwei Schilder, die in jeweils eine Richtung zeigten. Auf dem linken stand geschrieben „Weg der Lüge“ und auf der rechten „Weg der Wahrheit“. Das war das erste Mal, dass sie beide Schilder im Labyrinth sahen. Grey überlegte kurz, dann fragte er „Wo würdest du gerne hingehen, Viola?“ „Gehen wir nach rechts. Die Wahrheit ist immer gut!“

„Stimmt, da hast du Recht. Dann gehen wir also nach rechts.“ Kaum waren sie hindurch, bewegten sich die Ranken zu ihrer linken und rechten, verbanden sich zu einer riesigen Wand und versperrten den Weg zurück. Grey sah dies und wurde ein klein wenig nervös. „Na super, das Labyrinth kann seine Beschaffenheit ändern. Das kann ja noch heiter werden.“ Sie erreichten schließlich eine Abbiegung, an der ein weiteres Schild hing. Die Nachricht war alles andere als beruhigend:
 

„Niemand wird lebend entkommen.“
 

Als Viola das sah, erschrak sie und klammerte sich fester an Grey. „Was… was bedeutet das, dass niemand hier lebend rauskommt?“

„Ach, du brauchst keine Angst zu haben. Da will uns jemand gehörig erschrecken.“

„Aber da stand doch, dass es der Weg der Wahrheit ist. Also stimmt das doch, oder etwa nicht?“

„Nur weil es da stand, muss es noch lange nicht stimmen, Viola. Mach dir keine Gedanken! Ich verspreche dir, dass ich niemals zulassen werde, dass dir etwas passiert.“ Viola hatte aber trotzdem Angst und vergrub ihr Gesicht in seine Schulter. Da er merkte, dass diese Botschaft sie sehr verängstigte, setzte er sie vorsichtig ab und holte aus seiner Jackentasche ein Bonbon und gab es ihr. „Soll ich dir ein kleines Geheimnis anvertrauen? Ich habe bisher niemals ein Versprechen gebrochen. Siehst du das hier?“ Er schob seinen rechten Jackenärmel zurück und zeigte Viola ein rotes Seidenband, welches er am Handgelenk trug. „Was ist das?“ fragte sie, während sie sich das Bonbon in den Mund schob. „Das hier erinnert mich an etwas ganz Wichtiges. Bevor ich mein Gedächtnis verlor, habe ich jemandem versprochen, dass wir uns irgendwann wieder sehen werden und das rote Band hier soll uns daran erinnern.“

„Und wer ist das, dem du es versprochen hast?“

„Das weiß ich leider nicht mehr. Aber das Versprechen ist das Einzige, was mir geblieben ist und woran ich mich noch erinnere. Deshalb sind mir Versprechen sehr wichtig, weil ich mich immer an sie erinnern werde und deshalb kannst du dich darauf verlassen, dass ich meines dir gegenüber auch halte. Na komm, lass uns zusammen weitergehen.“ Da Violas Bein nicht mehr schmerzte, entschied sie sich dazu, alleine zu laufen, aber dennoch hielt sie Greys Hand fest. Es wurde stockdunkel, sodass sie die Taschenlampe gebrauchen mussten. Der Schein fiel auf eine Statue, die Viola zeigte, wie sie von einem Speer oder etwas ähnlichem durchbohrt wurde. Als Grey das sah, verdeckte er die Augen des Mädchens und sagte hastig „Sieh besser nicht hin, Viola.“ Doch sie befreite sich von ihm und sah es selbst. Sich selbst als Statue zu sehen, die brutal aufgespießt wurde, war zuviel für sie. Sie sank in die Knie und zitterte am ganzen Körper. Grey nahm sie tröstend in den Arm und versuchte, sie zu beruhigen. „Du musst keine Angst haben, Viola. Dass ist nur eine Statue, weiter nichts.“ Der Grauhaarige nahm sie auf den Arm und beschloss, so schnell wie möglich von diesem unheimlichen Ort wegzugehen. Das arme Mädchen war völlig verängstigt und allmählich fragte er sich, wer denn bitteschön so krank war und so etwas hier machte. Die nächste Statue, die ihnen in den Weg kam, war noch verstörender und unheimlicher. Sie zeigte einen mannsgroßen Hasen, der den Körperbau eines Menschen aufwies und einen Anzug trug. In seinen Händen hielt er einen Kopf, der Greys ziemlich ähnlich sah. Viola sah schon gar nicht mehr hin, sondern drückte ihr Gesicht in seine Schulter und klammerte sich an ihn fest. Auch Grey behagte dieser Anblick nicht, aber er konnte seinen Blick einfach nicht von dem Hasen abwenden. Viola hatte von einem Sir Bunnyman gesprochen. Ob er das wohl war? Das Einfachste wäre es wohl gewesen, Viola die Statue zu zeigen und sie zu fragen, aber er wollte sie nicht noch mehr verunsichern. Aber irgendwoher kam ihm dieses Wesen bekannt vor. Hatte er nicht mal von einem Fall gelesen, in dem ein kleines Mädchen aus einer Nervenheilanstalt ausgebrochen war und mehrere Pfleger getötet wurden? Einer der Patienten hatte ausgesagt, dass sie von einem mannsgroßen Hasen im Anzug begleitet wurde. Ja richtig, Viola hieß dieses Mädchen und sie hatte wochenlang in einem Haus voller Leichen gelebt, ohne es zu merken, weil sie als schwer schizophren eingestuft wurde. Als er sich mit dem Fall beschäftigt hatte, ereilte ihn das Gefühl, als wäre es ungeheuer wichtig, dass er das Mädchen fand. Deshalb war er zur Kunstausstellung gegangen. Aber warum nur war dieses gerade mal neun Jahre alte Mädchen so wichtig für ihn? Wenn er sich doch nur an seine Vergangenheit erinnern könnte. Vor ihnen tauchte ein alter Brunnen auf, der eine Seilwinde hatte. Um die Pfosten dieser Seilwinde hatten sich Dornenranken gewickelt wie Schlingpflanzen und wunderschöne weiße Rosen blühten. In der Flasche, die Viola dabei hatte, war nicht mehr viel. Es war wohl besser, wenn er sie wieder auffüllte. Vorsichtig setzte er das Mädchen ab und betätigte die Kurbel. Das kleine Mädchen sah abwechselnd ihn und die Rosen an, erinnerte sich schließlich an etwas ungeheuer Wichtiges und sagte schließlich „Vorhin bin ich an zwei Teichen vorbeigegangen. Da wo die weißen Rosen wuchsen, war das Wasser gut, aber ich glaube, bei den gelben war es giftig.“

„Gut zu wissen. Dann holen wir unser Wasser nur bei den weißen Rosen.“ Trotzdem probierte Grey das Wasser, nur um sicherzustellen, dass es tatsächlich nicht giftig war. Das Wasser war in Ordnung und so füllte er die Flasche wieder auf bis zum Rande. Da sie schon mal eine Pause machten, erkundigte er sich auch nach Violas Bein. „Es tut noch weh, aber es geht schon. Ich kann laufen!“

„Das ist schön zu hören. Aber tu mir einen Gefallen und warte hier kurz. Ich bin sofort wieder da. Ich will kurz etwas Bestimmtes nachschauen gehen.“

„Nein Grey, bitte lass mich nicht alleine, ich hab Angst.“

„Keine Angst, ich bleib in Hörweite. Wenn was ist, schrei einfach und ich bin sofort da.“ Damit sich Viola ein wenig sicherer fühlte, ließ er ihr die Taschenlampe da. Unruhig saß sie da und schaute sich um, jederzeit einen Angriff erwartend. Zwar hatte Grey versprochen, sofort zu kommen, wenn sie in Gefahr war, aber wie lange würde er brauchen und würde er sie in der Dunkelheit sofort finden? Sie hatte bereits die schlimmsten Bilder vor Augen, was in solch einer Situation alles andere als fördernd war. „Du solltest dich besser nicht auf ihn verlassen“, flüsterte plötzlich eine Stimme hinter ihr und als Viola sich umdrehte, sah sie plötzlich eine Art Zwilling von sich, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Der einzige Unterschied lag darin, dass weder das Haar noch die Augen des Zwillings glänzten und er auch gar keinen Schatten besaß. „Was willst du damit sagen?“ fragte Viola und wich einen Schritt zurück, wobei sie die Taschenlampe wie ein Messer zum Angriff hielt. Der Zwilling lächelte spöttisch. „Er will dich töten. Er tut nur so nett und hilfsbereit, dabei hat er schon seit langer Zeit vor, dich umzubringen. Du darfst ihm nicht trauen, Viola.“ „Warum sagst du mir das?“

„Weil ich immer die Wahrheit spreche. Grey hat dieses Labyrinth betreten, weil er vorhatte, dich zu töten.“

„Nein, du lügst! Grey würde so etwas nicht tun, NIEMALS!!!“ Viola wollte das nicht mehr hören und stürzte sich auf ihren Zwilling. Es entstand eine Rauferei, bei welcher Grey alarmiert herbeieilte, um ihr zu helfen, doch die plötzliche Hektik schien den ganzen Platz aufgeweckt zu haben. Die Statue eines zweiköpfigen Hundes mit Wolfskörper begann sich zu bewegen und machte sich bereit, ihn anzugreifen. Viola sah dies und rief „Grey, pass auf!!!“ Aber er sah nicht, was da von links auf ihn zukam und so stürzte sich der Wolfshund auf ihn und riss ihn zu Boden. Das Tier biss ihn in den Arm, doch Grey gelang es glücklicherweise, einen Stein aufzuheben und damit den einen Kopf der Statue zu zertrümmern und dem anderen die Schnauze mit einem Tritt zu zertrümmern. Laut winselnd flüchtete das Monster in die Dunkelheit und ließ sich nicht mehr blicken. Sofort berappelte er sich und lief zu Viola. Aber da sie bei dem Durcheinander genau gleich aussahen, wusste er zuerst nicht, wem er helfen sollte. Erst als ihm die Sache mit dem Schatten auffiel, griff er ins Gemenge, zerrte die echte Viola heraus und stieß die andere in den Brunnen. Laut schreiend stürzte sie in die Tiefe und dann war nur noch ein lautes Platschen zu hören. „Meine Güte“, murmelte er und steckte das blutige Messer wieder ein. „Hier ist man ja nicht eine Sekunde lang sicher.“

„Warum hast du den zweiköpfigen Hund nicht gesehen? Ich hab doch ganz laut gerufen. Ich hatte einen richtigen Schreck gekriegt, als er dich erwischt hat! Und dein Arm blutet auch!“ rief Viola und boxte vor lauter Aufregung auf ihren großen Begleiter ein, dann klammerte sie sich schluchzend an ihn. Grey streichelte ihr sanft den Kopf und entschuldigte sich, dass er ihr solch einen Schrecken eingejagt hatte. „Tut mir Leid Viola, aber ich konnte das Tier nicht sehen. Ich hab vergessen, es dir zu sagen, aber ich kann leider nur mit einem Auge sehen.“ Um zu zeigen, was er meinte, schob er sein Haar ein wenig zur Seite und öffnete das linke Auge, welches er verborgen gehalten hatte. Als er das Lid öffnete, fand Viola eine Art Glasauge vor, welches zwar sehr natürlich aussah, sie aber dennoch anwiderte, als es so ziellos umherglotzte. „Ich hatte es schon verloren, bevor meine Amnesie eintrat. Vermutlich ist es bei meinem Unfall passiert. Zwar hab ich mir ein Glasauge einsetzen lassen, aber es sieht trotzdem schrecklich aus. Verstehst du jetzt? Ich kann auf der linken Seite gar nichts sehen. Ich habe es nur nicht gesagt, weil ich dir keine Angst machen wollte.“ Ein klein wenig beschämt senkte Viola den Blick und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg. „Tut mir Leid…“

„Ist schon in Ordnung. Am besten ist, wir bleiben jetzt besser zusammen, bevor wieder so etwas passiert.“ Doch Viola ließ ihn nicht so einfach gehen. Er hatte eine Bisswunde am Arm und die musste zuerst versorgt werden. Dieses Mal übernahm sie das Verarzten, wobei sie sich gar nicht mal so ungeschickt anstellte. „Tut es sehr weh?“ fragte sie, während sie den Arm mit dem Verband einwickelte. Grey lächelte herzlich. „Ach was, das ist halb so wild. Aber sag mal, wie sieht denn eigentlich dein Freund Sir Bunnyman aus?“

„Er ist ein ganz großer Hase, der wie ein Mensch läuft. Er trägt einen Anzug, Schuhe und er ist sehr vornehm.“ Die Beschreibung passte genau auf die Statue, die er vorhin gesehen hatte aber auch auf die des Zeugen, der Violas Flucht aus der Nervenheilanstalt beobachtet hatte. Irgendetwas war seltsam an der Sache. Die Polizei hatte dem Augenzeugen keinen Glauben geschenkt, weil er geistig verwirrt war, aber dass es hier im Labyrinth eine Statue von ihm gab, machte Grey misstrauisch. Zwar bezweifelte er, dass Viola in irgendeiner bösen Absicht in dieser ganzen Sache mit drin steckte, aber für ihn stand fest, dass sie etwas mit all dem zu tun hatte. Dieses Labyrinth schien in irgendeiner Weise mit diesem kleinen Mädchen in Verbindung zu stehen. Ach, wenn er sich doch nur erinnern könnte, warum er Viola gesucht hatte. Vielleicht war sie ja gar nicht die Gesuchte, sondern dieser seltsame Hase, der aussah, als wäre er direkt dem Wunderland entsprungen. Wunderland… dieses Wort weckte etwas in seinem Unterbewusstsein. Seine Erinnerungen, die er verzweifelt zurückzuerlangen versuchte, schienen sich nach langer Zeit endlich zu regen. Vielleicht kehrten sie bald endlich wieder zurück und er würde wissen, wer er denn nun war. Ein plötzliches Magenknurren riss ihn aus seinen Gedanken und erst jetzt merkte er, dass er Hunger hatte. Auch Viola wurde von einem leichten Unwohlsein ergriffen und in dieser verrückten Lage mussten sie einfach lachen. Unglaublich, dass man an solch einem Ort Hunger bekam. Zum Glück hatte Viola zwei belegte Brote dabei und gab Grey eines davon. Sie aßen aber nicht viel, weil sie sich ihren Proviant gut einteilen wollten. Schließlich machten sie sich wieder auf den Weg und erreichten eine neue Weggabelung, nur fanden sie dort dieses Mal neben dem Schild zwei hässliche lebensgroße Puppen, die aus menschlichen Körperteilen zusammengenäht waren. Sie hockten auf zwei Sockeln und schienen ungefährlich zu sein. Über ihnen hing ein Schild mit folgender Botschaft.
 

„Dies ist der Weg der Prüfung. Ihr habt die Wahl zwischen links oder rechts. Ein Weg davon führt in den Tod! Diese Puppen kennen den richtigen Weg, jedoch sagt nur eine von ihnen die Wahrheit, die andere lügt. Ihr dürft nur eine Frage an sie stellen, dann müsst ihr euch entscheiden.“
 

Viola las sich das alles mehrmals durch und glaubte, so etwas schon mal irgendwo gesehen oder zumindest davon schon gehört zu haben. Ja, sie hatte dieses Rätsel irgendwo aufgeschnappt, war aber nie auf die Lösung gekommen. Nur eine Frage durfte sie stellen? Das war ja eine unlösbare Aufgabe. Sie könnte ja fragen, welche Puppe denn die Wahrheit sagte, aber da würde sie auch auf keinen grünen Zweig kommen. Dann würde jede der Puppen antworten, dass sie die Wahrheit sagte. Und genau das Gleiche würde passieren, wenn sie fragte, welcher Weg nach draußen führte. Jede würde eine andere Richtung nennen. „Das ist doch unmöglich zu schaffen“, sagte sie schließlich zu Grey und sah ihn mit ihren großen Augen an. „Wie sollen wir denn herausfinden, welcher Weg denn der Richtige ist?“

„Das finden wir heraus, indem wir den falschen Weg finden“, erklärte er und ging zu den Puppen hin. Sie hatten ein groteskes Grinsen im Gesicht und waren von schwarzen Nähten entstellt, was ihnen etwas Surreales und Bizarres verlieh. Mit stechend gelben und blutunterlaufenen Augen, die selbst den tapfersten Mann entmutigt hätten, starrten sie ihn an und kicherten leise. Grey räusperte sich und stellte dann seine Frage an die rechte Puppe. „Welchen Weg würde mir die andere Puppe zeigen, wenn ich sie fragte, wo der richtige Weg ist?“ „Rechts!“ gab die Puppe mit einem unheimlichen Krächzen von sich und brach in ein krankes Gelächter aus, in welches die andere Puppe auch einstimmte. Unbeeindruckt drehte er sich zu Viola um und lächelte zufrieden. „Ich weiß jetzt, wo es langgeht. Wir müssen nach links.“ „Aber die Puppe hat doch gesagt, nach rechts.“

„Ich weiß, aber wir müssen die entgegengesetzte Richtung.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Die Puppe, die die Wahrheit sagt, weiß, dass die Lügenpuppe mich in die falsche Richtung weisen würde und nennt deshalb den falschen Weg. Die Lügenpuppe weiß, dass die ehrliche Puppe den richtigen Weg nennen würde und nennt darum den falschen Weg, um zu lügen. Beide nennen also den falschen Weg! Natürlich könnte man die Frage auch anders herum stellen, aber das hab ich noch nie ausprobiert. Ich kenne nur diese Variante.“ Grey nahm Violas Hand und ging mit ihr nach links. Die beiden Puppen lachten immer noch und schauten sich breit grinsend an. „Der arme Trottel“, sagte die eine. „Er weiß nicht, dass der eine Weg ins Verderben für beide und der andere Weg ins Verderben für nur einen von ihnen führt.“

„Ich weiß. Und genau das ist es ja, was so lustig ist.“

„Das wird ein Spaß werden!!!“

Das schrille Gelächter der beiden Puppen hörten Viola und Grey, selbst nachdem der Weg hinter ihnen versperrt wurde. Doch Viola war zu sehr in Gedanken versunken, als dass sie dies ängstigen könnte. Nein, die beschäftigte sich dafür viel zu sehr mit dem seltsamen Labyrinth. Diese Wegentscheidungen, die Wasserquellen mit den Rosen und die beiden Puppen. Das alles wirkte auf sie, als sei dies eine Art Spiel oder ein Märchen. Als sei sie tatsächlich im Wunderland von Alice. Was war das hier nur für ein seltsamer Ort? Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie gar nicht merkte, dass sich Grey immer weiter von ihr entfernte. Plötzlich, es geschah völlig aus heiterem Himmel, da begann die Erde leicht zu beben und ein riesiger Dornenbusch schoss aus der Erde und versperrte Viola den Weg. „Grey! Der Weg ist versperrt!“ Schnell eilte er zum Dornenbusch und versuchte, an den Ranken zu ziehen, aber sie waren hart wie Stahl und auch das Messer konnte nichts ausrichten. „So ein Mist, das war eine Falle. Viola, du wartest hier und ich versuche, einen Weg zu dir zu finden!“ „Aber was ist, wenn ein Monster kommt?“ Grey griff in seine Tasche und schaffte es mit einiger Mühe, seine Hand durch eine kleine Lücke in der Dornenhecke zu schieben und ihr sein Taschenmesser zu reichen. „Das ist leider das Einzige, was ich dir geben kann. Pass auf dich auf!“

„Pass du auch gut auf dich auf, Grey.“ Durch die Dornenhecke sah Viola, wie ihr neuer Freund im Labyrinth verschwand und sogleich verließ sie der Mut. Was, wenn Grey keinen Weg fand, der zu ihr führte? Was, wenn er sich verlief und sie hier sterben würde? Mit Sicherheit würde er systematisch Wege gehen, die so ungefähr in ihre Richtung führten, vielleicht sollte sie ihm doch besser entgegenkommen. Viola hielt das Taschenmesser fest in der Hand und machte sich sogleich selbst auf den Weg, um Grey zu suchen. Dabei dachte sie natürlich nicht an die Gefahren, die auf sie lauern könnten, denn sie war ja nur ein Kind und dachte nicht über Dinge nach, die Konsequenzen haben könnten. In dem festen Glauben, dass sie ihren großen Freund bald wieder sehen würde, eilte sie nach links, wo es für sie weiterging. Sie ging nicht lange, da hörte sie schon Schritte und die stammten eindeutig von festem Schuhwerk, was darauf schließen ließ, dass es sich nicht um ein Monster, oder eine dieser Horrorpuppen handelte. Das ging ja schnell. „Grey?“ rief sie und rannte schneller. „Grey, ich bin hier!!!“ Doch es kam keine Antwort und die Schritte wurden auch nicht schneller. Es waren langsame Schritte und sie klangen nicht sehr vertrauenserweckend. „Grey? Bist du das?“ Viola blieb kurz stehen und sah auch schon einen Schatten an der Hecke, die um die Ecke führte. Es war ein großer Schatten und er sah menschlich aus. Trotzdem bekam sie ein ungutes Gefühl bei der Sache. „Grey? Lass den Unsinn, du machst mir Angst.“ Doch wieder kam keine Antwort. Die Schritte kamen langsam näher und dann hörte Viola einen leisen Gesang.
 

„Mary, Mary quite contrary

how does your garden grow?

with silver bells and cockle shells

and pretty maids all in a row...
 

Als Viola dies hörte und erkannte, dass dies gar nicht Greys Stimme war, sondern die eines Mädchens, da wurde es ihr auf erschreckende Weise klar: Es befand sich noch jemand im Labyrinth. Viola war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Vorsichtig lugte sie hinter der Hecke hervor und sah ein Mädchen von vielleicht 18 oder 19 Jahren. Sie hatte rotbraun schimmerndes Haar und trug ein schulterfreies Shirt. Außerdem war sie sehr hübsch und hatte ein ebenso wunderschönes Lächeln. Sie sah einfach nicht böse aus und so kam Viola aus ihrem Versteck hervor, woraufhin das Mädchen erstaunt stehen blieb. „Entschuldigung, hast du dich hier auch verlaufen?“ Sie schien ein wenig verwirrt zu sein über Violas Anblick, aber dann lächelte sie und sagte „Ja leider. Ich bin ins Labyrinth gegangen, weil ich jemanden gesucht habe. Aber dann wurde das alles hier immer seltsamer. Sag mal, was macht denn ein kleines Mädchen wie du denn hier?“

„Ich bin eingeschlafen und dann hier aufgewacht. Bin ich froh, dass ich nicht mehr ganz so alleine bin. Ich hatte solche Angst!“ Viola fiel dem Mädchen in die Arme und hätte fast wieder geweint. Das Mädchen streichelte ihr zärtlich den Kopf und sagte „Na, na. Kein Grund zum Weinen. Sag mal Süße, wie heißt du denn?“

„Viola, Viola Smith.“

„Schön dich kennenzulernen Viola“, sagte das Mädchen und legte ihren Arm um sie, während sie ihre andere Hand hinterm Rücken verborgen hielt, in welcher sie ein Messer bereithielt. Und da Viola ihr Gesicht in das Shirt der Teenagerin vergraben hatte, sah sie nicht das eiskalte und manische Grinsen auf ihren Lippen. „Mein Name ist übrigens Mary Lane.“

Vincent: Die Befreiung

Es war alles abgedunkelt worden und Vincent hatte dafür gesorgt, dass Anthony es behaglich hatte. Nun gut, in solch einer Zelle konnte man nicht viel machen, aber es kam nicht sehr oft vor, dass sein bester Freund eine günstige Gelegenheit fand, um ihn zu besuchen. Und Anthonys Besuch war ungeheuer wichtig für Vincent und er war voller Gedanken und Sorgen über die Zukunft. Ungeduldig lief er auf und ab in der abgedunkelten Zelle und wartete nervös auf die Ankunft seines Gastes. Die Tür der Zelle wurde schließlich aufgeschlossen und ein fürchterlich magerer Junge von vielleicht fünfzehn Jahren trat herein und wies die Soldaten an, draußen zu bleiben. Er wolle sich alleine um den Gefangenen kümmern. Er wartete, bis die Tür geschlossen war und sich die Soldaten weit genug entfernt hatten, dann setzte er sich zu Vincent auf den Boden und holte unter seiner Jacke ein Stück Brot hervor, das er ihm reichte. Dieser nahm es nur unter der Bedingung an, dass sie es sich teilen sollten, sonst würde Anthony nur noch aus Knochen bestehen. Der Gast lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht seine Augen, die allzu besorgt und betrübt aussahen. Anthony zählte knapp 16 Jahre und Vincent inzwischen 19 Jahre, was ihm zum ältesten Versuchsobjekt der Anstalt machte. Anthonys Haut war fast völlig weiß und von blauen Adern überzogen, was ihn sehr kränklich aussehen ließ. Diese kränkliche Blässe rührte daher, dass er sehr empfindlich auf das Tageslicht reagierte und es vorzugsweise vermied, sich dort aufzuhalten. Insbesondere schmerzten ihm die Augen davon und oft zog er sich schmerzhafte Rötungen und Ausschläge zu. „Nun Vince, wie geht es dir hier in diesem Rattenloch?“

„Sehr bescheiden, aber ich komme schon durch. Sag schon, wie geht es den anderen?“

„Gerda ist gestern an einer Hirnoperation verstorben und Marie haben sie in die Hungerzelle gesperrt, weil sie die Soldaten angegriffen hat. Sie verhält sich in der letzten Zeit immer aggressiver und ich habe alle Mühe, sie unter Kontrolle zu halten, insbesondere weil sie mich für einen Verräter hält. Wenn da nicht diese… Sache… mit dem Doktor wäre, dann hätten sie Marie schon längst in die Gaskammer gebracht.“ Vincent senkte betrübt den Blick, als er das hörte, aber gleichzeitig war er seinem guten Freund unendlich dankbar für die Bürde, die er da eigentlich auf sich nahm. Ohne ihn wäre schon so einiges verloren und ihr Plan, der die Flucht und die Ermordung von Dr. Helmstedter beinhaltete, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. „Ich werde versuchen, mit ihr zu reden, wenn sie es zulässt. Ich weiß sehr zu schätzen, was du für uns tust, mein lieber Freund.“

„Ach was, es ist allerhöchste Zeit, dass diesem Bastard endlich das Handwerk gelegt wird. Nur wegen ihm muss ich meine Herkunft verschweigen und den Mädchennamen meiner verstorbenen Mutter annehmen, nur weil er da ist. Aber man sucht sich seine Familie ja leider nicht aus. Außerdem finde ich, dass Anthony Winter viel besser klingt als Anton Friedrich Helmstedter. Ich bin dir ja schon dankbar, dass du dieses Geheimnis für dich behältst!“

„Ich halte meine Versprechen, das weißt du auch. Und du kannst ja nichts dafür, dass du solch einen Bruder haben musst.“

„Er hätte schon längst die Todesstrafe kriegen sollen, wenn du mich fragst. Aber diese verdammten Amerikaner mussten ja unbedingt seine Forschungsunterlagen finden und sich mit dem Dream Weaver Projekt beschäftigen. Hätte ich die Unterlagen schon früher gefunden, dann hätte ich sie schon längst vernichtet.“

„Mach dir keine Vorwürfe, Anthony. Was geschehen ist, das ist geschehen und jetzt müssen wir überlegen, wie wir nun vorgehen wollen. Fehler dürfen wir uns auf keinen Fall erlauben, wir setzen immerhin unser Leben und das der anderen aufs Spiel.“ Der magere 16-jährige nickte ernst und lehnte seinen Rücken gegen die Wand. Seine Augen brannten noch von dem unangenehmen Licht der Lampen auf dem Gang und ihm war heiß wie an einem Hochsommertag. Aber hier in der Dunkelheit, spürte er, wie dieser leicht brennende unangenehme Schmerz wich. Sein dunkles Zimmer zu verlassen, geschweige denn nach draußen zu gehen, war ihm jedes Mal eine Qual, die er nach bester Möglichkeit zu vermeiden versuchte. Manchmal war die Folge, dass er am ganzen Körper einen fürchterlich schmerzhaften Ausschlag bekam, oder dass seine Haut rot wurde wie ein gekochter Hummer. Vincent kannte die Krankheit, an der sein Freund litt und er hatte großes Mitgefühl für ihn, dass dieser so hart gestraft war mit diesem Leiden. Sie unterhielten sich über die letzten Tage und was in der Zwischenzeit geschehen war. Anthony erzählte von der angespannten politischen Situation in Berlin, welches nun geteilt war und Streitpunkt der beiden Großmächte war. „Die Situation in Deutschland ist nach wie vor sehr angespannt, doch im Westen scheint es langsam wieder besser zu gehen. Zumindest gibt es wieder genug zu essen und die Menschen sind zufrieden.“

„Sie werden bloß geködert und als Spielball benutzt“, entgegnete Vincent verächtlich und schüttelte den Kopf. „Und was bedeutet das für uns? Rein gar nichts. Egal ob die Sowjets herumstänkern oder nicht, wir werden hier drin krepieren, wenn wir nichts unternehmen. Die Welt selbst hat uns schon längst vergessen. Wir sind doch nur ein Haufen Waisen, deren Familien alles Nazis waren. So denken doch alle über uns. Und egal ob wir Gefangene der Amis oder der Sowjets sind, steht unser Todesurteil doch bereits fest.“

„Da magst du Recht haben, aber inzwischen interessieren sich alle nur noch dafür, dass sich die Amis und Sowjets bekriegen. Du wirst sehen, schon jetzt interessiert sich keiner mehr für die Nazis. Sonst hätte mein ältester Halbbruder schon längst die Todesstrafe gekriegt. Aber so sind sie alle… Es wurden unzählige KZ-Ärzte und Nazigeneräle freigesprochen, nur weil man ihre Fähigkeiten und ihr Wissen gebrauchen konnte. Also gut, wollen wir dann?“

Vincent nickte und begann mit einem Stück Kohle, das er heimlich gestohlen hatte, auf dem Boden zu schreiben. „Ich hab es mir folgendermaßen gedacht: Du bleibst in Bereitschaft und wartest das vereinbarte Signal ab. Wenn es soweit ist, schaltest du das Sicherheitssystem aus, dann wird Mary die Wachen lahm legen und ich werde die anderen befreien. Du stößt dann zu uns und führst die anderen durch die Fluchttunnel hinaus. Ich werde Dr. Helmstedter ausschalten und die Erinnerungen der Forscher und Soldaten manipulieren, damit sie denken, sie hätten alle erschossen und ich wäre der einzige Überlebende, wenn ich mich aus dem Staub mache. Vor dem Institut stehen oft irgendwelche Militärfahrzeuge, die meist unbewacht stehen. Du müsstest den Wagen kurzschließen und dann abhauen, falls ich es nicht rechtzeitig schaffen sollte.“ Der Plan klang bis dahin gut, aber Anthony hatte seine Zweifel. Er vertraute Vincent und seinen Fähigkeiten, aber Mary bereitete ihm Kopfzerbrechen. „Ich weiß nicht, ob wir uns tatsächlich auf Mary verlassen sollten. Sie ist zwar die Stärkste von uns allen, aber sie ist gefährlich, extrem gefährlich. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber sie könnte zum Problem werden.“

„Nein Anthony, wir brauchen sie, sonst funktioniert das nicht und ich will sie nicht im Stich lassen. Vertrau mir, es wird schon alles gut gehen. Aber trotzdem hast du Recht… Marie ist gefährlich…“ Vincent senkte den Blick und fuhr sich durchs Haar. „Wenn ich bei ihr bin, ist ihr psychischer Zustand einigermaßen stabil, doch ich mache mir Sorgen, was passiert, wenn ich es nicht schaffen sollte. Und ich kann nicht auch noch von dir verlangen, dass du den Rest deines Lebens sie aufpasst, wenn ich nicht mehr da bin. Marie hasst dich sowieso abgrundtief.“

„Keine Sorge Vince, ich lass mir schon etwas einfallen, wenn sie wirklich durchdrehen sollte. Versprich mir nur, dass du auf dich aufpasst und am Leben bleibst.“

„Das letzte kann ich dir leider nicht versprechen. Ehrlich gesagt glaube ich kaum, dass ich die ganze Sache überleben werde. Aber das ist schon okay, solange ihr es schafft… Trotzdem habe ich ein klein wenig Angst.“ Vincent lachte müde und schloss die Augen, während er nachdachte. Anthony betrachtete ihn eine Weile besorgt und stellte dann zögernd die entscheidende Frage: „Was genau hast du eigentlich vor? Wieso bist du hinter dem Dream Weaver her?“ „Ich will uns ein Zuhause schaffen, Anthony. Wenn sich nicht bald etwas tut, wird diese Welt in einen neuen Krieg gestürzt und es wird nur noch mehr Leid und Zerstörung geben und wir werden nicht überleben. Wenn ich den Dream Weaver unter meine Kontrolle bringen kann, dann könnte ich eine Welt erschaffen, in welcher wir sicher sind. Vielleicht kann ich dann auch Marie von ihrem Wahnsinn heilen und eine Möglichkeit finden, etwas gegen deine Krankheit zu finden.“

„Das sind doch bloß Wunschträume und Fantasie, Vincent! Was du vorhast, ist Schwachsinn.“

„Kennst du nicht die Geschichte von Alice im Wunderland? Wir erschaffen uns unsere eigene Welt, in der wir nicht betrogen, getötet und eingesperrt werden. Und wir können entscheiden, wer sie betritt und wer nicht.“

„Dann könntest du doch genauso gut diese Welt verändern.“ Doch Vincent schüttelte den Kopf und erklärte, dass er das niemals tun würde. Er könnte nicht abschätzen, welch schwer wiegende Konsequenzen das hätte, besonders weil es gefährlich war, Traum und Realität durcheinander zu werfen und alles auf den Kopf zu stellen. Es könnte vielleicht noch schlimmere Auswirkungen auf die Menschen haben, als ein Krieg und das wollte er nicht verantworten. Seine größte Angst bestand aber darin, dass bei der Vermischung von Realität und Traum alles verschwinden und zu Nichts werden würde. „Natürlich wäre es ein tolles Gefühl, Gott zu sein, aber ich habe Angst, dass ich vielleicht Marie und die anderen in Gefahr bringen könnte. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn ihnen etwas passieren würde.“

„Du bist echt viel zu gutherzig und das ist dein Problem. Ich an deiner Stelle hätte da weniger Skrupel, diese Menschen allesamt zu töten. Hättest du dich dazu überwinden können, schon viel früher eine Revolte zu starten, müsstest du nicht dein Leben riskieren und darüber nachdenken, was nach deinem Tod passieren soll.“

„Ja aber bei einer planlosen Revolte würden alle auf der Stelle vergast oder erschossen werden und damit wäre uns auch nicht geholfen. Ich habe auch keine Lust, mich mit dir darüber zu streiten. Wenn dir mein Plan nicht gefällt, dann kannst du gerne aussteigen. Ich zwinge dich zu nichts.“

„Verdammter Dreckskerl…“, gab Anthony scherzhaft zurück und gab ihm einen freundschaftlichen Knuff in den Oberarm. Die angespannte Stimmung löste sich merklich und die beiden lachten zusammen. „Wenn ich jetzt kneifen würde, könnte ich euch doch nicht mehr in die Augen sehen. Wo ich doch extra meinen Stolz runtergeschluckt habe, um mit meinem Halbbruder zusammenzuarbeiten. Die meisten hassen mich jetzt sowieso dafür, aber so komme ich wenigstens an die Informationen, die du brauchst. Was deinen Plan betrifft, bin ich ehrlich gesagt skeptisch, aber ich helfe dir, weil du mein Freund bist und ich dir vertraue.“ Anthony klopfte Vincent auf die Schulter und reichte ihm ein Taschenmesser. „Das ist für den Notfall, falls etwas schief geht. Und versprich mir, dass du es auch benutzen wirst, wenn es darauf ankommt.“

„Na klar, keine Sorge. Aber tust du mir einen Gefallen? Wenn ich es nicht schaffen sollte, dann kümmere dich bitte um die anderen. Die meisten von ihnen sind gerade mal acht bis neun Jahre alt und würden es nicht überleben.“ Hier aber zeigte sich Anthony nicht gerade begeistert und er wich Vincents Blick aus. Sich um die anderen zu kümmern und mit ihnen zu fliehen war kein Problem. Doch eine ganz bestimmte Person bereitete ihm Kopfzerbrechen: Marie Lena alias Mary Lane. Er erinnerte sich noch gut an das Treffen mit ihr vor zwei Wochen, als er ihr heimlich etwas zu essen gebracht hatte, damit sie nicht verhungerte. Sie hatte ihn mit einem wahnsinnigen Grinsen angestarrt und gesagt „Warte nur, bis ich draußen bin, dann mach ich dich kalt!“ Aber im Grunde war sie nicht Schuld daran, dass sie so war. Vincent wusste, was ihrer Familie passiert war und was für eine unsagbare Ungerechtigkeit ihr widerfahren war. Sie hatte ihre Freunde und ihre Familie im Konzentrationslager sterben sehen und die riesigen Leichenberge, die in die Massengräber oder in die Brennöfen geworfen worden waren. Ihre einzige Hoffnung war, dass mit der Niederlage Deutschlands endlich die Freiheit kam, doch das ihr versprochene Glück war nur eine Lüge. Kein Wunder, dass sie in dieser Hölle den Verstand verlor. Anthony hatte nichts Persönliches gegen das Mädchen, aber es widerstrebte ihm ganz einfach, dass er eventuell alleine mit ihr war. Vincent war immerhin der Einzige, der sie unter Kontrolle halten konnte, weil die beiden so ein enges Verhältnis zueinander hatten. Wer weiß, was Mary alles anrichten würde, wenn Vincent nicht mehr da sein sollte. Für diesen Fall musste er sich etwas überlegen. „Ich würde mich gerne um die anderen kümmern, aber was mache ich, wenn Mary durchdreht? Du kennst sie genauso gut wie ich. Und sie ist zu stark, als dass ich ihr Gedächtnis löschen könnte. Konstrukteure können sich leider nicht gegenseitig beeinflussen.“

„Tja, dann musst du tun, was du in solch einer Gefahrensituation tun musst, wobei ich aber inständig hoffe, dass Mary sich ruhig verhält. Ich werde noch mal mit ihr reden. Auf mich hört sie wenigstens.“

„Das hoffe ich, denn ich habe keine Lust, mich von ihr umbringen oder zum seelischen Krüppel machen zu lassen. Und keine Sorge, ich tue es auch nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.“ Damit verabschiedete sich Anthony von seinem Freund und verließ die fast völlig finstere Zelle, um mit äußersten Widerwillen ins Licht der Lampen auf dem Gang zu treten. Er versuchte, seine fast schneeweiße Haut so gut es ging zu verdecken und senkte den Blick, damit seine Augen nicht wehtaten. Trotz dieser Vorkehrung spürte er den unangenehmen Schmerz auf seiner Haut, der sich anfühlte wie ein frischer Sonnenbrand. Er wollte nur noch so schnell wie möglich raus aus dem Licht. Schnell eilte er zum Sicherheitstor, welches in die obere Etage führte, zeigte seinen Ausweis und wurde durchgelassen. Als er endlich den Gang erreichte, wo er sein Quartier bezog, beschleunigte er seine Schritte, ja er rannte beinahe, riss die Tür auf und flüchtete sich in die rettende Dunkelheit. Lediglich ein paar Kerzen brannten. Müde und erschöpft legte sich Anthony auf sein Bett und kühlte seine Augenlider mit seiner Hand. Wie sehr wünschte er sich, dass alles schon längst vorbei wäre, dass er sich nicht mehr diesen Strapazen und den Sorgen aussetzen musste. Aber es würde nicht mehr lange dauern….
 

Es geschah zwei Tage später, als es zu einem Zwischenfall kam. Dr. Helmstedter, der von den Versuchsreihen äußerst enttäuscht war, weil sich nicht die gewünschten Ergebnisse und Erfolge einstellten, veranlasste eine Säuberung. Die Versuchsobjekte, die seine Anforderungen nicht erfüllten, sollten in die Giftgaskammer gebracht werden. Kaum erfuhr Anthony davon, alarmierte er Vincent und das war der Startschuss für ihre Flucht. Während Anthony das Notfallsystem deaktivierte, wodurch sich die Zellentüren öffneten, nahm sich Mary Lane mit großer Genugtuung ihre Peiniger vor. Während sie die Soldaten außer Gefecht setzte, eilte Vincent zu den Zelltüren, um die Kinder rauszuholen. Doch leider wirkte diese Ruhe nicht lange, denn Mary verlor kurz die Kontrolle und so wurden die Soldaten aus ihrem Griff bereit und eröffneten das Feuer. Es kam zu einem fürchterlichen Blutbad und während viele der Flüchtlinge verzweifelt versuchten, ihre Kräfte einzusetzen um sich somit psychisch gegen ihre Peiniger zu verteidigen, war Vincent bemüht, so viele von ihnen wie nur möglich von hier wegzubringen. Aber da er sich in diesem Labyrinth nicht auskannte, wusste er nicht, wohin er gehen sollte. Zum Glück kam Anthony, um die Führung über die kleine Gruppe zu übernehmen. „Helmstedter befindet sich in der oberen Etage. Ich bringe die anderen durch den Fluchttunnel raus.“

„Nein Vincent, du darfst nicht gehen!“ rief Mary und hielt ihn am Arm fest. „Ich will nicht, dass du gehst! Bitte bleib bei mir!“

„Mary, du musst mir vertrauen und mit Anthony gehen. Wenn du immer schön brav bleibst, dann komme ich auch ganz sicher wieder. Pass gut auf dich und die anderen auf!“ Doch Mary brach in Tränen aus, versuchte Vincent aufzuhalten, doch Anthony hielt sie fest und versuchte das kleine Mädchen zu beruhigen, doch sie wehrte sich mit Händen und Füßen und schrie immer wieder Vincents Namen. Anthony zerrte Mary hinter sich her, während die anderen Kinder ihm freiwillig folgten und schließlich gelang es ihnen, den Tunnel zu erreichen und im Schutze der Dunkelheit zu fliehen. Es waren fast fünfzehn Minuten vergangen und Anthony begann bereits nach seinem besten Freund Ausschau zu halten. Tatsächlich sah er ihn, blutverschmiert und völlig außer Atem. Er hielt das Messer in der Hand, welches Anthony ihm gegeben hatte und schleppte sich nur noch mit Mühe vorwärts. Anthony, der in ein Militärfahrzeug gestiegen und die Zündung kurzgeschlossen hatte, beobachtete ihn aus der Ferne und wartete, dass er herkam. Doch Vincent schaffte es nicht. Ein Schuss, der ihn in den Rücken traf, warf ihn zu Boden und die Soldaten ergriffen ihn sogleich. Wenn Anthony nicht diese vielen Kinder im Laderaum versteckt hätte, würde er sofort aussteigen und seinem Freund zur Hilfe eilen, aber er hatte keine Wahl, er musste ihn zurücklassen. Das war es, was sein älterer Freund sowieso beabsichtigt hatte. Für ihn stand von vornherein fest, dass er zurückbleiben würde. Nur so konnte er das Gedächtnis der Forscher und Soldaten verändern und sie glauben lassen, es wären alle bei der Schießerei getötet worden und er sei der letzte Überlebende. Er hörte einige der Kinder weinen, zwei von ihnen waren schwer verletzt worden. Von den anfangs 15 Kindern, die er und Vincent zu retten versucht hatten, waren nur noch sechs übrig. Und sie alle waren schrecklich verängstigt und verstört. Anthony versuchte, einen ruhigen Kopf zu bewahren, denn er fuhr zum ersten Mal einen Militärwagen, aber diese Szene, in der Vincent von einer Kugel getroffen zu Boden fiel und weggebracht wurde, übermannte ihn. Er legte traurig seine Stirn aufs Lenkrad und kämpfte mit den Tränen. „Vincent… es tut mir leid…“ Und während er diese leisen Worte sprach, betete er, dass sein bester Freund es schaffen würde. Dass er genug Glück haben würde, am Leben zu bleiben. Wenigstens hatten sie beide es geschafft, sechs Kinder zu retten. Eine erschreckend geringe Zahl, wo es ganz zu Anfang noch dreißig Kinder und danach nur noch die Hälfte waren, aber zumindest hatten es überhaupt welche geschafft. Und allein das zählte.

Grey: Der Alptraum

Grey war alles andere als wohl bei dem Gedanken gewesen, Viola so ganz alleine zurückzulassen, aber was sollte er denn sonst tun? Er konnte ja schlecht durch die Dornenhecke und darüber klettern war auch unmöglich. Dieses verdammte Labyrinth machte ihn ja noch verrückt, wenn das noch so weiterging. Was sollte denn noch alles kommen? Hier gab es wahnsinnig lachende Horrorpuppen aus menschlichen Körperteilen, zweiköpfige Hunde und Ranken mit einem Eigenleben. Nicht zu vergessen diese fiesen schwarzen Rosen, die einen mit ihrem Duft betäuben konnten. Und als wäre das nicht schon genug, veränderte das Labyrinth immer wieder seine Beschaffenheit, sodass es eher ein reiner Glücksfall wäre, wenn er Viola wieder fand. Hoffentlich passierte ihr bis dahin auch nichts. Nun lief er schon eine gefühlte Ewigkeit herum und hatte nichts als Sackgassen und leere Gänge vorgefunden. Aber dann kam er wieder auf einen großen Platz raus, wo es aber dieses Mal keine Statuen, Bilder oder Brunnen gab, sondern so etwas wie ein Haus. Es war vollständig mit Rosen und Dornenranken bewachsen und sah aus, als wäre es einem Märchen entsprungen. Naja, an solch einem Ort musste ihn ja gar nichts mehr wundern. An der Tür hing ein Namensschild, jedoch war die Inschrift unleserlich gemacht worden. Grey öffnete vorsichtig die Tür und lugte hinein. Was ihn jedoch da drin erwartete, war keine kleine Hütte, wie sie von draußen aussah, sondern eine gigantische Halle, die sich über mehrere Stockwerke erstreckte. Er staunte nicht schlecht, als er das sah und war zuerst ziemlich irritiert. Zuerst wollte er sofort wieder gehen, um weiter nach Viola zu suchen, doch da hörte er von einem der oberen Stockwerke Schritte. Sie klangen nach festem Schuhwerk, es konnte also unmöglich ein Monster sein. Ob Viola doch losgelaufen und hier gelandet war? Nein, diese Schritte klangen nach Männerschuhen. Er beschloss erst einmal, nachzusehen wer da war. Vielleicht hatte sich ja noch jemand in dieses Labyrinth verirrt und suchte einen Ausweg. Grey stieg die Wendeltreppe hinauf und kam schließlich ins obere Stockwerk, wo überall Bücherregale standen. Es waren so viele Bücher, dass man sie gar nicht mehr zählen konnte und auf einem Tisch lag ein Buch, welches den Titel „Traumchronik“ trug. Jedes dieser Bücher hatte irgendetwas mit Träumen zu tun und so wie es aussah, hatte hier jemand wohl ein klein wenig die Lektüren dieser Bibliothek studiert. Nur dumm, dass es hier so dunkel war. Zwar gab es hier Fackeln und Kerzen, aber sie waren allesamt gelöscht worden und nur wenige Lichter spendeten etwas Helligkeit. Grey holte seine Taschenlampe hervor und begann sich ein wenig umzusehen. „Hallo? Ist hier jemand?“ Die Schritte verstummten augenblicklich und es blieb still. „Keine Sorge“, rief er und durchleuchtete alles mit der Taschenlampe. „Ich bin unbewaffnet und gehöre nicht zu diesen Kreaturen.“ Er hörte ein leises Klicken, das wie das Spannen eines Hahns klang, wenn eine Pistole entsichert wurde. Grey ahnte Böses und wollte hinter einem Bücherregal in Deckung gehen, da hörte er eine Stimme rufen: „Mach die Taschenlampe aus!“ Da er den Besitzer dieser Stimme lieber nicht provozieren wollte, folgte er lieber seinen Anweisungen und machte das Licht aus. Kurz darauf kam eine Gestalt zum Vorschein, die er nicht erkennen konnte in der Dunkelheit, aber sie hielt eine Pistole in der Hand. „Wer bist du und was suchst du hier?“

„Ich weiß es leider nicht, ich habe keine Ahnung.“

„Willst du mich verarschen?“

„Nein, ich sag die Wahrheit. Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Wirf die Taschenlampe rüber, damit ich dich sehen kann.“

Grey hielt es für das Beste, zu gehorchen und warf die Taschenlampe zu der Gestalt rüber und hob dann die Hände als Zeichen, dass er unbewaffnet war. Kurz darauf wurde er vom starken Lichtstrahl der Taschenlampe geblendet und musste die Augen zukneifen. Zuerst starrte ihn die Gestalt nur an, aber dann ließ sie die Taschenlampe sinken, eilte auf ihn zu und… umarmte ihn. Grey war wie vom Blitz getroffen und verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. „Ich fass es nicht, du bist es wirklich. Und ich dachte schon, du wärst tot. Oh Mann, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.“

„Entschuldigung, aber kenne ich dich irgendwo her?“ Sofort ließ die Gestalt von ihm ab und im schwachen Licht der Kerzen glaubte Grey, einen Jungen von vielleicht 20 Jahren zu erkennen, der sehr elegant gekleidet war und eine sehr blasse und schon fast schneeweiße Haut hatte, die fast wieder unnatürlich aussah. Das aschblonde Haar war ordentlich zurückgekämmt und der junge Mann machte eine sehr akkurate und vornehme Erscheinung. Seine Augen waren von einer unbestimmten Farbe, sie konnten blaugrau oder ganz grau sein, irgendwie milchig trüb. Verwirrt und zugleich besorgt sah ihn sein Gegenüber an. „Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin es, dein alter Freund Anthony. Okay, es sind jetzt gut über sechzig Jahre her, aber du müsstest dich doch an mich erinnern.“ Doch Grey konnte sich überhaupt nicht an diesen jungen Mann erinnern, geschweige denn an den Namen. „Es tut mir Leid, aber ich kann mich an gar nichts erinnern. Ich… ich habe vor einiger Zeit mein Gedächtnis verloren.“

„Oh, verstehe. So ist das also. Dann hast du auch dein eigenes gelöscht. Schon gut, das kriegen wir schon irgendwie wieder hin. Mensch, dann bist du all die Jahre ohne Gedächtnis durch die Weltgeschichte gelaufen? Das muss echt hart gewesen sein. Aber wenigstens geht es dir gut. Ich hätte echt nicht mehr damit gerechnet, dass du noch lebst. Nicht, nachdem sie dich damals niedergeschossen haben.“ Grey war sich nicht ganz sicher, was er sagen sollte. Offenbar war dieser Anthony ein sehr guter Freund von ihm, zumindest verhielt er sich so. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht an ihn erinnern und das war ihm ziemlich peinlich. Wie sollte er ihn anreden, wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten? Anthony selbst schien diese Situation recht locker zu sehen und klopfte ihm auf die Schulter. „Schon gut, du musst dir deswegen nicht gleich den Kopf zerbrechen. Bis du dein Gedächtnis wieder hast, können wir einfach von vorne anfangen. Aber sag mal, wie bist du denn eigentlich hierher gekommen?“

„Ich war bei dieser Ausstellung und bin ins Rosenlabyrinth im Garten gegangen. Dann wurde es immer später und ich bin kurz eingenickt. Ein kleines Mädchen hat mich von ein paar giftigen Rosen gerettet und sie wusste auch nicht, wo sie war. Unterwegs wurden wir getrennt und jetzt suche ich einen Weg zu ihr.“

„Wie heißt dieses Mädchen?“

„Viola.“

„Hm, der Name sagt mir nichts. Hast du sonst noch hier jemanden getroffen?“

„Außer ein paar Monstern niemanden. Du bist der zweite Mensch, den ich hier sehe. Aber sag mal, weißt du vielleicht, was das hier für ein Ort ist und wie wir hier gelandet sind?“ Anthony legte sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, während er nachdachte und betrachtete Grey eine ganze Weile. „Hast du schon mal etwas von einem Wesen gehört, welches man Dream Weaver nennt?“

„Der Name sagt mir was. Ja, ich glaube ich bin in das Labyrinth gegangen weil ich das Gefühl hatte, es wäre sehr wichtig.“

„Dann hat dich dein Spürsinn nicht getäuscht. Du musst wissen, dass dies hier gar nicht das Labyrinth ist, welches du betreten hast. Dies hier ist eine Art Parallelwelt, die auch als Traumdimension bezeichnet werden kann. Sie ist nur im Entfernten unserer realen Welt nachempfunden und wurde vom Dream Weaver erschaffen. Und offenbar wurden du und das kleine Mädchen durch eine Art Riss oder Portal in die andere Welt gebracht.“

„Und wie bist du hier gelandet?“

„Ich hab jemanden verfolgt, der ebenfalls auf der Suche nach dem Dream Weaver ist. Ihr Name ist Mary Lane und sie ist auch eine alte Bekannte von dir. Sie ist ziemlich gefährlich und hat vor, den Dream Weaver unter ihre Kontrolle zu bringen und die reale Welt vollständig durch eine von ihr geschaffene Traumwelt zu ersetzen. Und dafür geht sie über Leichen!“ Grey erblasste als er das hörte und seine Angst um Viola wurde noch größer. Der Name Mary Lane ließ in seinem Unterbewusstsein etwas klingeln. Ja richtig, Mary Lane! Sie hieß doch mit richtigem Namen Marie Lena Johann. Aber sie war doch selbst nur ein kleines Mädchen. Mehrere Szenen tauchten vor seinem geistigen Auge auf und plötzlich wurde ihm einiges klarer. „Ja richtig, ich erinnere mich an sie. Mary war doch das kleine Mädchen mit den rotbraunen Haaren.“

„Richtig, aber inzwischen ist sie erwachsen, zumindest äußerlich. Im Grunde ist aus dem kleinen Übel von damals das große Unheil von heute geworden. Wenn wir nichts unternehmen, dann wird sie die ganze Welt noch auf den Kopf stellen. Ich hab ja versucht sie aufzuhalten, aber sie hat meinen Doppelgänger getötet, der meinen Platz eingenommen hat, während ich mich vor ihr versteckte. Als ich gehört habe, was sie vorhat, bin ich ihr in die Traumdimension gefolgt, um zu verhindern, dass sie eine Riesendummheit macht. Außerdem meinte sie, dass du vielleicht auch hier sein könntest und ich hatte schon irgendwie gehofft, dass du noch am Leben sein könntest.“ „Was würde denn passieren, wenn Mary Viola findet? Würde sie ihr etwas antun?“

„Nun, lass es mich so ausdrücken: Sie wird die Kleine zu Hackfleisch verarbeiten!“ Dann durfte er keine Zeit verlieren. Gemeinsam verließen sie das Haus und machten sich auf den Weg, um nach Viola zu suchen. Sie mussten sie noch vor Mary finden, sonst könnte es zu spät für die Kleine sein. Welcher Weg der richtige war, wusste keiner von ihnen. Sie richteten sich nach ihrem Gefühl. „Sag mal Anthony, wenn du mich kennst, kannst du mir vielleicht sagen, wie ich heiße?“

„Klar. Du heißt Vincent Rose, aber dein deutscher Name lautet Vinzent Erik Rosenstein und deine Familie ist schon seit einer Ewigkeit tot. Dein Vater starb bei Stalingrad, deine Mutter wurde von den Sowjets erschossen. Du bist also Vollwaise.“

„Und kannst du mir sagen, was mit meinem Auge passiert ist?“

„Ein Bombensplitter hat dich im Gesicht getroffen, als du versucht hast, ein kleines Kind von der Straße zu holen. Ach ja, dank dir konnten Mary, ich und die anderen entkommen. Insgesamt sechs Kinder konnten wir bei unserem Ausbruch aus dem Forschungslabor retten. Ich hab mich so gut es ging um sie gekümmert, aber Mary konnte ich nicht unter Kontrolle halten. Sie ist weggelaufen und erst mit der Selbstmordclubgeschichte konnte ich sie aufspüren. Diese Verrückte hat unzählige Schüler überm Jordan gehen lassen, um ihre Kräfte auszutesten.“ Sie erreichten schließlich einen stark erhellten Weg, der dem lichtentwöhnten Vincent in den Augen wehtat. Er fragte sich, warum plötzlich alles so hell war, aber das konnte ihm auch egal sein. Ein Gefühl sagte ihm, dass er Viola schon ganz nahe war und das allein war ihm jetzt wichtig. Aber kaum hatten sie den Weg erreicht, da rief Anthony „Warte, ich kann da nicht durch!“ Vincent blieb stehen und sah seinen alten vergessenen Freund verwirrt an. „Was ist?“

„Ich… ich kann nicht da durch. Ich habe eine Lichtallergie und allein schon künstliches Licht tut höllisch weh.“

„Wolltest du deshalb, dass ich die Taschenlampe ausmache?“ Anthony nickte und wich vor dem grellen Licht zurück und versuchte, seine Augen dagegen abzuschirmen. Für ihn, der gezwungen war, ein Leben in der Dunkelheit zu führen, war es immer wieder ein Schmerz, hineinzusehen und mit den Jahren war es mit seiner Krankheit immer schlimmer geworden. Jetzt da durchzugehen, würde zu viel für ihn werden. Im Laufe der Zeit hatte er eine regelrechte Lichtphobie entwickelt und bekam jedes Mal Panik, wenn er diesem ausgesetzt war. Vincent sah besorgt, wie Anthony noch blasser wurde (was eigentlich kaum noch möglich war) und wie ihm der Angstschweiß kam. Schließlich aber kam ihm eine Idee. Er zog seinen Mantel aus und warf ihn dem Lichtscheuen über. „So müsste das doch eigentlich gehen. So bist du vor dem Licht geschützt und kannst ohne Probleme durchgehen. Oh Mann, warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“ „Weil es mir vielleicht etwas peinlich ist, darüber zu sprechen, dass ich Angst vor dem Licht habe!“ Vincent konnte einfach nicht anders, als zu schmunzeln und legte einen Arm um Anthonys Schultern, um ihn vorsichtig zu führen. Sie gingen gemeinsam weiter und zwischendurch erkundigte sich er nach dem Zustand seines Freundes. „Es geht schon. Mir ist nur ein bisschen schwindelig…“

„Denk einfach an etwas Schönes, halte die Augen geschlossen und versuch ruhig zu atmen, dann geht das schon. Komisch, das ist das erste Mal, dass ich so etwas in diesem Labyrinth sehe.“

„Das liegt daran, dass der Dream Weaver versucht, uns mit unseren Ängsten zu quälen. Und da du vorhin so cool von Monstern geredet hast, vermute ich, dass er es besonders auf Viola abgesehen hat, weil Kinder schneller zu erschrecken sind. Er spioniert unser Unterbewusstsein aus und foltert uns mit unserer schlimmsten Angst, um uns zu brechen. Da du aber dein Gedächtnis gelöscht hast, konnte er deine noch nicht finden. Ich hingegen bin ein einfaches Opfer. Vor Monstern und geistesgestörten Teenies hab ich ja keine Angst, aber Licht ist das Einzige, was mir zu schaffen macht.“

„Jeder hat seine Ängste und daran ist nichts peinlich.“ Anthony lugte kurz unter dem Mantel hervor und sah seinen alten Freund mit einem Schmunzeln an. „Selbst ohne dein Gedächtnis bist du noch ganz der Alte. Wenigstens du hast dich nicht verändert. Ich hingegen bin älter geworden. Ich hatte keine Lust, mein Leben lang ein 16-jähriger zu bleiben und Mary ist jetzt eine junge Frau, wenn auch nur äußerlich. Aber du siehst noch genauso aus wie vor sechzig Jahren.“

„Sechzig Jahre? Wie kommt es, dass wir so jung geblieben sind?“

„Durch unsere Fähigkeit, das Unterbewusstsein zu beeinflussen, erlangten wir auch die Kontrolle über das Unbewusstsein und damit über sämtliche Vorgänge im Körper. Somit wird die Alterung und Hormonproduktion verändert und wir können somit bestimmen, ob wir älter werden wollen oder nicht. Das ist eigentlich schon das ganze Geheimnis. Wenigstens müssen wir uns keine Sorge wegen Falten machen…“ Dass der arme Kerl in solch einer Situation lachen konnte, war schon mal ein gutes Zeichen. Schließlich waren sie endlich aus dem Licht raus, als sie um die Ecke bogen und einen weiteren weitläufigen Platz erreichten. Anthony aber musste erst einmal eine Pause einlegen und sich setzen. Sein Herz raste wie wild, sein Puls war auf 180 und ihm war so schwindelig, dass er beinahe umgekippt wäre. Mit einem Taschentuch wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn und man sah, wie sich an seiner rechten Gesichtshälfte, die mit dem künstlichen Licht in Berührung gekommen war, eine leichte Rötung bildete. Er gönnte sich aber nur einen kurzen Moment Ruhe, denn er wollte Mary so schnell es ging finden und sie töten, bevor es zu spät war. Außerdem behagte ihm der Gedanke nicht, dass ein kleines Mädchen dieser Verrückten noch über den Weg lief. „Ich würde dir gerne noch eine Frage stellen, Anthony: Warum sind Viola und ich hier?“

„Ich vermute, dass der Dream Weaver es auf Viola abgesehen hat. Wenn er sie hier tötet, kann sie nicht ins Jenseits übergehen, sondern bleibt für immer in dieser Welt gefangen. Sie ist nicht die Erste und wahrscheinlich auch nicht die Letzte. Und du bist wahrscheinlich eher versehentlich mit in diese Welt gebracht worden, oder aber du bist ihr unbewusst gefolgt. Genauso wie du unbewusst all die Jahre deine Fähigkeiten eingesetzt hast, um jung zu bleiben. Das dürfte noch eine richtig spannende Sache werden.“ Sie erreichten eine Weggabelung wo erneut zwei Schilder je eine Richtung wiesen. Auf dem linken Schild stand „Weg des Monsters“ und auf dem anderen „Weg des Dämons“. Leider konnte man unmöglich daraus schließen, welcher Weg der Richtige war, also entschieden sie sich, getrennt weiterzusuchen. Anthony wollte den Weg des Dämons gehen und so ging Vincent den anderen. Kaum, dass sie die Wege betraten, schloss sich der Durchgang und sie waren auf sich allein gestellt. Vincent hatte kein gutes Gefühl bei diesen unheilvollen Wegnamen und er fürchtete, dass da noch einiges auf ihn zukommen könnte. Aber seine größte Sorge galt Viola. Sie war noch ein Kind und vollkommen wehrlos, selbst mit dem Taschenmesser. Aber auch andere Dinge beschäftigten ihn, nämlich das, was Anthony ihm gesagt hatte. Mary hatte versucht ihn umzubringen und wollte die reale Welt durch eine Traumwelt ersetzen, über die sie allein herrschen würde. Was war nur mit Mary geschehen, dass sie so etwas tun wollte? War das wirklich der Plan gewesen, den Anthony beiläufig erwähnt hatte? Nein, er konnte sich nicht vorstellen, dass sein altes Ich tatsächlich vorgehabt hatte, so etwas zu tun. Aber wieso nur hatte Mary sich diesen Wahnsinn in den Kopf gesetzt? Was hatte sie dazu getrieben? Leider konnte er sich nicht daran erinnern, was vor der Zeit im Institut mit Mary geschehen war. Tatsache aber war, dass sie ziemlich gefährlich und gewaltbereit zu sein schien. Hoffentlich konnte wenigstens er vernünftig mit ihr reden. Vincent bog nach links ab und hörte schnelle Schritte näher kommen. Irgendjemand rannte in seine Richtung und rief laut „Komm raus, komm raus, wo immer du bist! Ich finde dich sowieso du kleines Monster.“ Vincent hielt es für besser, sich lieber für den Ernstfall zu bewaffnen und hob einen faustgroßen Stein auf. Schnell ließ er ihn in seiner Manteltasche verschwinden, denn da kam auch schon ein Mädchen von vielleicht 18 oder 19 Jahren aus einem Seitengang herbeigeeilt und ihr Blick hatte etwas Wahnsinniges und Mordlüsternes an sich. „Wo bist du?!“ schrie sie laut und hielt ein Fleischermesser in der Hand. „Komm sofort raus, damit ich dich…“ Das Mädchen verstummte augenblicklich, als sie Vincent erblickte und ihn erkannte. Ihre Augen weiteten sich und sie ließ beinahe das Messer fallen. „Das… das glaube ich ja nicht“, brachte sie hervor und kam langsam auf ihn zu. „Du bist es tatsächlich. Nach all der Zeit bist du endlich zurückgekehrt…“ Vincent sah sie stirnrunzelnd an, denn er konnte dieses wunderschöne Gesicht nicht zuordnen. War das wirklich Mary Lane? Sie war ja tatsächlich nicht mehr wiederzuerkennen. Lediglich dieses wunderschöne Haar war unverkennbar geblieben. „Mary?“ fragte er zögernd und blieb wie angewurzelt stehen. „Bist du es wirklich?“

„Ja, ich bin es. Ich bin Mary, ich BIN Mary. ICH BIN MARY!!!“ fröhlich lachend eilte sie zu ihm und fiel ihm um den Hals. Tatsächlich hatte Anthony Recht, das war ein kleines Mädchen im Körper einer Erwachsenen. So wie sie sich benahm…. Aber dann, aus völlig heiterem Himmel, schlug Marys Stimmung um und wütend sah sie ihn an und packte ihn an den Armen. „Warum nur hast du mich all die Jahre allein gelassen? Warum? Warum hast du mir das angetan?“

„Tut mir Leid, aber ich habe mein Gedächtnis verloren und…“

„Was? Du hast dein Gedächtnis verloren? Naja, das macht auch nichts. Das kriegen wir schon wieder zurück. Erinnerst du dich denn wenigstens an unser gemeinsames Versprechen? Wir haben uns doch versprochen, dass wir uns beide einen friedlichen Ort schaffen werden und für immer zusammen bleiben. Du hast es versprochen!“ Und damit zeigte Mary ihm das rote Band, welches sie um ihr rechtes Handgelenk trug. Sofort hob Vincent sein eigenes, wo auch er ein rotes Band trug. Und als er es sah, fiel es ihm wieder ein. Er hatte Mary versprochen, dass er, wenn er die Fluchtaktion aus dem Institut überleben würde, eines Tages zu ihr zurückkehrte. Unfassbar, er hatte endlich den Menschen gefunden, den er seit so langer Zeit gesucht hatte. Doch gleichzeitig erfüllte es ihn nicht gerade mit sonderlich großer Freude, dass es Mary war, der er sein Versprechen gegeben hatte. Er konnte nicht sagen warum, aber dieses Mädchen war ihm irgendwie unheimlich. „Mary…“, begann er langsam und befreite sich von ihr. „Stimmt es wirklich, was du getan hast? Hast du wirklich Anthony getötet?“

„Er war selbst Schuld, er wollte uns beide aufhalten und mich töten!“ rief Mary und begann heftig mit den Händen zu gestikulieren, wobei sie immer noch das Messer hielt, was Vincent überhaupt nicht behagte. „Er war sowieso ein Verräter. Er hatte für Dr. Helmstedter gearbeitet. Den Mann, der mich damals im KZ gefoltert und an mir herumexperimentiert und dann uns das alles unter dem Befehl der Amerikaner angetan hat. Er hat es nicht anders verdient, aber du wirst mich nicht verraten, nicht wahr? Du wirst dich nicht gegen mich stellen.“ Diese Mary hatte wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie psychisch nicht mehr ganz gesund war und Vincent wich einen halben Schritt vor ihr zurück. „Und stimmt es auch, dass du vorhast, die reale Welt zu einer Traumwelt zu machen und sie unter deine Kontrolle zu bringen?“

„Das war doch unser Plan gewesen: Uns unsere eigene Welt zu schaffen. Und dazu müssen wir diese Welt erst mal auslöschen, um sie durch unsere eigene zu ersetzen. Und das können wir nur, indem wir den Dream Weaver finden und sein neuer Wirt werden. Wenn wir es schaffen, ihn zu kontrollieren, können wir alles tun, was uns gefällt. Und wer uns dabei im Weg steht, der wird eben sterben müssen. So einfach ist das.“ So allmählich verstand Vincent, was das alles zu bedeuten hatte, trotzdem wollte er partout nicht glauben, dass er damals diesen Plan gefasst hatte. Dieser Plan war doch Wahnsinn! Irgendwie musste er es schaffen, Mary zur Vernunft zu bringen und sie davon abzubringen. „Mary, das kannst du doch nicht tun. Ich kann mich zwar nicht erinnern, was ich damals gesagt habe, aber ich glaube nicht, dass ich wirklich vorhatte, unsere Welt zu einem lebenden Traum zu machen und alles so ins Chaos zu stürzen. Das ist doch verrückt, das können wir doch nicht tun.“

„Du… du erinnerst dich nicht… nur deswegen bist du jetzt gegen mich… ja, das muss es sein. Es kann gar nicht anders sein.“ Mary wurde zusehends nervöser und Vincent spürte, wie die Aggressivität in ihr wuchs. „Wenn du dich erinnern könntest, würdest du dich nicht gegen mich stellen.“

„Mary, jetzt beruhige dich doch erst einmal. Lass uns doch vernünftig miteinander reden.“

„HÖR AUF, MICH WIE EINE VERRÜCKTE ZU BEHANDELN!!!“ schrie sie plötzlich und stieß ihn von sich. Vincent fiel nach hinten zu Boden und versuchte sogleich wieder auf die Beine zu kommen, denn Mary sah danach aus, als würde sie gleich Gebrauch von ihrer Waffe machen. „Du hast dich total verändert, Vincent. Du warst sonst immer so lieb zu mir und hast mir immer den Kopf gestreichelt. Aber jetzt behandelst du mich so abweisend, das ist nicht fair. Ich habe fast sechzig Jahre auf dich gewartet und so viel getan, damit wir unseren Traum verwirklichen können. Und wir sind schon so weit gekommen, dass wir bereits in der Welt des Dream Weavers sind. Jetzt müssen wir nur noch den jetzigen Wirt töten und dann den Dream Weaver unter Kontrolle bringen.“

„Seinen Wirt? Wovon sprichst du?“

„Hast du das etwa auch vergessen? Träume können nicht eigenständig weiterexistieren, sie verschwinden einfach. Deshalb braucht der Dream Weaver einen menschlichen Wirt, von dessen Verstand, Träume und Fantasien er sich ernährt. Wenn er seines Wirtes überdrüssig ist, verschleppt er ihn in seine Welt und verschlingt ihn, bevor er sich einen neuen sucht.“

„Aber das würde ja bedeuten…“

„Dieses Mädchen, diese Viola ist die jetzige Wirtin. Aber sie kann den Dream Weaver nicht beherrschen, im Gegenteil. Er ist es, der sie wie eine Marionette an Fäden steuert. Vincent, wir sind unserem Ziel so nahe. SO NAHE!!! Wir können uns eine ganz neue Welt erschaffen und wie Götter leben. Alles, was wir dafür tun müssen ist, das kleine Balg abzustechen. Aber dummerweise ist sie mir entwischt, wir müssen sie also suchen gehen, damit wir sie töten können.“ Vincent konnte nicht fassen, was er da hörte, aber wenn er so darüber nachdachte, ergab das alles tatsächlich Sinn. Wenn Viola tatsächlich der Wirt war, dann verstand er endlich, warum er ihr unbewusst gefolgt war. Nicht sie war es, die er zu finden versucht hatte, sondern der Dream Weaver. Und als sie ins Labyrinth gegangen war, hatte der Dream Weaver sie in diese Traumdimension verschleppt um sie zu verschlingen und er, Vincent war ihr gefolgt, ohne sich darüber bewusst zu sein. Mary, die wohl auch gespürt hatte, dass der Dream Weaver aktiv wurde, folgte als Nächstes und machte sofort Jagd auf Viola, während sich Anthony irgendwie im Irrgarten verlief und im Haus landete. Immer mehr verbanden sich die einzelnen Fragmente aus Vincents dürftiger Erinnerung langsam zu einem Gesamtbild. Und als er diese Bruchstücke zusammenfügte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, wer hinter dem Dream Weaver selbst steckte: Sir Bunnyman, Violas angeblicher imaginärer Freund. Das musste es sein. Offenbar hatte sich der Dream Weaver mit einem Teil ihres Unterbewusstseins verschmolzen und sich systematisch von ihr abgekapselt. Er war es, der ihre Familien tötete und sie psychisch so erkranken ließ, dass sie wochenlang mit Leichen im Haus lebte, ohne etwas zu merken. Sie wurde die ganze Zeit von ihm manipuliert und jetzt, da sie sich in seiner Welt befand, war sie für diese Zeit von seinem Einfluss befreit. Und jetzt wollte Mary sie töten? „Das kann nicht dein Ernst sein. Was hat Viola denn getan, dass du sie gleich umbringen willst? Sie ist ein Kind verdammt!“

„Getan hat sie nichts. Ich hab auch nichts gegen sie persönlich, trotzdem kann ich genug Gründe aufzählen, um sie zu töten. Wenn sie nicht stirbt, kommen wir nicht an den Dream Weaver heran. Das muss dir doch auch klar sein, selbst mit Gedächtnisverlust.“

„Tut mir Leid, aber da mache ich nicht mit. Ich töte keine Kinder, niemals!“ Marys Miene verfinsterte sich und giftig blitzte sie Vincent an. Ihr Gesicht wurde zu einer hasserfüllten Fratze, sie umklammerte das Messer fester in der Hand und Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. „Du… du willst dieses Dreckstück mir vorziehen? Nach all dem, was wir gemeinsam erlebt haben?“

„Ich habe Viola versprochen, dass ich sie beschützen werde und ganz sicher werde ich bei diesem Plan nicht mitmachen!“

„Das ist nicht fair“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor. „Du lässt mich einfach so fallen, obwohl ich extra für dich erwachsen geworden bin, damit wir beide gemeinsam glücklich werden können. Ich erkenne dich gar nicht wieder, Vincent. Das bist nicht du! Niemals. Du hast dich völlig verändert, du bist nicht mehr der Junge, den ich damals so geliebt habe.“ Das hasserfüllte Gesicht wich einem breiten Grinsen und Mary brach in ein manisches Gelächter aus. „Na gut, dann wirst du wohl auch sterben müssen, Vincent.“

„Bist du völlig durchgeknallt? Warum willst du mich töten?“

„Ich kann nicht zulassen, dass du unseren Plan vereitelst. Weder du, noch sonst jemand anderes. Aber keine Sorge. Wenn ich euch alle getötet habe, werdet ihr trotzdem in meinen Träumen weiterleben. Dann wirst du wieder ganz der Mensch sein, den ich damals geliebt habe und wir beide werden zusammen glücklich werden.“

„Aber ich würde trotzdem sterben und was dann lebt, ist doch nur eine Illusion. Du kannst Menschen nicht einfach so durch Traumbilder ersetzen, die nicht echt sind. Damit würdest du dich nur selbst belügen und in eine Traumwelt einsperren, aus der du nie wieder entkommen kannst. Das kann es doch nicht sein.“

„Du weißt ja nicht, was du da redest. Du bist nicht der alte Vincent, deshalb kannst du es nicht verstehen. Schade eigentlich, ich hätte dich gerne am Leben gelassen. Aber ich denke, als lebender Traum wärst du mir lieber. Also sei so nett und wehr dich nicht, wenn ich dich absteche!“ Damit ließ sie das Messer auf ihn herabsausen, doch Vincent stieß sie mit aller Kraft von sich und Mary fiel nach hinten. Daraufhin holte er den Stein hervor und die Wut und der Zorn flammten in seinem Herzen auf. Er verstand es nicht. Warum nur tat Mary solch schreckliche Dinge und warum wollte sie ihn töten, wo er sich doch so aufopferungsvoll um sie im Institut gekümmert hatte? „Warum habe ich damals mein Leben aufs Spiel gesetzt, um euch zu retten? Warum habe ich mein Gedächtnis gelöscht und bin jahrzehntelang durch die Welt geirrt, nur um dich zu finden? Du hast versprochen, dass du ein braves Mädchen bleiben wirst, bis ich zurückkehre und was tust du? Du bringst meinen besten Freund um!!!“

„Sie sind ja nur in dieser Welt tot, aber wenn ich der neue Wirt des Dream Weaver werde, dann kann ich sie alle zurückholen, wenn du magst. Dann werden sie für immer mit uns glücklich sein.“

„Was meinst du mit „alle“? Hast du etwa auch die anderen umgebracht?“

„Ich hatte ja keine Wahl, sie haben sich mir in den Weg gestellt und das darf niemand, nicht einmal du!“ Als der Konstrukteur das hörte, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Die Erinnerung an diese armen kleinen Wesen, die sie damals unter Einsatz ihres Lebens vor dem sicheren Tod bewahren konnten, waren alle tot? Mary hatte sie einfach umgebracht… „Ich hätte dich damals einfach zurücklassen sollen!“ rief er und stampfte mit dem Fuß auf. „Hätte ich jemals geahnt, dass du so etwas Schreckliches tust, dann hätte ich dich in dieser Todesfalle zurückgelassen.“ Mary sah ihn erschrocken an und ihr kamen die Tränen. Solche Worte aus seinem Mund zu hören, hätte sie nie gedacht und sie verstand nicht, warum er sich so furchtbar aufregte. Langsam stand sie auf und klopfte sich den Dreck von der Kleidung. „Du… du weißt nicht, was du sagst. Das liegt sicher an deinem Gedächtnisverlust, dass du dich so sehr verändert hast. Das bist nicht du, Vincent. Du bist nicht der Mensch, den ich geliebt habe.“

„Das liegt nicht daran“, rief er wütend. „Ich kann mich jetzt wieder an einige Dinge erinnern und ich weiß auch so, dass ich niemals so etwas gewollt habe. Ich wollte, dass ihr alle glücklich werdet und ein neues Leben beginnt. Nur dafür habe ich mein Gedächtnis gelöscht, als ich von den Soldaten gefangen genommen wurde: um zu verhindern, dass sie euch finden! Und du trittst das alles so mit Füßen und zerstörst alles, was Anthony und ich geschaffen haben, nur weil es dir persönlich nicht in den Kram passt. Ich hätte mich schon viel früher erinnern müssen, dann hätte ich dich schon früher aufhalten können.“ Diese Worte waren zu viel für Mary Lane. Etwas in ihrem Kopf setzte komplett aus, sie konnte nicht mehr denken, sondern wurde nur noch von ihrem Drang nach Blutvergießen gesteuert. Sie stürzte sich auf ihn und holte mit dem Messer aus, da warf er den Stein und traf sie direkt an die Stirn. Getroffen taumelte sie benommen nach hinten, der Stein riss eine tiefe Wunde und Blut strömte ihr Gesicht hinunter. „Dafür wirst du bezahlen, du Dreckskerl. Du wirst mir meinen Traum nicht zerstören, hörst du? NIEMAND WIRD DAS!!!!“ Es entstand ein heftiger Kampf zwischen den beiden, in welchem Mary immer wieder versuchte, ihrer einst großen Liebe das Messer in den Körper zu stoßen, während er bemüht war, den Arm abzuwehren und diese wild gewordene Furie von sich zu stoßen. Aber wenn Mary erst einmal in Rage war, hielt nichts und niemand sie auf. Im Verlaufe des Kampfes, in welchem Vincent mit rücklings auf dem Boden lag und Mary direkt über ihn gebeugt war, konnte er ihre beiden Arme festhalten, bekam aber dann eine heftige Kopfnuss, als sie ihm ihre Stirn gegen die seine rammte. Der Schlag war so brutal, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde und er verlor für eine Sekunde seine Kraft. Das nutzte Mary, um sich von ihm loszureißen, um ihm das Messer in den Bauch zu stoßen. Die Klinge drang jedoch nicht ganz in den Körper ein, da packte etwas die wahnsinnig gewordene Konstrukteurin von hinten und zerrte sie von Vincent herunter. „Was zum Teufel soll das? Loslassen! Ihr sollt mich loslassen, verdammt!!!“ Vincent setzte sich unter Schmerzen auf und sah, dass mehrere Dornenranken Mary gepackt hatten und in die Dunkelheit zerrten. Sie wehrte sich nach Leibeskräften und tobte wie eine Wahnsinnige. Zuerst konnte er sein unverschämtes Glück kaum fassen, da kamen noch mehr Ranken herbeigeschlängelt, um auch ihn zu packen. Schnell kam er wieder auf die Beine und ergriff die Flucht. Dabei durchzuckte ein rasender Schmerz seinen Unterleib und als er eine Hand darauf presste, fühlte er warmes Blut. Die Klinge hatte ihn doch etwas tiefer verletzt als erwartet und Blut lief ihm ins Auge. Verdammt, er hätte nicht gedacht, dass Mary so stark war. Wären diese Dornenranken nicht gewesen, wäre er mit großer Sicherheit jetzt tot. Unfassbar, dass sie so geworden war. Anthony hatte von Anfang an Recht gehabt. Aber wenigstens konnte er sich teilweise wieder erinnern. Er erinnerte sich an seine Zeit in dieser dunklen und kahlen Zelle, an Mary, die er so oft getröstet und beruhigt hatte. Und er erinnerte sich an seinen besten Freund Anthony und dessen schwerer Krankheit, die ihm so zu schaffen machte. Zwar war es nicht sehr viel, denn an sich selbst und seinen Namen konnte er sich aus eigener Kraft immer noch nicht erinnern. Aber das war auch nicht so schlimm, der Rest würde mit der Zeit auch wiederkommen. Jedoch war das erst mal nebensächlich. Wichtig war es erst einmal, seine beiden Freunde zu finden und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis der Dream Weaver sich zeigte und versuchen würde, Viola zu verschlingen, sollte sie tatsächlich sein Wirt sein.

Nach einiger Suche und mehreren Konfrontationen mit diesen widerlichen Horrorpuppen, die allesamt mit Rasierklingen oder Skalpellen bewaffnet waren, hatte Vincent die beiden endlich gefunden. Viola und Anthony hatten sich in einer kleinen Seitennische versteckt, um kurz zu rasten. Anthony hatte an mehreren Stellen auf seiner Haut Brandblasen und teilweise waren diese aufgeplatzt und bluteten. Er sah fürchterlich aus. Als das kleine Mädchen Vincent sah, brach sie in Tränen aus und fiel in seine Arme. „Grey, endlich bist du da. Ich hatte solche Angst.“ „Schon gut Viola, ich bin ja jetzt hier.“

„Da war so ein Mädchen, das mich umbringen wollte. Ich konnte vor ihr weglaufen, aber dann… dann waren da diese Puppen und haben mich umzingelt. Anthony hat mich gerettet, aber dann ist er… er ist…“ Die Kleine war so durcheinander, dass sie kaum noch imstande war, ruhig und vernünftig zu reden, sodass er sie erst einmal beruhigen musste. Aus dem Gestammel erfuhr er, dass Anthony sie vor den Puppen gerettet hatte, er selbst aber binnen kürzester Zeit höllische Schmerzen bekam, da der Gang von starkem Licht durchflutet war. Da er sich zu lange diesem intensiven Licht ausgesetzt hatte, bekam seine Haut einen heftigen Ausschlag und schließlich bildeten sich Brandblasen. „Anthony sagte, dass er ein Freund von dir ist. Stimmt das?“

„Ja, wir beide kennen uns schon seit vielen Jahren und wir beide haben zusammen nach dir gesucht.“

„Dann kannst du dich wieder erinnern?“

„Noch nicht an alles, aber zumindest weiß ich schon mal, dass ich Vincent heiße und wer Anthony und diese Mary sind. Das ist doch ein Anfang.“ Als Viola das hörte, ließ sie ihn sofort los und wich vor ihm zurück. In ihren Augen war so etwas wie Angst zu sehen und auch eine Spur von Traurigkeit. Schließlich drehte sich das Mädchen um und wollte weglaufen, aber Vincent hielt sie fest. „Viola, warum läufst du denn vor mir weg? Was hast du?“

„Du willst mich umbringen, richtig? Dieses Mädchen sagte, dass sie und „Vincent“ den Dream Weaver haben wollen und sie mich deshalb töten müssen. Dann stimmt es also, du bist nur hier, weil du mich töten willst!“

„Nein, das ist nicht wahr. Mary hat dich angelogen. Ich hatte niemals vor, dir oder sonst jemanden etwas anzutun. Es stimmt schon, dass ich den Dream Weaver kontrollieren will, aber ohne, dass dabei jemand zu Schaden kommt. Erinnerst du dich an mein Versprechen? Ich hab dir versprochen, dass ich nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert. Und ich breche niemals mein Versprechen!“ Diese Worte überzeugten Viola und so entschloss sie sich dazu, ihm zu vertrauen. Nach einigem Zögern nahm sie seine Hand und fragte „Darf ich trotzdem weiterhin Grey zu dir sagen?“

„Natürlich darfst du das. Aber nun zu dir Anthony, wie geht es dir? Du siehst ja wirklich übel aus.“

„Ach das wird schon. Die paar Brandblasen sind schnell wieder abgeheilt. Nur das Brennen ist ziemlich unangenehm.“

„Aber dass du so mutig sein würdest, deine Phobie zu bekämpfen um Viola zu retten, hätte ich nicht gedacht. Vielen Dank, mein Freund.“ Anthony lächelte schwach und versuchte, sein glühendes Gesicht zu kühlen. Ihm war entsetzlich heiß, besonders sein Innerstes fühlte sich an, als würden seine Knochen schmelzen. Diesen brennenden Schmerz fühlte er immer, wenn er dem Licht ausgesetzt wurde. „Aber du siehst auch ziemlich mitgenommen aus. Hat dich diese Verrückte in die Mangel genommen?“ Vincent nickte und erzählte, was zwischen ihm und Mary vorgefallen war und dass sie versucht hatte, sogar ihn zu töten. Anthony zeigte sich nicht gerade überrascht, nur Viola war entsetzt darüber. „Ich hab es dir vor sechzig Jahren gesagt und ich sag es dir heute noch mal: Mary ist gefährlich und es wird das Beste sein, wenn wir sie umbringen, bevor sie irgendeine Riesendummheit macht. Zuzutrauen wäre ihr alles.“

„Beim nächsten Mal denke ich dran, wenn ich sie sehe. Komm, ich helf dir hoch.“ Vincent ergriff Anthonys Hand und zog ihn vorsichtig hoch. Er zog seinen Mantel aus und gab ihn seinem besten Freund mit der Erklärung, dass dieser recht dicht gewebt sei und vielleicht ein besserer Schutz gegen Licht sei. Außerdem habe er eine Kapuze. Kaum hatte er aber den Mantel ausgezogen, da sahen seine beiden Freunde den dunklen Blutfleck an seinem Shirt. Viola war besorgt und fragte, was passiert sei. „Mary hat mich mit dem Messer erwischt. Aber keine Sorge, die Wunde ist nicht ganz so tief. Es sieht schlimmer aus, als es eigentlich ist und bei mir verheilt alles recht schnell.“ Die Verletzung hatte er unterwegs recht notdürftig versorgt, indem er sie mit Klebeband verschlossen hatte. Das war als Notlösung gedacht, aber wenn die Wunde nicht bald verarztet wurde, könnte sie sich noch entzünden und im schlimmsten Fall einen Wundbrand verursachen. Aber darüber wollte er sich noch keine Gedanken machen. Er glaubte sowieso nicht, dass sie noch die Ewigkeit hier in dieser Welt verbringen würden. Irgendwann musste sich der Dream Weaver ja zeigen. Vincent nahm seinen Rucksack ab, holte das Verbandszeug heraus und begann wenigstens schon mal, Anthonys Hände zu verarzten. Viola wartete geduldig und zupfte schließlich an Anthonys Kleidung. „Ich wollte noch danke sagen.“

„Kein großes Ding. Aber von jetzt an passen wir aufeinander auf, um nicht schon wieder getrennt zu werden. Mary ist sicher irgendwo wieder unterwegs, wenn sie sich befreien konnte und sie wird ganz schön sauer sein. Also gut, dann gehen wir mal unsere Ausrüstung durch. Was habt ihr beide mit?“

„Ich habe Haarspray, den Rest von meinem Brot, ein Taschentuch und eine Flasche Wasser bei mir, außerdem das Taschenmesser, das mir Grey gegeben hat. Ach ja und da ist noch mein Glücksbringer, ein kleines Häschen.“

„Und du, Vincent?“

„Mein Feuerzeug, eine Taschenlampe, mein Notizbuch, Verbandszeug und ein Rundführer der Ausstellung. Ach ja, dann hab ich noch eine Uhr, eine Tafel Schokolade und ein Buch, das ich zurzeit lese.“ Leider keine besonders hilfreichen Dinge, die man in solch einer Situation gebrauchen konnte, wie Anthony schnell feststellte, aber zum Glück hatte er sich besser vorbereiten können. Man musste ja auch bedenken, dass Vincent und Viola versehentlich in dieses Labyrinth geraten waren. „Ich habe eine Pistole und Munition, ein Seil, ein Messer und einen Taser für den Fall der Fälle. Gut, machen wir es so: Vincent, du bekommst mein Messer und Viola, du nimmst besser den Taser. Ich zeig dir, wie man ihn benutzt.“ Er holte den Taser heraus und erklärte die Benutzung. Ein solcher Elektroschocker, den man auf kurze Distanz benutzen konnte, war wahrscheinlich effektiver in den Händen eines kleinen Mädchens, als ein Taschenmesser. Insbesondere, weil eventuell die Gefahr bestand, dass Mary ihnen über den Weg laufen könnte. Zwar war diese Verrückte ziemlich schnell und vor allem stark, aber selbst sie war gegen eine ordentliche Ladung Volt wehrlos. Als Anthony dann das Taschenmesser sah, welches Viola fest in der Hand hielt, da musste er schmunzeln. „Ich fasse es nicht, dass du dieses alte Ding immer noch hast, Vincent.“

„Was meinst du?“

„Das Taschenmesser. Ich hab es dir damals gegeben, bevor wir aus dem Institut geflohen sind.“

„So etwas hab ich mir schon gedacht. Ich dachte mir, vielleicht erinnere ich mich ja eines Tages wieder daran, woher ich es habe. Es schien mir sehr wichtig zu sein, dass ich es behalte. Ich hab noch andere Dinge bei mir, die ich von damals habe.“ Als Viola das hörte, holte sie selbst ihren kleinen Glücksbringer aus der Tasche, welches einen Schlüsselanhänger mit einem kleinen Häschen darstellte, wo auch ein kleines Schildchen mit ihrem Vornamen hing. Dieses gab sie ihrem großen Freund. „Falls du wieder dein Gedächtnis verlierst, hast du wenigstens etwas von mir.“ Vincent lachte, streichelte ihr den Kopf und umarmte sie. „Das ist wirklich lieb von dir, Viola. Ich werde auch gut darauf aufpassen.“

Sie machten sich auf den Weg und kamen recht gut vorwärts, jetzt da sie zu dritt waren. Viola jedoch beklagte sich schon bald, dass ihre Füße schmerzten und sie müde war. Daraufhin nahm Vincent sie auf den Rücken und schon bald schlief sie ein. Diese ganze Aufregung war einfach zu viel für ein kleines Mädchen. „Armes Ding“, sagte Anthony schließlich. „Sie musste sicher einiges durchmachen. Und dann auch noch die Tatsache, dass sie vom Dream Weaver verschlungen werden soll.“

„Mich würde ja mal interessieren, warum der Dream Weaver sie töten will und warum er sie in diese Welt gebracht hat. Wozu der ganze Aufwand?“

„Wenn der Dream Weaver sich im Unterbewusstsein seines Wirtes einnistet, verschmilzt er quasi mit ihm. Dadurch kann er sich von dessen Träumen, Gedanken und Fantasien ernähren. Aber er kann sich nicht aus eigener Kraft wieder von ihm lösen. Seine einzige Möglichkeit besteht darin, ihn zu töten und das hier in dieser Traumwelt, weil er sonst verschwinden würde, wenn er sich von seinem Wirt löst.“

„Aber wenn er mit seinem Wirt verschmilzt, dann könnte der Wirt doch theoretisch den Dream Weaver beherrschen und über seine Kräfte verfügen.“

„Nun ja, wenn er es könnte. Leider sind die Opfer des Dream Weavers fast ausschließlich Kinder oder mental schwache Menschen, die sich nicht gegen ihn zur Wehr setzen können und sich deshalb von ihm kontrollieren lassen. Aber du hast Recht. Theoretisch wäre das möglich. Das war auch dein Plan gewesen. Und was hast du jetzt vor?“

„Na was denn wohl? Viola vor diesem Monster beschützen. Besteht eine Möglichkeit, dass wir ihn töten können?“

„So etwas ist mir leider nicht bekannt. Es gibt viele Mythen und Legenden, die besagen, dass der Dream Weaver der Ursprung aller Träume ist und solange es sie gibt, wird er niemals aufhören zu existieren. Das Einzige, was wir vielleicht tun könnten wäre, dass wir Viola helfen, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen. Wenn sie es schafft, ihm ihren Willen aufzuzwingen, könnte er sie nicht verschlingen. Das wäre die einzige Möglichkeit mit Ausnahme der, dass sie stirbt.“ Vincent war fest entschlossen, alles zu tun, um das Leben seiner kleinen Freundin zu retten. Er hatte ihr versprochen, dass ihr nichts passieren würde und er wollte dieses Versprechen unbedingt einhalten. Es konnte doch nicht weitergehen, dass der Dream Weaver ungehindert Kinder ins Verderben lockte, was er sicher schon seit Jahrhunderten so machte. Wer weiß, wie viele Kinder er schon verschlungen hatte. Anthony versuchte Schritt zu halten, doch diese Verbrennungen machten ihm schon zu schaffen, aber er sagte nichts. „Weißt du Vincent, ich hab mich bei meinen Forschungen immer gefragt, was für eine Kreatur der Dream Weaver wohl ist und woher er kommt. Und wie es scheint, gibt es noch mehr Wesen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. In den Unterlagen von Helmstedter hab ich Aufzeichnungen gefunden, die darauf schließen lassen, dass die Nazis wohl sogar versucht haben, Tore zu anderen Welten zu öffnen. Und dabei haben sie versehentlich etwas in diese Welt gebracht, das sie nicht bekämpfen konnten. Wahrscheinlich ist das vor langer Zeit schon einmal passiert und dabei haben sie den Dream Weaver in unsere Welt gebracht.“

„Klingt logisch. Aber was nützt uns dieses Wissen?“

„Wenn alle Stricke reißen und Viola es nicht schafft, die Kontrolle über den Dream Weaver zu erlangen, dann könnten wir zumindest versuchen, ihn in dieser Welt einzusperren. Zwar wäre er immer noch mit Viola verbunden, aber zumindest kann er die Traumwelt nicht mehr verlassen und sie verschlingen.“

„Dann halten wir uns das mal als Option offen. Fragt sich nur, wie wir das anstellen wollen.“

„Daran arbeite ich noch.“ Sie blieben stehen, als sie eine Abzweigung erreichten, wo sie eine Gruppe von Horrorpuppen erwartete. Die hatten Messer, Rasierklingen und Skalpelle in den Händen und ihre Zähne waren raubtierartig. Doch etwas an diesen Puppen war anders. Sie bewegten sich seltsam, beinahe zombieartig und manche von ihnen lagen auf dem Boden und zuckten heftig, als hätten sie einen epileptischen Anfall. Aber eines hatten sie gemeinsam: Sie weinten Blut. Vincent blieb erschrocken stehen, als er das sah. „Was zum Teufel ist mit denen los?“ Aber Anthony antwortete nicht, er kniete sich neben eine der Puppen hin und schaute ihr in die Augen. Dann begann die Puppe zu sprechen, oder zumindest versuchte sie es. Tatsächlich brachte sie nur Lippenbewegungen zustande und ein leises Röcheln. Der lichtscheue Konstrukteur zog angestrengt die Augenbrauen zusammen, während er versuchte zu verstehen, was die Puppe ihm sagen wollte. Schließlich aber schien er zu verstehen und sprach es aus. „Dieser Traum wird nicht mehr lange aufrechterhalten. Schon bald wird sich die Illusion auflösen und der Alptraum wird aus seinem Gefängnis ausbrechen.“

„Was will die Puppe uns damit sagen?“

„Dass es bald soweit sein wird.“ Die Puppe streckte ihre Hand nach ihm aus und sie sah auch nicht mehr aus wie ein Wesen, das Frankensteins Monster nachempfunden wurde. Nein, ihr Blick war verzweifelt und flehend. Er nahm die Hand und die Puppe schaffte es noch, zwei Worte zu sagen, bevor sie in wilde Zuckungen verfiel und die Augen verdrehte: „Tötet uns“. Schaum bildete sich an den Mundwinkeln und ihr ganzer Körper begann sich heftig zu verkrampfen. Als das geschah, nahm Anthony sein Messer und stieß es der Puppe in die Brust, doch statt Blut floss eine pechschwarze Flüssigkeit aus dem Körper. Die Puppe hörte zu zucken auf und dann bewegte sie sich nicht mehr. Der Konstrukteur sah das alles fassungslos und konnte kaum sprechen. Dann aber war es Vincent, der ihn fragte, was das zu bedeuten habe. Sein bester Freund schwieg zuerst, dann schloss er die Augenlider der Puppe. „Das sind gar keine Puppen“, erklärte er mit ruhiger und gefasster Stimme. „Das sind die Kinder, die der Dream Weaver in diese Welt verschleppt hat.“

„Wie bitte?“

„Du hast richtig gehört. Offenbar hat der Dream Weaver die Kinder zu seinem Vergnügen in diese Puppen verwandelt. Und jetzt, da sie nicht mehr gebraucht werden, bekommen sie diese Anfälle, weil der Dream Weaver ihnen mit Gewalt die Lebenskraft entreißen will. Das ist ein unfassbar qualvoller und furchtbarer Prozess.“ Während Vincent mit Viola auf dem Rücken stehen blieb, beobachtete er, wie Anthony nach und nach diese falschen Puppen tötete, um sie von ihrem Leid zu befreien. Dabei blieb sein Gesicht ausdruckslos, er schien ein klein wenig apathisch zu sein und sagte nichts. Schließlich, als alle Puppen tot waren, ging er weiter und sprach eine Zeit lang kein Wort. Niemand vermochte wirklich zu sagen, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging. Er war so in Gedanken versunken, dass er die plötzliche Bewegung neben ihm nicht wahrnahm und somit nicht rechtzeitig reagieren konnte, als sich plötzlich und wie aus heiterem Himmel Mary Lane auf ihn stürzte. Sie sah ziemlich mitgenommen aus und an ihren Armen, im Gesicht und an den Beinen hatte sie mehrere Kratzer und sie blutete. Wahnsinn und abgrundtiefe Bosheit loderten in ihren Augen und in ihrer Hand hielt sie ihr Messer. „Was zum Teufel treibst du da eigentlich für ein Spiel mit mir? Wie oft soll ich dich denn noch umbringen?“

Anthony schaffte es, seine Angreiferin von sich zu stoßen, holte die Pistole hervor und richtete diese auf Mary. „Ich hatte es für das Beste gehalten, mich zu verstecken und dich mit einem Double zu beschäftigen. Dir kann man ja nicht einen Meter über den Weg trauen!“ Von dem Lärm wachte Viola auf und als sie Mary sah, erschrak sie und klammerte sich ängstlich an Vincent. Mary selbst ließ sich nicht von der Pistole beeindrucken und lachte nur spöttisch. „Solch feige Aktionen passen ja zu dir. Genauso wie damals, als du dich entschlossen hast, mit Helmstedter zu arbeiten, nur um deinen eigenen Arsch zu retten.“

„Warum habe ich das wohl gemacht? Ich habe das allein für euch getan und für Vincent. Indem ich mit diesem Nazi-Doktor zusammengearbeitet habe, konnte ich herausfinden, was er als nächstes vorhatte und euch rechtzeitig warnen, als er die Säuberung einleiten wollte. Aber mit dir zu reden macht ja keinen Sinn. Genauso gut könnte ich mit einer Wand reden.“ „Pass auf was du sagst!“ warnte sie und funkelte ihn giftig an. „Pass bloß auf!“

„Werde mal erwachsen“, gab er kalt zurück und entsicherte die Waffe. „Und eines solltest du nicht vergessen: Ich bin hier der mit der Pistole in der Hand.“ Doch Mary interessierte sich keinen Deut für seine Waffe. Stattdessen lachte sie und ein wahnsinniges Grinsen zog sich über ihr blutverschmiertes Gesicht. „Mit dem kleinen Spielzeug? Ich glaub, ich lach mich gleich tot!!!“ Sie brach in ein manisches Gelächter aus und konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Vincent setzte Viola vorsichtig und langsam ab, dann griff er nach dem Messer, das Anthony ihm gegeben hatte. „Viola, bleib schön hinter mir“, flüsterte er und sofort versteckte sich das kleine Mädchen hinter ihm. Mary schenkte den beiden keine Beachtung, sie konzentrierte sich ganz allein auf Anthony. Mit einem eiskalten Grinsen holte sie eine Taschenlampe hervor und schaltete sie an. Der Strahl traf seine Augen, woraufhin er sie sofort schloss und versuchte, sein Gesicht vor dem Licht zu verstecken. Dies nutzte die Konstrukteurin sofort aus und konnte ihn schnell überwältigen. Sie schlug ihm die Pistole aus der Hand und wollte ihm die Klinge des Messers in die Brust stoßen, da packte Vincent sie von hinten und zerrte sie an den Haaren von ihm runter. Sofort schlug diese mit dem Messer nach ihm und schnitt ihm in den Arm, woraufhin seine Hand losließ. Anthony, der sich von dem gleißenden Strahl der Taschenlampe erholt hatte, tastete nach der Pistole, um Mary endlich den Garaus zu machen. Doch sie war einfach viel zu schnell und zu stark für ihn und Vincent. Noch bevor seine Hand die Pistole ergriff, stieß sie ihm die Klinge knapp unterhalb des Brustkorbes. Im selben Moment bekam Anthony die Pistole zu fassen und schoss seiner Angreiferin in den Kopf. Die Kugel blieb stecken, trotzdem fiel Mary um wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Vincent eilte zu seinem Freund hin und kniete sich neben ihn. Er war so durcheinander, dass er gar nicht wusste, was er machen sollte. Zwar hatte er schon mal kleinere Verletzungen verarztet, aber noch nie eine solche Stichwunde. Was sollte er tun? Den Krankenwagen konnte er ja nicht rufen in dieser Welt. Und wie ging man bei so etwas vor? Er war am Verzweifeln, er fühlte sich völlig hilflos. Schließlich war es Anthony, der ihn beruhigen konnte. „Vincent, bleib ruhig und tu am besten was ich dir sage, okay? Wir… wir müssen erst einmal die Blutung stoppen.“ Viola kramte ihr Taschentuch hervor und begann nun damit, es fest auf die Wunde zu drücken. Sie blieb bei weitem ruhiger als Vincent. Das rührte auch daher, dass Anthony ganz in Ruhe alles erklärte und den Eindruck erweckte, als wäre diese Verletzung nichts Lebensgefährliches. „Vincent, hol bitte das Klebeband aus meiner Tasche. Damit wird die Wunde erst einmal zugeklebt. Und macht euch keine Sorgen. Mein Körper versucht jetzt, die Blutproduktion zu erhöhen und die Wunde zu schließen. Wenn ich mich nicht zu viel bewege, hab ich das schnell überstanden.“

„Aber du brauchst einen Arzt und das schnell.“

„Nun beruhige dich doch. Erinnerst du dich? Wir sind Konstrukteure, wir können bestimmen, wann wir altern. Also können wir auch bestimmen, wie schnell unsere Wunden verheilen. Ich kann keine Wunder bewirken, aber zumindest werde ich die Sache überstehen, weil meine Verletzung viel schneller verheilt. Immerhin funktioniert das bei dir doch ebenso, auch wenn es bei dir unterbewusst von statten geht. Also mach dir keine Sorgen.“ Vincent war sich nicht ganz sicher, ob sein bester Freund die Wahrheit sagte, oder ob er ihn nur aufmuntern wollte. Aber als dann auch Viola sagte „Er schafft das ganz sicher!“, wurde er ein wenig ruhiger. Nachdem er das Klebeband aus der Tasche geholt hatte, begann er damit, Streifen davon abzuschneiden und sie quer über die Wunde zu kleben, während Viola sie zusammendrückte. Anthonys Atem war schwer und er biss sich auf die Unterlippe, während er seine Hand in den Boden krallte. Sie verarzteten die Wunde so gut es ging und überlegten, was sie jetzt machen sollten. Anthony konnte nicht mehr laufen, so viel war sicher. Aber ihn zurückzulassen war auch keine Alternative. „Glaubst du, du schaffst es, wenn ich dich auf dem Rücken trage?“

„Hab ich denn eine Wahl?“ gab der Verletzte scherzhaft zurück und lachte schwach. Vorsichtig half Vincent ihm, sich aufzurichten und nahm ihn auf den Rücken. Viola folgte ihnen und sah ein wenig unruhig zurück, wo immer noch Mary Lane lag.
 

Sie kamen nun viel langsamer als zuvor voran und mussten immer wieder eine Pause einlegen. Anthony hatte starke Schmerzen und langsam ging in der Traumwelt die Sonne auf. Bald würde es hell werden und dann würde es eine Tortur für den Verletzten werden, der eine schreckliche Angst vor dem Tageslicht hatte. Wirklich alles schien gegen sie zu sein. Aber dann erreichten sie wieder einen großen Platz und kaum, dass sie diesen betreten hatten, verschloss sich der Weg hinter ihnen. Anthony, der inzwischen wieder bei Kräften war, ließ sich absetzen und hielt seine Pistole bereit. Inzwischen hatte sich seine Verletzung fast vollständig wieder geschlossen und auch die seines besten Freundes war längst wieder verheilt. Es war ganz still geworden im Labyrinth, selbst der Wind wehte nicht mehr. Eine seltsame Luft herrschte hier, das spürten sie alle. Als ob sich ein Sturm anbahnte. Unruhig schauten sie sich um, erwarteten alles Mögliche und sahen nichts, bis Viola „da!!!“ rief und auf die Mitte des Platzes deutete, wo ein Hase stand. Er hatte den Körperbau eines Menschen und trug die Uniform eines Butlers. Das war die seltsame Hasenstatue, die Vincent gesehen hatte. Die Augen des kleinen Mädchens weiteten sich und sie rief „Sir Bunnyman? Bist du das wirklich?“

„Ja ich bin es, Viola. Ich bin gekommen, um dich zurück nach Hause zu bringen. Ich war in Sorge um dich.“ Viola wollte schon zu ihm hinlaufen, doch Anthony hielt sie zurück. „Das hier stinkt gewaltig nach Ärger“, murmelte er finster und richtete seine Pistole auf ihn. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, wir haben den Dream Weaver gefunden. Oder besser gesagt, er hat uns gefunden.“ Als das kleine Mädchen sah, dass Anthony auf Sir Bunnyman zielte und ganz offensichtlich vorhatte, auf ihn zu schießen, stellte sie sich in den Weg. „Nein, du darfst Sir Bunnyman nichts tun. Er ist doch mein Freund.“

„Das ist nicht dein Freund, du Dummkopf. Das ist der Dream Weaver und er will dich nicht nach Hause bringen, er will dich verschlingen!“

„Nein du lügst, du lügst! Du bist gemein, Anthony!!!“ Mit dem Mädchen war nicht zu reden, sie war der festen Überzeugung, dass ihr geliebter Sir Bunnyman ihr Freund war. Anthony schüttelte den Kopf, dann packte er das Mädchen am Kragen und stieß sie unsanft beiseite, sodass sie zu Boden fiel. „Ich hab genug davon“, sagte er schließlich und trat auf den Hasen zu. „Ich hab nicht diese ganzen Strapazen auf mich genommen, nur um mich von einer Verrückten abstechen, oder vom Dream Weaver fressen zu lassen. Dem Hasen zieh ich das Fell über die Ohren, fertig aus.“ Sir Bunnymans rote Augen leuchteten unheimlich auf und in dem Moment schossen mehrere Dornenranken aus dem Boden und wickelten sich um Anthonys Beine und seinen Arm. Mit eleganten Schritten trat der Hasenbutler näher und klatschte sarkastisch in die Hände. „Wirklich zu köstlich, wirklich amüsant. Was für eine Komödie.“ Die Dornenranken begannen, Anthony die Luft abzuschnüren und er versuchte, sich irgendwie zu befreien, aber leider erfolglos. Viola wandte sich erschrocken zu Sir Bunnyman. „Lass ihn frei, bitte! Du bringst ihn noch um.“

Doch er ließ Anthony nicht frei. „Du hättest auf mich hören sollen, Viola. Diese beiden haben vor, dich zu töten. Ich will dich nur vor ihnen beschützen. Also sei ein braves Kind und komm her.“

„Viola, hör nicht auf ihn. Dieser falsche Hase lügt, wenn er nur den Mund aufmacht! Wenn du ihm zu nahe kommst, wird er dich töten.“ Viola war wie hin und her gerissen. Auf wen sollte sie hören? Auf Sir Bunnyman, der ihr ein treuer Freund gewesen war, oder auf Vincent und Anthony, die vorgehabt hatten, den Dream Weaver unter ihre Kontrolle zu bringen und vielleicht tatsächlich ein falsches Spiel trieben? Aber dann hätte Vincent nicht sein Leben aufs Spiel gesetzt, ebenso wenig wie Anthony, der für sie sogar seine Angst vor Licht überwunden hatte. Viola fühlte sich in die Ecke gedrängt und distanzierte sich mit einem ängstlichen Ausdruck in den Augen von den anderen. Sie wusste einfach nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen, geschweige denn was sie tun sollte. Das alles überforderte sie einfach. Vincent sah dies und versuchte nicht, das arme Kind noch mehr zu bedrängen. Stattdessen ging er zu Anthony und wollte die Ranken durchschneiden, doch da veränderten sich diese. Sie begannen ihre satte grüne Farbe zu verlieren, die Dornen veränderten langsam die Form während die Ranken selbst immer dünner wurden. Es war, als würden sie verdorren, aber dann erkannten sie, dass sich die Dornenranken in Stacheldraht verwandelten. Vincent wich zurück, da er das nicht verstand und sah Anthony verwirrt an. „Was geschieht hier?“

„Der Traum beginnt sich zu verändern“, erklärte dieser und gab es auf, sich befreien zu wollen, da er sich sonst nur verletzt hätte. „Die Puppe hat gesagt, dass die Illusion nicht mehr aufrechterhalten wird. Dieser ganze Irrgarten ist nichts Weiteres als eine Täuschung. Genauso wie der Dream Weaver kein Hase ist.“ Nun aber sah Sir Bunnyman auf und seine blutroten Augen hatten etwas Lauerndes an sich wie bei einem Raubtier. Er lächelte und bemerkte kalt „Es scheint, als hättest du eine ganze Menge in fast 60 Jahren erfahren. Aber als Bruder von Dr. Hinrich Helmstedter ist ja nichts anderes zu erwarten.“ Vincents Augen wanderten zu Anthony, der seinerseits beschämt den Blick senkte und dazu schwieg. „Stimmt das?“ fragte er seinen gefesselten Freund. „Bist du wirklich der Bruder dieses kranken Nazi-Arztes?“

„Sein jüngster Halbbruder“, korrigierte er kleinlaut. „Und glaub mir, ich bin nicht sonderlich stolz darauf.“

„Und wann hattest du vor, mir davon etwas zu sagen?“

„Du hattest es doch damals schon gewusst, dass ich mit diesem Monster verwandt bin und du warst auch der Einzige, dem ich das anvertraut habe. Glaubst du, ich geh damit hausieren, dass meine ganze Familie aus Nazis und KZ-Ärzten bestand, die grausame Experimente an Menschen durchgeführt haben?“ gab Anthony etwas gereizt zurück und warf dem Hasen einen todbringenden Blick zu. „Und ich habe all die Jahre versucht, es auch geheim zu halten.“ Nach und nach begann sich die Landschaft um sie herum immer mehr zu verändern. Der Grasboden wurde kahl und rissig, er trocknete binnen weniger Sekunden aus. Die großen Hecken verdorrten und wurden von etwas überzogen, das wie eine dichte Decke von Spinnweben aussah. Die Rosen nahmen langsam die Form von menschlichen Schädelknochen an, die klein genug waren, dass sie Kindern gehören konnten. Die Sonne ging auf, doch sie wurde von einer dichten Wolkenwand verhüllt und der ganze Himmel wurde in ein unwirkliches Grau gehüllt. Anthony ging es trotzdem schlecht. Obwohl nur ein geringer Teil der Sonnenstrahlen zu ihnen durchdrang, spürte er, wie sein Herz zu rasen begann und ihm schwindelig wurde. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und er hatte nur noch Angst. Sir Bunnyman lachte amüsiert. „Wirklich zu köstlich. Große Töne spucken und dann Angst vor der Sonne zu haben. Was für eine Komödie.“

„Hör auf darüber zu lachen“, rief plötzlich Viola, die aus Sorge um ihren Freund ihre eigene Angst zumindest für einen Augenblick überwunden hatte. „Anthony hat Schmerzen im Licht und ich hätte an seiner Stelle auch Angst. Also hör auf, dich über ihn lustig zu machen!“ „Viola“, warf Vincent warnend ein, doch das Mädchen ließ sich nicht aufhalten und lief zu Anthony, der krampfhaft versuchte, ruhig zu bleiben und nicht in Panik zu geraten. Doch das war leichter gesagt als getan. Er spürte die Sonnenstrahlen auf seiner Haut, die für die meisten Menschen warm und angenehm, für ihn jedoch brennend und schmerzhaft waren. Der Schmerz hielt sich noch in Grenzen, nicht aber seine Angst. Vincent beobachtete besorgt, wie sein bester Freund immer bleicher wurde, bis er aussah wie eine Leiche. Wenn das noch so lange weiterging, würde er seine Angst nicht mehr im Griff haben. Er musste diesen verdammten Hasen ablenken, bevor dieser den Ärmsten noch weiterhin quälte. Also ging der Einäugige auf direkte Konfrontation. „Wozu eigentlich der ganze Aufwand?“ fragte er und trat entschlossen näher an Sir Bunnyman heran. „Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, warum du Viola nicht schon viel früher getötet hast, wenn du die Macht dazu hast. Ich glaube, ich kenne die Antwort schon: Du kannst es nicht, weil du hier gefangen bist, richtig? Während wir durch dieses verdammte Labyrinth geirrt sind, hab ich sehr viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ich habe mich gefragt, aus welchem Grunde diese Traumwelt eigentlich existiert, wenn sie mit einem Traum doch gar nicht so viel gemeinsam hat. Sie ist ein Gefängnis, hab ich Recht?“ Er hob die Pistole auf, richtete sie aber nicht auf Sir Bunnyman, sondern sah ihn fest an. Er wusste, dass er mit seinem einen Auge nur sehr schwer zielen und höchstwahrscheinlich sogar verfehlen würde. Er wollte den bevorstehenden Angriff erwarten, der mit großer Sicherheit folgen würde nach seiner Provokation. „Dem Dream Weaver wird nachgesagt, dass er Traum und Realität ineinander verweben und beides somit kontrollieren kann. Wenn dem so ist, dann hätte er sich sicherlich nicht so zurückgehalten und würde nicht so ein Spiel treiben. Nein ich glaube viel eher, dass er es gar nicht kann! Du kannst nichts tun, weil du hier eingesperrt bist und Viola ist einer der Gründe.“ Sir Bunnyman schwieg, er sah Vincent misstrauisch an und sein Blick als auch seine Körperhaltung ließen darauf schließen, dass er Recht hatte. Anthony sah Vincent verwirrt an. „Seit wann weißt du das?“

„Das hat mir mein Gefühl gesagt. Ich wusste, dass da an der ganzen Sache mit dem Wirt etwas nicht stimmt und wie es scheint, stimmt das auch. Ich glaube, dass der Dream Weaver vor langer Zeit in diese Welt eingesperrt wurde, damit er gar nicht die Chance bekommen konnte, Traum und Realität zu verändern. Das Einzige was er tun konnte war, Besitz von einzelnen Menschen zu ergreifen, sie in seine Welt zu verschleppen und sie dort zu verschlingen. Keine Ahnung warum, vielleicht weil er Kraft sammeln will, um diesem Ort zu entkommen.“ „Wirklich beeindruckend“, bemerkte Sir Bunnyman und klatschte sarkastisch Beifall. „Eine außerordentlich gute Auffassungsgabe hast du jedenfalls. Nur leider ist deine Theorie nur teilweise richtig.“

„Ach ja? Dann erklär es mir.“

„Der Dream Weaver bin gar nicht ich. Streng genommen bin ich ein Traumfresser.“

„Und das heißt?“

„Wenn ich in euren Träumen in euren Verstand eindringe, verschlinge ich alles. Eure Erinnerungen, euren Verstand, Fantasien und Wünsche, Träume und Gefühle, eure Lebenskraft und eure Seele. Geboren aus den schlimmsten Alpträumen bin ich so etwas wie das Gegenstück des Dream Weaver. Aber dann wurde ich tief in die Träume eines kleinen Mädchens gesperrt, verdammt dazu, für immer hier festzusitzen.“

„Der Dream Weaver hat dich hier eingesperrt?“ Der Traumfresser nickte und fuhr fort. „Er ist ein äußerst mächtiges Wesen, dessen Träume sich irgendwann mit der Realität verwebten. Da blieb es nicht aus, dass die Träume des Dream Weavers irgendwann Einfluss auf die reale Welt haben würden. Seine Träume können Realität werden und die Realität zu seinen Träumen, das ist seine Macht. Die meisten seiner Träume sind eher harmlos, aber es kommt auch vor, dass auch Alpträume entstehen. Diese Alpträume manifestieren sich dann als Traumfresser. Aus einem solchen Alptraum bin auch ich entstanden und seitdem versucht der Dream Weaver, mich loszuwerden, bis er mich hier eingesperrt hat, weil er nicht stark genug war, mich endgültig zu töten.“ Vincent begann weiterzudenken. Wenn der Traumfresser tatsächlich die Wahrheit sagte, dann würde das bedeuten, dass dies hier alles eine Traumwelt war, welche der Dream Weaver aus Violas Träumen geschaffen hatte, um dieses Monster einzusperren. Und dass dieser falsche Hase nun versuchte, Viola zu töten oder sie zu manipulieren, konnte nur bedeuten, dass er frei kommen würde, wenn das Mädchen starb. „Ich verstehe. Und da du die Kleine so massiv manipuliert und von dir abhängig gemacht hast, konnte sie ihre eigenen Träume und Handlungen nicht mehr kontrollieren. Und jetzt hast du sie hierher gebracht, um sie zu töten.“ Sir Bunnyman sagte nichts dazu, aber Vincent wusste, dass er Recht hatte. Aber er schien ein wenig nervös zu werden, als er dieses überlegene Grinsen im Gesicht des Einäugigen sah. „Leider hast du eines vergessen“, erklärte der Konstrukteur mit einem unheilvollen Ton. „Ich bin ein Konstrukteur. Und meine persönliche Spezialität ist das Auslöschen von Erinnerungen und Träumen. Seien es meine eigenen, oder andere.“ Als er das sagte, begann sich der Stacheldraht, der sich um Anthonys Körper gewickelt hatte, aufzulösen und zu Staub zu zerfallen. Und auch das Labyrinth um sie herum begann zu zerfallen. Der Traumfresser sah ihn hasserfüllt an und grinste. „Glaubst du wirklich, das wird reichen, um mich aufzuhalten? Denn einen entscheidenden Unterschied gibt es nämlich: Ich bin viel schneller.“ Mit einem teuflischen Funkeln lächelte der falsche Hase und ein leises Rasseln ertönte. Anthony, der besser sehen konnte als Vincent, sah als Erstes, was vor sich ging. Ein Gewirr aus Stacheldraht bewegte sich langsam auf Viola zu und richtete sich auf wie eine Schlange. „Viola!“ rief er und rannte zu ihr, Vincent folgte ihm. „Viola, lauf weg!!!“ doch das Mädchen bemerkte gar nicht, was sich hinter ihr abspielte, bis sie sich umdrehte und die drohende Gefahr sah. Entsetzt schrie sie auf und rannte, so schnell sie ihre kleinen Beine trugen. Schließlich erreichte der lichtscheue Konstrukteur sie und warf sich auf sie, um sie zu schützen. Sie beide wurden von Vincent weggestoßen und fielen unsanft zu Boden. Anthony lag auf Viola, hielt sie fest an sich gedrückt und verharrte einen Augenblick so, bis er merkte, dass der Stacheldraht ihn nicht angriff. Langsam richtete er sich wieder auf und drehte sich um. Blut spritzte ihm ins Gesicht, als mehrere Stacheldrähte Vincents Brust durchbohrten und wie dünne Schlangen heraustraten. Violas Augen weiteten sich vor Entsetzen und sie schrie laut auf. „Grey!!!“ rief sie und befreite sich von Anthony. „Grey, warum hast du das getan? Warum?“

Vincent würgte einen Schwall Blut hervor und rang nach Luft. Die Drähte bohrten sich immer tiefer und rissen Fleischfetzen heraus. Er keuchte, das Gesicht war vor Schmerz verzerrt und er rang nach Luft. Und doch schaffte er es mit einiger Mühe, sich ein Lächeln aufzuzwingen. „Ich… ich hab dir doch versprochen, dass ich nicht zulasse, dass dir etwas passiert. Und ich… ich… halte meine Versprechen.“

„Das ist ja wirklich rührend“, bemerkte der falsche Hase sarkastisch und schnippte mit der Hand. Daraufhin verdrehten sich mehrere Drähte zu einer Art dickem Seil und spießten Vincent auf. Ein blutiger Regen tropfte auf Anthony und Viola, die das alles hilflos mit ansehen mussten und nichts dagegen tun konnten. Das kleine Mädchen schrie und weinte verzweifelt, sie war völlig aufgelöst und vergrub ihr Gesicht in Anthonys Shirt, der seinerseits vor Schock völlig teilnahmslos war. Er reagierte auf gar nichts, starrte benommen ins Leere und war nicht fähig, in Trauer auszubrechen oder in Wut zu geraten. Diese Szene… diese schreckliche Szene rief Erinnerungen wach an ihre Flucht aus dem Institut. Er erinnerte sich an die Schreie der Kinder, die im Kugelhagel starben, ihre toten blutigen Leiber auf dem Boden und wie seinem besten Freund auf der Flucht in den Rücken geschossen wurde und wie man ihn daraufhin ins Institut zurückbrachte. All das spielte sich vor seinen Augen ab, als wäre es erst kürzlich geschehen. Er hatte gehofft, ihm würde das nie wieder passieren und dass er nie wieder so einen Alptraum durchleben musste. Und doch war es wieder passiert. Nur dieses Mal war es viel schlimmer: Sein bester Freund starb direkt vor seinen Augen und er hatte es nicht verhindern können. In dem Moment, als er das realisierte, brach für ihn eine Welt zusammen. All seine Hoffnung war fort… Er nahm alles nur noch wie aus weiter Ferne wahr. Selbst Violas herzzerreißendes Wehklagen klang wie durch Watte gefiltert. Auch als sie plötzlich aufschrie und ihn am Arm zerrte, nahm er es nicht wahr. Nur eine seltsame Veränderung am Rande seines Blickwinkels. Der Hase… er legte den Kopf in den Nacken und riss sein Maul weit auf und dann plötzlich schossen mehrere riesige Insektenbeine heraus. Eine Spinne… eine riesige Monsterspinne kam zum Vorschein. Anthony war nicht fähig, sich zu bewegen, er konnte nicht einmal sprechen. Wie gelähmt kniete er neben dem Leichnam seines Freundes und beobachtete vollkommen apathisch die Verwandlung. Viola rannte davon und rief immer wieder Anthonys Namen. Aber dieser lief nicht davon. Er wollte es. Ja er wollte weglaufen, aber er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper.

Unfähig, irgendetwas dagegen zu tun, packte die riesige Spinne ihn und Anthony sah in ihre acht abstoßend hässlichen Augen. Er wusste, was kommen würde. Wenn er nichts tat, dann fraß ihn dieses Vieh bei lebendigem Leibe. Aber sein Körper gehorchte ihm einfach nicht mehr, egal was er tat. So ist das also, dachte er während er von den Füßen gerissen wurde. Dieses Mistvieh hat mein Unterbewusstsein infiltriert, als ich durch Vincents Tod abgelenkt war. Alles, was er noch zustande bringen konnte, war ein ungläubiges Lächeln, als die Spinne ihr Maul öffnete und er hinunterfiel. Was für eine verrückte Ironie, das war sein letzter Gedanke, bevor sie ihn verschlang.
 

Viola rief so laut sie konnte Anthonys Namen. Sie schrie sich die Seele förmlich aus dem Leib in der Hoffnung, er würde endlich zu sich kommen und versuchen, sich zu befreien. Aber stattdessen musste sie mit ansehen, wie diese riesige Spinne nun auch ihn tötete. Sie fraß ihn bei lebendigem Leib…. Geschockt und völlig traumatisiert von dem Anblick sank sie in die Knie und zitterte am ganzen Körper. Warum nur? Warum nur passierte das alles? Wieso starb denn jeder, den sie liebte? War es ihre Schuld? Ihre Eltern… ihre unzähligen Pflege- und Adoptivfamilien… und nun auch ihre Freunde. Sie waren alle tot. Sie wollte das alles nicht mehr, sie wollte endlich aus diesem Alptraum aufwachen. Vielleicht schlief sie ja noch tief und fest auf der Bank im echten Rosenlabyrinth. Jeden Moment würde sie aufwachen und sowohl Vincent als auch Anthony würde es gut gehen. Aber je mehr sie darüber nachdachte, desto schmerzlicher wurde ihr bewusst, dass dies kein Traum war, sondern die Realität. Heftig schluchzend schloss sie die Augen, gleichgültig darüber, ob die Spinne sie nun auch fraß oder nicht. Und doch brachte sie unter unzähligen Schluchzern leise hervor „bitte… hilf mir doch irgendjemand.“ Viola hörte den lauten Aufschrei der Spinne, der klang wie das Kreischen einer Kreissäge. Aber dann plötzlich verstummte es und sie verlor den Boden unter den Füßen. Es war, als würde sie für einen Moment in einen tiefen Abgrund hinabsinken. Als sie die Augen wieder öffnete, war es um sie herum vollkommen dunkel. Das war’s, dachte sie. Ich bin tatsächlich tot. Doch plötzlich hörte sie eine Stimme direkt hinter sich und jemand nahm ihre Hand. „Keine Angst Viola, du bist nicht gestorben.“

„Wo bin ich?“

„An einen Ort, wo du fürs Erste sicher bist und wo wir ungestört miteinander reden können. Ich wollte dich schon länger kennen lernen.“

„Und wer bist du?“

„Eine Freundin. Weißt du, wir beide verfolgen eigentlich das gleiche Ziel: Den Traumfresser zu töten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.“

„Wieso?“

„Der Traumfresser verschlingt seit langer Zeit die Lebenskraft und Seelen von Kindern, welche bis heute noch in der Traumwelt gefangen sind. Solange er lebt, können sie nicht weg. Ich will ihnen helfen, aber leider kann ich das nicht alleine. Dazu brauche ich deine Hilfe.“

„Warum kannst du das nicht?“

„Weil die Traumwelt anders ist, als die reale Welt. Was dort stirbt, geht nicht ins Jenseits über, sondern bleibt dort. Darum wurden all diese armen gequälten Seelen zu Puppen. Verdammt dazu, niemals ihren Frieden zu finden. Alleine kann ich nicht in diese Welt vordringen und den Traumfresser bekämpfen. Genauso wenig kannst du es in deiner momentanen Lage allein gegen ihn aufnehmen.“ Langsam kam die Gestalt hinter Viola hervor, war aber von dunklen Schatten umgeben, sodass man sie kaum erkennen konnte. Was Viola aber sah, war, dass ihr Gegenüber sehr klein war, gerade mal so groß wie ein Kind und etwas größer als sie selbst. Es schien sich um ein Mädchen zu handeln. Sie hatte außerdem langes schwarzes Haar und leuchtend rote Augen. Sie hielt Violas Hand immer noch fest. „Viola, du musst versuchen, deine Angst zu bekämpfen, nur so kannst du deine Freunde retten und dem Traumfresser die Stirn bieten. Solange du dich von deiner Angst beherrschen lässt, hat er noch die Kontrolle über dich und deine Träume.“

„Aber wie soll ich das schaffen? Hast du nicht gesehen, was das für ein Monster ist? Eine mindestens zehn Meter große Spinne. Ich kann das nicht, ich schaffe das niemals.“

„Das kannst du erst beurteilen, wenn du es versucht hast.“

„Nein, ich kann das nicht. Niemals.“

„Willst du etwa Anthony und Grey im Stich lassen?“ fragte das Mädchen mit den roten Augen scharf und Viola zuckte erschrocken zusammen. „Die beiden haben sich für dich geopfert und haben ihre Angst überwunden, um dich zu beschützen.“

„Aber sie sind beide tot. Und ich bin ganz alleine.“

„Nein, das bist du nicht. Noch ist nichts vorbei. Ich bin bei dir und ich werde dir helfen. Doch dazu musst du bereit sein, dich deinen schlimmsten Ängsten zu stellen und sie zu überwinden. Nur so können wir den Alptraum beenden und Anthony und Vincent retten.“

„Das sagst du so einfach. Aber ich hab nun mal Angst…“

„Jeder hat Angst und daran ist nichts falsch. Die Angst ist es, die uns vor Gefahren bewahrt, aber wir dürfen uns nicht von ihr beherrschen lassen. Auch ich habe sehr oft Angst, trotzdem versuche ich, stark zu sein für die Menschen, die mir am Herzen liegen. Wenn du Angst hast, dann denk einfach immer daran, dass Anthony und Grey immer für dich da sein werden. Und auch ich werde bei dir sein. Du hast es in der Hand, Viola. Das ist dein Traum und du allein bestimmst den weiteren Verlauf. Lass nicht zu, dass du dich von Ängsten und Alpträumen beherrschen und zerfressen lässt.“ Viola schluchzte und senkte den Kopf. Sie fühlte sich so alleine und schwach. Was sollte sie schon gegen so ein riesiges Monster ausrichten? Sie als ein kleines Kind. Das Mädchen mit den roten Augen nahm sie tröstend in den Arm und streichelte ihr sanft den Kopf. „Es wird alles gut werden. Du musst nur anfangen, an dich selbst zu glauben. Ich weiß, dass es schwer ist. Wir beide haben sehr viel durchmachen und mit ansehen müssen. Egal was auch passieren mag, auch wenn du ganz alleine bist, bin ich immer bei dir so wie jetzt hier.“
 

Viola riss die Augen auf und fand sich plötzlich im Irrgarten des Traumfressers wieder. Das riesige Spinnenmonster hatte ihr den Rücken gekehrt und schien sie zu suchen. Offenbar bin ich gerade tatsächlich in einer anderen Welt gewesen, dachte sie und stand auf. Sie spürte direkt, dass etwas anders war als vorher. Die Puppen, die bis gerade eben noch auf dem Boden gelegen hatten, waren aufgestanden und hielten Messer, Rasierklingen und Skalpelle in ihren Händen und bewegten sich, als würden sie an Fäden gezogen werden. Doch sie bewegten sich nicht auf Viola, sondern auf die Spinne zu und stellten sich bereit zum Angriff auf. „Denk daran“, flüsterte die Stimme des rotäugigen Mädchens in ihrem Kopf. „es ist dein Traum. Du allein hast es in der Hand.“ Viola atmete tief durch und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was wichtig war. Sie durfte nicht an die riesige Spinne denken, die die schlimmsten Alpträume verkörperte, die sie jemals erleben musste. Diese Spinne war nichts Weiteres als eine Illusion. Es war nur eine Gestalt, die der Traumfresser annahm, genauso wie Sir Bunnyman nicht echt war. Grey und Anthony hatten es so gesagt gehabt. Die beiden hatten so viel auf sich genommen, nur um sie zu beschützen, deswegen durfte sie jetzt auch nicht aufgeben. Aus diesen Gedanken schaffte sie es, neuen Mut zu schöpfen und nicht mehr ihre schlimmsten Ängste zu sehen, sondern sich darauf zu konzentrieren, diesen Traum wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie konnte es schaffen, wenn sie nur wollte. Sie musste jetzt stark sein. Für sich selbst, Grey und Anthony und die vielen Kinder, die der Traumfresser auf dem Gewissen hatte. Nun lag es an ihr, in die Offensive zu gehen und sich etwas einfallen zu lassen, um diesen Alptraum zu bekämpfen. Und dann hatte sie eine Idee. Sie wandte sich den Puppen zu und sprach zu ihnen „Ihr müsst ihn beschäftigen!“ Die Puppen starrten sie an, dann nickten sie und eine sprach mit heiserer und zugleich schrecklich hoher Stimme „Du kannst es schaffen.“ Die Puppen schossen nach vorne, stürzten sich auf die riesige Spinne und Viola selbst rannte zu Vincents Tasche, in der sie sein Feuerzeug fand. Damit ging sie zu den verdorrten Sträuchern und begann sie anzuzünden. Zwar war das ganze Labyrinth von Schädeln und Stacheldraht überzogen, doch das Fundament war verdorrtes Grün, welches so ausgetrocknet war, dass es hervorragend brannte. Lass alles brennen. Lass alles in Flammen aufgehen und dieses Ungeheuer gleich mit zu Asche verkohlen. Der schreckliche Stacheldraht, die Schädelknochen der Kinder, die ganze Alptraumwelt sollte im Feuer untergehen. Dieser Gedanke machte Viola stark. Sie war fest entschlossen, alles hier zu zerstören und den Alptraum zu vernichten. Und tatsächlich… binnen kürzester Zeit begann alles um sie herum zu brennen. Die Flammen tanzten, fauchten und spieen Funken. Ihre brennenden Klauen griffen nach dem Traumfresser, der seinerseits genug mit den Puppen zu kämpfen hatte. Eine von ihnen hatte es fertig gebracht, ihm ein Auge auszustechen, wurde dann aber gepackt und in Stücke gerissen. Anderen ereilte ein ähnliches Schicksal. „Viola…“, krächzte das Ding. „Dafür wirst du mir büßen…“

„Schmor in der Hölle, du Mistvieh!“ gab sie zurück und ergriff die Pistole. Sie wusste nicht, wie man eine Pistole benutzte und als sie es schaffte, einen Schuss abzufeuern, ging dieser völlig daneben und die Wucht riss sie von den Füßen. Sogleich schoss sie erneut und traf die Spinne am Hinterleib. Dicker schwarzer Schleim quoll heraus und wieder gab die Spinne ein markerschütterndes Schreien von sich, das einer kreischenden Kreissäge erschreckend ähnlich war. Dieser Schrei trieb Viola eine Gänsehaut über den Körper und für einen Moment verfiel sie wieder in Angst. Doch zugleich fasste sie wieder neuen Mut und schoss wieder, dieses Mal traf sie eines der Augen. Nun wurde die Spinne richtig wütend und kam auf das kleine Mädchen zu. Ihre Bewegungen waren noch schlimmer als der bloße Anblick ihres Körpers und Viola rannte davon. Die Spinne von einer gewissen Entfernung aus zu bekämpfen war ja noch gut gegangen, aber jetzt war sie direkt hinter ihr. „Pass auf“, rief die Stimme in ihrem Kopf und Viola sprang beiseite, in dem Moment schoss ein Spinnenfaden neben ihr vorbei. Kaum berührte er den Boden, traten giftige Dämpfe aus, die dem Mädchen in den Augen brannte. Verdammt, dieses Biest spuckte Säurefäden. „Viola, du musst die Spinne in Brand setzen!“

„Ja aber wie soll ich das tun?“

„Überlege dir, was brennbar ist!“ Brennbar… was war denn brennbar von den Dingen, die sie dabei hatte? Ja richtig, das Haarspray! Viola bremste ab, drehte sich um und spurtete zurück, direkt unter die Spinne hindurch. Sie schaffte es gerade so, dem riesigen Stachel auszuweichen, fiel dabei aber zu Boden und scheuerte sich das Knie auf. Sie biss sich die Zähne zusammen und rannte weiter. Nur noch ein kleines Stückchen… gleich hatte sie es geschafft. Ein Stein jedoch, der auf dem Boden lag, brachte sie zum Stolpern und sie fiel der Länge nach hin. Sie schrie, als sie einen rasenden Schmerz in ihrem Bein spürte und es nur unter Qualen bewegen konnte. Verdammt, sie musste sich was verstaucht, oder sogar gebrochen haben. Ihre Tasche war zum Greifen nahe. Sie bekam gerade so den Gurt zu fassen, da wurde sie von den Vorderbeinen der Spinne gepackt und in die Höhe gerissen. Hastig kramte sie herum, bekam das Haarspray zu fassen und drückte den Druckknopf hinunter, während sie das brennende Feuerzeug davor hielt. Eine Feuerkugel bildete sich und verbrannte ihren Handrücken. Dem Traumfresser erging es schlechter. Die Augen, die ihm noch geblieben waren, wurden geblendet und laut schreiend vor Schmerz ließ er Viola fallen. Sie stürzte mehrere Meter hinunter und wurde von den Puppen aufgefangen. Aber noch war es nicht vorbei. Sie musste es zu Ende bringen, bevor der Traumfresser sich davon erholte. Wieder nahm sie die Pistole zur Hand und mit den letzten Schüssen, die ihr verblieben, zielte sie auf den Oberkörper und der letzte Schuss traf den Traumfresser direkt in den Schlund. Die Schüsse waren ohrenbetäubend laut. Die Wucht war wie ein plötzlicher Orkanwirbel für Viola und sie fiel erneut durch den Rückstoß nach hinten, sodass sie gezwungen war, auf dem Boden hockend zu schießen. Schwarzer Schleim spritzte aus den Wunden, das Ungeheuer taumelte laut kreischend umher und wand sich in Qualen, während es aus mehreren Löchern blutete und an immer größer werdenden Stellen brannte. Der Kampf schien sich ewig hinzuziehen, dann aber ging es zu Ende. Kraftlos brach der Traumfresser zusammen und stürzte zu Boden. Der Aufprall ließ den Erdboden erzittern und Viola geriet ins Taumeln, konnte sich aber fangen. Ihre Ohren waren immer noch fast taub von den Schüssen und ein lautes Pfeifen war hörbar. Sie sah, dass der Traumfresser immer noch lebte, seine Augen aber vergeblich versuchten, sie zu erkennen. Seine Beine bewegten sich immer langsamer und er schaffte es nicht, sich wieder aufzurichten. Plötzlich aber begann sich um ihn herum ein dunkler Nebel zu bilden. Er verdichtete sich und in diesem Nebel glaubte Viola so etwas wie eine Silhouette zu sehen. Ja, da war jemand in dem Nebel, nämlich das Mädchen mit den roten Augen. Sie ging auf den Traumfresser zu, mit Anthonys Messer in der Hand, dann schlitzte sie ihm den Rumpf auf. Alles Schreien und Zappeln half nichts, das Mädchen begann langsam seinen Körper zu öffnen und zog etwas heraus. Es sah aus wie eine Hand…

Nach und nach kam ein Mensch zum Vorschein und Viola erkannte, dass es ihr großer Freund Grey war, den der Traumfresser bei ihrer Flucht in die dunkle Welt wohl ebenfalls verschlungen hatte. Kaum hatte sie ihn herausgezogen, folgte auch Anthony, der sich an die Hand seines Freundes klammerte. Kaum war dieser auch draußen, bäumte sich der Traumfresser ein letztes Mal auf, dann brach er endgültig zusammen und sein Körper zerplatzte regelrecht. Eine pechschwarze Sintflut kam wie eine riesige Tsunamiwelle auf Viola zu. Sie versuchte noch davonzulaufen, da wurde sie fortgerissen und in der Strömung herumgewirbelt und nach unten gezogen. Alles um sie herum wurde schwarz und das kleine Mädchen versuchte, irgendwie an die Oberfläche zu kommen, doch ihr war, als ob nach und nach ihre Kräfte wichen. Sie versank immer tiefer in der Dunkelheit und konnte nicht mehr weiterkämpfen. Ihr Körper war wie gelähmt und mit ihrer Kraft schwand auch ihr Bewusstsein. Alles schien in der Dunkelheit zu versinken… Sie drohte zu ertrinken. Zwar schmerzten ihre Lungen nicht und sie spürte auch keinen Drang nach Luft, aber sie spürte trotzdem, dass sie langsam ertrank. Ihre Augen wurden schwer und sie war nicht mehr in der Lage, auch nur einen einzigen Gedanken zu fassen. Seltsam, wie müde sie wurde und dass sie plötzlich gar nichts mehr spürte. Nicht einmal ihren eigenen Herzschlag. Aber dann, als Violas Bewusstsein schon fast vollständig gewichen war, hörte sie aus der Ferne irgendwo eine Stimme. Jemand rief ihren Namen. Es kostete sie eine ungeheure Kraftanstrengung, ihre Augen zu öffnen und sie sah sie wieder: Das Mädchen mit den roten Augen. Ja, sie rief ihr zu und streckte die Hand nach ihr aus.

„Viola, du musst atmen! Du darfst nicht in der Dunkelheit versinken. Nimm meine Hand, los!“ Sie versuchte es, aber Viola war nicht imstande, sich zu bewegen. Es fühlte sich so angenehm an, diese Schwerelosigkeit. So warm und wunderbar. Das Mädchen mit den roten Augen kämpfte sich vorwärts, war aber immer noch zu weit von ihr entfernt. „Viola, du darfst nicht aufgeben. Ich lasse dich nicht gehen! Nimm meine Hand!!“

Aufgeben? Weiterkämpfen? Warum sollte sie denn weiterkämpfen? Es gab doch sowieso nichts mehr, wofür es sich weiterzuleben lohnte. Ihre Eltern, Adoptiv- und Pflegefamilien waren tot. Anthony und Grey lebten nicht mehr. Sie war ganz alleine. „Nein, du bist niemals alleine. Egal was auch passiert, ich bin bei dir und ich werde dich nicht gehen lassen.“ Warum, warum tust du das? Das war der einzige Gedanke, den Viola zu fassen vermochte. Das Mädchen hatte sie fast erreicht. „Wir beide sind uns sehr ähnlich. Wir beide haben Menschen verloren, die wir sehr geliebt haben und ich habe sehr schlimme Fehler begangen… unverzeihliche Fehler. Deshalb soll es dir nicht so ergehen wie mir. Ich will dir eine Chance geben, dass du ein besseres Leben hast als ich. Deswegen lasse ich nicht zu, dass du stirbst. Nicht jetzt…“ Viola spürte, wie das Mädchen ihre Hand ergriff und sie zu sich heranzog. Und dann wurde sie fest in die Arme geschlossen. Es fühlte sich so wunderbar an… sie konnte den Herzschlag des Mädchens spüren und auch ihren eigenen. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit. Es fühlte sich an, als würde ein gleißendes Licht sie von innen vollkommen durchfluten und die Dunkelheit verdrängen. Und für einen Moment glaubte Viola, dass es kein Mädchen war, das sie in den Armen hielt, sondern ein Engel mit pechschwarzen Schwingen. Ihre Augen fielen zu, sie spürte nur noch, wie das schwarze Meer erneut zu tosen begann und sie beide von starken Strömungen erfasst wurden. Nein, sie wurden nicht erfasst, die reißenden Strömungen gingen von ihnen aus. Mit einer ungeahnten Kraft wurde die erdrückende Masse zurückgeschleudert und dann verlor Viola endgültig das Bewusstsein. Sie versank endgültig in der Dunkelheit, doch sie spürte, wie es kalt wurde und wie etwas gegen ihren Brustkorb drückte. Sie bekam keine Luft, sie konnte nicht atmen. Wieder drückte etwas gegen ihre Brust und sie glaubte schon fast, ihr würden gleich die Rippen brechen. Es tat weh… ihre Lungen schmerzten, insbesondere ihre Brust. Hör auf, schrie eine Stimme in ihr. Hör auf, du brichst mir noch alle Knochen. Bitte, ich kann sonst nicht atmen. Aber etwas in ihr wusste, dass gerade dieser Druck auf ihre Brust ausgeübt wurde, weil sie es selbst nicht schaffte, zu atmen. Für einen Moment schwand der Druck und ein plötzlicher Luftstoß drang tief in ihre Lunge. Ein zweiter erfolgte, dann wieder Druck. Irgendwo in der Ferne hörte sie wieder diese Stimme, die ihr zurief „Du musst atmen!!!“ Ja richtig, sie atmete nicht. Als Viola das erkannte, wurde ihr klar, was das bedeutete. Oh Gott, ich werde sterben, wenn ich nicht schnell anfange zu atmen. Ich werde sterben. Viola nahm all ihre Kräfte zusammen und zwang sich Luft zu holen. Sie riss den Mund auf und als sie einen befreienden Atemzug tat, spürte sie, wie sich ihre Lungen mit Sauerstoff füllten. Langsam öffnete sie die Augen und sah Vincent, der sich über sie beugte und sogar Tränen in seinem verbliebenen Auge hatte. Die Angst um sie stand ihm ins Gesicht geschrieben und kaum, dass sie endlich die Augen öffnete, strich er ihr sanft über den Kopf. „Gott sei dank du lebst. Mensch, hast du uns einen Schrecken eingejagt.“ Viola war verwirrt und glaubte zuerst, das hier sei bloß ein Traum. Vincent war doch tot… Und doch war er hier, sogar Anthony. Es war bereits dunkel und das Rosenlabyrinth wurde von Laternen beleuchtet. Für einen Moment war sie sich nicht sicher, ob sie sich immer noch in der Traumwelt, oder im echten Labyrinth befand, wo sie eingeschlafen war. „Sag mal Kleine, was machst du denn hier so spät? Was ist denn passiert?“ Viola verwirrte die Frage, die Vincent ihr stellte. Warum nannte er sie „Kleine“? Konnten sie sich etwa an nichts mehr erinnern, was in der Traumwelt passier war? Sie schwieg und sah zu Anthony, der etwas abseits stand und sie mit einem etwas seltsamen Blick musterte. Offenbar haben die beiden alles vergessen und erinnern sich gar nicht mehr an mich, dachte sie und begann zu schluchzen. Dabei wollte ich doch so gerne…

Sie führte den Gedanken nicht weiter, sondern fing an zu weinen. Vincent, der gar nicht einschätzen konnte, was mit ihr los war, zögerte und sah seinen Freund unsicher an. „Nun wein doch nicht gleich, es ist ja alles gut.“ Seine Hand verschwand in der Manteltasche, wo er ein Taschentuch aufbewahrte, doch da ertastete er etwas, das da vorher noch nicht war. Verwundert holte er es heraus und sah, dass es ein kleiner Schlüsselanhänger mit einem Häschen war. Es kam ihm irgendwie vertraut vor und während er angestrengt versuchte, sich zu erinnern, sagte er unbewusst „Viola, das ist doch deiner.“ Viola? War das der Name dieses Mädchens? Woher kannte er ihn? Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Unzählige Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, von dem nicht enden wollenden Labyrinth mit den mörderischen Puppen, die riesige Monsterspinne, Anthonys Kampf mit Mary und dann erinnerte er sich auch an das kleine Mädchen, das ihn gerettet hatte. Viola, ja es war Viola! Auch Anthony schien sich beim Hören dieses Namens wieder zu erinnern und dann umarmte Vincent sie. „Wie konnte ich das alles nur vergessen? Tut mir Leid Viola, dass ich alles wieder vergessen habe, es tut mir so Leid.“

„Ihr… ihr erinnert euch wieder?“

„Ja und ich bin so froh, dass du lebst. Ich hatte schon Angst, der Traumfresser hätte dich getötet.“

„Nein, dieses Mädchen hat mir geholfen.“

„Mädchen? Was für ein Mädchen?“

„Sie hat rote Augen und ist richtig nett. Sie hat mir geholfen, den Traumfresser zu töten und mich aus der Dunkelheit herausgeholt.“ Anthony und Vincent sahen sich ernst an, denn sie erinnerten sich auch an ihre letzten Momente im Labyrinth als sie vom Traumfresser getötet wurden. „Ich glaube, ich habe auch ein Mädchen mit roten Augen gesehen. Sie hat nach mir gerufen und gesagt, ich solle ihrer Stimme folgen.“

„Bei mir war genau das Gleiche. Ich habe nicht lange überlegt und bin einfach ihrer Stimme gefolgt weil ich das Gefühl hatte, ich müsste das tun. Und dann, als ich hier wieder aufgewacht bin, wusste ich nicht mehr, was passiert war.“ Viola lächelte wissend und umarmte beiden Freunde fest. Und überglücklich lachte sie und schickte ein kleines Dankgebet auf die Reise. „Danke, dass du uns gerettet hast. Das werde ich dir niemals vergessen.“ Und irgendwo, an einen entfernten Ort lächelte das Mädchen mit den roten Augen und war zufrieden, dass die Sache ein so gutes Ende nehmen konnte.
 

Da Viola kein Zuhause hatte und Vincent lange Zeit ohne Erinnerungen durch die Weltgeschichte gereist war, nahm Anthony die beiden bei sich auf. Die beiden bewohnten jedoch allein die obere Etage, weil sie sonst im Dunkeln leben mussten. Es dauerte aber eine Weile, bis sie sich alle an die neue Situation gewöhnt hatten. Jeder von ihnen war alleine gewesen, jetzt hatten sich zwei Freunde nach fast sechzig Jahren wiedergefunden und Viola hatte wieder eine Familie. Oft saßen sie abends im Salon am Kamin und redeten viel. Vincent erzählte von seiner langen Reise, Viola von ihren Erlebnissen mit Sir Bunnyman. Eines Abends kamen sie wieder auf die Geschehnisse in der Traumwelt zu sprechen. Anthony hatte es sich bei einem Glas Wein im Sessel bequem gemacht, Viola saß vor dem Kamin und betrachtete das prasselnde Feuer, während Vincent auf dem Sofa Platz nahm. „Wenn ich so über die ganze Sache nachdenke, haben wir die ganze Zeit über falsch gelegen. Ich hatte immer gedacht, der Dream Weaver würde sich einen Wirt suchen und ihn irgendwann verschlingen. Dabei war es die ganze Zeit dieser merkwürdige Hase gewesen, der sich hinterher in diese Monsterspinne verwandelte. Der Traumfresser war aus den Alpträumen des Dream Weavers geboren worden und wurde von diesem in Violas Traum eingesperrt, damit der Dream Weaver ihn unter Kontrolle halten konnte. Ich frage mich aber, warum er ausgerechnet Viola ausgesucht hat.“

„Vielleicht, weil Kinder nun mal Kinder sind und sie deshalb auch viel mehr träumen als Erwachsene. Wer weiß, was für Pläne der Dream Weaver verfolgt. Und was hast du nun vor? Willst du den Dream Weaver immer noch suchen und ihn unter deine Kontrolle bringen?“ Vincent lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, das werde ich nicht tun. Vorher hätte ich es vielleicht versucht, aber ich habe erkannt, dass es falsch ist, sich in eine Traumwelt zu verkriechen und sich von der Realität zu lösen. Diese Welt hier ist vielleicht nicht die Beste, aber sie ist doch lebenswert. Und wenn mich dieses verrückte Abenteuer etwas gelehrt hat, dann, dass manche Träume besser Träume bleiben sollten. Aber ich frage mich trotzdem: Woher wissen wir, dass dies hier wirklich die reale Welt ist, oder wir alle immer noch in der Dunkelheit gefangen sind und bloß das alles hier träumen? Wer kann das sagen?“

„Nachts träumen wir, wir seien Schmetterlinge und flattern unbeschwert durch die Luft, ohne zu wissen, wer wir wirklich sind. Und wenn wir erwachen, sind wir wieder wir selbst. Aber woher sollen wir wissen, ob wir Schmetterlinge sind, die träumen, sie seien Menschen oder Menschen, die träumen, Schmetterlinge zu sein? So sagte Zhuangzi. Vielleicht ist der Dream Weaver ähnlich wie der Traumfresser aus unseren Träumen geboren worden. Aber vielleicht sind wir es, die allein in den Träumen des Dream Weaver existieren.“

„Egal wie nun die Wahrheit aussieht“, schloss Vincent schließlich. „Ich bin froh, dass ich endlich wieder weiß, wer ich bin. Ich kann mich zwar noch nicht an alles erinnern, aber wenigstens erkenne ich die Menschen wieder, die mir wichtig sind. Und allein das zählt. Wer weiß: Vielleicht war das Mädchen mit den roten Augen der Dream Weaver, oder vielleicht sogar Gott oder ein Engel. Ich will mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Solange wir zusammen sind und wir leben, ist mir alles recht.“ Damit waren alle einverstanden und das genügte ihnen, um sich nicht weiter mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Viola war glücklich, Vincent war glücklich und Anthony auch. Mehr brauchten sie nicht.
 

In den darauf folgenden Tagen begann Vincent mit Anthonys Hilfe, weitere Fragmente seiner gelöschten Erinnerungen zurückzuholen und sich wieder daran zu erinnern, wie er seine Fähigkeiten einsetzen konnte. Auf den Vorschlag seines Freundes hin begann er nun damit, sich zu einem Hypnosetherapeuten ausbilden zu lassen. Auf diese Weise konnte er seine Gabe zu guten Zwecken einsetzen, ohne dass er dabei aufflog. Zwar würde er in diesem Institut nichts wirklich Hilfreiches lernen, aber somit hätte er wenigstens die Formalitäten erledigt. Anthony selbst versuchte mit Vincents und Violas Hilfe, seine Photophobie zu bekämpfen. Der erste Schritt war, dass sämtliche Fenster im Haus mit einer speziellen Folie beschichtet wurden, die zwar Tageslicht, aber keine UV-Strahlen hindurchließen. Somit wäre es ihm möglich, sich bei Tageslicht im Haus zu bewegen, ohne Ausschlag oder Verbrennungen zu bekommen. Die Fortschritte waren zwar sehr klein, aber schon nach ein paar Wochen war es ihm möglich, bei stark bewölktem Himmel die Vorhänge zu öffnen und das wenige Licht ins Haus zu lassen. Viola hingegen ging bald wieder zur Schule, hatte aber deutlich Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Die meisten Kinder fanden sie etwas seltsam und so blieb sie eher eine Einzelgängerin. Sie hörte nie damit auf, Vincent weiterhin „Grey“ zu nennen, nur Anthony ließ sich partout keinen Spitznamen geben. So etwas sei einfach nur albern und kindisch. Das hielt sie aber nicht davon ab, ihm trotzdem immer wieder neue Spitznamen zu geben, einfach nur um ihn ein bisschen zu ärgern.

Von Mary Lane fehlte seit ihrem Kampf gegen Anthony, bei dem sie durch einen Kopfschuss außer Gefecht gesetzt wurde, jede Spur und sie war auch nicht im echten Labyrinth gewesen. Also musste man davon ausgehen, dass sie dort gestorben und zusammen mit dem Traumfresser verschwunden war. Vincent trauerte nicht, aber man spürte schon, dass es ihm äußerst unangenehm war, über Mary zu sprechen und dass er sehr bedrückt wurde. Anthony schnitt dieses Thema aus Rücksicht auf seinen Freund nie an und äußerte sich selbst auch nicht dazu. Sie schwiegen einfach darüber. Viola selbst war froh, dass diese unheimliche Mary verschwunden war, die sie sogar umbringen wollte. Aber eigentlich war sie ja gar nicht so böse gewesen, denn sie war ja vom Traumfresser manipuliert worden. Still dachte sie darüber nach und kam zu dem Schluss, dass Mary eigentlich bedauernswert war. Sie wollte doch nur eine friedliche Welt erschaffen, für sich und die anderen. Aber ihr eigener Wahnsinn wurde zu ihrem Verhängnis und sie hatte alles zerstört, was sie sich aufbauen wollte. Arme Mary…

Manchmal, wenn Viola draußen im Garten spielte und es ganz still war, glaubte sie, eine Stimme zu hören. Ganz leise und kaum hörbar. Dann dachte sie meistens, es sei nur der Wind, aber dann war sie sich ganz sicher, dass da irgendwo jemand ein Lied sang, das ungefähr so ging:
 

„Mary, Mary quite contrary

How does your garden grow?

With silver bells and cockle shells

And Pretty Maids all in a row

And Pretty Maids all in a row…”

Umbra: Das Interview

Auszug aus einer Tonbandaufnahme:
 

„Also gut Ms. Wallace, versuchen Sie alles ruhig und sachlich zu schildern. Nehmen Sie sich ruhig die Zeit, die Sie brauchen.“
 

„Danke Dr. Winter.“
 

„Lassen Sie ruhig das „Doktor“ weg. Ich habe keinen Titel.“
 

„Okay… wo fange ich an? Es begann vor knapp zwei Monaten, als diese Träume begannen. Ich saß in einem dieser Wartehäuschen am Bahnhof und habe auf meinen Zug gewartet. Es war ziemlich spät gewesen und ich war ziemlich erschöpft. Wenn man als Krankenpflegerin arbeitet, bleibt so etwas ja nicht aus. Aber an dem Tag ging es mir sowieso schon nicht so gut. Ich hatte mich hingesetzt und Musik gehört. Und dabei muss ich eingeschlafen sein.“
 

„Können Sie sich noch an ihren Traum erinnern?“
 

„Oh ja, sehr gut sogar. Normalerweise behalte ich Träume ja nicht so deutlich in Erinnerung, aber an ausgerechnet diese Träume erinnere ich mich bis ins kleinste Detail. Ich machte die Augen auf und fand mich wieder im Wartehäuschen wieder, nur war ich plötzlich ganz alleine. Ich eilte raus und sah mich um, aber es war vollkommen dunkel und ich sah nicht viel. Es war totenstill geworden und das machte mir Angst. Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie nachts durch den Park gehen und sich verfolgt fühlen? Genauso ging es mir in dem Moment. Da kein Zug fuhr und die Anzeigetafeln leer waren, ging ich nach unten, die Treppe hinunter. Ich wollte am Serviceschalter nachfragen, was los sei, aber unten wurde es noch schlimmer. Die Lichter… die Deckenbeleuchtung flackerte heftig und an den Glasscheiben der Läden waren tiefe Kratzer und blutige Handabdrücke.“
 

„War an dieser Hand irgendetwas auffällig?“
 

„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass diese Hand nur vier Finger hatte. Und diese waren ziemlich lang und knochig. Fast wie bei einer Skeletthand. Warum fragen Sie das?“
 

„Das erkläre ich später. Erzählen Sie bitte weiter.“
 

„Ich sah, dass überall zerbrochenes Glas auf dem Boden lag und wie Funken von der Decke herabregneten. Zwar rief ich immer wieder laut, damit mich jemand hörte, aber ich hörte nichts. Aber dann spürte ich etwas. Es war wie ein kalter Schauer, als würde etwas ganz dicht hinter mir sein und mir eine Gänsehaut verursachen. Ich drehte mich um und sah dieses… Ding ungefähr fünfzig bis hundert Meter weg stehen.“
 

„Sie bezeichnen es nicht als Menschen?“
 

„Es sah auf dem ersten Blick aus wie einer aber ich wusste sofort, dass es keiner war. Ich weiß nicht, wie ich es bezeichnen soll, ich hab es einfach „Umbra“ genannt.“
 

„Warum nennen Sie es so?“
 

„Keine Ahnung, ich glaube, dass es so heißt. Ich wusste es einfach, es war so ein Gefühl. Dieses Ding trug einen schwarzen Parka und durch die Kapuze konnte ich nicht das Gesicht sehen. Es war nicht sonderlich groß, aber es hatte lange dünne Finger, die fast doppelt so lang waren wie normal. Ich starrte es an und ging langsam zurück, weil ich Angst hatte, mich umzudrehen. Der Umbra bewegte sich auf mich zu. Er… er war so langsam, als würde alles in Zeitraffer geschehen. Da ich dachte, es würde mich sowieso nicht einholen, hab ich mich doch noch umgedreht und wollte weiterlaufen, da stand er direkt plötzlich vor mir.“
 

„Und was geschah dann?“
 

„Es starrte mich einfach nur an und egal wie sehr ich meine Augen auch anstrengte, ich konnte nichts unter der Kapuze sehen. Es war, als würde dieses Wesen keinen Kopf besitzen, da war alles pechschwarz. Ich hatte solch eine Angst, dass ich zurückwich, dann aber stolperte und zu Boden fiel. Die Kreatur griff nach mir und packte mich direkt im Gesicht. Es zog mich so nahe an sich heran, dass ich seinen Atem spüren konnte. Aber es war, als würde dieses Wesen gar nicht ausatmen, sondern nur alles in sich hineinsaugen. Der Sog war eiskalt und ich bekam Panik, weil ich Angst hatte, es könnte mich verschlingen. Ich hab mich gewehrt und geschrieen, ja sogar geweint. Dabei bin ich aufgewacht. Jonathan, mein Freund, war neben mir. Er hatte versucht, mich zu wecken, weil ich so laut geschrieen hatte. Ich war völlig schweißgebadet, hatte Tränen in den Augen und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Noch nie hatte ich solche Angst gehabt, während ich träumte.“
 

„Und treten diese Träume noch häufiger auf?“
 

„Ja und ich habe das Gefühl, sie werden immer schlimmer. Wissen Sie, ich bin bereits vorbelastet, weil ich bereits an diesem Sally-Syndrom erkrankt war. Ich dachte zuerst, ich hätte einen Rückfall oder etwas in der Art, aber dann erfuhr ich, dass noch mehr von dem Umbra träumen.“
 

„Wie oft träumen Sie von ihm?“
 

„Am Anfang war es noch recht selten, aber dann häuften sich diese Träume schnell. Jetzt vergeht keine Nacht mehr, in der er mich nicht verfolgt. Selbst wenn ich nicht schlafe…“
 

„Wie meinen Sie das?“
 

„Ich hab ihn gesehen, Gott verdammt!!! Ich ging zu einem Abendspaziergang heraus und da sah ich ihn unter einer Straßenlaterne stehen. Es war dieses… Ding! Es starrte mich an und dann kam es auf mich zu.“
 

„Dann ist der Umbra also ein reales Wesen?“
 

„Es ist real geworden, verstehen Sie? Ich meine, so ein Monster kann es doch nicht geben. Und nun taucht es immer nachts auf und schaut zu mir in die Wohnung hinauf.“
 

„Hat der Umbra Sie jemals bedroht oder körperlich angegriffen?“
 

„Nein, zum Glück noch nicht. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Aber ich habe unheimliche Geschichten gehört. Wissen Sie, ich habe mit mehreren Leuten gechattet, die ebenfalls vom Umbra verfolgt werden. Einer wachte eines Morgens auf und ihm fehlten beide Beine. Dabei war nicht mal eine Wunde zu sehen. Es sah so aus, als hätte er nie welche gehabt. Und ein Angehöriger schrieb mir, dass einem anderen sämtliche Organe entfernt worden waren, ohne eine Verletzung oder eine Narbe zu hinterlassen. Als hätte er niemals welche besessen. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will? Der Umbra raubt seinen Opfern Teile des Körpers, ohne Spuren zu hinterlassen. Ist das nicht bizarr? Ein Nachbar von mir, der ebenfalls verfolgt wurde, hatte eines Tages keinerlei Muskelgewebe mehr. Rein gar nichts. Und einem anderen fehlten die Knochen. Andere wiederum sollen ganz verschwunden sein. Was… was hat das zu bedeuten? Was zum Teufel ist das bloß für eine Kreatur?“
 

„Ich kann leider noch nichts Genaues darüber sagen. Aber Sie sagen, dass der Umbra Sie erst seit Ihrem Traum verfolgt. Glauben Sie, dass ein Zusammenhang zwischen Ihren Träumen und dem regelmäßigen Auftauchen des Umbras besteht?“
 

„Ich glaube schon. Anders kann ich es mir nicht erklären. Dieses Ding kommt mir sowieso irgendwie vor, als sei es aus einem kranken Horrorfilm oder einem Alptraum entsprungen. Bitte sagen Sie mir, was hier eigentlich vor sich geht!“
 

„Wie gesagt, ich kann noch nichts Genaues dazu sagen, denn mir ist so ein seltsamer Fall noch nicht untergekommen. Dass der Umbra seinen Opfern im Tiefschlaf Organe, Knochen, Muskeln oder sogar ganze Körperteile raubt, klingt für mich danach, als würde er versuchen, sich Menschliches anzueignen. Nur kann ich mir den Grund nicht erklären und wie er das alles anstellt. In der Tat scheint er kein Mensch aber auch kein Tier zu sein. Was können Sie mir noch zum Umbra sagen?“
 

„Er ist immer nur nachts unterwegs und soweit ich weiß, hält er sich immer nur in Wohngebieten auf, vorzugsweise in ruhig gelegenen Gebieten. Es scheint, als hasst er das Sonnenlicht. Deswegen lass ich nachts auch immer etwas Licht im Zimmer brennen, um zu verhindern, dass er ins Haus eindringt. Aber trotzdem habe ich Angst, dass ihn das bald auch nicht mehr aufhalten wird.“
 

„Haben Sie jemals einen Versuch unternommen, ihn zu verletzen oder zu verjagen?“
 

„Jonathan hatte sich, nachdem der Umbra immer häufiger nachts auftauchte, eine Waffe zugelegt. Er hatte sie griffbereit unter dem Bett, damit ich mich etwas sicherer fühlte. Eines Nachts schließlich geschah es, dass der Strom im Haus ausfiel, als es gewitterte. Ich hatte wieder einen Alptraum und war aufgewacht. Ich dachte… ich dachte ich träumte noch, weil Umbra plötzlich vor meinem Bett stand. Er stand da und schaute auf mich hinunter und ich schaffte es nicht sofort, zu schreien. Jonathan fuhr hoch und sah es selbst, dann griff er das Gewehr und schoss dem Umbra ins Gesicht. Aber… da passierte gar nichts. Die Kugeln verschwanden einfach in ihm, als hätte er sie einfach absorbiert. Normalerweise fliegt einem doch der halbe Schädel bei so einem Schuss weg, aber die Kugeln verschwanden einfach.“
 

„Was passierte dann?“
 

„Jonathan wollte erneut schießen, da packte dieses Wesen ihn und… und…“
 

Ein heftiges aufgelöstes Schluchzen ist zu hören, das lange andauert.
 

„Schon gut Ms. Wallace, Sie müssen sich zu nichts zwingen. Wenn es Sie zu sehr schmerzt, können wir an dieser Stelle abbrechen.“
 

„Nein… es ist schon gut. Also dieses Wesen packte Jonathan und dann öffnete sich sein Parka. Jonathan schrie und wehrte sich, doch dann drehte der Umbra ihm den Hals um, bevor er ihn in seinen Parka schob. Jonathan verschwand langsam in ihm und ich versuchte, ihn zu retten. Ich packte Jonathans Füße und zerrte an ihm. Es gab einen heftigen Ruck, da fiel er wieder heraus. Aber… seine obere Hälfte fehlte. Da war kein Blut, keine offene Wunde. Alles sah so sauber aus, als wäre es nie anders gewesen. Dieses verdammte Mistvieh hat Jonathan getötet.“
 

Erneut ist ein heftiges Schluchzen und Weinen zu vernehmen.
 

„Und was passierte, als Jonathan getötet wurde?“
 

„Ich ergriff eine Taschenlampe und richtete sie auf das Ding. Dann schoss ich mit dem Gewehr. Ich traf es direkt in den Bauch und dann hörte ich so etwas wie einen Schrei.“
 

„Einen Schrei?“
 

„Es klang wie… wie das Kreischen einer sich drehenden Kreissäge. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so etwas Schreckliches gehört. Ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut, ich verfiel in Angst und begann ebenfalls zu schreien. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Angst ich hatte… dieses Ding hat so fürchterlich geschrieen, dass ich glaubte, ich würde gleich den Verstand verlieren. Ich hab mich zusammengekauert und mir die Ohren zugehalten. Und dann war es plötzlich still im Zimmer.“
 

„Der Umbra war fort?“
 

„Ja. Einfach weg, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Dabei waren Türen und Fenster die ganze Zeit über verschlossen. Merkwürdigerweise funktionierte kurz darauf auch das Licht wieder. Vielleicht hängt das ja alles damit zusammen, dass der Umbra in unser Haus eingedrungen ist und warum dieses Wesen solch einen Namen trägt: Es kann nur im Schatten und in der Dunkelheit leben. Deshalb ist es nur nachts aktiv.“
 

„…“
 

„Was… was haben Sie? Stimmt etwas nicht mit Ihnen?“
 

„Ich dachte gerade nach. Sagen Sie, hat Umbra Sie danach noch mal aufgesucht?“
 

„Zwei Wochen lang hatte ich Ruhe, aber dann stand er wieder draußen. Was soll ich nur tun? Bitte sagen Sie mir, was kann ich gegen dieses Monster denn ausrichten?“
 

„…“
 

„Oder… oder gibt es keine Möglichkeit?“
 

„Leider ist mir nicht bekannt, wie man es dauerhaft fernhalten kann, außer durch Lichtquellen. Wie Sie schon sagten, lebt Umbra in der Dunkelheit und er lebt von ihr. Er ist ein Schatten, die verkörperte Leere. Ein unvollständiges Wesen, das sich zu ergänzen versucht, indem es Menschen oder zumindest Teile von ihnen absorbiert. Doch egal wie viel es auch absorbiert, es wird alles zu Nichts.“
 

„Und woher kommt dieses Ding?“
 

„Es gab in den Fünfziger Jahren ein sowjetisches Projekt in der damaligen DDR. Man versuchte, ein Wesen zu erforschen, das die Macht besaß, Träume und Realität zu beeinflussen. Diese Macht wollten sie auf Menschen übertragen und dabei ist vermutlich ein solches Experiment schief gelaufen und führte dazu, dass Umbra geboren wurde. Ob es mal ein menschliches Wesen war oder ob es sich um etwas handelt, das von ihnen erschaffen wurde, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.“
 

„Woher wissen Sie so viel darüber?“
 

„Ich habe mich in der letzten Zeit viel mit diesem Wesen beschäftigt. Sie müssen wissen, einige meiner Kunden werden ebenfalls seit geraumer Zeit von Umbra bedroht.“
 

„Und was kann ich tun, um mich vor diesem Ding zu schützen?“
 

„Lassen Sie das Licht nachts im Haus an. Und gehen Sie bei Dunkelheit auf keinen Fall nach draußen. Das ist leider die einzige Chance, die Sie momentan haben, um am Leben zu bleiben.“

Die Katastrophe von Sunny Town

Erinnert ihr euch an den Glitch der ersten Pokemongeneration, der Sunny Town genannt wird? Es ist eine Stadt, die aus einem Gewirr aus Pixeln besteht und der man von selbst nicht mehr entkommen kann, wenn man ein Mal dort ist und zu weit weg geht. Dabei war die Stadt nicht immer so ein Wirr aus Datenmüll gewesen. Sie war einst eine blühende Stadt auf einer Insel gelegen, nicht weit von der Zinnoberinsel entfernt. Obwohl sie keine Arena besaß, war sie doch sehr groß besiedelt, da sie einen wunderbaren Strand hatte und somit ein beliebtes Ausflugsziel war. Neben einem Pokemoncenter und einem Supermarkt sowie einer Reihe von Wohnhäusern verfügte sie über wunderschöne Gärten, ein Forschungszentrum für Wissenschaftler und besaß eine einzigartige Attraktion, die es weder in Johto noch in Kanto gab: Einen richtigen Vergnügungspark, den so genannten „Sunny Park“ für Trainer und Pokemon. Trainer und Pokemonfreunde reisten von nah und fern nach Sunny Town und die Stadt gewann immer größeres Ansehen im Tourismusgewerbe. Sie wurde schließlich zu einer Großstadt und der Bürgermeister brachte schließlich den Plan ein, eine Pokemonarena in Sunny Town bauen zu lassen. Somit wäre Sunny Town nach Prismania City zur größten Stadt in ganz Kanto geworden. Schließlich kam es in den Anfängen der 90er Jahre zu den Klonforschungen. Archäologen hatten bei der Ausgrabung einer antiken Stadt versteinerte Härchen des Pokemon Mew entdeckt und glaubten, in dieser Probe den Schlüssel zum Ursprung aller Pokemon der ganzen Welt gefunden zu haben. Dies hätte einen enormen wissenschaftlichen Fortschritt in der Pokemonbiologie bedeutet und so reisten Wissenschaftler aus aller Welt zur Zinnoberinsel, um die Proben zu untersuchen. Dies erwies sich jedoch als schwierig, denn die Technologie war auf der kleinen Insel nicht ausgereift genug, um dort die Gen-Forschung in vollem Umfang zu gewährleisten. Da es außer Sunny Town keine andere Stadt in Kanto mit einem Forschungszentrum gab, einigten sich beide Orte darauf, miteinander zu kooperieren und die Arbeit aufzuteilen. So wurden die Erfassung der DNA-Struktur sowie die künstliche Züchtung von Embryos und Hybriden in Sunny Town durchgeführt, während die Entwicklung der Embryos sowie deren weiteres Wachstum auf der Zinnoberinsel stattfanden. Da die Proben begrenzt waren und somit ein aufwendiger Wechsel zwischen den beiden Orten, die durch das Meer voneinander getrennt waren, herrschte, musste man sich eine Lösung für dieses Problem einfallen lassen. Also fasste man den Entschluss, aus den vorhandenen DNA-Proben von Mew einen exakten Klon zu erschaffen. Da man Sunny Town jedoch nicht den ganzen Ruhm und das wissenschaftliche Ansehen gönnen wollte, wurde der Plan gefasst, die Erschaffung von Mewtu auf die Zinnoberinsel zu verlegen. Die Ergebnisse waren durchschlagend wie eine Bombe. Es gelang ihnen tatsächlich, ein Pokemon mit der exakt gleichen DNA, jedoch mit völlig anderen Erscheinungsbild von Mew zu erstellen und das war eine Sensation. Aber dann eskalierte alles schließlich, als Mewtu eine viel zu große Kraft entwickelte, als dass man sie hätte kontrollieren können. Der Klon begehrte gegen seine Schöpfer auf und zerstörte die gesamte Forschungsanlage auf der Zinnoberinsel, bevor es floh. Das war für die Gemeinde eine Katastrophe, vor allem, da zwar Teile der Forschungs- und Archäologieberichte erhalten geblieben aber dafür sämtliche Gerätschaften und Proben zerstört wurden, die erst die Klon-Forschung möglich machten. Der Schaden ging in die Millionenhöhe und bei der Zerstörung des Labors kamen vier Wissenschaftler ums Leben. Da die Kosten nicht bezahlt und vor allem die verlorenen Unterlagen und Forschungsergebnisse nicht ersetzt werden konnten, war dies das Ende der Klonforschung für die Zinnoberinsel. Man war gezwungen, diese in Sunny Town fortzuführen. Aber auch dort scheiterten die Versuche, aus bereits existierenden Pokemonarten Hybride zu erschaffen. Ein Nidozeros, welches eine Kreuzung aus einem Nidoking und einem Rhizeros werden sollte, verendete schon in den ersten Stunden, als es von der Sauerstoff- und Nahrungszufuhr getrennt wurde. Der Versuch, ein Evopix zu erschaffen, schlug fehl, da die Zellbildung bereits nach wenigen Stunden unterbrach und es somit gar nicht erst zu einem lebenden Organismus kam. Man stand vor einem Rätsel. Die Komponenten passten zusammen, da alle Pokemon denselben Ursprung hatten. Man konnte sich nicht erklären, wieso die Kreuzungsversuche ergebnislos blieben. Schließlich aber hatte Dr. Kawashima eine neue Idee: Die Digitalisierung der DNA sämtlicher bekannter Pokemon und allein über Computer die verschiedenen DNA-Stränge neu zu kombinieren und auf diese Weise lebensfähige Organismen zu erschaffen. Da diese Technologie bis dato noch nicht existierte und einen enormen Kostenfaktor bedeutete, musste man sich Sponsoren suchen, die sowohl das Geld als auch die Technologie gewährleisten konnten. Dieser war mit der Silph Co. schnell gefunden und gemeinsam mit Bill begann man mit der Digitalisierung von Pokemon. Dass dies möglich war, bezweifelte niemand, denn das von Bill entwickelte Pokeballsystem beruhte auf dem gleichen Prinzip. Zudem hatte er das allererste Lagerungssystem für Pokemon entwickelt und somit bewiesen, dass Pokemon durchaus in Daten umgewandelt und auf den Computer übertragen werden konnten. Dr. Kawashima und Bill schlossen sich zusammen und begannen mit der Entwicklung eines Systems, das die digitale Erschaffung von Hybriden ermöglichte, um somit völlig neue Pokemonarten zu erschaffen. Dies dauerte allerdings noch einige Jahre, bis endlich erste Erfolge zu verzeichnen waren. In einem Versuch gelang es Bill und Dr. Kawashima, ein völlig neues Pokemon zu erschaffen, das sie Porygon nannten. Die Silph Co. war von diesem Erfolg begeistert und sicherte dem Forschungsteam weitere Gelder zu, wenn es ihnen gelänge, völlig neue Typkreuzungen zu erschaffen. Die Ziele waren sehr hochgesteckt und bedeuteten einen enormen Zeit- und Arbeitsaufwand. Trotzdem war man zuversichtlich und motiviert durch den ersten geglückten Versuch, ein Pokemon aus digital erfasster DNA zu erschaffen und vor allem lebensfähig zu machen, begann man mit der Arbeit. Die ersten Versuche waren eher von bescheidenem Erfolg gekrönt. Es gelang in einigen Experimenten, eine Kreuzung aus Boden- und Wassertyp zu erschaffen, allerdings entsprach das Ergebnis noch nicht den eigentlichen Vorstellungen. Es kam schließlich zu weiteren Kreuzungsversuchen. Normal- und Flugkombination, Wasser und Gestein, Käfer und Gestein und schließlich sogar Feuer und Gestein. Den größten Erfolg bis dato verzeichnete man aber damit, es tatsächlich geschafft zu haben, Eis- und Flugtypen sowie Donner- und Flugtypen erfolgreich erschaffen zu haben, zwei im krassen Gegensatz stehende Typen. Die Pokemon waren allerdings viel zu stark, als dass man sie hätte unter Kontrolle halten können und da man eine Katastrophe wie auf der Zinnoberinsel vermeiden wollte, ließ man die Pokemon nach erfolgreicher Vorstellung vor den Sponsoren frei. Viele von ihnen verdrängten im Laufe der Zeit einheimische Pokemontypen, es kam zu weiteren ungewollten Kreuzungen, woraufhin Pokemon, die zuvor nur einer einzelnen Typgattung zugehörten, im Laufe der Zeit Mischtypen entwickelten. Dies sorgte für einige Debatten in der Bevölkerung und man diskutierte, ob diese Kreuzungsforschungen nicht vielleicht gefährliche Auswirkungen haben könnten. Bill und Dr. Kawashima gelang es in einem offiziellen Statement, die Bevölkerung zu überzeugen, dass die Entstehung neuer Mischtypen keine allzu großen Nebenwirkungen auf die Umwelt haben würde. Eher zeigten sich bald Forscher begeistert, als sie entdeckten, dass es im Laufe der Jahre zu neuen Mutationen kam und sich vollkommen neue und bis dato unbekannte Typen entwickelten, wie etwa Unlicht, Stahl und Drache. Auch begannen die neu entstandenen Hybride, sich zu paaren und Nachkommen zu zeugen. Da aber in der Kanto-Region der Platz allmählich knapp wurde, kam es zu einer Art Pokemonwanderung in die nahe gelegene Johto-Region. Die Hybridforschung wurde Jahre später zum Selbstläufer. Immer mehr neue Arten entwickelten sich durch neue natürliche Typkombinationen durch Paarung von Hybriden und normalen Pokemon und die Mutationen häuften sich. Aber das geschah erst einige Jahre später, denn Dr. Kawashima hatte es sich zum Ziel gemacht, ein weiteres Pokemon ähnlich wie Porygon aus puren Daten zu erschaffen. Nur dieses Mal sollte es nicht aus Fragmenten von bereits bekannter Pokemon-DNA bestehen (denn Porygon bestand aus DNA-Fragmenten des Normaltyps als Basis). Nein, die Wissenschaftlerin wollte einen völlig neuen Typ erschaffen und damit ein zu 100% künstlich geschaffenes Pokemon kreieren. Bill warnte Kawashima jedoch ausdrücklich davor, dass es gefährlich werden konnte, DNA nach Gutdünken zu erstellen. Man konnte mit Missbildungen oder Einschränkungen rechnen. Er zweifelte zudem, dass das Pokemon überhaupt lebensfähig sein würde, wenn es nicht teilweise aus natürlicher DNA bestand. Aber Kawashima ignorierte die Warnungen und begann mit der Arbeit. Die Ergebnisse waren aber genau das, was Bill prognostiziert hatte: Missgestalten und lebensunfähige Organismen. Teilweise waren die Fehlbildungen der künstlichen Pokemon so gravierend, dass er Kawashima dazu riet, die Versuche einzustellen. Es kam zum heftigen Zerwürfnis der beiden, in welcher Bill schließlich seine Zusammenarbeit mit ihr beendete und in sein Küstenhaus in Azuria City zurückkehrte und dort an einer Zeitmaschine und dem Zelltransporter baute, mit dem man Menschen in Pokemon umwandeln konnte. Er arbeitete weiterhin für die Silph Co. und konnte durch ihre Gelder seine Forschungen weiterfinanzieren. Erschüttert über die schockierenden Ergebnisse von Kawashimas Experimenten wechselte er nie wieder ein Wort mit der Wissenschaftlerin und wollte auch seiner Familie gegenüber kein einziges Wort über sie und die Versuche verlieren. Das Thema war für ihn endgültig beendet.
 

Dr. Kawashima hingegen führte ihre Experimente weiter fort, ohne Rücksicht auf das Elend, das sie über die missgestalteten Pokemon brachte und immer mehr Kollegen wandten sich von ihren radikalen Methoden ab. Angestachelt durch die vielen Fehlschläge engagierte sie sich noch mehr und versuchte, durch künstlich hervorgerufene Mutationen neue Typen zu erschaffen. Die fehlgeschlagenen Produkte ihrer Arbeit wurden entweder eingeschläfert oder anderweitig beseitigt. Um die teilweise barbarischen Zustände zu vertuschen, bestach Kawashima die örtlichen Behörden und Politiker und setzte Kollegen massiv unter Druck. So konnte sie ihre Forschungen weiter unbehelligt fortsetzen, bis es jedoch eines Tages zu einem Unfall kam. Ein Computervirus hatte sich ins System eingeschlichen und dabei auch die im Archiv eingelagerten Fehlversuche und digitalisierte Pokemon-DNA infiziert. Der Prozess lief schleichend ab und blieb lange unbemerkt, bis der Virus sich explosionsartig auf das System der gesamten Anlage ausbreitete. Man zog die Reißleine und schaltete das System sofort ab, um eine Katastrophe zu verhindern, aber Kawashima war nicht schnell genug, um den Umwandler vom System zu trennen. Dies hatte zur Folge, dass der durch den Virus entstandene Datenmüll umgewandelt wurde und somit auf die reale Welt überging. Kawashima reagierte sofort und löste sofort den Alarm aus, das Gebäude wurde evakuiert und abgeschottet. Gas wurde in die Forschungsanlage geleitet, in der Hoffnung, das undefinierbare Wesen somit bekämpfen zu können, aber da es aus virenverseuchten Daten bestand, zeigte dies keinerlei Wirkung. Stattdessen begann das Wesen nun damit, die gesamte Anlage zu infizieren und mit ihr die ebenso eingesperrten Pokemon. Dr. Kawashima und ihre Kollegen mussten mit ansehen, wie die Kreatur nach und nach das Forschungszentrum selbst in Datenmüll verwandelte. Da die Bedrohung sehr ernst war und man schnell handeln musste, rückte das Militär an, um die Vernichtung des Wesens in die Wege zu leiten. Trainer, die sich nicht besser zu helfen wussten, schickten ihre Pokemon in den Kampf. Doch das Wesen war nicht aufzuhalten, weder durch Pokemonangriffe, noch durch Waffen. Da es selbst keine Attacken besaß außer Verzweifler, wusste niemand, als was man dieses Gewirr denn nun einordnen sollte. Zwar gelang es einigen Trainern, das Wesen zu verletzen, jedoch infizierten sich dabei auch die Pokemon, wenn sie mit der Kreatur in Kontakt kamen und verwandelten sich schließlich auch in Datenmüll. Der allgemeine Notstand wurde ausgerufen, Sunny Town musste evakuiert werden. Da sich das virenverseuchte Datenwesen immer weiter ausbreitete und ein Bild von Chaos und Zerstörung hinterließ, kam es bei der Evakuierung zur Massenpanik. Menschen wurden umgestoßen und totgetrampelt, auch Pokemon kamen dabei ums Leben. Da man aber befürchtete, Menschen und Pokemon auf der Insel könnten sich ebenfalls infiziert haben und somit ganz Kanto in Gefahr bringen, erklärte das Militär Sunny Town zur Quarantänezone. Einwohner mussten dort bleiben und auf den Seuchenschutz warten, aber die Angst vor dem sich weiter ausbreitenden Datenmüll war zu groß. Es kam zum gewaltsamen Aufstand und jeder, der Widerstand leistete, wurde auf der Stelle erschossen. Zivilisten, Trainer und Pokemon verloren ihr Leben. Wer nicht erschossen wurde, fiel dem parasitären Wesen, das sie schließlich als Missingno bezeichneten, zum Opfer. Da eine Flucht von Sunny Town unmöglich war und man wusste, dass niemand leben entkommen würde, wählten Trainer und Zivilisten den letzten verbleibenden Ausweg, um nicht Opfer von Missingno und damit zu seinem Abbild zu werden. Es kam zu einem Massensuizid, bei dem die Trainer ihre Pokemon töteten und schließlich sich selbst das Leben nahmen. Auch ließen sich viele von ihnen freiwillig vom Militär erschießen. Unter den Opfern war auch Dr. Kawashima. Bis heute ist die Insel, wo Sunny Town liegt, militärisches Sperrgebiet und wurde von der Karte entfernt. Die Angst über eine eventuelle Ausbreitung von Missingno war groß genug, sodass alle darüber schwiegen, die von der Katastrophe wussten. Sunny Town geriet schließlich in Vergessenheit. Wer versuchte, das Meer in Richtung der Insel zu erreichen, stieß gegen eine Barriere, die vom Militär errichtet wurde. Doch war es einem Ableger von Missingno gelungen, diese entweder zu überschreiten oder aber vor ihrer Errichtung von der Insel zu entkommen und versteckte sich seitdem an der östlichen Küste vor der Zinnoberinsel, nahe der Pokemonarena.

Sunny Town ist seitdem nicht mehr auf normalem Seewege zu erreichen, jedoch entstand Jahre später das Gerücht, es wäre über gewisse Umwege möglich, Sunny Town von der Luft aus zu erreichen. Es kam zu einigen Versuchen, von denen einige offenbar gelungen waren. Jedoch war kein Trainer, der angeblich Sunny Town erreicht hatte, jemals lebend wieder zurückgekehrt und bis heute gelten sie als vermisst.

Der Alptraum von Lavandia: Erster Eintrag

Um es vorab zu sagen, habe ich niemals wirklich an die Echtheit dieser ganzen Creepypastas geglaubt, sie aber trotzdem ab und zu gerne gelesen. Besonders Strangled Red, Lost Silver und Snow on Mt. Silver gehören zu meinen Favoriten und ich finde sie sehr gut und im Internet findet man sogar Fake-Aufzeichnungen. Ich gebe zu, dass ich vor kurzem selbst diese Spiele am PC gespielt habe, einfach um ein Gefühl dafür zu bekommen. Aber selbst habe ich nie solche Easter Eggs oder versteckte Bossgegner gefunden, was in meinen Augen damit auch beweist, dass sie nur erfunden sind. Warum ich dies hier schreibe, will ich euch erklären, aber dazu muss ich etwas weiter zurückgehen. Als ich acht Jahre alt war, schenkten mir meine Eltern einen uralten Gameboy, nicht den Color sondern den ganz alten, der viel zu groß war und zudem keine Farben hatte. Dazu bekam ich als Spiele Pokemon Rot, Super Mario und Space Invaders. Ich war noch nie ein großer Fan der Mario-Reihe und so gab ich meinem jüngeren Bruder das Mariospiel und Space Invaders, behielt aber selbst Pokemon. An unserer Schule war es der absolute Trend zu der Zeit und ich gehörte auch zu denen, die die Karten gesammelt hatten und sogar Pokemonbettwäsche besaß. Der größte Schatz jedoch war die rote Edition. Die erste Generation war zu der Zeit gerade erst seit drei Jahren auf dem Markt und ich spielte sie Tag und Nacht. Als mein erstes Pokemon wählte ich Glumanda und schon zu Anfang gab ich jedem Pokemon Spitznamen. Ich liebte diese kleinen Pixelmonster wie eigene Haustiere, da ich selbst nie welche haben durfte. Glumanda gehörte neben Mew zu meinen Lieblingspokemon, Pikachu kam ab der gelben Edition dazu. Ich nannte es Evan und kämpfte mit ihm öfter als mit allen anderen Pokemon. Das rächte sich aber schnell mit dem ersten Arenakampf gegen Rocko, als sich zeigte, dass Evan oft unterlegen war und wenig gegen Kleinstein und Onix ausrichten konnte. Daraufhin fing ich noch weitere Pokemon, darunter ein Hornliu, ein männliches Nidoran und ein Taubsi, die ich ebenfalls hochtrainierte und ganz knapp gelang es mir tatsächlich, den ersten Orden zu gewinnen. Danach wurde es aber auch nicht einfacher für mich. Die Irrreise am Mondberg wollte kein Ende nehmen, da ich mir nie wirklich merken konnte, wo ich schon gewesen war und wie ich zum Ausgang gelangte. Ich war eben acht Jahre alt und konnte gerade erst seit einem Jahr lesen. Nach fast zwei Tagen frustrierender Suche und unzähligen Verbrauchen von Fluchtseilen gelang es mir endlich, Azuria City zu erreichen in der Hoffnung, dass mir eine kleine Verschnaufpause vergönnt war. Auch hier wurde mir wieder ein Strich durch die Rechnung gemacht, denn die Nuggetbrücke und vor allem die Arenaleiterin Misty machten mir wirklich zu schaffen. Ich gebe zu, gerade darin lag ja der Reiz, dass gerade diese Herausforderungen den Reiz dieses Spiels ausmachten und die zweite Generation war bei weitem nicht so schwer und anspruchsvoll gewesen wie die erste. Auch wenn sie dafür graphisch mehr zu bieten hatte und ich die Pokemon der zweiten sogar noch besser fand. Die meiste Spielzeit verbrachte ich damit, zwischen Trainern bzw. hohem Gras und dem Pokecenter hin und her zu pendeln, da meine Pokemon sehr oft verletzt, paralysiert, vergiftet oder besiegt waren. Doch das harte Training zahlte sich aus und ich hatte richtige Glücksgefühle, als ich auch Misty besiegt hatte und meine Reise fortsetzen konnte. Besonders stolz war ich aber, als sich meine Pokemon weiterentwickelten und neue Attacken entwickelten oder ein höheres Level erreichten. Meine vollentwickelten Insektenpokemon wechselte ich schließlich gegen ein Rettan und ein Kleinstein aus, da ich der Meinung war, am längsten mit einem Gesteinspokemon durchhalten zu können, wenn auf längere Zeit kein Pokecenter folgte. Tatsächlich fand ich mich schließlich vor einer Höhle, nämlich dem Felstunnel, wieder, der den momentan einzig möglichen Weg nach Lavandia darstellte. Der Zugang nach Saffronia City war, wie sich einige Spieler der ersten Generation vielleicht erinnern werden, versperrt, da der Wachmann einen nicht durchließ. Also war man gezwungen, einen Umweg über den Fahrradtunnel nach Orania City nehmen. Auf der M.S. Anne wurde allerdings wieder mit starken Gegnern konfrontiert, weshalb sich meine Besuche im Pokecenter wieder häuften. Evan war mitunter anderem derjenige, der am meisten einstecken musste, aber ich schaffte es aber trotz allem, meinen Rivalen Blau zu besiegen und mir vom Kapitän der M.S. Anne den Zerschneider zu holen, damit ich in die Arena von Orania City kam. Auch dort schaffte ich es, Major Bob zu besiegen, nachdem ich den Trick mit den versteckten Schaltern verstanden hatte. Mein Enthusiasmus konnte kaum gebremst werden und da ich gezwungen war, zurück nach Azuria City zu gehen und von dort aus den Felstunnel zu nehmen, brauchte ich wieder eine Weile. Ich nahm ein Piepi mit ins Team, das ich Anneliese genannt hatte und brachte ihr Blitz bei, da der Felstunnel stockdunkel war. Da ich euch meinen miserablen Orientierungssinn im Kindesalter sehr gut geschildert habe, brauche ich wohl nicht weiter zu erläutern, dass ich ziemlich lange brauchte, um diesen verdammten Tunnel endlich wieder zu verlassen. Nur ein einziges Mal musste ich Fluchtseil einsetzen, um zum Pokecenter zu gelangen, was für mich ein sehr gutes Zeichen war.

Ich erinnere mich gut daran, wie ich Lavandia erreichte und diese Musik zu spielen begann. Okay, fast überall wird ausgerechnet die Lavandia Musik als der Beginn eines schrecklichen und unheimlichen Ereignisses gespielt und viele in meiner Klasse beschrieben die Musik als gruselig und beängstigend. Ich selbst fand sie gar nicht so schlimm, mochte sie aber auch nicht direkt und drehte deswegen auch die Lautstärke runter. Die Stadt selbst wirkte nicht gerade interessant auf mich, insbesondere, weil sie keine Arena besaß. Dafür aber erweckte der Turm von Lavandia mein Interesse, da er das erste hohe Gebäude war, das ich sah. Bevor ich aber hineinging, sah ich mich in den Häusern um und traf schließlich das kleine Kind, das mir von der weißen Hand erzählte. Auch das jagte mir keinen sonderlichen Schrecken ein, da ich schon als kleines Kind nicht an Geister glaubte und auch nicht an eine weiße Hand. Alles änderte sich jedoch, als ich den Lavandia Turm betrat und ich diese unendlich traurige und unheimliche Melodie sogleich hörte. Ab da verschwammen meine Erinnerungen und ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, was mich in diesem Turm so traumatisiert hatte. Ich weiß nur, wie sehr ich geweint hatte und ich nächtelang unter schrecklichen Alpträumen litt, in denen tote Pokemon mich verfolgten und sich auf mich stürzten. Ich hörte sofort auf zu spielen und meine Eltern nahmen mir die Edition weg, weil sie der Ansicht waren, es wäre wohl doch nichts für mich, wenn es mich so sehr verstörte. Sie fragten mich, warum ich so heftig weinte, aber an die genauen Worte kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Als ich knapp 14 Jahre später fragte, sagten sie mir, dass ich schreckliche Angst gehabt hätte, meine Pokemon weiterzutrainieren, weil sie dann bald sterben würden. Natürlich war das absoluter Quatsch, denn Pokemon konnten im Spiel nicht sterben, immerhin war es ein Spiel für Kinder. Aber trotzdem verstörten mich die Trainer, die davon sprachen, dass ihre geliebten Pokemon verstorben seien. Da ich mit dem Tode bislang so noch nicht konfrontiert worden war, war es irgendwie schon verständlich, dass mich dieses Erlebnis so traf. Besonders Knoggas Geschichte hatte mich sehr getroffen. Fast drei Jahre spielte ich Pokemon nicht mehr, bis ich schließlich die gelbe und dann die silberne Edition kaufte. Diese Spiele zu spielen, war für mich überhaupt kein Problem und ich hatte diese Geschichte im Lavandia Turm längst vergessen, fühlte mich aber trotzdem unwohl, als ich diesen in der gelben Edition betrat. Nachdem ich diese Editionen durchgespielt hatte und Pokemon eine Zeit lang aus der Mode kam, verlor ich das Interesse und verkaufte meine gelbe und silberne Edition schließlich. Zwar hörte ich von der Neuauflage von Rot und Blau und dass Pokemon Rubin und Saphir herauskamen, aber ich sah nicht ein, mir extra dafür eine neue Konsole zu kaufen. Vor allem, weil ich mich mit dieser neuen Grafik nicht anfreunden konnte. Auch die vierte und fünfte und schließlich auch die sechste reizten mich nicht besonders, wobei ich aber zugeben musste, dass mich Pokemon Schwarz und Weiß schon interessierten. Allein schon von der Story her und weil ich N so cool fand. Das animierte mich schließlich dazu, die gute alte Zeit wieder aufleben zu lassen und mich wieder an meine alten Spiele heranzuwagen. Ich kaufte mir zu allererst Kristall, da diese sich von der silbernen und goldenen unterschied und technisch etwas ausgefeilter war. Nachdem ich die Edition komplett durchgespielt hatte, sehnte ich mich nach der ersten Generation zurück. Ich erinnerte mich an die Zeit, wo ich stundenlang durch die Tunnel geirrt war und wie ich besonders bei der Silph Co. verzweifelt bin, da ich mich über 14 Stockwerke hin und her teleportieren musste und dabei alles mitnehmen wollte, auch das Lapras. Außerdem diese Suche im Versteck von Team Rocket hatte mir sehr viel Spaß bereitet und so beschloss ich, noch ein Mal die erste Generation zu spielen. Da mein Bruder sich die gelbe Edition mal gekauft hatte, sie aber selbst nicht mehr benutzte, konnte ich diese spielen und auch den alten Spielstand löschen. Ich erfuhr aber dann, dass es einen alten Cheat gab, mit dem man Missingno treffen und so seine Items ins Enorme steigern konnte, wenn man es richtig machte. Zwar versuchte ich es, fand aber schließlich heraus, dass dies nur auf der roten und blauen möglich war. Auf der gelben Edition war dieser Glitch bereits wieder behoben worden.

Hier erinnerte ich mich nach 14 Jahren wieder, dass ich vor langer Zeit mal eine rote Edition besessen, sie aber nie ganz durchgespielt hatte. Ich fragte meine Mutter, ob sie wüsste, ob sie das Spiel noch irgendwo in Verwahrung hätte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie es mir damals weggenommen hatte, sie machte mir allerdings wenig Hoffnung. Zwei Jahre, nachdem das geschah, waren wir nämlich umgezogen und dabei gehen ab und zu Sachen verloren. Ich durchsuchte alles und fand schließlich die alte Edition, die sich in einer Kiste mit alten Sachen in unserem Keller befand. Sie war ziemlich verstaubt und das Bild mit dem Glurak war ziemlich verblichen und an den Ecken etwas angekratzt, sah aber noch gut aus. Es brauchte einige Versuche, bis das Modul von meinem alten Gameboy erkannt wurde und ich fragte mich, wieso ich damals aufgehört hatte, es zu spielen. Meine Mutter sagte „Du warst damals ganz durcheinander und hast geweint. Ich weiß noch wie du sagtest, du hättest Angst, deine Pokemon zu trainieren, weil sie sonst sterben würden. Du hast schlimme Alpträume gehabt und deshalb musste ich es dir damals wegnehmen.“ Als sie das sagte, erinnerte ich mich langsam wieder, wie ich weinend mit dem Gameboy in der Hand dagesessen hatte und Angst hatte, weiterzuspielen. Ich musste darüber lachen, denn ich hatte ja die gelbe Edition gespielt und diese Erlebnisse im Pokemonturm waren zwar etwas bedrückend, aber nicht sonderlich schockierend. Da ich an diesem Tag lange Schule hatte, fand ich erst am Abend wieder die Zeit, um mein allererstes Pokemonspiel zu spielen. Als ich den Spielstand überprüfte, stellte ich fest, dass ich gerade erst drei Orden hatte und insgesamt 23 Pokemon besaß. Merkwürdig, dachte ich als ich den Spielstand lud und mich vor dem Lavandia Turm wiederfand. Ich war noch gar nicht in Prismania City gewesen, dabei brauchte ich doch das Silph Scope, um die Geister identifizieren zu können. Wieso hat mich das Spiel dann so traumatisiert, wenn ich doch gar nicht so weit gekommen war? Ich beschloss, erst einmal das Silph Scope zu besorgen und machte mich dazu auf den Weg nach Prismania City. Es passierte nichts Ungewöhnliches, alles lief vollkommen normal. Ich besiegte sämtliche Trainer auf meinem Weg und ging ins Gras, um Pokemon zu fangen oder mein eigenes Team zu trainieren. Dabei bemerkte ich aber, dass mein Team viel schwächer war als ich in Erinnerung hatte. Obwohl ich Evan auf Level 28 trainiert hatte, schaffte er es kaum, die Pflanzenpokemon von der Arenaleiterin Erika zu besiegen. Dabei setzte ich sehr oft Feuerattacken ein, die sehr effektiv waren. Auch der Rest meines Teams war viel schwächer geworden. Ich verlor den Kampf gegen Erika, schaltete aus und lud den letzten Spielstand. Für mich stand fest, dass ich Verstärkung brauchte, um im Spiel weiterzukommen. Also lieh ich mir den Gameboy meines Bruders, steckte die Kristalledition hinein und führte meine beiden Charaktere ins Pokecenter, um ein wenig herumzutauschen. Ich wollte Evan gegen mein Kadabra „Merlin“ auf Level 45 tauschen, damit es sich zu einem Simsala weiterentwickelte. Mittels der Zeitmaschine war es möglich, Pokemon der alten Generation zu tauschen, solange sie keine für die alte Edition unbekannte Attacken beherrschten. Gleichzeitig wollte ich meinen Pokedex erweitern und sah eine Möglichkeit, Evan auf der Kristalledition besser trainieren zu können als auf der alten. Doch als ich zur Zeitmaschine ging und mit dem Tausch beginnen wollte, begann das Spiel sich ein wenig seltsam zu verhalten. Ich erhielt plötzlich die Nachricht „Der Tausch wurde abgebrochen“. Ich dachte zuerst, das Kabel sei nicht richtig angeschlossen und so zog ich es raus, steckte es noch einmal fest rein und wiederholte den Vorgang. Tatsächlich sah es zuerst danach aus, als würde es klappen, bis die Dame auf der roten Edition sagte „Es ist ein Fehler aufgetreten. Dein Freund hat den Tausch abgebrochen. Wieder ging ich von einem Fehler aus, sicherte die Spielstände und startete beide Konsolen noch mal neu. Doch egal wie oft ich es auch versuchte, ich konnte mein Team nicht tauschen. Nach weiteren Versuchen gab ich es auf und beschloss, meine Pokemon weiter zu trainieren. Ich schaltete den Gameboy mit der Kristalledition aus und spielte mit rot weiter. Ein Fenster erschien, wo ich ins Auswahlmenü zurückgeführt wurde, um zu entscheiden, ob ich tauschen, kämpfen oder abbrechen wollte. Ich wählte „Abbrechen“, doch statt der altbekannten Verabschiedung kam bloß ein „…“ und für einen kurzen Moment begann der Bildschirm heftig zu flackern, was wie heftiges Schneerieseln aussah. Dabei leuchtete kurz etwas rot auf und ich erschrak, als ich ein lautes Zischen hörte. Es dauerte für höchstens ein oder zwei Sekunden an, dann normalisierte sich der Bildschirm wieder. Schließlich ging ich runter zum PC, um Evan auf die Box abzulegen und dafür mein Nidorina "Nina" zurück ins Team zu holen, doch ich erhielt die Meldung, die Box sei voll. Also wechselte ich auf die nächste leere und wollte Evan da ablegen, aber dieses Mal stand in der Textbox „Es ist ein Fehler aufgetreten. Dieses Pokemon kann nicht abgelegt werden". So etwas war mir noch nie untergekommen und ich befürchtete, dass der Spielstand beschädigt sein könnte. Auch den Rest meines Teams konnte ich nicht auf der Box ablegen und so begann ich zu überlegen, ob es nicht besser wäre, den Spielstand zu löschen und noch einmal von vorn anzufangen. Ich schaltete den Gameboy aus und legte ihn für ein paar Tage beiseite. In der Nacht wachte ich schweißgebadet aus einem Alptraum auf. An den Inhalt dieses Traumes konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber trotzdem wusste ich, dass ich damals, als ich die rote Edition zuletzt gespielt hatte, genau den gleichen Alptraum hatte. Da ich nicht mehr schlafen konnte, schaltete ich den Gameboy wieder an und beschloss, es mit dem offensichtlich beschädigten Spielstand weiter zu versuchen. Mit einiger Mühe gelang es mir, trotz Typvorteil nur äußerst knapp, Erika zu besiegen und den Farborden zu gewinnen. Ich erhielt von ihr noch die TM „Megasauger“, aber dann erschien eine neue Textbox, in der stand „Du bist von einem dunklen Schatten umgeben. Ich spüre, dass sich in Lavandia etwas zusammenbraut. Nimm dies mit, es könnte dir helfen.“ Daraufhin gab sie mir ein Item, das einfach „???“ hieß und wieder begann ein kurz andauerndes Schneerieseln und ich glaubte, den Ruf eines Pokemons zu hören. Allerdings klang es so schrecklich verzerrt, dass ich es nicht zuordnen konnte. Eine Textbox erschien und ich las „Verschwinde sofort!“ Sofort lief ich in Richtung Ausgang und dabei setzte das Schneerieseln wieder ein. Dieses Mal war es so stark, dass ich kaum noch meinen eigenen Charakter ausmachen konnte. Eine Melodie begann zu spielen, die ich aber keiner der bekannten Tracks zuordnen konnte. Es klang schrecklich verzerrt und hörte sich an einigen Stellen an, als würde sie rückwärts gespielt werden. Ich schloss meine Kopfhörer an und versuchte, die Melodie aus dem lauten Rauschen herauszufiltern. Zuerst erinnerte sie mich an den unbekannten Radiosender, den man in der zweiten Generation in den Alph Ruinen empfangen konnte. Aber dann änderte sich das Geräusch und ich glaubte an den hohen Tönen die Musik des Lavandia Turms zu hören. Nur wurde sie verkehrt herum abgespielt. Als ich die Arena verlassen wollte, öffnete sich eine Textbox, die aber nur Fragmente enthielt:
 

„Wi… leben ni… m…. …sere… Sc…me… so… ge…n …d uns… Sc… gehört… w…“
 

Als sie sich schloss, ertönte wieder dieser unidentifizierbare Pokemonruf, der mir eine Gänsehaut bereitete. Sofort verließ ich die Arena und wollte schon den Gameboy ausschalten, aber als ich die fröhliche Musik von Prismania City hörte, ließ ich es doch. Meine Güte, sagte ich mir schließlich, als ich erleichtert durchgeatmet hatte. Das Spiel muss ziemlich kaputt sein. Aber seltsam fand ich das schon. Ich hatte die rote Edition nie durchgespielt, aber auf der gelben war mir so etwas noch nie passiert. Gleich am Morgen fragte ich meine Eltern, ob sie das Spiel damals vielleicht gebraucht gekauft hatten, denn in mir stieg langsam der Verdacht, jemand hätte es gehackt und irgendetwas eingebaut, um sich einen Scherz zu erlauben. Wie sich aber herausstellte, war das Spiel gar nicht gebraucht gekauft worden, sondern brandneu und ganz normal in einem Spielwarengeschäft gekauft worden. Also musste es sich entweder tatsächlich um ein defektes Spiel handeln, oder aber es war etwas einprogrammiert worden, das eigentlich nicht vorgesehen war. Vielleicht hatten die Entwickler von Pokemon nachträglich etwas in das Spiel eingefügt. Eine andere Möglichkeit, die ich aber erst viel später in Betracht zog, war, dass man etwas aus dem Spiel entfernen wollte, was dort nicht hingehören sollte. Nur war es offenbar nicht ganz gelungen. Wenn dem so war, wäre es doch Quatsch, jetzt einfach aufzuhören anstatt herauszufinden, was mich am Ende erwartete.

Also spielte ich weiter, auch auf die Gefahr hin, dass das Spiel total kaputt ging. Ich ging zur Spielhalle und kämpfte mich durch das Team Rocket Versteck, bis ich Giovanni traf. Der Kampf gegen ihn war schwer, insbesondere da ich typmäßig unterlegen war. Nur ganz knapp gelang mir der Sieg und als ich das Silph Scope erhielt, wurde ich plötzlich gefragt „Findest du nicht, dass es langsam an der Zeit ist, der Wahrheit ins Auge zu sehen, anstatt es immer noch zu verleugnen?“ Welche Wahrheit, fragte ich mich und hatte da wieder so ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Es musste mit meinem traumatischen Erlebnis vor 14 Jahren zu tun haben. Ich verließ das Team Rocket Versteck wieder und machte mich, nachdem ich im Einkaufszentrum ein Erfrischungsgetränk für den Wachmann gekauft hatte, auf den Weg nach Saffronia City, um nicht schon wieder einen Umweg machen zu müssen. Dort machte ich erst einmal einen Abstecher zum Pokecenter, um mein Team wieder auf Vordermann zu bringen und einen erneuten Versuch zu starten, meine Pokemon in der Box abzulegen. Das Ergebnis war dasselbe wie zuvor und der Text „Es ist ein Fehler aufgetreten. Dieses Pokemon kann nicht abgelegt werden“. Schließlich wagte ich einen Versuch und wollte mein Kleinstein „Rocky“ freilassen. Als ich auf die Option „Freilassen“ ging und diese wählte, hörte ich den Ruf meines Kleinsteins und dann einen schrillen und hohen Pfeifton, woraufhin wieder ein heftiges Schneerieseln begann. Ich wurde aus dem Menü geworfen und ich fand mich im Pokecenter wieder. Mein Spielcharakter Rot war am PC, allerdings konnte ich aufgrund des starken Schneerieselns kaum etwas erkennen. Dann aber sah ich, dass sich ein Sprite direkt hinter mir befand. Ich versuchte, mit dem kaum erkennbaren Sprite zu interagieren, allerdings war das Einzige, was er von sich gab ein völlig verglitchter Text, den man unmöglich entziffern konnte. Als das Schneerieseln aufhörte, spielte die Musik nicht mehr und ein lauter Pokemonschrei ertönte. Er klang schrecklich verzerrt, als würde es furchtbare Schmerzen haben. Wieder erschien eine Nachricht, doch sie gab wieder nur weitere kryptisches Kauderwelsch wieder, das ich nicht lesen konnte und kaum, dass sich das Textfeld schloss, bewegte sich mein Charakter langsam rückwärts ganz von alleine in Richtung Ausgang.

Zurück in Saffronia City herrschte immer noch Totenstille. Keine Musik spielte, lediglich die Soundeffekte funktionierten noch. Ich beschloss, den Rest der Strecke mit dem Fahrrad zu fahren, da erhielt ich eine Mitteilung von Professor Eich, der mir sagte, es sei nicht an der Zeit, dies zu benutzen. Na super, dachte ich. Jetzt geht das Spiel ganz kaputt. Jetzt kann ich nicht einmal mehr die Items nutzen. Ich ging den Rest des Weges zu Fuß nach Lavandia und sprach unterwegs einige der Trainer an, die ich zuvor besiegt hatte. Ihre Texte waren dieselben wie zuvor, aber immer, wenn sie den letzten Satz gesprochen hatten und ich den Text ein paar Sekunden noch geöffnet ließ, begann erneut ein Schneerieseln und ein Pfeifen erklang, das sich wie diese hohen Töne der Lavandia Turm Musik anhörte, allerdings immer nur eine einzige Sequenz. Und dabei sah ich es wieder: Diesen schattenhaften Sprite direkt hinter mir. Jedes Mal schloss ich den Text sofort, wenn ich diesen Schatten sah und dann normalisierte sich alles wieder. Oder zumindest fast, denn zwar wurde nicht mehr dieses laute Rauschen und Pfeifen gespielt, aber die Hintergrundmusik lief trotzdem nicht. Schließlich, als ich den letzten Trainer auf der Route traf, sprach ich auch diesen an und wartete, bis das Schneerieseln, Pfeifen und Rauschen wieder anfing. Dieses Mal öffnete sich eine neue Textbox: „… es tut so weh…“ Selbst als ich den A-Knopf drückte, womit sich das Textfeld schließen sollte, tat sich gar nichts. Das Spiel reagierte überhaupt nicht mehr. Stattdessen, war das Einzige, was ich lesen konnte:
 

„Es… es tut so weh. Bitte… mach, dass es aufhört. Ich… ich kann nicht mehr…“
 

Das Schneerauschen wurde so stark, dass ich schließlich gar nichts mehr erkennen konnte, nicht einmal mehr meinen eigenen Charakter Rot. Dafür wurde jetzt die Lavandia Musik rückwärts gespielt und sie klang wie ein schauriges Trauerlied. Ich schaltete das Spiel aus und legte es erst einmal zur Seite. Nach einer Weile schaltete ich es wieder ein und lud den vorherigen Spielstand. Dieses Mal ging ich nach Lavandia, ohne die Trainer anzusprechen, da ich fürchtete, dass das Spiel sonst wieder abstürzen würde. Doch als ich Lavandia erreichte, erschien eine Textbox:
 

„Hilf… mir… Diese Schmerzen… Es tut so weh…“
 

Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich das las. Irgendetwas Bizarres ging hier vor sich und langsam wurde mir die Sache unheimlich. Wenn ich das vor 14 Jahren fast genauso erlebt hatte, war es kein Wunder, dass ich damals unter Alpträumen litt und das Spiel nicht mehr weiterspielen wollte. In Lavandia fiel mir sofort etwas Merkwürdiges auf: der Supermarkt, der sich südlich des Turms befand, war nicht mehr da. Stattdessen war dort ein Feld aus durcheinandergeworfenen Pixeln, ein einziger Glitch. Auch neben dem Pokecenter befand sich ein verglitchtes Gebäude, das sich nicht identifizieren ließ. Als ich mich dem Pixelgewirr näherte, machten sich Störungen der Musik bemerkbar und zum Lavandia Theme wurden abgehackte Sequenzen einer anderen Hintergrundmusik abgespielt, die sich mit dem Lavandia Theme überschnitten. Dies hörte auf, sobald ich mich wieder entfernte. Ich sicherte meinen Spielstand und sprach noch mal das Mädchen vor dem Lavandia Turm an, das immer fragte, ob man an Geister glaubte. Einfach der guten Nostalgie wegen wählte ich „Nein“, sodass dann gefragt werden würde, warum dann eine weiße Hand an meiner Schulter wäre. Statt des bekannten Textes stand da plötzlich „Du verleugnest die Wahrheit also immer noch?“ Dieses Mal hatte ich die Auswahl zwischen „Ja“ und „…“. Ich wählte „…“ und darauf sagte das kleine Mädchen „Alles muss irgendwann einmal sterben. Menschen und Pokemon. Du musst es wissen… du hast es selbst gesehen.“ Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte. Wollte dieses Mädchen etwa auf etwas Bestimmtes hindeuten? Meine Mutter hatte gesagt, dass ich damals Angst gehabt hätte, meine Pokemon weiterzutrainieren, weil sie sonst sterben würden. „Was ist damals passiert?“ fragte ich laut, erwartete aber nicht, dass überhaupt eine Antwort kam. Wie denn auch, diese NPCs konnten mich ja nicht hören. Ich ging schließlich zum Eingang des Turms, als ein weiteres Textfeld sich öffnete „Ich gebe dir noch eine Chance…“

„Eine Chance? Wofür denn? Was soll das alles?“ Als sich das Textfeld schloss, bewegte sich Rot vom Eingang weg und sagte „Ich kann da nicht wieder hinein.“ Offenbar hatte Rot Angst, hineinzugehen. Aber warum sagte er „wieder“? Es musste mit den Erlebnissen von damals zu tun haben, kurz bevor meine Eltern mir die Edition weggenommen hatten. Ich musste unbedingt herausfinden, was passiert war und überhaupt hatte ich keine Wahl als in diesen Turm zu gehen, damit ich an die Pokemonflöte kam. Nur so konnte ich am schlafenden Relaxo vorbei, das den Weg blockierte. Also betrat ich den Pokemonturm und sofort erklang der Theme, der mich damals lange verfolgt hatte. Obwohl ich die Melodie schon von der gelben Edition her kannte, überkam mich mit einem Male Traurigkeit und kindliche Angst. Die Melodie war die Gleiche, es gab keinerlei Unterschiede zu der von der gelben Edition, aber trotzdem löste es ein Gefühl von Depression und Hilflosigkeit aus, was ich noch nie zuvor verspürt hatte. Ich wollte nur noch weinen. Kaum, dass ich einen Fuß in diesen gottverdammten Turm gesetzt hatte, wusste ich, dass meine Pokemon sterben würden, wenn ich noch weiterging. Raus… ich muss sofort raus, dachte ich und ging zurück, um den Turm zu verlassen. Als ich aber den Ausgang erreichte und hindurchgehen wollte, stoppte mich ein auftauchendes Textfeld, wo aber nur „…“ stand. Die Musik begann, sich zu verzerren und Schneerieseln trat wieder ein. Dabei sah ich wieder den Sprite hinter mir und ein neues Textfeld öffnete sich, wo aber nur Bruchstücke zu lesen waren:
 

„Uns… Sch… so… de… …re …rd… Du bist Sc… f… … wa… ges… …“
 

Ich hörte den Ruf eines Glutexo, nur klang er fürchterlich verzerrt, wie ein Wehklagen. Das Schneerieseln hörte wieder auf und Rot entfernte sich vom Ausgang. Jeglicher Versuch, den Turm zu verlassen, missglückte. Selbst, als ich mein Fluchtseil einsetzen wollte, erhielt ich die Mitteilung „Du kannst nicht davonlaufen.“
 

Erst jetzt überprüfte ich mein Team, da ich zunächst befürchtete, es könnte sich dort etwas verändert haben. Die Sprites meiner Pokemon sahen aber normal aus, allerdings glaubte ich, dass ihr Gesichtsausdruck irgendwie müde oder traurig aussah. Aber ihre Rufe klangen so verzerrt und langgezogen, was sich wie ein schreckliches Wehklagen anhörte in meinen Ohren. Insgeheim fürchtete ich das, was kommen würde, auch wenn ich nicht wusste, was es sein würde. Da nicht sofort in die obere Etage gehen wollte, sprach ich erst einmal die Trainer an, die sich im Erdgeschoss befanden. Dieses Mal waren ihre Sätze anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Statt über den Turm und über ihre gestorbenen Pokemon zu sprechen, sagten sie „Die Arenaleiterin wollte ihm helfen, aber selbst sie war gegen den Fluch machtlos. Wir waren alle so blind. Bitte verzeih mir…“ Wen meinten sie denn mit „ihm“? Ich bewegte Rot zur Treppe hin, da hier offensichtlich nichts Interessantes zu finden war. Bevor ich diese aber erreichte, wurde ich von der Exorzistin aufgehalten, die mir sagte „Der Schatten des Todes, der auf Lavandia lastet, ist auf euch übergegangen. Bete, dass es noch nicht zu spät ist.“ Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend ging ich die Treppe rauf in die erste Etage, wo mein Rivale Blau auf mich wartete. Er schaute sich nicht um, wie sonst auch sondern hielt seinen Blick starr nach oben gerichtet, als wolle er mich ignorieren. Ich ging näher heran und sprach ihn an, doch statt der einleitenden Musik, die auf einen bevorstehenden Rivalenkampf hindeutete, wurde weiterhin die Pokemonturm Musik gespielt. „…“ Das war das Einzige, was er sagte. Ich sprach ihn erneut an, wobei er sich umdrehte und das Rauschen wieder begann. Seine Augen begannen rot zu leuchten und wieder sah ich im Schneerieseln den Schatten, dieses Mal aber hinter Blau. „Hi… m… Hilf… mir….“ Das war das Einzige, was er sagte. Der Bildschirm färbte sich schwarz und ich hörte das vertraute Geräusch, wenn jemand eine Tür oder eine Treppe betrat. Daraufhin normalisierte sich alles wieder und Blau war verschwunden. Ich ging zuerst davon aus, er habe den Turm verlassen, wie es im originalen Spiel vorgesehen war, also machte ich mich auf den Weg zur nächsten Treppe. Neben dieser stand eine Exorzistin, die ich erst einmal ansprach, bevor ich mich auf den Kampf gegen eine große Zahl von Geistpokemon in den oberen Etagen einließ. Wer das Spiel kennt, wird sich erinnern, dass sie normalerweise sagt, dass selbst die Exorzisten nicht in der Lage seien, die Geister zu identifizieren und dass man dafür das Silph Scope brauchte. Aber dieses Mal fragte sie stattdessen „Bist du hergekommen, um die Gräber deiner Pokemon zu besuchen?“ Was sollte das? Meine Pokemon lebten doch noch und sie sahen durchaus kampffähig aus. Auch ihre Sprites sahen nicht danach aus, als würde ihnen etwas fehlen. Ich versuchte, einen ruhigen Kopf zu bewahren und ging weiter. Als ich die Treppe betrat, sagte die Exorzistin noch „Das, was vor 14 Jahren geschah, war die Quintessenz von alledem. Mache nicht den gleichen Fehler noch mal.“ Hier begann mir das Spiel langsam wirklich Angst einzujagen. Entweder war es ein unheimlicher Zufall, oder aber das Spiel hatte mehr als bloß eine Vielzahl an Bugs. Ich fragte mich, woher die Exorzistin wusste, dass ich vor 14 Jahren schon mal hier gewesen war, versuchte aber auch zugleich, eine logische Erklärung zu finden. In der zweiten Generation gab es eine Uhrfunktion, warum also sollte es denn nicht eine Art Zähler geben, der die Zeit zählte, in der man zum ersten und dann zum zweiten Mal den Turm betrat? Ich ging also weiter und bereitete mich darauf vor, gleich gegen eine Vielzahl von Geistern zu kämpfen, die mich verwirrten oder paralysieren würden. Ich schob Evan, der eines der wenigen Pokemon war, das mehr als Normalattacken beherrschte, an die erste Stelle und setzte dann hauptsächlich Feuerattacken gegen die Vielzahl an Nebulaks und Apollos ein. Obwohl Evan deutlich im Level überlegen war, schaffte er es kaum, diese Geistpokemon zu besiegen und ich begann mich zu fragen, warum mein Team so schwach war, trotz des harten Trainings. Dabei hatte ich sogar auf Sonderbonbons verzichtet, weil sie das Level zwar anhoben, die Pokemon selbst aber dadurch nicht so stark wurden wie durch Kämpfe. Und immer, wenn ich Evan in den Kampf schickte, hörte ich seinen verzerrten und traurigen Ruf, der schlimmer klang als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Als ich für alle nichtnormalen Angriffe sämtliche APs verbraucht hatte, wich ich den Kämpfen aus und ging zu der Stelle, wo man seine Pokemon durch das Betreten eines geschützten Bereiches sein Team heilen konnte. Ich sprach die Exorzistin an, die sich direkt daneben befand und sie sagte „Dieser Ort ist der Einzige, wo du dich fürs Erste verstecken kannst. Das ist alles, was wir tun konnten.“ Ich entsann mich, dass der eigentliche Text anders lautete, aber das Spiel nahm sowieso immer mehr Züge an, die nichts mehr mit dem richtigen zu tun hatten. Als ich die Stelle betrat und der Bildschirm kurz weiß aufleuchtete, öffnete sich eine Nachricht: „Du hast einen geschützten Bereich betreten… Deine Pokemon können aber nicht weiterkämpfen.“ Sofort sah ich mir mein Team an, stellte dennoch fest, dass sie alle geheilt waren. Da meine Pokemon trotz allem auf Dauer zu schwach waren, floh ich vor den wilden Pokemon und kämpfte nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ich erreichte schließlich die letzte Treppe, die nach oben zu Mr. Fuji führen sollte. Wenn man diese Treppe erreichte, würde einem der ruhelose Geist des getöteten Knogga begegnen, welches man entweder besiegen oder mit einer Pokemonpuppe besänftigen musste. Aber ich gelangte ohne aufgehalten zu werden in die letzte Etage, wo statt Mr. Fuji Professor Eich auf mich wartete. Er kam direkt auf mich zu, allerdings waren die Worte im Textfeld teilweise so verbuggt, dass ich kaum etwas lesen konnte. Ich musste deshalb die einzelnen Fragmente zusammenreimen und konnte so viel verstehen:
 

„Wo ist mein Enkel? Ich hab gehört er ist…………. Ich hatte gehofft, dass es nur…… ist, aber dass er…………. Ich mache mir wirklich Sorgen. Rot, du musst……… Noch kann es aufgehalten werden.“
 

Es wurde gemeldet, dass Professor Eich „Fluchtseil“ benutzte und wir fanden uns schließlich vor dem Turm wieder. Die Musik spielte nicht mehr, es war totenstill in Lavandia. Professor Eich sah mich an und sagte „Pass gut auf dich auf Rot. Hier, das wirst du noch auf deinem weiteren Weg brauchen. Bitte verzeih mir, dass ich dir nicht helfen kann…“ Ich erhielt die Pokemonflöte und damit verließ der Professor Lavandia in Richtung Süden. Rot sah ihm noch nach und als Eich endgültig vom Bildschirm verschwunden war, setzte die Lavandia Musik wieder ein. Ich hatte von gehackten Spielen gehört, aber sollte es der seltene Fall sein und auch gehackt sein, so war hier ein enormer Aufwand betrieben worden. Wenn ich an „Lost Silver“ oder „Snow on Mt. Silver“ zurückdachte, waren diese bei weitem nicht so realitätsnah wie dieses Spiel. Ich hatte es zwar noch nicht zu Ende gespielt, aber ich hatte wirklich das Gefühl, ein professionelles Spiel in Händen zu halten, das mehr enthielt, als bloß das simple Ziel, alle Orden zu gewinnen und den Pokedex vollzukriegen. Nein, offenbar ging es hier um viel mehr und wie in so vielen gehackten Spielen hatte Lavandia damit zu tun. Besonders groß unterschied es sich nicht von einem gehackten Spiel, außer, dass sehr viel aus dem Original beibehalten wurde, was wiederum das Gefühl vermittelte, es sei echt. Und das erschreckte mich so sehr.

Da ich nun die Pokemonflöte hatte, konnte ich endlich nach Fuchsania City, weil ich nun endlich das schlafende Relaxo wecken konnte. Schließlich hatte ich es geschafft, Evan zu einem Glurak weiterzuentwickeln und Tabea, mein Tauboga so weit hochzuleveln, dass es sich zu einem Tauboss entwickelte. Dabei fiel mir etwas sehr Merkwürdiges auf, was ich aber zunächst nicht ganz verstand: Zwar besaßen Evan, Tabea und der Rest meines Teams eine ihrem Level entsprechende Stärke und Verteidigung, aber im Kampf unterschied sich das deutlich. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass, wenn ich eine längere Zeit gar nicht spielte oder kämpfte, mein Team danach deutlich stärker war, als wenn ich durchgehend kämpfte. Ob es bloß Einbildung war, konnte ich nicht sagen, aber Tatsache war, dass es einmal so schlimm war, dass Evan auf Level 38 kaum gegen ein Bluzuk auf Level 18 gewinnen konnte. Das eigentlich Unheimliche aber war der verzerrte und langgezogene Ruf meines Gluraks, der sich wie ein Wehklagen anhörte. Ich ertappte mich selbst dabei, dass ich sogar mit dem Gedanken spielte, das Spielen sein zu lassen, weil es irgendwie falsch sein könnte. Haltet mich für verrückt, aber ich hatte wirklich das Gefühl, meine Pokemon würden schrecklich leiden, wenn ich sie trainierte. War es etwa Ziel des Entwicklers gewesen, das Trainieren von Pokemon in Frage zu stellen? Als ich schließlich Fuchsania City erreichte, speicherte ich den Spielstand und legte den Gameboy beiseite. Ich stelle diesen Eintrag hier auf dieser Seite online, in der Hoffnung, vielleicht ein paar Antworten zu finden. Vielleicht hat jemand eine Ahnung, was es mit diesem Spiel auf sich hat und wie es sein kann, dass es so seltsame Züge annimmt. Wenn meine Eltern es damals gebraucht irgendwo in einem An- und Verkaufladen oder einem Gamestore gekauft hätten, könnte ich mir diese Frage ja selbst beantworten. Aber wie kann ein damals neu gekauftes Spiel derart verändert worden sein?

Der Alptraum von Lavandia: Zweiter Eintrag

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Der Alptraum von Lavandia: Dritter Eintrag

Dank der Medikamente hatte ich wenigstens eine erholsame Nacht und blieb von Alpträumen verschont. Da ich keinen Appetit auf das Frühstück hatte (und vor allem weil die Schlange zu lang war), ging ich direkt runter in den Computerraum und recherchierte den Namen Sakaki. Die Antwort fand ich allerdings schneller, als ich gedacht hätte, denn wie sich herausstellte, war Sakaki der japanische Name des Team Rocket Bosses Giovanni und das war eigentlich schon das ganze Geheimnis. Trotzdem verwirrte es mich, dass Blau mir in meinem Traum sagte, ich solle „Sakaki“ töten, dabei hatte ich den Namen niemals gehört. Wenn schon, dann hätte er doch „Töte Giovanni“ sagen sollen. Da sich das Geheimnis so schnell aufgeklärt hatte, glaubte ich nicht mehr, dass da noch mehr dahinter stecken könnte. Zwar grübelte ich noch eine Weile, warum Blau Giovanni töten wollte, aber es war ja nur ein Alptraum gewesen, mehr nicht. Aber dafür habe ich eine anonyme E-Mail erhalten, in der Folgendes wortwörtlich stand:
 

„Hallo,
 

seit einiger Zeit verfolge ich mit Interesse Ihre Berichte zu Ihrem Spiel „Pokemon Rote Edition“, welches offensichtlich einige Fehler enthält, die den Anschein erwecken, als verberge sich mehr dahinter. Ich hoffe, Sie werden die Wahrheit aufdecken und das Geheimnis erkennen, das sich hinter dem Alptraum von Lavandia verbirgt. Selbstverständlich will ich Sie bei Ihren Nachforschungen nicht behindern oder Sie davon abhalten. Aber trotzdem halte ich es für meine persönliche Pflicht, Sie ausdrücklich zu warnen, das Spiel bis zum Ende zu spielen. Es könnte sehr schlimme Folgen haben, vielleicht auch für Sie. Ein persönlicher Rat: Versuchen Sie sich näher mit den Namen auseinanderzusetzen. Sie sind auf der richtigen Spur.
 

Mit freundlichen Grüßen
 

Ihr treuer Leser.“
 

Offenbar wusste da jemand mehr als ich und beobachtete in aller Seelenruhe, wie ich mit meinen Nachforschungen vorankam. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte. Aber zumindest klang der Kerl, den ich der Einfachheit halber John Doe nenne, nicht danach, als wolle er Ärger machen. Nein, er wollte anscheinend, dass ich weitersuche, weil ich einer wichtigen Sache auf der Spur bin. Allerdings will er nicht, dass ich das Spiel weiterspiele, weil es gefährlich sein könnte. Fragte sich nur, was an dem Spiel gefährlich war. Etwa die Musik wie bei diesem Lavandia Syndrom Mythos? Nein, es war der Inhalt. Wenn das Spiel sich ungefähr an die originale Fassung hielt, würde Rots Weg weitergehen bis zur Pokemon Liga. Und nach dem Sieg über die Top Vier würde dann Blau auf mich warten, der Champion der Kanto Region. Ihn galt es zu schlagen und wahrscheinlich würde da auch etwas im Spiel auf mich warten, das gefährlich war. Außerdem sollte ich mich an die Namen halten, weil sie der Schlüssel zur Wahrheit waren. Wollte er etwa damit sagen, dass ich nach den japanischen Namen suchen musste, wie im Fall von Giovanni bzw. Sakaki? Zuerst schien mir das eher eine schier unlösbare Aufgabe zu sein, denn die Frage war, welche Namen ich genauer unter die Lupe nehmen musste. Es gab die acht Arenaleiter, die Top Vier und die verschiedenen Städte, nicht zu vergessen die 151 Pokemon. Die berühmte Nadel im Heuhaufen. Aber da Mr. Doe ja so nett war, von einem „Alptraum von Lavandia“ zu sprechen, weiß ich zumindest, dass es mit der Stadt zu tun haben musste. Und die Hauptfiguren hatten sicher auch ihre bestimmte Rolle. Da ich nicht viel Zeit hatte, gelang es mir nur, den richtigen Namen von Lavandia rauszusuchen und der lautete „Shion Town“. Soweit ich die Einträge auf den Wikipediaseiten richtig gelesen hatte, so hatten alle Städte in Kanto etwas mit Farben zu tun, außer Alabastia, die im Japanischen „Masara Iro“ so viel wie „brandneu“ bedeutete. Ich machte mir flüchtig Notizen und begann, sie während des Unterrichts näher zu studieren und zu versuchen, den roten Faden zu erkennen, der mir bislang noch verborgen blieb. Der Zufall wollte es, dass unser Dozent uns in den Computerraum schickte, um einige Themen zu recherchieren. Dazu wurden wir in Gruppen eingeteilt und als ich soweit fertig war, nutzte ich die Zeit, um weitere Namen herauszusuchen. Dabei machte ich eine wirklich interessante Entdeckung und die hatte mit Blau zu tun. Dieser hatte nämlich mehrere Namen: In der Animeserie war er als Gary Eich bekannt und das war sein offizieller Name. Ganz zu Anfang hieß er allerdings in der Beta-Version „Pokemon Grüne Edition“ Green und wurde dann umbenannt zu Blue. Aber in der japanischen Originalfassung des Animes hieß er Shigeru Okido. Und Rot, der im Anime Ash Ketchum hieß, wurde in der japanischen Version Satoshi genannt. Dazu musste man wissen, dass der Entwickler der Pokemonspiele Satoshi Tajiri hieß und der Protagonist der ersten Pokemongeneration ursprünglich nach ihm benannt wurde. Und Shigeru war nach seinem späteren Freund Shigeru Miyamoto benannt worden, dem Entwickler von Mario Bros. und The Legend of Zelda. Ich brauchte eine Weile, aber dann begann ich zu verstehen, was mir John Doe mit seiner Nachricht mitteilen wollte: Mehrere Figuren aus den Pokemonspielen basierten auf realen Personen! Vielleicht verbarg sich eine Geschichte hinter diesem merkwürdigen Spiel. Es hat den Anschein, als wäre in Tajiris Vergangenheit etwas geschehen, was er in dieses Spiel gepackt hat und jemand wollte dieses Kapitel unter allen Umständen geheim halten. Leider konnte ich meine Nachforschungen nicht fortsetzen, da wir mit den Vorträgen beginnen mussten und danach hatte ich auch keine Zeit, mich an den Computer zu setzen. Also schaffte ich es erst, gegen Abend wieder in den Computerraum. Wenn ich Antworten auf meine Fragen finden konnte, dann in Tajiris Vergangenheit. Wie sich aber herausstellte, gab es nicht sehr viele Informationen über ihn. Dass er der Gründer und Leiter von Game Freaks war und der „Pokemon-Vater“ war, wusste ich schon längst und die anderen Informationen waren eher dürftig. Als Kind hatte er in Machida gelebt und leidenschaftlich Insekten gesammelt, dass ihn seine Freunde „Dr. Insekt“ nannten. In der Schule war er nicht der Beste und in den 70er Jahren hatte Satoshi die ersten Ideen für Pokemon. Er wollte ein Spiel entwickeln, wo Kinder genauso viel Spaß hatten wie er, verschiedene Kreaturen zu fangen und zu sammeln. Mit seinen Freunden gründete er Game Freak und begann schließlich, bei Nintendo zu arbeiten, wo er sechs Jahre damit verbrachte, die Pokemon zu erfinden.

Da Satoshi am Asperger-Syndrom litt, hatte er so seine Schwierigkeiten mit anderen Menschen, da er die Welt ganz anders wahrnahm und sie anders betrachtete. Aufgrund seiner Eigenheiten in seiner Kindheit hatte er nicht sehr viele Freunde, aber die wenigen, die er hatte, unterstützten ihn bei seiner Leidenschaft und seinem Traum. Die meiste Zeit verbrachte er mit ihnen in den Wäldern und Sümpfen, um neue Techniken zu entwickeln, wie man Käfer und Insekten fangen konnte. In den 70ern jedoch wurden die Wälder und Sümpfe bebaut und verschwanden somit. Schön und gut, aber das gab leider nicht sehr viele Aufschlüsse, was das mit meinem Spiel zu tun hatte. Also rekonstruierte ich noch mal das, was ich im Spiel erfahren hatte: Im Pokemonturm in Lavandia war irgendetwas Schreckliches geschehen, als ich ihn vor 14 Jahren betreten habe. Und in diesem Turm ist nicht nur etwas mit mir passiert sondern auch mit Blau, woraufhin er sich so unheimlich aufführte und mich verfolgte. Und wenn mein Traum mit diesen Ereignissen in Verbindung stand, hatte Blau vor, Giovanni zu töten. Wenn man also die Metapher beiseite ließ, sah die Sache so aus: Satoshis Freund Shigeru war etwas zugestoßen und ein Mann namens Sakaki spielte eine wichtige Rolle. Offenbar hatte dieser ein Verbrechen begangen und daraufhin fasste Shigeru den Plan, Sakaki umzubringen. Was für eine Rolle Satoshi Tajiri dabei spielte, konnte ich dabei noch nicht erkennen. Vielleicht war er der stille Beobachter gewesen. Wäre nur interessant zu wissen, was Sakaki getan hatte und ob er inzwischen tot war oder noch lebte. Um herauszufinden, was zwischen den dreien abgelaufen war, musste ich unbedingt wissen, was im Pokemonturm vorgefallen war. Was hatte Blau dort zu suchen gehabt? War eines seiner Pokemon im Kampf mit Rot oder Giovanni verstorben und wollte er dafür Rache? Rache… als mir dieses Wort durch den Kopf ging, fiel mir noch etwas ein, das im Pokemonturm passiert war. Der Geist von Knogga! Team Rocket ließ im Auftrag von Giovanni unzählige Tragosso jagen und fangen und Knogga, die Mutter eines Tragosso, wurde getötet, als sie versuchte, ihr Kind zu beschützen. Ihr Geist konnte keine Ruhe finden und terrorisierte daraufhin die Menschen in Lavandia. Was, wenn in meinem Spiel Blau nicht aus dem Grunde im Turm war, um Rot erneut zum Kampf herauszufordern oder weil er um sein vermeintlich gestorbenes Rattikarl trauert, sondern weil es mit Knogga zu tun hatte? Natürlich klang das ein wenig gewagt und in den normalen Spielen war das auch etwas absurd, aber hier war die Sache wieder anders. Im Grunde wurde alles so extrem seltsam in dem Spiel, nachdem ich das erste Mal in den Pokemonturm gegangen war. Was, wenn der ruhelose Geist von Knogga für diese unheimlichen Phänomene in dem Spiel verantwortlich war? Aber wie passte das mit der Vergangenheit Tajiris zusammen? Ich beschloss, das Mittagessen ausfallen zu lassen und stattdessen in den Computerraum zu gehen. Zwar hatte ich wenig Hoffnung, dass ich sofort etwas finden würde, aber manchmal war es ja der Zufall, der den entscheidenden Hinweis brachte. Meine Strategie war es, meine Suche ganz allgemein zu gestalten und die Schlüsselbegriffe in die Suchmaschine einzugeben. Wenn ich etwas fand, das mich ein wenig näher ans Ziel brachte, würde ich meine Suche näher eingrenzen. Ich gab in die Suchmaschine „Satoshi Tajiri“ und „Tod“ ein und fand sofort mehrere Ergebnisse. Die ersten Seiten handelten davon, dass Tajiri angeblich 2011 bei einem schweren Erdbeben starb, was natürlich eine Fehlmeldung und damit absoluter Quatsch war. Aber sonst fand ich nicht mehr viel Interessantes, schließlich surfte ich eher ziellos herum und vertrieb mir die Zeit, mehr über Wissenswertes über Pokemon herauszufinden. Ich rechnete nicht wirklich mit einem Erfolg, fand dann aber etwas, dem ich zunächst keine nähere Bedeutung beimaß: Ein Bild, auf dem Rot, Blau und ein Mädchen zu sehen war, das ich noch nie gesehen hatte und das auch kein weiblicher Hauptcharakter aus den späteren Spielen war. Zuerst ignorierte ich dies, weil ich dachte, dass es keine besondere Bedeutung haben könnte. Aber dann wurde meine Neugier doch zu groß und ich begann nach der Identität dieses Mädchens zu forschen. Recht schnell fand ich heraus, dass dieses Mädchen Blue hieß und nur im Manga auftauchte, zusammen mit Green und Red. Das verwirrte mich ein wenig, denn ich hatte gar nicht gewusst, dass es in der ersten Generation eine weibliche Protagonistin gab. Sie musste wohl für das Spiel gestrichen worden sein, weshalb sie nur im Manga ihren Auftritt hatte. Und als ich mir das Bild so ansah, musste ich mir vor Augen halten, dass die beiden Jungs da eigentlich auf realen Personen basierten: Satoshi Tajiri und Shigeru Miyamoto. Wer aber war dann das Mädchen in dem Trio und warum erschien sie nicht auch im Spiel? Die erste Generation war immerhin die Einzige, in der es nur einen männlichen Protagonisten gab, mit der Ausnahme von der silbernen und goldenen Edition, was bei der Kristalledition wieder behoben wurde. Nun gut, es gab noch Trainerin Yellow, stellvertretend für die gelbe Edition, aber diese Edition bildete eine Ausnahme. Sie kam erst später dazu und basierte ausschließlich auf die Fernsehserie und wies auch einige Unterschiede zu den ersten Editionen auf: Das Design der Pokemon hatte sich verändert und man erhielt auf seiner Reise alle drei Starterpokemon. Außerdem wurden technische Fehler behoben, wie etwa Missingno, das man in dieser Edition nicht mehr antreffen konnte. Außerdem lief die ganze Zeit ein Pikachu hinter einem her, es war also ein Fanservice für alle Pikachu Liebhaber. Es konnte Zufall sein, aber mein Gefühl sagte mir, dass da mehr war. Viel hatte ich ja nicht, deshalb musste ich nach jeden erdenklichen Strohhalm greifen und damit auch dem kleinsten und unbedeutendsten Hinweis nachgehen. Da ich nun weiß, dass es ein Mädchen namens Blue gibt, werde ich deshalb Blau ab sofort bei seinem ersten Namen, nämlich Green nennen, um Irritationen zu vermeiden. Und Rot werde ich ab jetzt Red nennen. Das sind die Namen der japanischen Originalversion und wie sie in den Mangas verwendet werden, in denen Blue auftaucht.
 

Ich begann im Internet zu recherchieren, wieso Blue es niemals ins Spiel geschafft hatte. Dabei machte ich mir auch verschiedene Foren zunutze, bei denen ich angemeldet war, um Leute zu finden, die vielleicht mehr wussten. Ich fragte einfach, was für Mythen und Gerüchte sie über die erste Edition kannten und brauchte nicht lange warten, bis sich ca. zehn Leute meldeten, die mir von seltsamen Geschichten gehört hatten, die mit dem Spiel in Verbindung standen. Angefangen von Ditto, dem angeblich fehlgeschlagenen Mew-Klon, der Komatheorie bis hin zu „Einheit 731“ und „Sunny Town“. Alles Geschichten, die ein eingefleischter Fan von solchen Mythen schon in und auswendig kannte. Schließlich aber meldete sich ein gewisser „Wise_Hakase65“ und der schrieb Folgendes:

„Ich hab von einigen Pokemon Mythen gehört, aber die wurden größtenteils schon von den anderen hier beantwortet. Aber vielleicht interessiert dich das, was ich mal gehört habe:
 

Pokemon Grüne Edition war eine Beta Version, das heißt sie war unvollständig. Zwischen der Veröffentlichung der Beta und der Alpha Version (also die rote und blaue Edition) ist etwas Schreckliches passiert, das Tajiri dazu veranlasste, gemeinsam mit Shin Nakamura etwas ins Spiel einzubauen. Aus den Mythen weiß man, dass Nakamura die Musik für Lavandia komponierte und dass die binauralen Töne Kopfschmerzen verursachten. Tajiri hatte ein schreckliches Geheimnis aus seiner Vergangenheit in das Spiel eingebaut und er wollte es jenen offenbaren, die diese Spiele gespielt haben. Da es aber bei der Vorführung dieser Spiele zu einer Serie von Tragödien kam, vertuschte Nintendo diesen Vorfall und überschrieb die betroffenen Spiele mit der Beta-Version. Somit konnten sie ihre Spuren größtenteils verwischen, aber angeblich sollen sehr wenige Spiele der roten Edition noch Fragmente der Alpha-Version enthalten. Ein Beleg für diese Vermutung ist, dass die Spiele sehr viele Bugs und Glitches enthalten, wie etwa Missingno und Sunny Town. Das lag daran, weil die Beta-Version die Erstfassung war. Das Einzige, was an ihr geändert wurde, waren die beiden Melodien für Lavandia und für den Pokemonturm.“
 

Als ich Wise_Hakase65 fragte, was denn zwischen der Veröffentlichung der grünen und roten Edition passiert war, konnte er mir keine genauen Antworten geben, da er sich nicht mehr so gut an diese Geschichte erinnern konnte. Er erklärte, angeblich hätte ein alter Freund Satoshis einen Mord begangen. Diesem Mord sei ein Ereignis vorausgegangen, welches sich während der Entwicklung der Beta-Version zugetragen hatte und Satoshi hatte versteckte Hinweise auf dieses Ereignis in das Spiel einprogrammiert. Als sein Freund den Mord begangen hatte, veröffentlichte Satoshi die Alpha-Version, nämlich Pokemon Rot und diese hätte so verstörende Inhalte gehabt, dass einige der Kinder an den Folgen eines schweren Schocks verstarben. Zwei Kinder hätten ihre Eltern mit einem Messer niedergestochen und sagten, Green hätte sie dazu gezwungen. Nintendo vertuschte diesen Vorfall, indem sie hohe Schweigegelder an die Familien zahlten oder sie unter Druck setzten, Satoshi musste die Spiele mit der Beta-Version überschreiben. Als ich ihn fragte, ob dieser Freund vielleicht Shigeru Miyamoto war, der ja mit der Figur Green in Verbindung stand, antwortete Wise_Hakase65, dass Satoshi vor Miyamoto einen anderen Freund mit dem gleichen Vornamen hatte. Shigeru Miyamoto hätte nichts mit der Sache zu tun. Satoshi Tajiri hatte zwar die Alpha-Version durch die fehlerhafte Beta ersetzen müssen, allerdings enthalte sie ziemlich viele Hinweise, die man erkennen musste, wenn man gezielt danach suchte. Nicht nur die drei Editionen seien ein Hinweis darauf, dass Satoshi und Shigeru mit einem anderen ein Trio gebildet haben, sondern auch die legendären Vogelpokemon Arktos, Zapdos und Lavados. Nicht nur, dass es genau drei waren, auch ihre Namen gaben Hinweise, wenn man sie in der englischen Fassung las:
 

Arktos= Articuno = Uno (eins)

Zapdos= Dos (zwei)

Lavados= Moltres= Tres (drei)
 

Selbst danach war es Satoshis Angewohnheit, legendäre Pokemon immer in einem Trio zu bilden, als Gedenken an seine beiden Freunde. Auch die Starterpokemon, die stets mit den Farben Rot, Blau und Grün vertreten waren, waren immer drei und hatten jedes Mal exakt drei Evolutionsstufen.

So langsam begann sich das Puzzle zusammenzusetzen. Zwar hatte ich noch nicht alle Antworten auf meine Fragen, aber wenn ich das, was mir hier erzählt worden war, mit den seltsamen Abläufen im Spiel verglich, könnte sich ungefähr Folgendes abgespielt haben:
 

Satoshis Freund Shigeru (Green) hatte etwas Schreckliches erlebt und das hatte ihn so verfolgt, dass es ihn vielleicht sogar verrückt gemacht hatte. Für ihn gab es nur noch einen Gedanken: Sakaki (Giovanni) zu töten, der ein Verbrechen begangen hatte. Satoshi (Red) wusste davon und versuchte, Shigeru aufzuhalten aber dann war die Sache wohl eskaliert. Shigeru tötete diesen Sakaki und dieses Ereignis musste Satoshi so geprägt haben, dass er es in sein Spiel eingebaut hatte. Und das hatte die Kinder, die es gespielt hatten, so sehr verstört, dass sie einen Schock erlitten und daraufhin starben. Wenn ich die Lavandia Geschichte bei der ganzen Sache bedachte, musste es sich so verhalten, dass Sakaki einen Freund oder geliebten Menschen von Shigeru getötet hatte und dieser später Rache nahm. Ob es sich bei diesem Menschen um Blue, die verschwundene Dritte im Trio handelte? Aber um mehr über die Umstände herauszufinden, warum Sakaki Blue ermordet hatte, musste ich noch weitersuchen. Nur eines beschäftigte mich: Wieso hatte Satoshi so verstörende Dinge in dieses Spiel einprogrammiert, dass es Kinder zu Tode erschrecken konnte? Steckte vielleicht mehr dahinter, als Mord und anschließende Rache? Wenn ich mir Green in Erinnerung rief, wie er mich um Hilfe anflehte und dass er furchtbare Schmerzen litt, schien es mir eher, als stimme etwas nicht mit ihm… als wäre er nicht er selbst. Ich war mir nicht sicher, warum sich Green so komisch im Spiel aufführte und warum er diese unheimlichen Worte immer wieder zu mir sagte.

Am Abend meldete sich noch jemand auf meine Anfrage und obwohl er mir nicht viel Neues erzählen konnte, weckte er doch irgendwie mein Interesse. Und zwar erzählte er mir von dem Glitch Sunny Town, zu japanisch Hinata Iro. Angeblich sei die Stadt für die Alpha-Version entwickelt worden und in der Beta noch gar nicht enthalten. Zwar war sie genauso kompliziert zu erreichen gewesen wie in den veröffentlichten Spielen, aber sie sei angeblich vollständig gewesen und dort hätte man Blue getroffen. Über die Gründe, warum man Sunny Town aus dem Konzept streichen musste, kann man nur spekulieren, ebenso darüber, was man für Sunny Town geplant hatte. Einige vermuten, dass dort der Ort gewesen sein sollte, wo man das legendäre Mew treffen konnte. Vielleicht war Sunny Town ein wichtiger Ort aus Tajiris Vergangenheit und hatte mit dem schrecklichen Geheimnis zu tun, weshalb er Sunny Town wieder entfernen musste. Ich erinnerte mich an dieses Pixelgewirr in Lavandia auf meiner Edition. Es waren zwei Glitches, nämlich ein Mal neben dem Pokemoncenter und an der Stelle, wo der Supermarkt stand. Ich fragte mich, was wohl dort mal gestanden hatte. Ich durchkramte sämtliche Pokemonmythen und fand schließlich ein Youtube Video über die Lavandia Pokemonarena. Ich glich die Karte mit dem Aufbau der Stadt auf meiner Edition ab und mir fiel auf, dass die Arena genau an der Stelle stand, wo vorher der Supermarkt stand. Stattdessen befand sich dieser genau neben dem Pokecenter. Beide Orte befanden sich genau dort, wo bei mir das Pixelgewirr war. Also war für diese Edition eine Arena in Lavandia vorgesehen worden? Das würde zumindest erklären, warum diese abgehackten Musikfragmente zur Lavandia Melodie abgespielt wurden, wenn ich zu nah an diesen Glitch heranging: Es waren die Überreste der Arenamelodie. Fragte sich nur, warum Satoshi sie entfernt hatte. Ich erinnerte mich an die Worte von eine der Exorzistinnen, die ich im Turm getroffen hatte. Sie sagte „Selbst die Arenaleiterin konnte ihm nicht helfen.“ Wenn sie damit die Arenaleiterin von Lavandia gemeint hatte, dann bedeutete es offenbar, dass diese wusste, was mit Green los war. Und wenn ich diesen Gedanken weiterführte, konnte es sogar gut möglich sein, dass die Arenaleiterin ebenfalls Exorzistin oder vielleicht auch ein Medium war. Immerhin war Sabrina, die Arenaleiterin von Saffronia City, telekinetisch veranlagt, da sie ja mit Psychopokemon zu tun hatte. Warum konnte also eine Arenaleiterin, die vielleicht so ähnlich wie Agatha von den Top Vier Geistpokemon im Kampf einsetzte und darum mit ihnen kommunizieren konnte? Also war Green nach Lavandia gekommen und Knoggas Geist hatte von ihm Besitz ergriffen, woraufhin er im Turm etwas Schreckliches getan hat, was mit Red zu tun hatte. Die Arenaleiterin von Lavandia hatte versucht, ihm zu helfen, weil sie mit Geistern kommunizieren konnte. Jedoch war der Geist viel zu stark für sie gewesen und die allgemeine Unruhe in Lavandia hatte dafür gesorgt, dass die Geister der verstorbenen Pokemon die Exorzistinnen terrorisierten. Obwohl ich ausdrücklich gewarnt worden war, das Spiel weiterzuspielen, musste ich es noch einmal in die Hand nehmen. Es galt einige Dinge zu überprüfen, die mich noch beschäftigten und dafür musste ich einfach dieses Risiko eingehen. Da es aber doch schon recht spät war und ich zudem auch tierisch müde war, wollte ich erst morgen weiterspielen. Und dabei wollte ich auch den Sunny Town Glitch ausprobieren.

Die Nacht schien sich jedoch ewig hinzuziehen. Ich fand keine Ruhe und als ich dann endlich gegen drei Uhr morgens einschlief, träumte ich wieder von Green. Doch dieses Mal war es anders als sonst. Zuvor hatte ich immer von einem leeren schwarzen Raum geträumt, doch dieses Mal fand ich mich im Pokemonturm wieder. Ein eisiger Wind trieb mir einen kalten Schauer über den Rücken und während ich die unendlich traurige und zugleich unheimliche Musik im Hintergrund hörte, spürte ich eine unheimliche Präsenz. Und ich glaubte, so etwas wie ein leises Schluchzen zu hören. Ich sah mich um, fand aber überall nur Grabsteine, auf denen „Töte Sakaki“ geschrieben stand. Ein ungutes Gefühl überkam mich und als ich mich der Treppe näherte, die ins obere Stockwerk führte, zögerte ich. Eine leise Stimme ertönte und sie kam von oberhalb der Treppe. Ich hatte Angst, dass gleich etwas herunterkommen und mich angreifen würde. Mir war klar, dass ich irgendetwas brauchte, womit ich mich im Notfall wehren konnte. Als ich meine Hosentaschen durchsuchen wollte, fiel mir auf, dass ich völlig andere Kleidung als sonst trug. Ich trug plötzlich eine rote Jacke und eine rotweiße Kappe, außerdem war mein Haar plötzlich schwarz. Zuerst verstand ich nicht, was das zu bedeuten hatte, aber dann wurde es mir klar: Ich war Red. An meinem Gürtel befanden sich mehrere Pokebälle, doch sie waren alle völlig beschädigt und als ich einen in die Hand nahm, um mir die Schäden genauer anzusehen, sah ich mit Entsetzen, das Blut herausquoll. Entsetzt ließ ich ihn fallen, da brach er auf und enthüllte einen schockierenden Anblick. Evan lag auf dem Boden. Er sah furchtbar zugerichtet und abgemagert aus, seine Flügel waren zerfetzt und er hatte am ganzen Körper offene Wunden. Einige waren so schlimm, dass das Muskelgewebe frei lag. Sein halbes Gesicht war völlig entstellt und seine Augen schienen blind zu sein, da sie ziellos umhersuchten. „Evan“, rief ich und eilte zu ihm. Mein eigenes Pokemon so leiden zu sehen, war zu viel für mich und ich wollte ihm helfen, da packte mich plötzlich etwas von hinten und ich spürte, wie sich ein Arm um meinen Hals legte. Ich versuchte, mich aus dem Griff zu befreien, doch mein Angreifer war viel zu stark. „Lass mich los“, rief ich und schlug um mich. „Lass mich sofort los!!!“ Eine Hand legte sich um meine Augen und ich hörte eine Stimme ganz dicht an meinem Ohr. „Willkommen in Sunny Town, der Stadt der zerstörten Träume.“ Plötzlich ließ mich der Angreifer los und offenbarte mir einen bizarren Anblick. Es sah aus, wie ein lebendig gewordenes Bild von Picasso, anders kann ich es nicht beschreiben. Durcheinandergewürfelte Teile von Häusern, in denen man unmöglich leben konnte und unwirkliche Landschaften… Ich war in Sunny Town. Aber warum hatte man sie „Die Stadt der zerstörten Träume“ genannt? Als ich mich umdrehte, stand plötzlich Green vor mir. Seine grünen Augen leuchteten unheimlich in diesen pechschwarzen Höhlen, aus denen beständig Blut floss und an seiner Schläfe klaffte eine Wunde, die aussah wie eine Schussverletzung. Er verzog seine Lippen zu einem unheimlichen Grinsen. „Was… was hat das zu bedeuten?“ fragte ich und sah mich verängstigt um. „Warum bin ich hier und was willst du von mir?“

„Ich will, dass du es tust…“ sagte er mit einer dämonisch klingenden Stimme. „Du sollst es endlich tun…“

„Was soll ich tun?“

„Töte… Sakaki…“

„Aber wer ist Sakaki? Sag es mir! Wer ist Sakaki und was hat er euch angetan?“ Alles um mich herum begann zu verschwimmen und alles wurde in einen dichten Nebel gehüllt. Green verschwand inmitten dieses Nebels und immerzu hörte ich ihn beschwören „Töte Sakaki…“ Ich bekam es mit der Angst zu tun und begann, blindlings loszurennen. Der Nebel wurde so dicht, dass ich gar nichts mehr sehen konnte. Trotzdem rannte ich weiter, weil ich Angst hatte, dass Green mich zu fassen bekam. In der Ferne hörte ich ihn rufen, wollte aber nicht hinhören, was er sagte. Stattdessen rannte ich blindlings weiter und sah nicht weit vor mir einen Schatten. Zwei Augen leuchteten hinter den dichten weißen Schleier und ich geriet fast in Panik. Der Schatten, dachte ich und wich zurück. Der Schatten, der mich im Spiel verfolgt hatte… Ich konnte nicht viel erkennen, aber er streckte eine Hand nach mir aus und während die Gestalt auf mich zukam, humpelte sie und schien nur noch mit letzter Kraft laufen zu können. „Hilf… mir…“ flehte sie und kam immer näher auf mich zu. „Es tut so weh… bitte hilf mir…“ Langsam wich ich zurück und wurde sofort von Green festgehalten, der direkt hinter mir stand. „Hilf mir Satoshi… es tut so weh… es tut so furchtbar weh…“ Die Hand der Gestalt bekam mich zu fassen. Sie war schneeweiß und von mehreren Verletzungen gezeichnet. Und nun sah ich auch, wer die Gestalt war: Blue… Sie sah schrecklich aus. Ströme von Blut flossen ihren Kopf hinunter, ihre Augen waren leer und aus ihrem völlig deformierten Bein stach die Spitze eines abgebrochenen Knochens hervor. Doch ihr Gesicht… es sah so schrecklich verfallen aus wie das einer Leiche. Und sie fühlte sich auch so kalt an wie eine. Sie packte mich am Kragen und kam mir ganz nahe. „Bitte…“, flehte sie mit Tränen des Schmerzens in den Augen. „Ich halte das nicht aus…“ Ich begann zu schreien und wollte mich befreien, aber Green hielt mich unerbittlich fest. „Es wird langsam Zeit“, sagte er schließlich „dass du das Spiel endlich weiterspielst.“

Ein lautes Klopfen an der Tür weckte mich schließlich auf und riss mich aus meinem Alptraum. Jenny und Desiree aus dem Zimmer nebenan hatten mein lautes Geschrei gehört und wollten nach dem Rechten sehen. Ich erklärte ihnen, dass ich bloß einen Alptraum hatte und schloss die Tür wieder. Trotzdem sah ich wohl schlimm genug aus, dass sie mir rieten, besser mal zum Arzt zu gehen. Tatsächlich sah ich genauso fertig aus wie ich mich fühlte und das Unheimliche war, dass ich an den Oberarmen, wo mich Green festgehalten hatte, blaue Flecken hatte. Offenbar hatte ich mich so heftig im Bett gewälzt, dass ich mir dabei die Arme gestoßen hatte. Aber dieser Traum ließ mich einfach nicht los. Warum nur hatte ich von Sunny Town geträumt und wieso war es die Stadt der zerstörten Träume? Und wieso wollte Green, dass ich das Spiel weiterspielte? Allmählich habe ich das Gefühl, dass diese Alpträume mehr sind… Was, wenn sich Greens Einfluss nicht bloß auf das Spiel beschränkt? Immerhin starben die Kinder, die das Spiel damals gespielt hatten, an den Folgen eines schweren Schocks. Das waren keine Zufälle, dessen war ich mir ziemlich sicher.
 

Die blauen Flecke an den Armen waren übrigens nicht die einzigen, die ich entdeckt habe. Auch am Hals, wo mich Blue und Green gepackt hatten, waren Spuren zu sehen. Ich war mir nicht sicher, ob es Zufall war oder nicht. Selbst am Handgelenk hatte ich Kratzer. Doch dass es wirklich von einem rachsüchtigen Geist stammte, wagte ich zu bezweifeln. So etwas gab es bei aller Liebe zu paranormalen Phänomenen nicht. Viel wahrscheinlicher wäre es, wenn ich sie mir im Schlaf irgendwie selbst zugefügt hätte. So etwas in der Art kam vor, auch wenn es eher seltene Fälle waren. Dafür aber habe ich eine neue Nachricht von John Doe erhalten: Er hatte mir im Anhang einer E-Mail einen eingescannten Zeitungsartikel geschickt. Da dieser aber komplett auf Japanisch war, musste ich erst mal nach jemandem suchen, der mir helfen konnte. Zum Glück war eine Klientin im Therapiezentrum Halbjapanerin und war so freundlich, mir den Artikel zu übersetzen. Es war ein recht kurzer Bericht über einen Amoklauf in der Firma Sakaki Industries. Ein Mann war bewaffnet in die Exportfirma eingedrungen, hätte vier Mitarbeiter erschossen und daraufhin mehrmals auf den Firmeninhaber Genji Sakaki geschossen, bevor er mittels eines Kopfschusses Selbstmord beging. Der Mörder war ein gewisser Shigeru Wakaba, das Motiv sei aber bislang noch nicht bekannt. Das brachte mich meiner Suche nach Antworten doch gleich viel weiter voran. Genji Sakaki und Shigeru Wakaba… Giovanni und Green. Jetzt, da ich ihre Namen hatte, konnte ich bald endlich herausfinden, was Satoshi damals miterleben musste und was ihn veranlasst hatte, ein derart verstörendes Spiel zu entwickeln.

Der Alptraum von Lavandia: Vierter Eintrag

Ich bin leider nicht mehr dazu gekommen, das Spiel fortzusetzen, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte. Der Dozent hatte nämlich für den Donnerstag einen Ausflug geplant, der den ganzen Tag über dauerte und wir erst am Abend wieder zurückkehrten. Danach war ich einfach viel zu erschöpft, um überhaupt daran zu denken und hab mich stattdessen schlafen gelegt. Die Nacht verlief ebenso bescheiden wie die letzten Nächte und die Alpträume wurden immer schlimmer. Ich sah Bilder von toten Kindern, hörte furchtbare Schreie, die von unendlicher Qual zeugten und dann sah ich das kleine Mädchen vor mir, das mich fragte, ob ich an Geister glauben würde. Ich hatte mit „Nein“ geantwortet, woraufhin sie mich gefragt hatte, was es dann mit den weißen Händen auf sich habe. Sie tauchten urplötzlich hinter mir auf und versuchten, mich in die Dunkelheit zu zerren. Und dann war Green vor mir aufgetaucht und er blutete noch schlimmer aus der Schusswunde am Kopf als beim letzten Mal. Eine Art schwarzer Nebel umgab ihn und ein unheimliches Funkeln war in seinen Augen zu sehen. Er will, dass ich das Spiel weiterspiele, aus welchem Grund auch immer. Wenigstens konnte ich am letzten Seminartag einige Dinge über diesen Genji Sakaki herausfinden können: Er war bis zu seinem Tod 1996 Leiter der Firma Sakaki Industries, ein sehr einflussreiches Unternehmen, das sich auf den Export von Elektronik konzentriert hatte. Die Firma wurde in den 50er Jahren von Yuichi Sakaki gegründet und Genji übernahm schließlich in den 80er Jahren die Nachfolge. Es war allerdings kein großes Geheimnis, dass Genji mit der Yakuza Geschäfte zu machen pflegte und sich auch schon selbst in der japanischen Unterwelt einen Namen gemacht hatte. Waffenschmuggel, Schutzgelderpressung, Drogen- und Menschenhandel waren die Schattenseite seines Lebens. Am 27. Februar 1996 wurde er von Shigeru Wakaba vier Mal angeschossen, überlebte die Verletzungen aber. Am 03. März tötete sein 9-jähriger Sohn Kaito seinen kleinen Bruder Toshio (4 Jahre alt), seine Mutter und schließlich auch seinen Vater mit einem Messer. Ein Suizidversuch wurde verhindert und der völlig verstörte Kaito beteuerte immer wieder, Green hätte ihn dazu gezwungen. Kaito selbst wurde schließlich von der 12-jährigen Eri Mikasawa erschlagen, welche ebenfalls sagte, sie sei dazu gezwungen worden. Man ging davon aus, dass die Spiele (die rote Edition) manipuliert worden waren, weshalb sie alle beschlagnahmt worden waren. Man fand jedoch nichts, was mich auch nicht weiter verwunderte. Nintendo hatte die Spiele klammheimlich mit der Beta überspielt, um die Beweise zu vernichten. Hätten sie die Spiele zerstört, dann wäre das sehr verdächtig gewesen. Jedenfalls passte das mit Giovanni und Sakaki wie die Faust aufs Auge. Beide waren kriminelle Geschäftsmänner mit großen Einfluss. Stellte sich allerdings die Frage, was dieser Shigeru Wakaba für ein Problem mit Sakaki hatte. Wenn ich richtig vermutete, dann war Shigeru gemeinsam mit Satoshi und „Blue“ an der Entwicklung der Idee zu den Pokemonspielen beteiligt und damit Mitschöpfer. Was also hatte ein kleiner, damals völlig unbedeutender Spielentwickler mit einem mächtigen Mafiaboss und Firmenchef zu tun? Hatte er Schulden bei ihm gehabt und war von ihm unter Druck gesetzt worden? Soweit ich gehört hatte, hatte die Yakuza teilweise echt brutale Methoden, um Opfer einzuschüchtern. Die beliebteste war immer noch, das Abschneiden von Fingern als Warnung. Aber dann hätten Green bzw. Shigeru in meinem Traum doch Finger fehlen müssen. Nein, wahrscheinlich war Shigeru gar nicht das Opfer gewesen sondern entweder „Blue“ oder Satoshi. Und letztendlich war es Shigeru gewesen, der eigentlich der Leidtragende war, als Sakaki „Blue“ tötete oder sie töten ließ. Aus welchem Grund auch immer. Aber so langsam verstand ich auch, warum Satoshi das Unrecht, das ihm und seinen Freunden zugefügt worden war, niemals an die Öffentlichkeit gebracht hatte: Sie wurden alle von Sakaki und seinen Leuten bedroht und hatten Angst. Aber wenn sie solche Angst vor ihm hatten, warum kreierten sie dann eine Figur, die ihm so deutlich ähnelte und sogar genauso hieß wie er? Irgendwie verstand ich das nicht. Und außerdem beschäftigte mich noch dieser James Smith, der Kontakt zu meiner Mutter aufgenommen und an mein Spiel interessiert war. Wer weiß, was er vorhatte und für wen er arbeitete. Für die Familie Sakaki, falls von denen überhaupt noch am Leben waren oder für Nintendo, die den Skandal mit den verstorbenen Kindern vertuschen wollten. Ehrlich gesagt hatte ich schon Angst, was passieren würde, wenn es die Familie Sakaki war. Mit der japanischen Mafia wollte ich lieber nichts zu tun haben. Da wir am letzten Tag etwas früher gehen durften, hatte ich am Bahnhof genug Zeit, bis der nächste Zug kam und schaltete das Spiel wieder ein. Ich flog mit Tabea nach Fuchsania City und vollzog in der Safari Zone die Prozedur, die es erforderte, um den Sunny Town Glitch auszuführen. Schließlich flog ich zur Zinnoberinsel, schwamm mithilfe meines Lapras „Lorelei“ so lange rauf und runter, bis die Zeit abgelaufen war und verließ das Büro wieder. Ich fand mich, wie erwartet, in Sunny Town wieder, eine Stadt aus durcheinandergeworfenen Pixeln, vollkommen unwirklich und bizarr wie ein lebendiges Picasso-Werk. Kaum, dass ich dort angekommen war, begann die Lavandia Musik rückwärts zu spielen, hängte zwischendurch aber immer wieder und zwischen dem ganzen Chaos konnte ich eine weibliche Trainerfigur ausmachen, die aber gar nicht wie diese Standard-Sprites aussah, sondern sich deutlich von ihnen unterschied. Sie war so schnell, dass ich sie immer nur für kurze Augenblicke sah, aber ich konnte die Figur als eine weibliche Trainerin identifizieren. Es musste sich um Blue handeln. Aber was machte sie hier in Sunny Town? War sie hier gefangen? Ich wusste, dass man, wenn man sich zu lange in Sunny Town aufhielt und zu weit ging, irgendwann nicht mehr weiterkam und für immer festsaß. Dabei hatte ich mich immer gefragt warum. Denn bei anderen Glitches oder Cheats (wie zum Beispiel, wenn man durch Wände gehen konnte und die Grenzen übertrat), stürzte das Spiel meistens komplett ab. Ich versuchte, Blue zu folgen und sie anzusprechen, aber es war schwieriger als gedacht. Von einer Bekannten wusste ich, dass es in der gelben Edition ein ähnliches Phänomen gab, aber es war Pikachu, das sofort die Flucht ergriff, sobald man Sunny Town betrat.

Als ich sie schließlich doch rechtzeitig ansprechen konnte, bevor sie wieder im Pixelgewirr wieder verschwand, war der Text ziemlich kryptisch und kaum lesbar. Das mochte daran liegen, dass die ganze Stadt ein einziger Glitch war und hier alles kaputt ging. Ich versuchte zwar, den Text zu dechiffrieren, aber es gelang mir nicht. Als Blue schließlich zu Ende gesprochen hatte, begann der Bildschirm zu flackern und sich in ein heftiges Schneerauschen zu verwandeln. Ich hörte eine tief grollende Melodie, die sich unerträglich anhörte und mir Kopfschmerzen bereitete. Nur mit Mühe erkannte ich die Pokemonturm Melodie, aber sie spielte so langsam und tief, dass sie kaum noch als solche klang. Das Schneerauschen wurde immer dichter und ich lenkte Red beinahe blind durch Sunny Town. Dabei teleportierte sich Blues Sprite immer wieder zu mir und sagte „Du… kannst… nicht… entkommen…“ Schließlich sah ich gar nichts mehr, hörte nur die lang gezogene Melodie und das Rauschen, da kam plötzlich ein lauter Schrei aus dem Gameboy. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so erschrocken, als da dieser markerschütternde Schrei zu hören war. Und dann waren plötzlich Gesichter zu sehen. Unheimliche Fratzen mit schmerzverzerrten Gesichtern und dann war plötzlich eine Hand, die nach mir ausgestreckt wurde. Sofort schaltete ich den Gameboy aus und spürte erst jetzt, dass ich vollkommen schweißgebadet war und mein Herz wie wild raste. Heilige Scheiße, was war das denn bitteschön gewesen? Das war der absolute Horror gewesen und wer weiß, was noch passiert wäre, wenn ich nicht dieses verdammte Mistding ausgemacht hätte. Ich ließ den Gameboy versehentlich fallen, da ich keine Kontrolle mehr über meine Hände hatte, die heftig zitterten. Mein ganzer Körper zitterte und ich brach in Tränen aus. Was um Gottes Willen war das nur gewesen? Wer war denn so geistesgestört und machte so etwas? Dass Satoshi Tajiri den Tod seiner beiden Freunde als versteckte Botschaft in die Spiele versteckt hatte, konnte ich ja noch verstehen, aber das hier war doch nicht mehr normal! Der Kerl musste doch auch nicht mehr ganz frisch im Kopf sein, wenn er so etwas ins Spiel einbaute. Jedenfalls hielt der Schreck, den mir dieses Spiel eingejagt hatte, noch lange an und ich traute mich auch ehrlich gesagt nicht mehr so wirklich, es weiterzuspielen. Zuhause angekommen rief ich zuallererst die Nummer von Mr. James Smith an und vereinbarte ein Treffen mit ihm in einem Cafe in der Stadt. Das Spiel selbst versteckte ich lieber und bat eine Freundin von mir, ebenfalls dorthin zu kommen, allerdings sollte sie abseits bleiben und im Notfall die Polizei verständigen. Falls es tatsächlich Angehörige von Genji Sakaki waren, musste ich damit rechnen, dass sie nicht unbedingt freundlich um das Spiel bitten würden. Und auf so etwas wollte ich es wirklich nicht ankommen lassen. Da das Treffen erst am Samstag stattfinden sollte, hatte ich noch genügend Zeit bis dahin. Ich versuchte, mehr über diesen Shigeru Wakaba herauszufinden, stellte allerdings fest, dass nirgendwo im Internet sein Name auftauchte. Selbst auf der Homepage von Game Freak, wo die Mitarbeiter und Mitbegründer aufgelistet waren, tauchte sein Name nicht auf. Ich sah auch niemanden, der auf Blues wahre Identität hindeuten könnte. Außerdem begann ich mich zu fragen, wer mir diese Mails geschickt hatte und woher der User Wise_Hakase65 so viel über die Alpha und Beta wusste und warum die Alpha niemals auf den Markt kam. Entweder hatte er es damals selbst miterlebt, oder aber jemand aus seinem Umfeld. Inzwischen merkte ich selbst, dass meine Gedanken langsam ins Paranoide übergingen. Irgendwie schien hier jeder verdächtig zu sein und eine Verschwörung zu planen oder darin verwickelt zu sein. Da war John Doe, der mich vor dem Spiel warnte und der ganz offensichtlich wusste, was dahinter steckte. James Smith versuchte, das Spiel in die Hände zu bekommen, jemand war bei mir zuhause eingebrochen und dann wiederum löschte jemand all meine Einträge bzw. machte sie unzugänglich für andere. Und ich konnte nur zwei Verdächtige nennen, die aber auch schon genug waren: Der Nintendo Konzern und die Angehörigen Sakakis bzw. seine Leute. Sie hatten beide mehr als genügend Gründe, um das Spiel in die Hände zu bekommen, weil sie beide einen Skandal vertuschen wollten.

Als ich meine Koffer ausgepackt hatte, setzte ich mich an den Computer und überprüfte meine Mails. Wie sich herausstellte, hatte sich John Doe wieder bei mir gemeldet und warnte mich erneut ausdrücklich davor, das Spiel zu Ende zu spielen. Er schrieb, dass es lebensgefährlich sein könnte und ich das Spiel unbedingt loswerden musste, bevor es zu spät war. Auf meine Frage, woher er das alles wusste und was mit dem Spiel nicht stimme, antwortete er nicht. Ich fragte mich, wieso er so geheimnisvoll tat und warum er mir nicht einfach sagte, was mit dem Spiel los war und was mich am Ende erwartete. Vielleicht, weil er Angst hatte, dass ich es aus reiner Neugier doch tun würde. Wenn meine Vermutung zutraf, was den weiteren Verlauf des Spiels betraf, würde ich Green nach dem Sieg über die Top Vier gegenüberstehen und es würde zum letzten Kampf kommen. Wenn ich den Kampf gegen Green gewann, würde ich ihn retten können. Und wenn nicht? Ich wollte es lieber nicht wissen. Mit Sicherheit das, was mit den anderen passiert war, die es nicht geschafft hatten und daraufhin an einen schweren Schock verstarben. Wenn dem so war, dann konnte ich ungefähr abschätzen, wann ich das Spiel wirklich beenden sollte. Immerhin wollte ich schon gerne wissen, was denn nun genau passierte, wenn ich nach dem Sieg über die Top Vier auf Green treffen sollte. Dann müsste mir bis dahin doch rein theoretisch nichts Schlimmes passieren. Aber sollte ich mein Glück wirklich herausfordern? Ich war mir nicht mehr ganz so sicher wie am Anfang, denn mehr als zuvor wollte ich wissen, was auf mich am Ende des Spiels wartete und was ich damals gesehen hatte, was mich so traumatisierte. Ob ich von John Doe oder James Smith die Antwort erhalten würde, blieb offen. Vielleicht würde ich die ganze Sache nicht überleben…

Ich schaltete den Gameboy wieder ein, da ich nicht so einfach aufhören wollte, wo ich schon so weit gekommen war. Ich fand mich an meinem letzten Spielstand, nämlich in der Safarizone wieder und verließ diese wieder auf ganz normalem Wege, ohne den Sunny Town Glitch auszuführen. Da ich fast alle Orden besaß, war es nun an der Zeit, nach Vertania City zu gehen, um dort Giovanni den letzten Orden abzuluchsen. Mit Tabea flog ich also zurück und machte mich auf den Weg, stand dann aber regelrecht vor verschlossenen Türen. Ich kam nicht in die Arena rein und als ich die Tür anklickte, öffnete sich folgender Text:
 

Jemand hat die Tür von innen verbarrikadiert.
 

„Verschwinde von hier!!“
 

Hatte sich der Kerl etwa in seiner Arena verschanzt? Offenbar hatte es Giovanni mit der Angst zu tun bekommen und sich eingeschlossen, um sich vor Green zu verstecken. Er wusste, dass dieser ihn töten wollte und versuchte, seinem Schicksal zu entkommen, indem er die Arena von innen verbarrikadierte und sich mit seinen Leuten dort drin verschanzte. Selbst nach weiteren Versuchen tat sich nichts und ich stand vor einem Rätsel. Wie sollte ich denn zur Pokemonliga, wenn mir der letzte Orden fehlte? Ich sah mir meinen Status genauer an und prüfte meine Orden. Seltsamerweise wurde dort rein gar nichts mehr angezeigt, stattdessen war wirklich alles völlig verglitcht und kaum etwas erkennbar. An meinem eigenen Sprite war nichts Ungewöhnliches zu sehen, außer dass ich glaubte, so etwas wir einen dunklen Schatten hinter ihm zu sehen. Ich war mir aber nicht ganz sicher, ob ich ihn mir vielleicht nur einbildete, aber mir war nicht ganz wohl dabei. Ich schloss das Menü und da mir keine andere Wahl blieb, ging ich in Richtung Westen zur Pokemonliga. Da ich Green schon zuvor besiegt hatte, würde er mir nicht mehr auf meinem Weg begegnen und darüber war ich auch insgeheim froh. Nach und nach kam ich an den Wachen vorbei und kam schließlich zum letzten an, der normalerweise fragte, ob ich den Erdorden besitzen würde. Stattdessen war nur ein völlig verbuggter und somit unleserlicher Text zu sehen. Als sich dieser schloss, konnte ich ohne Probleme weiter und so stand mir nichts mehr im Wege. Aber der schwerste Marsch stand mir noch bevor, denn nun galt es, mir langsam den Weg durch die Siegesstraße freizukämpfen, bis ich endlich das Indigo Plateau erreichte. Da mein Team dazu neigte, nach unzähligen Kämpfen immer schwächer und angreifbarer zu werden, musste ich oft genug Schutz einsetzen, um nicht stets und ständig auf wilde Pokemon zu treffen. Eine Zeit lang ging alles gut, da begann die Musik verrückt zu spielen und der Bildschirm begann zu flackern. Laute Störgeräusche ertönten, bis schließlich die Lavandia Musik ertönte, nur wurde sie rückwärts abgespielt. Ein Textfenster wurde geöffnet:
 

„Wir hö… niem… a…. D… Blut soll… d… di… St… f…!!!“
 

Ein tiefes Dröhnen ertönte aus dem Gameboy und wieder tauchte der Schatten hinter Red auf. Der Schatten mit den stechend roten Augen. Ich versuchte, meinen Charakter von ihm wegzubewegen, doch er war viel langsamer geworden und kam nur schleppend voran. Ein weiteres Textfeld erschien, doch dieses Mal waren es keine kaum lesbaren Fragmente:
 

„DU KANNST NICHT EWIG DAVONLAUFEN!!!“
 

Und als ich diesen Text las, wurde das Rauschen lauter und ein spitzer Schrei ertönte urplötzlich aus dem Gameboy und vor Schreck hätte ich ihn beinahe fallen lassen. Es klang, als würde jemand unter unvorstellbaren Qualen sterben und so einen hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Vor allem war er so laut, dass meine Schwester, die direkt nebenan ihr Zimmer hatte, zu mir und fragte was los sei. Ich klickte den Text weg und schließlich verstummte auch das Schreien. Meine Schwester wimmelte ich mit einer Ausrede ab, denn sie hätte mir eh nicht geglaubt, dass das Spiel ein unheimliches Eigenleben zu besitzen schien. Und wenn, dann wollte ich nicht, dass sie deswegen Probleme bekam. Irgendwann erreichte ich schließlich das Ende und hatte das Indigo Plateau erreicht. Mein Team selbst war völlig am Ende. Die Kraftpunkte konnte ich zwar dank der Tränke und Beleber wiederherstellen, aber ich merkte, dass sie es nicht mehr schaffen würden, die Top Vier zu besiegen. Ich ließ meine Pokemon heilen und speicherte den Spielstand, danach schaltete ich den Gameboy erst einmal aus. Wenn ich es durch die Top Vier schaffen wollte, musste ich eine Pause einlegen, da sonst meine Pokemon zusammenbrechen würden. Deshalb nutzte ich die Zeit, um in meinen Blogs nachzusehen, ob mir jemand vielleicht einen hilfreichen Tipp gegeben haben könnte. Ich sah zuerst in meinen E-Mails nach und fand eine anonyme E-Mail, von der ich zuerst dachte, dass sie von John Doe sein könnte, doch als ich sie öffnete, fiel ich fast vom Stuhl, als mir ein blutroter riesiger Schriftzug entgegensprang, der die gleichen Worte wie zuvor enthielt: „DU KANNST NICHT WEGLAUFEN!!!“ Wer um alles in der Welt hatte mir diese E-Mail geschickt und was hatte das zu bedeuten? Erlaubt sich jemand einen echt miesen Scherz mit mir oder was? Ich hab ja schon von Geschichten gehört, in denen irgendwelche Geister, die von Spielen Besitz ergriffen hatten, auf Computer übergehen konnten, aber wie sollte Green es geschafft haben, von meinem Gameboy auf den Computer zu gelangen? Das war eigentlich nicht möglich! Ehrlich gesagt, bekomme ich langsam wirklich Angst. Ich weiß nicht, was mich hier eigentlich bedroht und ob ich es hier bloß mit einem ziemlich makabren Spiel zu tun habe, oder ob es sich hier um etwas weitaus Schlimmeres handelt. Was um alles in der Welt hat sich dieser Freak Tajiri bloß dabei gedacht, als er diese kranke Scheiße entwickelt hat? Ehrlich, langsam wird es wirklich beängstigend, denn nun scheint es so, als würden sich diese unheimlichen Phänomene nicht bloß allein in dem Spiel bemerkbar machen. Diese unzähligen Kratzer und blaue Flecken an meinem Körper kann ich auch nicht mehr als dumme Unfälle abstempeln. Sie tauchen einfach über Nacht auf und manche von ihnen sind wirklich heftig. Meine Mutter glaubt doch tatsächlich schon, mich würde jemand im Therapiezentrum verprügeln und diese Würgemale an meinem Hals lassen sich auch nicht dauerhaft verbergen. Aber warum habe ich diese blauen Flecken und Kratzer? Sie tauchen immer dann auf, wenn ich von Green träume und dieser mich angreift. Seht ihr darin einen Zusammenhang? Ich jedenfalls tue mich schwer mit dem Gedanken, dass Green sich irgendwie in meinen Träumen manifestiert und mir diese Verletzungen zufügt. Ich meine, warum sollte er das tun und wie sollte er das anstellen?
 

Da mich die Sache mit den blauen Flecken nicht losließ, hab ich mal im Internet nachrecherchiert. Vielleicht liegt es an meiner logisch veranlagten Art, dass ich mich mit aller Macht gegen die Theorie gewehrt habe, ein Geist oder ein Dämon könnte mir diese Verletzungen zugefügt haben. Jedenfalls hörte ich, dass diese Hämatome durchaus natürliche Ursachen haben konnten, wie zum Beispiel durch Gerinnungsstörungen. Da ich in der letzten Zeit ziemlich viele Aspirintabletten eingeworfen habe, konnte es durchaus sein, dass es daher kommt. Aber das ist keine Erklärung für die tiefe Kratzwunde an meinem rechten Oberarm, vor allem weil ich als Nagelkauerin keine Fingernägel für so was habe. Ich konnte es unmöglich selbst geschafft haben. Woher stammen die Kratzer also dann? Das war das Einzige, das ich mir nicht logisch erklären konnte, zumindest nicht bis dahin. Bevor ich mich näher damit beschäftigen konnte, rief mich meine Mutter und bat mich, ein paar Getränke aus der Garage zu bringen, wo wir die Wasserkästen verstauten. Nun müsst ihr aber wissen, dass unsere Garage durch eine Art Kellerflur zu erreichen war, der in den Heizungsraum, in unseren Keller und den der Nachbarn sowie in den Waschkeller führte. Da das Licht im Kellerflur mal wieder kaputt war, musste ich mich an dem Licht orientieren, das durch die Fenster und die Glastüre am Ende des Ganges hindurchfiel. Der Zugang zur Garage war nur ein paar Schritte entfernt, allerdings gelang es mir irgendwie nicht, den Lichtschalter zu finden. Während ich mich blind in der Dunkelheit vorantastete, glaubte ich Schritte zu hören. Zuerst dachte ich, es sei einer der Nachbarn im Waschkeller, aber es kam nicht von dort, sondern direkt aus der Garage. Ich habe für gewöhnlich schreckliche Angst im Dunkeln und geriet nach relativ kurzer Zeit in Panik, weshalb sich nicht ausschließen ließ, dass ich mir das bloß eingebildet hatte. Langsam tastete ich mich an den Regalen entlang, da ich wusste, dass die Wasserkästen nicht weit sein konnten. Blind ertastete ich dabei alles Mögliche. Verschiedene Gerätschaften, einen Schuhkarton mit Krimskrams von meiner Schwester und den alten Vogelkäfig unserer Wellensittiche. Doch dann ertastete ich etwas, das dort eigentlich nicht hingehörte. Es war kein kaltes Metall von Sprühflaschen oder Geräten sondern etwas, das sich wie eine Hand anfühlte. Ich erstarrte vor Schreck und konnte nicht einmal schreien. Langsam drehte ich den Kopf und starrte direkt in zwei Augen, die in der Dunkelheit unheimlich leuchteten. Sofort drehte ich mich um und wollte weglaufen, da packte mich etwas am Hals und stieß mich gegen das Regal. Zwei eiskalte Hände begannen mich zu würgen. Während ich mich nach Leibeskräften wehrte, um mich zu befreien, versuchte ich um Hilfe zu rufen, doch mir wurde die Luft dermaßen abgeschnürt, dass ich keinen Ton herausbekam. Blind tastete ich mit einer Hand durchs Regal, um etwas zu finden, womit ich den Angreifer angreifen könnte, da warf ich versehentlich eine ganze Reihe von alten Töpfen herunter, die natürlich einen Höllenlärm verursachten. Schließlich waren Schritte im Hausflur zu hören, jemand kam die Treppen hinuntergeeilt. Ich bekam eine Glasflasche zu fassen und schlug sie nach meinem Angreifer. Dieser ließ mich sofort los und ich schlug ins Leere. Das Licht ging an und meine Mutter stand an der Tür. „Schatz, was ist passiert?“ Ich sah mich verwirrt um und fragte mich, wieso ich denn plötzlich alleine in der Garage war. „Da… da war gerade jemand und hat mich…“ Ich sprach nicht weiter, denn in dem Moment kam mir eine schreckliche Erkenntnis. Es gab nur zwei Möglichkeiten, aus der Garage rauszukommen und das waren die Tür zum Kellerflur und das Garagentor, das zur Auffahrt auf die Straße führte. Da meine Mutter gerade zur Tür hereingekommen und das Tor abgeschlossen war, konnte der Angreifer gar nicht abgehauen sein. Es sei denn, er hätte sich in Luft aufgelöst. Ich… ich weiß nicht, ob ich das Spiel überhaupt noch weiterspielen sollte. Offenbar wollte mich jemand umbringen und wer auch immer es war, er konnte sich scheinbar tatsächlich in Luft auflösen. Natürlich ist es totaler Quatsch, dass irgendwelche Videospielcharaktere lebendig werden und einem nach dem Leben trachten. Aber wie sonst kommen diese ganzen Verletzungen zustande und wie hätte man mich sonst im Keller angreifen und dann einfach fliehen können, ohne dabei die einzigen beiden möglichen Fluchtwege zu benutzen? Werde ich irgendwie langsam verrückt und beginne, mir Sachen zusammenzuspinnen oder sollte ich mir wirklich Sorgen machen? Ich weiß nicht mehr weiter. Alles wird immer unheimlicher und verworrener und macht es mir immer schwerer zu erkennen, was bloß Aberglaube und Spinnerei und was Realität ist. Meine einzige Hoffnung wäre das Treffen mit James Smith, vielleicht kann er mir endlich die Antworten geben, die ich suche. Vielleicht wird es auch ganz anders verlaufen und er wird mir entweder das Spiel gewaltsam abnehmen oder anderweitig dafür sorgen, dass ich nie wieder etwas über die verbuggte rote Edition schreibe. Aber was bleiben mir sonst für Alternativen? Bislang wusste ich zwar, dass dieser Genji Sakaki Satoshi Tajiris Freunde auf dem Gewissen hatte, aber das erklärte nicht, warum das Spiel sich so extrem verhielt. Ich sollte besser John Does Rat beherzigen und das Spiel nicht weiterspielen, wenn ich somit vielleicht dem Tod entgehen konnte.

Der Schreck sitzt immer noch tief bei mir und ihr könnt euch nicht vorstellen, was für eine Angst ich gerade habe. Wäre meine Mutter nicht in den Keller gekommen, hätte man mich erwürgt… Selbst bei mir zuhause scheine ich nicht mehr sicher zu sein. Was, wenn es Green war, der das getan hatte? Was, wenn ich jetzt schon in der Realität verfolgt wurde und nicht bloß im Spiel? Daran will ich ehrlich gesagt gar nicht erst denken, sonst kann ich nie wieder richtig schlafen. Heilige Scheiße, worauf habe ich mich da bloß eingelassen?

Der Alptraum von Lavandia: Letzter Eintrag

Hallo, es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal bezüglich des „Lavandia-Alptraums“ geschrieben habe und welches Geheimnis sich dahinter verbarg. Ich möchte mich für die lange Wartezeit entschuldigen und zugleich die Leute beruhigen, die bereits das Gerücht gestreut hatten, ich sei tot. Nein, es geht mir gut, zumindest einigermaßen. Der Grund, warum ich so viel Zeit verstreichen ließ, bis ich endlich berichte, wie das Gespräch mit „James Smith“ ausging war der, dass ich Zeit brauchte. Zeit, um diese ganzen Informationen zu verarbeiten und Vorkehrungen zu treffen. Ich hatte sehr viel zu tun und deshalb hab ich gar nicht mehr daran gedacht, einen weiteren Eintrag zu schreiben. Nun, da fast eine ganze Woche seitdem vergangen ist und sich die Lage einigermaßen beruhigt hat, denke ich, dass es an der Zeit ist, einen allerletzten Eintrag zu schreiben. Ja, ihr lest richtig: Dies hier ist mein allerletzter Eintrag. Ich möchte von vornherein klarstellen, dass ich das Spiel nicht weitergespielt habe und dass ich mich allein auf das beziehen werde, was mir Mr. Smith erzählt hat. Ob dies der Wahrheit entspricht, kann ich nicht garantieren, aber ich will es auch nicht herausfinden. Dazu hänge ich einfach zu sehr an mein Leben, als dass ich es unnötig aufs Spiel setzen will. Also schickt mir keine weiteren Anfragen mehr und respektiert bitte meine Entscheidung. Ich habe wirklich Angst um mein Leben.

Aber nun möchte ich euch erzählen, was bei diesem Treffen geschehen ist:
 

Ich hatte mich am Samstag mit Mr. Smith in einem öffentlichen Cafe getroffen und das Spiel sicherheitshalber zuhause gelassen, für den Fall, dass er versuchen würde, es mir mit Gewalt abzunehmen. Mr. Smith erwartete mich bereits und stellte sich mir direkt bei seinem richtigen Namen vor. Auf seine Bitte hin werde ich ihn geheim halten, aber so viel sei gesagt: Er war ein sehr wichtiger Zeuge und kannte Satoshi Tajiri sehr gut. Da mir der Name aber zuerst nichts sagte, fragte ich ihn direkt, für wen er denn nun arbeite und ob er es war, der bei mir eingebrochen war. Er gab den Einbruch sofort zu und entschuldigte sich zugleich dafür. Zuerst dachte ich, er wäre von Nintendo oder der Familie Sakaki engagiert worden, um mich zum Schweigen zu bringen, aber zu meinem Erstaunen offenbarte er mir, dass er in Tajiris Interesse den Kontakt zu mir gesucht hätte. Das erstaunte mich, denn ich hatte zuerst gedacht, dass Nintendo und die Sakaki Familie ein viel stärkeres Motiv hätten, weil sie jeweils einen Skandal vertuschen wollten, aber so wie Mr. Smith mir sagte, wollte Tajiri ebenfalls unbedingt verhindern, dass dieses fehlerhafte Spiel jemals wieder aus der Versenkung auftauchte und ins Visier der Öffentlichkeit geriet. Das hatte mich schon sehr verwirrt und ich verstand nicht, wieso ausgerechnet der Entwickler selbst unbedingt diese gefährlichen Spiele verschwinden lassen wollte. Immerhin hatte er sie doch erst verbreitet, weil er hoffte, dass jemand irgendwann die Wahrheit herausfinden und Sakakis Verbrechen aufdecken würde. Aber so wie mir Mr. Smith erzählte, sei alles irgendwie vollkommen aus dem Ruder gelaufen und dass die Kinder an einem schweren Schock starben, war niemals in seiner Absicht gewesen. „Und warum hat er dann dieses Spiel so traumatisierend gestaltet und riskiert, dass die Kinder schwere psychische Schäden davontragen?“ fragte ich direkt und Mr. Smith erklärte daraufhin „Satoshi wollte lediglich die Wahrheit verbreiten und sicherlich war das Spiel an einigen Stellen etwas grenzwertig, das gebe ich zu. Aber irgendwann ist das Spiel seiner Kontrolle entglitten und nahm immer grausamere Züge an, die er nicht ändern konnte.“

„Das klingt ja fast so, als hätte das Spiel ein Eigenleben entwickelt.“

„Nicht das Spiel selbst. Ich weiß nicht, was Satoshi damit gemacht hat. Er sagte nur, er habe zu viel in das Spiel mit eingebracht und deshalb ist es zu solch einem Alptraum geworden.“ Damit ich die Zusammenhänge besser verstehen konnte, begann mir Mr. Smith die wahren Begebenheiten von damals zu berichten, die Satoshi dazu veranlasst hatten, diese unheimlichen Dinge in die erste Pokemongeneration einzubauen.
 

Satoshi hatte in seiner Kindheit zwei enge Freunde, mit denen er im Laufe der Jahre die ersten Ideen zu Pokemon entwickelte: Shigeru Wakaba und Shion Nakamura. Sie waren seine engsten Freunde und wohl damals auch seine einzigen, da Satoshi seine Schwierigkeiten im Umgang mit anderen hatte, da er am Asperger-Syndrom litt. Die drei teilten ein gemeinsames Interesse: Das Sammeln. Satoshi sammelte für sein Leben gerne Insekten, genauso wie Shigeru und Shion sammelte kleine Schätze, die sie im Wald oder sonst wo fand, wenn sie mit den Jungs unterwegs war. Die drei waren wirklich unzertrennlich und selbst als sie auf der High School waren, blieben sie eng miteinander befreundet. Gemeinsam begannen sie mit den ersten Entwürfen für ein Videospiel und geplant war, dass es drei Editionen geben sollte, in der jeder als Hauptcharakter auftritt: Grün, Rot und Blau. Während Satoshi sich mit den Pokemon selbst beschäftigte, entwickelte Shigeru die verschiedenen Charaktere, die er größtenteils realen Personen nachempfand, während Shion sich um den Aufbau der Spielwelt kümmerte. Immer mehr interessierte Studenten, Grafiker und Softwareentwickler schlossen sich ihrer Idee an und bauten die eher groben Ausfertigungen weiter aus und verfeinerten sie. Shion und Shigeru wurden schließlich ein Paar und schon bald wurde Shion schwanger. Sie beschlossen, noch vor der Geburt des Kindes zu heiraten und wählten Satoshi als ihren Trauzeugen und als Taufpaten ihres Kindes. Satoshi freute sich wahnsinnig für die beiden, vielleicht sogar noch mehr als die beiden selbst und sie beschlossen, das Kind, welches ein Mädchen werden sollte, den Namen Hinata zu geben. Dies war gleichzeitig die Geburt von Sunny Town, welche in der Originalfassung „Hinata Iro“ heißen sollte. Die drei planten die Stadt auf eine Insel, nämlich auf die Seeschauminseln, wo sich im Spiel die drei Hauptcharaktere Red, Green und Blue treffen sollten, um den Aufstieg des jeweiligen Spielcharakters in den Rang des Kanto Champions zu feiern. Das sollte der harmonische Abschluss für das Spiel werden, aber leider gab es einige ernsthafte Probleme, was das Spiel betraf. Der Konzernriese Genji Sakaki machte den dreien nämlich massiven Druck, da er sich durch die Figur des Sakaki (also Giovanni) persönlich angegriffen fühle. Tatsächlich wiesen die beiden gravierende Ähnlichkeiten auf, da sie beide nach außen hin mächtige Geschäftsmänner waren, sich aber in Wahrheit für das organisierte Verbrechen engagierten. Von Genji Sakaki vermutete man, dass er sowohl im Waffengeschäft als auch im Menschenhandel und im Rotlichtmilieu seine Finger im Spiel hatte und da ihm diese Figur im Spiel ihm überhaupt nicht passte, schüchterte er das Team ein und bedrohte Shion und Shigeru sogar. Während Shion versuchte, die Sache friedlich beizulegen und dem Druck nachzugeben, ging Shigeru auf Konfrontation und sagte, dass es nur eine harmlose Figur in einem Spiel sei, die rein zufällig genauso hieß. Und wenn Genji Sakaki nichts zu verbergen hätte, bräuchte er nicht so einen Aufstand darum machen. Das war, wie sich schon sehr bald herausstellen sollte, ein großer Fehler. Es blieb eine Weile ruhig um Sakaki und nachdem Shion und Shigeru geheiratet hatten, brachte Shion Hinata zur Welt und damit sie sich um ihre Mutterrolle kümmern konnte, verließ sie Game Freaks, blieb aber weiterhin in engen Kontakt zu Satoshi und ihren Kollegen. Als sie mit dem Kinderwagen einen Abendspaziergang machte, kam es zu einer unfassbaren Tragödie. Obwohl sie in einer sehr ruhigen Wohngegend spazieren ging, raste ein Auto auf Shion zu und erfasste sie und den Kinderwagen. Dabei wurde das Baby aus dem Kinderwagen geschleudert, fiel auf die Straße und starb an einer schweren Kopfverletzung. Shion lag mit inneren Blutungen und schweren Knochenbrüchen auf der Straße und war nicht fähig, aufzustehen oder um Hilfe zu rufen. Da sie kurz vor dem Unfall mit Satoshi telefoniert hatte und ihr Handy immer noch an war, hatte dieser quasi live miterlebt gehabt, wie das Auto Shion erwischte. Mit allerletzter Kraft sagte sie noch „Satoshi, hilf mir… es tut so weh…“ Da er keine Antwort von ihr bekam, rief er sofort Shigeru an und verständigte den Notarzt. Als dieser aber an der Unfallstelle ankam, war Shion bereits tot. Ihre Verletzungen waren so schwer gewesen, dass sie an ihren inneren Blutungen qualvoll starb. Für Satoshi und seinen Freund war das ein unfassbarer Schock und für Shigeru stand sofort fest, wer verantwortlich für den Tod seiner Frau und seiner Tochter verantwortlich war: Genji Sakaki. Satoshi hatte seine eigenen Wege, um den tragischen Verlust seiner Jugendfreundin und seines Patenkindes zu verarbeiten und baute schließlich Lavandia als Stadt der Geister ein. Lavandia bedeutete auf Japanisch „Shion Iro“ und Sunny Town wurde aus dem Konzept genommen und war nur noch als Glitch vorhanden. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem Knoggas Geist ins Spiel kam und Team Rocket zu Pokemonmördern wurden. Während Satoshi seine Trauer auf diese Weise irgendwie verarbeiten konnte, veränderte sich Shigeru immer weiter und konnte nur noch an Rache denken. Das entging Satoshi durchaus nicht, aber er versuchte es auch von der Seite zu sehen, dass es vielleicht auch jemand anderes sein konnte. Deshalb schlug er vor, dass er und Shigeru das Gespräch mit Sakaki aufsuchten. Vielleicht würde sich ja dann herausstellen, dass Sakaki gar nichts damit zu tun hatte. Nur widerwillig ließ sich Shigeru darauf ein und war bereit, seine Gedanken an Rache fallen zu lassen, wenn er eine aufrichtige Entschuldigung hören würde. Doch Sakaki zeigte keinerlei Reue für den Mord an Shigerus Familie, nein er lachte sogar noch darüber und erklärte, dass man manchen Leuten eben eine Lektion erteilen müsse, damit sie lernen, wo ihr Platz sei. Satoshi versuchte seinen besten Freund zu beruhigen, doch dieser wurde immer verbitterter und konnte nur noch an Rache denken. Als schließlich die Beta von Pokemon veröffentlicht wurde und Game Freaks in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit rückte, hoffte Satoshi natürlich, Shigeru somit auf andere Gedanken bringen zu können, aber kurz darauf erhielt er die Nachricht, dass Shigeru Amok gelaufen sei. Mit einer Pistole bewaffnet war er ins Gebäude von Sakakis Exportfirma eingedrungen, hatte mehrere Mitarbeiter erschossen oder schwer verletzt und Sakaki selbst vier Kugeln verpasst, bevor er sich selbst mit einem Kopfschuss tötete. Für Satoshi brach endgültig eine Welt zusammen. Seine beiden besten Freunde waren tot, ebenso wie sein Patenkind. Und Sakaki war Schuld daran. Die eigentliche Ungerechtigkeit aber bestand darin, dass der Kerl tatsächlich überlebte. Obwohl es eigentlich völlig unmöglich sein müsste, hatte dieser doch tatsächlich wie der Film-Mafioso Don Corleone überlebt. In Satoshi wuchs der Zorn, aber er verwarf den Gedanken, genauso zum Verbrecher zu werden wie Shigeru. Davon würde er seine Freunde auch nicht zurückholen können. Da er wusste, dass Sakaki erneut auf Game Freaks einschießen würde und beim allerkleinsten Fehltritt das ganze Team in den Ruin treiben würde, entschied sich Satoshi für einen anderen Weg, der Welt die Wahrheit zu zeigen und programmierte die Alpha Version. Diese war folgendermaßen konzipiert:
 

Green, der im offiziellen Spiel der ärgste Rivale von Red war, sollte eigentlich sein bester Freund sein. Beide verstanden sich gut, allerdings veränderte sich Green im Verlaufe des Spiels immer mehr. Er wurde rücksichtsloser, aggressiver und egoistischer. Genauso wie Red wollte er der beste Trainer werden und den Traum seines Großvaters leben, aber er driftete zunehmend ab. In Lavandia erfuhr man schließlich den Grund: Green war nicht er selbst. Während seiner Reise wurde er von Knoggas Geist besessen, das selbst nach Rache sann und unbedingt seine Mörder jagen und töten wollte. Green wurde zu seiner Marionette und tat alles, um stärker zu werden, damit er Giovanni und den Rest von Team Rocket schlagen konnte. Im Pokemonturm traf man auf den besessenen Green, der Red erklärt, dass er nicht nur vorhabe, Team Rocket für dieses Verbrechen büßen zu lassen, sondern auch die Trainer. Diese ließen Pokemon bis zum Zusammenbruch gegeneinander kämpfen und kümmerten sich nicht darum, dass irgendwann einmal ein Kampf zu viel sein könnte und die Pokemon dabei sterben könnten. Daraufhin würde man in einen Kampf mit Green verwickelt werden, bei dem er einen unidentifizierbaren Geist auf Level 50 einsetzen würde. Da man das Silph Scope noch nicht besaß und dem Kampf nicht entfliehen konnte, war der Kampf zum Scheitern verurteilt und dabei würden Reds Pokemon sterben. Nach dem verlorenen Kampf wurde man ohnmächtig und fand sich ohne Pokemon vor dem Pokecenter wieder. Eine Nachricht würde dann eingeblendet werden, welche lautete „Der Alptraum von Lavandia hat gerade erst begonnen. Dir wird noch eine Chance gegeben.“ Dabei würde das Spiel „einfrieren“, sodass man es neu starten musste. Daraufhin würde man sich vor dem Pokemonturm wieder finden, mit drei Orden im Gepäck und dem zuletzt gespielten Team. Alles sah danach aus, als wäre das, was sich im Turm zugetragen hatte, gar nicht passiert. Da man nun wusste, dass man das Silph Scope brauchte, ging man also nach Prismania City, wobei aber deutlich wurde, dass die Pokemon des eigenen Teams scheinbar immer schwächer und erschöpfter wurden, je öfter man am Stück mit ihnen kämpfte. Giovannis Worte, als er das Item rausrückte, sollten den Spieler erkennen lassen, dass die Geschehnisse im Turm doch passiert waren und dass das Unheil noch bevorstand. Kurz darauf würde man von Knoggas Geist heimgesucht und verfolgt werden, wenn man die Arenaleiterin Erika besiegt und von ihr das Basis-Item „Reinigendes Salz“ erhalten hatte. Dieses Item hatte den Zweck, die besessene Arenaleiterin in Lavandia zu erlösen, die von einem bösen Geist gequält wurde. Die Arenaleiterin war eine Exorzistin, die im Kampf gegen Green versucht hatte, ihn zu befreien, jedoch war sie gescheitert, da er zu stark war und sie das Silph Scope nicht hatte. Nachdem man sie besiegt hatte, erfuhr man schließlich, dass Knogga von Team Rocket getötet worden war und keine Ruhe finden konnte. Um Rache nehmen zu können, brauchte es einen menschlichen Wirt und dazu hatte es sich Green ausgesucht. Da er und Red beste Freunde sind, bittet die Arenaleiterin Red schließlich, dass er Green rettet, weil er durch das Band der Freundschaft eine Chance hätte, zu ihm durchzudringen. Im Turm traf man schließlich auf Green, der Red verzweifelt um Hilfe bittet, allerdings verschwindet er und während Red den Turm hinaufstieg und die besessenen Exorzisten bekämpfte, wurden seine eigenen Pokemon immer schwächer. Dabei erschienen immer wieder unvollständige Textfelder wie aus dem Nichts, die allesamt unvollständig waren. Das erste Mal erschien eine solche Nachricht in der Arena von Prismania City, nachdem man das Item „Reinigendes Salz erhalten hatte“ und die Arena verlassen wollte:
 

„Wir leben nicht mehr… Unsere Schmerzen sollen gesehen und unsere Schreie gehört werden.“
 

Wenn man versuchte, den Lavandia Turm zu verlassen, sprach die Stimme von Shigeru, der seinen Hass gegen Sakaki zum Ausdruck bringen wollte: „Unser Schmerz soll der deine werden. Du bist Schuld für das, was geschehen ist!!!“ Ein Entkommen aus dem Turm war unmöglich, man war also gezwungen, Green erneut zu konfrontieren und wie schon bei der Rückkehr nach Lavandia hörte man seine verzweifelten Hilferufe. Doch statt, dass ein neuer Kampf folgte, flieht Green und man musste sich durch den Turm kämpfen, bis man das oberste Stockwerk erreichte. Dort traf man auf Professor Eich, der sagte: „Wo ist mein Enkel? Ich hab gehört er ist von etwas Bösartigem besessen, das ihn zu all dem hier zwingt. Ich hatte gehofft, dass er nur in einer rebellischen Phase steckt, aber dass er besessen ist… Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich das alles niemals zugelassen. Ich mache mir wirklich Sorgen. Red, du musst ihm helfen, du bist sein bester Freund. Vielleicht besteht ja noch Hoffnung. Noch kann es aufgehalten werden.“

Dann verließ man mit Professor Eich den Pokemonturm, erhielt von ihm die Pokemonflöte, sodass man seinen Weg nach Fuchsania City fortsetzen konnte. Bis zur Zinnoberinsel lief dann alles ganz normal weiter. Erreichte man dann schließlich die Arena, traf man auf Green wieder, der aufs Meer hinausstarrt. Wenn man mit ihm interagiert, dreht er sich immer noch nicht um sondern sagt „Red… du… du musst mich aufhalten! Ich will das nicht tun…“ Nachdem man den Orden von der Zinnoberinsel hat und geht der Weg weiter zur Silph Co. in Saffronia City, um dort Team Rocket zu bekämpfen. Kurz vor dem Kampf mit Giovanni trifft man auf Green, der offenbart, dass er vorhat, Giovanni zu töten und bittet Red erneut um Hilfe, weil er niemandem etwas tun will. Red gewinnt den Kampf, schafft es aber nicht, Green zu erlösen. Dies sollte ihm erst nach dem Sieg über die Top Vier gelingen, wo ihm verkündet wird, dass Green der amtierende Champion ist. Bevor man aber dorthin kam, tauchte ein neues Textfragment in der Siegesstraße auf, das Mr. Smith und Tajiri folgendermaßen deuteten:

"Wir hören niemals auf! Dein Blut soll durch die Straßen fließen!!!" Als Red nach dem Kampf gegen nach dem Sieg über die Top Vier an Siegfried vorbei geht, um zu Green zu gehen, ist dieser nicht da. Stattdessen wartet Professor Eich auf ihn, der erzählt, dass er hergekommen war, um Green zu helfen, doch dieser hatte ihn überwältigt und sei daraufhin geflohen. Zusammen mit Professor Eich kehrte man nach Alabastia zurück, wo man von Officer Rocky erfuhr, dass sich Giovanni in seiner Villa in Vertania City verschanzt habe. Green sei auch dort. Red macht sich daraufhin auf den Weg, doch dort angekommen, kommt für Giovanni jede Hilfe zu spät. Er und mehrere Mitglieder von Team Rocket wurden brutal massakriert. Green steht inmitten dieses Blutbades und von ihm erfährt man, dass er in der Stadt der verlorenen Träume warten wird, womit Sunny Town gemeint ist. Dort kommt es zum finalen Kampf gegen ihn. Nachdem man den Kampf gegen Green gewonnen hatte, würde Knoggas Geist endlich Frieden finden, aber gleichzeitig würde auch Green sterben.
 

Das sei der geplante Verlauf gewesen und obwohl das schon ziemlich heftig für ein Spiel war, hätte es eigentlich keine Todesfälle verursachen dürfen. Als ich fragte, warum es doch dazu gekommen sei, erklärte mir Mr. Smith, dass der „Schatten“, den man im Spiel sehen konnte, gar nicht einprogrammiert war. Auch diese Textfragmente, die ich gelesen hatte, waren niemals eingebaut worden, sie seien einfach da gewesen. Weder Satoshi noch sonst irgendjemand hatte so etwas eingeplant. Natürlich hatte er an gewissen Stellen Sachen eingebaut, die für Kinder nicht gerade geeignet waren. So erhielt die Lavandia Musik zum Beispiel hohe Frequenzen, die Kopfschmerzen und Angst bei Kindern auslösten. Auch die Musik des Pokemonturms löste Depressionen aus und der Grund, warum Shin Nakamura das überhaupt getan hatte, lag daran, dass Shion seine Schwester war. Er und Satoshi hatten damit einen gemeinsamen Feind und wurden zu Komplizen bei dieser Aktion. Als ich fragte, warum Satoshi und Shigeru denn nicht gerichtlich gegen Sakaki vorgegangen seien, erfuhr ich, dass sie das tatsächlich getan hätten. Allerdings habe Sakaki damals die Polizeibeamten und den Staatsanwalt bestochen oder erpresst, sodass es gar nicht erst zu einem Prozess kam.

„Und was genau ist dieser Schatten und wieso taucht er überhaupt auf, wenn Tajiri ihn nicht einprogrammiert hat?“

„Wie gesagt, Satoshi sagte nur, er habe zu viel Persönliches in dieses Spiel eingebracht und deshalb habe es sich seiner Kontrolle entzogen.“

„Das klingt ja fast danach, als wäre bei der Programmierung der Alpha Version irgendetwas auf das Spiel übergegangen, das diese Alpträume und diesen tödlichen Schock verursacht.“ Ich musste daran denken, wie die Kinder, die nach dem Spielen der roten Edition zu Mördern wurden oder sich selbst verstümmelten, sagten, dass Green sie dazu gezwungen habe. Auch war es verdächtig auffällig, dass ausgerechnet diese Kinder sowohl Genji Sakaki als auch seine Kinder ermordeten und ebenfalls aussagten, sie seien von Green gezwungen worden. Ich erinnerte mich an meine eigenen Alpträume, in denen er mir immer wieder befahl, Sakaki zu töten… und an die blauen Flecke. „Hatten die Kinder, die gestorben sind, Verletzungen am Körper?“

„Einige von ihnen, aber nicht alle. Man ging von Verletzungen aus, die sie sich bei Raufereien oder beim Spielen zugezogen hatten. Nur in zwei oder drei Fällen wurden Würgemale am Hals der Opfer entdeckt, weshalb man zuerst davon ausging, dass sie getötet worden seien oder zumindest von den Eltern misshandelt wurden. Aber die Todesursache war eindeutig Herzversagen durch einen schweren Schock.“ Daraufhin offenbarte ich Mr. Smith meine eigenen Verletzungen und erzählte ihm von meinen Alpträumen und wie ich in der Garage angegriffen worden war. Wie befürchtet, zeigte sich Mr. Smith sehr beunruhigt und fragte, wie weit ich das Spiel bereits gespielt hatte. Ich antwortete offen und ehrlich und sagte, ich hätte es bereits bis zu den Top Vier geschafft. Hier sah er mich ernst an und was er sagte, verfolgt mich bis heute noch: „Wenn Sie das Spiel weiterspielen, dann werden Sie nicht mehr lange zu leben haben. Wenn Sie es schon nicht verkaufen wollen, dann vernichten Sie es. Verbrennen Sie es, oder zerschlagen Sie es mit dem nächstbesten Hammer. Meinetwegen verstecken Sie es auch irgendwo, aber spielen Sie es nicht weiter, wenn Sie weiterleben wollen!“ Mr. Smith war dabei so ernst und ruhig, dass er mir gar nicht vorkam, als wolle er mir bloß Angst einjagen, oder mich verunsichern. Er war offenbar wirklich der Überzeugung, dass da irgendetwas in diesem Spiel war, das sogar physische Gewalt auf die Spieler ausüben konnte. Nach einer langen Pause fragte ich schließlich „Kann es sein, dass Shigeru auf das Spiel übergegangen ist?“

„Ich weiß es nicht. Es wäre zumindest eine Erklärung. Wirklich herausfinden werden wir es aber wohl nicht. Tatsache ist, dass Satoshi Tajiri selbst entsetzt war, als er sah, was für grauenhafte Züge sein Spiel angenommen hatte, welches er und seine Freunde ursprünglich entwickelt hatten. Nicht nur, dass seine besten Freunde und sein Patenkind tot waren, er hatte auch noch Menschenleben auf dem Gewissen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion programmierte er die betroffenen Spiele um, indem er die Alpha mit der Beta überschrieb und da Nintendo aus persönlichem Interesse den Skandal ebenfalls vertuschen wollte, wurden sämtliche Spuren verwischt. Allerdings hatte niemand damit gerechnet, dass Teile der Alpha immer noch vorhanden waren." Wie ich mir bereits gedacht hatte, wurden die Spiele gar nicht vernichtet. Sonst hätte die Polizei den Laden noch genauer unter die Lupe genommen, da sie denken würden, Nintendo versuche etwas zu verbergen. Wenn man allerdings nur die Spiele überschrieb, würde niemand denken, dass sie der Auslöser für diese Todesfälle waren. „Sie können mir ruhig glauben, dass die vollständige Alpha um einiges Schlimmer war als jene, die Sie da gespielt haben. Einige der Kinder sind nicht einmal bis zum Ende gekommen und starben dann.“

„Was genau hat denn diesen Schock ausgelöst?“

„Das weiß niemand. Zuerst ging man aus, die Kinder seien an diesen Verletzungen gestorben. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass Menschen überhaupt an den Folgen eines Schocks sterben. Was auch immer diese Kinder gesehen haben, es muss schlimmer sein als alles, was man sich vorstellen könnte. Und ich selbst kenne nichts und niemanden, das einen derartigen Schrecken offenbaren kann.“ Als ich das hörte, bekam ich Angst. Ich hatte immer versucht gehabt, eine logische Erklärung für alles zu finden und war der Überzeugung gewesen, dass es nichts Paranormales gab. Aber wenn ich so darüber nachdachte, schien es plötzlich nicht mehr so abwegig und an den Haaren herbeigezogen zu sein. Was, wenn es tatsächlich stimmte und Satoshi Tajiri beim Programmieren der Roten Edition tatsächlich zu viel eingearbeitet hatte und ein Teil von Shigeru auf das Spiel übergegangen war? Es klang absolut verrückt und ich tue mich immer noch schwer damit, es auch wirklich zu glauben. Aber wie sonst sollte man sich die Verletzungen sonst erklären, wenn nicht nur ich, sondern auch andere sie erlitten haben? Dass ich mir die blauen Flecke vielleicht aus Versehen zugezogen haben könnte, wäre ja noch eine nachvollziehbare Erklärung, aber woher sollte ich diese ganzen Kratzer haben, obwohl meine Fingernägel dafür nicht ausreichen? Und woher sonst sollten die Würgemale an meinem Hals stammen? Diese Träume von Green, der mir befahl, Sakaki zu töten, obwohl ich bis dato noch nicht wusste, wer das war, konnten auch keine dummen Zufälle sein. Irgendetwas in diesem Spiel hatte mich ins Visier genommen und versuchte, mich zu töten. Aber warum denn ausgerechnet mich und diese Kinder? Diese Frage konnte mir Mr. Smith auch nicht beantworten, aber er und Satoshi hatten da ihre Theorie. Der Inhalt des Spiels könnte die Antwort geben. In dem Pokemonturm sagte Green, dass er nicht nur Sakaki, sondern auch alle Trainer der Welt jagen und töten würde, weil auch sie wie Sakaki ihre Pokemon verletzten und bis zum Tode kämpfen ließen. Was wenn Shigerus Zorn und seine Rachsucht so stark geworden waren, dass es ihm egal war, wer dadurch zu Tode kam? Tajiri hatte Recht, das Spiel war außer Kontrolle geraten und solange noch Teile dieser Alpha-Version existierten, würde auch weiterhin die Gefahr bestehen, dass dieses Etwas in diesen Spielen weitere Menschen in den Tod trieb. Ich fragte schließlich, warum Sunny Town nicht komplett entfernt wurde, sondern immer noch als Glitch vorhanden war. Die Erklärung war Folgende „Satoshi wollte, dass trotz allem immer noch jeder seiner besten Freunde in diesem Spiel verewigt waren. Deshalb hatte er auch Red und seinen Rivalen beibehalten. Blue wurde gar nicht erst in das Spiel eingebaut, weil Shion ja bereits vor dem Erscheinen der grünen Edition verstarb. Deshalb wurde nach ihr die Stadt Lavandia in der japanischen Originalsprache benannt. Und genauso wenig konnte er Sunny Town vollständig entfernen, sondern ließ den Glitch absichtlich im Spiel. Ansonsten wurde der Rest des Spiels größtenteils geändert, genauso wie die Alpha. Die Arena in Vertania City wurde erst später eingefügt und war eigentlich Giovannis Villa. Dafür verschwand die Arena in Lavandia und da es zu viel Arbeit gekostet hätte, Green auch aus dem Konzept zu streichen, wurde er vom Freund zum Rivalen und lediglich seine Dialoge wurden geändert, seine Auftritte aber blieben. Dass Giovanni zum Arenaleiter gemacht wurde, war eigentlich auch nur eine Notlösung, weil man einen achten Arenaleiter brauchte und sich keine großartigen Veränderungen erlauben konnte. Das hätte einfach zu viel Zeit und Arbeit in Anspruch genommen und die Zeit hatte man nicht, wenn die Polizei ermittelte. Aber eine Frage beschäftigte mich noch und ehrlich gesagt, hatte ich wirklich große Angst vor der Antwort „Was wird mit mir passieren?“

„Wenn Sie das Spiel weiterspielen, besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass auch Sie bald sterben werden. Was aber passieren wird, wenn Sie das Spiel loswerden, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht kehrt ja wieder Ruhe bei Ihnen ein, vielleicht wird dieses Etwas Sie weiterhin verfolgen. Es liegt alleine in Ihrer Entscheidung.“
 

Zu meinem Erstaunen versuchte Mr. Smith gar nicht erst, mir das Spiel abzukaufen, mich unter Druck zu setzen oder anderweitig zum Schweigen zu bringen. Nein, er legte mir lediglich ans Herz, an die Konsequenzen zu denken, die es mit sich bringen würde, wenn ich weiterspielen würde. Er gab mir noch ein paar Nummern und Adressen, an die ich mich wenden konnte, wenn ich Hilfe brauchte. Damit war das Gespräch beendet und ich ging mit einem ziemlich miesen Gefühl in der Magengegend nach Hause. Natürlich war ein Teil von mir neugierig, was mich bei meinem letzten Kampf gegen Green in Sunny Town erwarten würde. Aber noch stärker war meine Angst. Mir wurde klar, dass ich etwas unternehmen musste, um diesem Spuk ein Ende zu machen. Da ich befürchtete, dass die Attacken gegen mich nicht aufhören oder sich sogar verschlimmern könnten, wenn ich es weiterhin behalte, beschloss ich, es loszuwerden. Da es mir aber gefährlich erschien, es einfach zu zerstören, rief ich eine der Nummern an, die mir Mr. Smith gegeben hatte. Dem Mann, den diese Nummer gehörte, übergab ich das Spiel in der Hoffnung, dass das, was all diese Kinder umgebracht hatte und mich wochenlang terrorisiert hatte, endlich aufhören würde. Kaum, dass ich es endlich aus dem Haus hatte, fühlte ich, wie mir ein riesiger Stein vom Herzen fiel und ich war einfach nur erleichtert, dass es endlich vorbei war. Kurz darauf hörten auch diese Alpträume auf und es tauchten auch keine Kratzer oder Hämatome mehr auf. Ob es vielleicht eines Tages wieder anfangen wird, kann ich noch nicht sagen, aber ich hoffe, dass es das einzige Spiel war, das übrig geblieben war und dass es nicht noch mehr Editionen gibt, die noch Teile der Alpha-Version enthalten. Als ich dieses verfluchte Spiel endlich los war, hatte ich endlich die Ruhe, um über einiges nachzudenken… Über die Dinge, die ich erfahren hatte und was ich alles durchgemacht habe. Ich dachte an John Doe und Wise_Hakase65, die mich immer wieder auf die richtige Spur gebracht haben, damit ich hinter das Geheimnis komme. Sie waren es, die mich durch kleine Hinweise immer wieder in die richtige Spur gelenkt hatten. Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, woher sie all das wussten. Es war schon irgendwie merkwürdig, dass sie immer genau dann die entscheidenden Hinweise lieferten, wenn ich nicht mehr weiterkam. Schließlich kam mir ein weiterer Gedanke. Was, wenn es kein Zufall war, dass James Smith sich gemeldet hatte und mir all das erzählte, obwohl er wissen musste, dass ich es sofort niederschreiben und veröffentlichen werde? Nun, er war ein guter Bekannter von Satoshi Tajiri und Shin Nakamura, so viel steht fest. Mit Sicherheit war Tajiri froh, dass nach all der Zeit endlich die Wahrheit ans Tageslicht kam und nun jemand weiß, welche Tragödie sich hinter der Entwicklung der Pokemonspiele verbarg. Inzwischen glaube ich, dass Satoshi niemals wirklich an Rache gedacht hat und dieses Spiel entwickelt hatte, um Kinder dazu zu bringen, Sakaki zu töten. Sonst hätte er die betroffenen Editionen doch wieder klammheimlich in Umlauf gebracht. Und er hätte mich dann auch nicht davor gewarnt, das Spiel zu Ende zu spielen. Ja ganz Recht. Während ich in den letzten Tagen genug Zeit zum Nachdenken hatte, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass John Doe und Wise_Hakase65 ein und dieselbe Person sind. Denn mir ist etwas an dem Namen aufgefallen:
 

Der Vorname von Satoshi Tajiri bedeutet übersetzt „weise“ oder gelehrt“ und in seiner Jugend nannte man ihn den Insektendoktor (jap. „Konchu-hakase“) und sein Geburtsjahr ist 1965.

Harvey the Skinner: Das Manifest

„Am vergangenen Abend des 06. Februars fand die Polizei mehr als 20 gehäutete Leichen in einem entsetzlichen, kaum beschreiblichen Zustand. Die zerstückelten Körper waren an die Wände genagelt, ihre Häute zu Bezügen vernäht worden. Noch nie hatte die örtliche Polizei ein dermaßen schreckliches und zugleich abstoßendes Bild gesehen. Der Mörder, welcher allgemein nur als „The Skinner“ bekannt ist, hinterließ ein Manifest, welches durch anonyme Quellen schließlich in den Medien veröffentlicht wurde.
 

„Guten Tag meine sehr verehrten Leser,

wie Sie vielleicht unschwer feststellen konnten, sind Sie soeben auf mein Refugium gestoßen, welches ich aufgrund der gegebenen Umstände verlassen und selbst weiterziehen musste. Da ich mit Sicherheit recht in der Annahme gehe, dass die werten Kollegen der Polizei dies hier zuerst finden werden, möchte ich mich herzlich vorstellen. Sie kennen mich unter vielen Namen. Sowohl Sie als auch die Medien haben ja ganz offensichtlich ihre Freude daran, Serienmördern und anderen Monstern verschiedene Namen zu geben und sie gemäß ihrer Vorgehensweise zu titulieren. So haben Sie mir die zweifelhafte Ehre beschert, mir den Titel „The Skinner“ zu geben. Ein, wie ich sagen muss, nur oberflächlicher Name, der nicht im Geringsten meine wahren Absichten widerspiegelt. Ich könnte Ihnen eine Reihe anderer Namen und Titel nennen, die vielleicht passender wären in Anbetracht meiner wahren Beweggründe, aber so wie ich die hochgeschätzten Kollegen von den Medien kenne, werden sie sich nicht davon abbringen lassen, mich weiterhin bei diesem eher plumpen und einfach gewählten Namen zu nennen. Mein alter Freund und Lehrmeister nannte mich den „Poeten des Todes“, ich selbst könnte mich als Vieles bezeichnen. Als Sammler, als Demaskierer, als Verkünder der Wahrheit. Aber leider reicht der menschliche Wortschatz nicht aus, um wirklich das zu beschreiben, was ich wirklich bin. Und selbst wenn, Sie würden mich sowieso nur als das sehen, als was sie alle mich sehen wollen. Des Menschen Verstand ist nun mal leider von Natur aus beschränkt und Belehrungen haben ihn auch nicht vor mancherlei Dummheit bewahren können. Und bekanntlich haben die hohlen Töpfe ja den lauteren Klang. Der Kluge gebraucht der Sprache nur, wenn sie unbedingt von Nöten ist. Und wäre mein Manifest nicht von Nöten, würde ich es Ihnen gar nicht erst hinterlassen. Es ist ja bekanntlich, dass manche Mörder derlei Manifeste schreiben, um ihre Taten zu rechtfertigen oder zu verherrlichen, um die Polizei herauszufordern oder um ein Zeichen zu setzen. Dergleichen liegt mir, offen gesagt, fern. Ob meine Taten richtig oder falsch sind, das liegt nicht in meiner Entscheidung allein. Es liegt im Ermessen eines Einzelnen, wann ein Verbrechen moralisch zu rechtfertigen ist, oder nicht. Die Justiz dabei außen vor gelassen, denn die hat bekanntlich an den wichtigsten Stellen versagt. Aber nun will ich ohne Umschweife zu meinem Anliegen kommen.
 

Hamlet sagte einst „Welch Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Wie im Begreifen ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staub? Der Mensch gefällt mir nicht.“ Nun frage ich, wo ist der Mensch edel durch seine Vernunft? Mir erscheint er eher begrenzt und stupide durch seine Verbohrtheit, seine Blindheit und seinen Stumpfsinn, der sich auf der ganzen Welt ausbreitet wie eine Krankheit und mehr Opfer verzeichnet, als es die Pest jemals tun könnte. In Gestalt und Bewegung war er einst bedeutend, heute ist es nur ein plumpes und halbherziges und faules Hin- und Hergerutsche auf den Sesseln von raffgierigen Unternehmern, korrupten Politikern und kinderschändenden Würdenträgern, die sich nur aus ihrem Sumpf retten, indem sie andere fester hineindrücken. Wie engelsgleich edel soll ein Priester sein, der es in seiner Vertrauensposition als nötig empfindet, diese schamlos auszunutzen und sich an unschuldigen Seelen zu vergreifen? Ist ein Politiker edel, der seinerseits mehr Einkommen und Privilegien fordert, während so viele Menschen an der Armutsgrenze leben? Wo bleibt da das gottähnliche Begreifen, wenn niemand es sieht und einfach stumpfsinnig hinnimmt und damit beweist, dass er zu blöde ist, es zu begreifen und zu ändern? Wo bleibt da das Vorbild, wenn solche hohen Würdenträger schamlos ihre Vorrechte und Privilegien als Maske benutzen und hinter dieser jene ausbeuten, quälen, ruinieren und töten, die sich täuschen lassen? Der Gipfel dieser Unverschämtheit liegt doch allein darin, dass ihr alle euch von diesen Masken täuschen lasst. Wie oft hat die Jury Verbrecher durch Blendereien freigesprochen, wie oft hat der Papst schuldig befundene Priester im Schutze des Vatikans versteckt und ihre Verbrechen vertuscht, oder sogar ihren Opfern angehängt und sie öffentlich angeprangert? Und wie oft wurde er selbst dafür getadelt, ohne dass die Menge ihn gleich bejubelt, wenn er in seinem teuren Jet durch die Welt reist und der Menge kurz zuwinkt? O Falschheit, wie glänzt doch deine Außenseite! Und Falschheit schimpft Könige mehr als Bettler. Und was macht die untere Schicht, anstatt sich gegen diese unerhörte Tatsache zu wehren? Sie lassen sich vom Schein blenden, von dieser geheuchelten Freundlichkeit und Güte, die im Grunde nicht mehr ist, als ein Wort allein und ein freundliches Winken mit einem Lächeln. Die Menschen sind in ihrem ganzen Leben nun einmal blind. Der Rest schweigt und die Furcht macht sie zu Verrätern, wenn nicht durch Taten. Polizisten und Politiker, Bischöfe und Priester, Prominente und Unternehmer, die ihre von Falschheit zersetzten Visagen hinter einer Maske der Macht und des Wohlstandes verbergen, sie alle sind das wahre Gift der Welt, denn ihre Macht reicht durchaus weiter als die eines gewöhnlichen Verbrechers. Mörder und Drogenhändler fängt man irgendwann und sperrt sie weg, Würden- und Amtsträger laufen weiterhin frei herum, weil niemand ihr wahres Gesicht hinter der Maske erkennt und sich die Justiz und das gemeine Volk dadurch blenden lassen. Aber ich sehe sehr wohl, was sich dahinter verbirgt, denn hinter ihrer Maske sind die Menschen erst wirklich sie selbst. Aber lasst mich gesagt sein: Ich bin kein Rächer, oder ein Hüter des Gesetzes. Ich bin auch kein Ketzer oder Volksverhetzer. Ich achte die Kirchen und ihre wohltätigen Aktionen und die karitativen Organisationen. Jedoch achte ich nicht ihre Priester und Bischöfe und überholte Traditionen, die moralisch gesehen schon längst abgeschafft werden sollten! Ebenso respektiere ich das Gesetz an sich, nicht aber seine korrupten und voreingenommenen Vertreter. Dabei muss ich aber offen gestehen, dass ich das System an sich verachte. Worte, Worte nichts als Worte... Das ist im Grunde das Einzige, was sich in unserem demokratischen System überhaupt tut. Während Kinder verhungern und die sozialen Abstände sich vergrößern, streiten sich Politiker um höhere Diäten und Eigenverdienste und der Großteil unserer Kirchenspenden fließt doch sowieso an die Priester und Päpste. Der Mensch irrt, solange er lebt und deshalb wird es auch nie ein System geben, in welchem diese Missstände beseitigt werden. Dergleichen ist mir bewusst und ich weiß, dass sich niemals daran etwas ändern wird. Der Vorteil einer Demokratie liegt ja auch darin, dass der Mensch das Recht hat, sich öffentlich zu beschweren, aber das bedeutet noch lange nicht, dass man verpflichtet ist, ihm zuzuhören. Es genügt ja schon, ihm allein das Gefühl zu geben, man schenke seinem Worte wenigstens halbwegs Gewicht. Und mit ewig langen Reden hat man doch jeden zufriedenstellen können, ohne dass sich wirklich etwas tut. Der Mensch glaubt gewöhnlich, wenn er nur Worte hört. Er müsse sich dabei doch auch etwas denken...

O Gott! Wie ekelhaft schal, abgestanden und widerlich kommt mir diese Welt mit ihren falschen Freuden vor und wie dumm wird mir von alledem, als würde mir ein Mühlenrad durch den Kopf gehen. Ich bin überhaupt dieser ganzen Welt überdrüssig, die in einem Sumpf aus Habgier, Verfressenheit, Egoismus, Korruption und Lügen versinkt. Euch allen gehört endlich mal die Augen geöffnet und das nicht bloß mit Schönfärberei, sondern mit nackten Tatsachen und aller Rücksichtslosigkeit. Deshalb werde ich diesen schuldigen Amts- und Würdenträgern die Maske abreißen und Haut und Haar gleich mit dazu. Ihr schimpft mich ein Monster, oder sogar ein mordlüsternes Tier? Ich werde euch zeigen, wie hässlich eure großen Vorbilder und Anführer in Wirklichkeit unter ihrer Maske sind. Sie sind es nicht länger würdig, überhaupt die Haut eines Menschen zu tragen. Denn als solcher besäße man zumindest Anstand, Ehre, Mitgefühl und zumindest ein Mindestmaß an Skrupel und Ehrlichkeit. Sie aber, die all das nicht besitzen und der Welt ein völlig falsches Bild vorgaukeln und ganze Nationen und Gruppen ins Elend stürzen, verdienen es nicht, weiterhin als Menschen auf Erden zu wandeln. Nur der verdient sich Freiheit und Leben, der sie täglich neu erobern und erkämpfen muss. Lasst euch gesagt sein: Ich werde da sein, wo ihr mich am wenigsten erwartet. Tag und Nacht bin ich bereit, euch eure Maske zu nehmen und der Welt euer wahres Inneres zu zeigen. Denn unter ihrer Haut sind die Menschen doch allesamt gleich hässlich und jeder Mensch trägt eine Maske, selbst ich. Ein Miteinander funktioniert erst nur, wenn die Menschen vorgeben, jemand zu sein, der sie nicht sind. Ich weiß, dass das, was ich tue, ein Verbrechen ist, also nennt es ruhig als solches. Aber schimpft meine Taten nicht als ein Akt der Selbstjustiz oder Selbstverherrlichung. Nichts liegt mir ferner, als mich über jemanden zu heben und mir selbst das Recht zuzusprechen, über alle zu richten. Wer andere tötet, muss bereit sein, selbst getötet zu werden. Und sollte der Tag kommen, werde ich bereit sein, selbst für meine Taten zu büßen, ganz gleich ob mich die Welt verachtet oder unterstützt. Falls euch meine oben verfasste Botschaft irritiert haben mag, will ich es euch noch einmal klar verständlich ausdrücken (und auch den Kollegen Profilern eine Menge Arbeit ersparen): Ich bin kein Racheengel und kein Beschützer des Gesetzes, oder der Gesellschaft. Rache holt die Toten nicht zurück und macht die Verbrechen an den Opfern nicht ungeschehen. Für so etwas haben wir das Gesetz und die wenigen öffentlichen Vertreter, die sich nicht durch meine Anklage angesprochen fühlen müssen. Und durch Rache und Selbstjustiz hat man nichts erreichen können. Nein, ich bin genau das Gegenteil davon! Ich bin der Schrecken, der euch das zeigt, was ihr nicht sehen wollt. Ich werde zu eurem Monster, um die ganze Welt zu erschüttern, ganz gleich, ob ich dabei noch brutaler und entsetzlicher morden muss als bis jetzt. Worte können Krankheiten nicht heilen und keine Kriege oder Missstände beenden. Wenn schon Worte oder gute Taten nichts erreichen, dann eben solche Horrorszenarien, wie ich sie euch bereiten werde. Und wenn mich das Leben eines gelehrt hat, dann dieses: Tue zehn Jahre lang Gutes und kein Schwein wird sich daran erinnern. Tue aber eine Stunde lang Schreckliches und die ganze Welt wird es erfahren. Ich habe nicht umsonst Psychologie studiert, um zu wissen, dass die Menschheit nur Wert auf schlechte Nachrichten legt, denn nur die allein sind von Interesse. Wen interessiert es denn schon in der Zeitung, wenn ein Arzt oder Sanitäter einem Menschen das Leben gerettet hat, wie es alltäglich passiert? Nein, viel eher hört man gerne von Flugzeugabstürzen, neuen Verbrechensserien, Terroranschlägen oder Unfällen mit Todesopfern. Damit ich also die ganze Welt erreiche, muss ich zu einem neuen Schrecken werden, wie es ihn in unserer Geschichte kaum gab. Deshalb habe ich mich auch bemüht, meinen ersten offiziellen „Tatort“ besonders bizarr und abstoßend zu gestalten. Denn das ist es, was ihr einerseits hören wollt: Schlimme Nachrichten und andererseits widert es euch doch an zu hören, dass ich aus den Häuten meiner Opfer Lampen- und Sofabezüge genäht habe, während ich den Rest ihrer Leichen auseinandergefleddert und stückchenweise an die Wand genagelt habe. Euch graut es vor solch einem Ausmaß an Bestialität, trotzdem schaut ihr es euch immer wieder an, weil es euch unterhält. Seht ihr es nun selbst? Euch interessieren nur die schlimmen Dinge des Lebens und gleichzeitig wendet ihr eure Gesichter angewidert von diesen bestialischen Taten ab, weil ihr sie nicht ertragen könnt. Was für ein Widerspruch an sich. Und das hier war nur der Vorgeschmack von dem, was euch blühen wird. Ich werde noch schlimmere Schrecken offenbaren, noch schrecklichere Wahrheiten enthüllen und euch den eigenen Spiegel vorhalten, die ihr genauso falsch und verlogen seid. Von nun an sollt ihr euch keine Nacht mehr sicher fühlen, sondern euch immer gewiss sein, dass ihr eines Tages die Nächsten sein werdet. Ihr könnt euch nicht vor mir, der Wahrheit oder euch selbst verstecken, wenn ihr euch schon vor dem Gesetz verstecken könnt. Egal ob ihr wollt oder nicht, ich werde euch eure eigene Hässlichkeit vor Augen führen und zeigen, dass ihr es nicht länger wert seid, die Hülle und Maske eines Menschen zu bekleiden. Ihr habt dieses wahre Privileg, Mensch zu sein, verspielt und wenn ihr euch schon nicht vor irdischen Gerichten verantworten müsst, so wird der Tod euer Richter sein und mit diesem wird auch die letzte Schuld beglichen.

Ich bin ein Teil jener Kraft, die Böses will und Gutes schafft und bin grausam, um gute Absichten zu erhalten.

Der Spiegel, der die Tiefsten eurer verdorbenen Seelen entblößt...

Das Monster, das ihr verachtet und verurteilt...

Der Schrecken, der euch verfolgen wird...

Der Aufschrei, der seinesgleichen sucht.
 

PS: Bei gegebener Zeit und je nachdem, wie die Welt dieses Manifest auffassen wird, werde ich neue Botschaften verbreiten. Und ich weiß, dass sie die ganze Welt erreichen wird.
 

So verbleibe ich bis dahin mit den herzlichsten Grüßen an die Polizei und den Herrn Kollegen Profilern mit der höflichsten Bitte, sich über meine Person nicht allzu sehr das Maul zu zerreißen. Denn durch solche Diskussionen allein können auch keine Menschen gerettet werden. Der Worte wurden genug gewechselt, nun sollen endlich Taten folgen. Und wandelt mit bedächtiger Schnelle vom Himmel durch die Welt direkt zur Hölle.
 

Adieu und einen schönen Tag
 

"The Skinner“

Harvey the Skinner: Die Ausbildung

Lärm von den Zellen und den Gängen hallte durch die langen Flure wider und die kühle Luft roch nach feuchten Kellern. Es war nicht gerade gut geheizt und die Deckenleuchten flackerten teilweise. Harveys Blicke wanderten lauernd durch den weitläufigen Trakt und es war nicht die Spur von Angst in seinen Augen zu sehen, obwohl einige der Insassen ihm allein schon mit ihren Muskeln das Genick brechen konnten. Und einige von ihnen waren auf Frischfleisch aus, über das sie herfallen konnten und wer hier Schwäche zeigte, war verloren. Gehorsam ließ er sich von den Wachen zu seiner Zelle führen, wohl wissend, wer dort auf ihn wartete. Er musste vorsichtig sein, durfte nicht eine Sekunde lang verängstigt oder unsicher wirken, sonst war er so gut wie tot. Die Tür hinter ihm fiel zu und aus der dunklen Ecke der Zelle funkelte ihn ein mörderisches Augenpaar an. Trotz des Lärms konnte er ein Zischen hören, als würde jemand durch geschlossene Zähne atmen und eine raue fast unmenschliche Stimme sagte mit einem schaurigen Kichern „Wie ich sehe, ist mein neuer Zellengenosse eingetroffen. Herzlich Willkommen in deinem neuen Zuhause…“ Etwas bewegte sich in der Ecke und aus dem Dunkel trat eine Gestalt hervor, die einen so bizarren Anblick gab, als sei sie aus einem Horrorfilm entsprungen. Das Gesicht war so weiß wie Schnee, das lange ungepflegte Haar pechschwarz wie Kohlen und die Augen weit aufgerissen, als würden sie niemals blinzeln. Die Lippen waren kaum noch vorhanden, blutrot und genauso von einer lederartigen Struktur wie das Gesicht. Die Wangen waren mit Fäden zusammengenäht worden, da man sie vor längerer Zeit aufgeschlitzt hatte, sodass ein krankes Grinsen dieses monströse Gesicht zierte. Und dieses Grinsen entblößte Zähne, die eigenhändig spitzgefeilt worden waren, um das bizarre Gesamtbild abzurunden. Auch die Hände, die von alten Brandverletzungen zernarbt waren, sahen nicht besser aus und die Fingernägel waren lang und spitz gewachsen wie dämonische Krallen. Harvey hatte sich auf so einen Anblick gefasst gemacht, war aber innerlich trotzdem entsetzt, einen Menschen in solch einem Zustand zu sehen. „Die Ehre ist ganz meinerseits, Jeffrey Blalock.“

„Lassen wir doch diese Förmlichkeiten und nenn mich einfach Jeff.“

„Okay, Jeff. Ich bin Harvey C. Dahmer.“

„Ja ich weiß, ich kenn deinen Fall bereits. Ein wirklich mickriger kleiner Fisch im Vergleich zu den Schwerverbrechern, die sie hier eingesperrt haben. Wenn ich richtig informiert bin, haben sie dich wegen Widerstandes gegen die Polizei, falscher Verdächtigung und übler Nachrede zu sechs Monaten verknackt. Ein echt hartes Urteil, hat mich wirklich gewundert, warum sie dich wegen solchen Lappalien direkt eingebuchtet haben. Noch dazu, weil du in ausgerechnet dieses Gefängnis kommst und dann noch zu mir. Weißt du eigentlich, was mit meinen Zellgenossen passiert?“

„Du bringst sie um, schon klar. Ich bin ebenfalls informiert. Aber sag mal Jeff: wie kommt es, dass sie dich überhaupt schnappen konnten?“ Harvey legte seine Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten auf das untere Bett, da Jeff bereits das obere für sich beansprucht hatte. Dieser hatte seine Hände in die Hosentaschen vergraben, stand ein wenig geduckt da und zischte leise beim Atmen durch die Zähne. Er grinste, was aber mehr wie die bizarre Grimasse eines Horrorclowns aussah. „Ich hab ein klein wenig Abwechslung gebraucht und hier lässt es sich eine Zeit lang gut leben.“ Harvey verzog nicht ein Mal die Miene, er zeigte sich bewusst kühl und desinteressiert, um nicht den Anschein zu erwecken, Jeff mache ihn nervös. Er wusste, dass dieser Psychopath nur auf eine Gelegenheit wartete, um ihn nach allen Regeln der Kunst zu zerfleischen. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, die Rolle des Furchtlosen zu spielen und anderen Leuten etwas vorzutäuschen. Immerhin war er ein ausgezeichneter Schauspieler, der alle Rollen, die er spielte, in absoluter Perfektion beherrschte. Und er war nicht in die Höhle des Löwen gegangen, um sich umbringen oder verstümmeln zu lassen. Weder von Jeff, noch von sonst irgendjemand anderem wollte er sich in diesem Gefängnis umbringen lassen. Er hatte ein Ziel, das er um jeden Preis erreichen wollte und dazu war er doch dieses Risiko eingegangen. Nicht umsonst war er ausgerechnet mit Jeff the Killer in einer Zelle, denn er brauchte ihn für seine Zwecke. Es galt nur, ihn auch dazu zu bewegen, mitzumachen und das war das eigentliche Problem. Wenn es er nicht richtig anging, würde es noch böse enden. Langsam und vorsichtig musste er sich der Bestie nähern, damit sie nicht sofort über ihn herfiel. Erst einmal galt es, Jeff zu beobachten, ihn genauer zu studieren und somit einen guten Zeitpunkt auszumachen, ihn auf jenes Thema anzusprechen. Die Zelltüren wurden geöffnet und die Insassen gingen Reih und Glied in die Kantine, während sie von den wachsamen Augen der Wärter misstrauisch und wachsam beäugt wurden. Harvey beobachtete sein ganzes Umfeld sehr genau und es war nicht gerade schwer zu erkennen, wer hier im Gefängnis das Sagen hatte und wer nicht. Hier waren Mörder, Bandenmitglieder, Drogendealer, Bankräuber und Kinderschänder vertreten. Und obwohl es nie offen ausgesprochen wurde, herrschte unter den Insassen eine strenge Hierarchie. Die Drogenbosse und Bandenchefs standen an oberster Stelle, danach kamen die einfacheren Verbrecher und ganz unten waren die kleinen Fische und noch weiter darunter, der so genannte Abschaum, bildete sich aus Kinderschändern und Kindermördern. Denn selbst unter so gefährlichen Kriminellen gab es so etwas wie Tabus und meist waren diese Kinderschänder und jugendlichen Straftäter die Prügelknaben und „Knastbräute“ der höher gestellten Insassen. An der obersten Stelle stand immer der Shutcall, der King unter den Insassen. Shutcall war der Gefängnisjargon für „Häftlingsboss“. Er hatte das Sagen und genoss Respekt und Achtung. Um diesen Rang inne zu haben, brauchte man folgende Dinge: Gefolgsleute, Ansehen und vor allem Mittel, um sich andere gefügig zu machen. Und das waren Suchtmittel wie Drogen und Zigaretten. Wer den Stoff lieferte, stieg steil auf in der Hierarchie, egal ob er ein Kleinkrimineller, oder ein Bandenchef war. Aber dazu musste man sich durchsetzen und die Schwächen seiner Gegner zu seinem Vorteil machen. Zwar war Harvey nur für sechs Monate im Gefängnis, aber es schadete durchaus nicht, sich zu informieren und zu wissen, vor wem man sich in Acht nehmen musste. Schon bald hatte er drei potentielle Kandidaten herausgepickt, die für die Position des Shutcalls in Frage kamen: Der ehemalige Boss einer Straßengang namens Colton Rhimes, der Menschen- und Drogenhandel in großem Stil betrieben hatte. Als Nächstes war noch das Oberhaupt einer Rockerbande namens A.J. Miltner und zu guter Letzt Jeremy Fisher, der im großen Stile Drogen schmuggelte. Während Harvey seine Umgebung sehr genau analysierte, entging ihm nicht, dass Jeff ihn die ganze Zeit über genau im Auge behielt. Warum er das tat, konnte sich er nicht erklären. Vielleicht hatte der entstellte Serienkiller Langeweile und wartete eine passende Gelegenheit ab, um ihm die Kehle aufzuschlitzen. Auf jeden Fall sollte er sich erst einmal gedeckt halten, damit dieser Psychopath nicht auf irgendwelche Gedanken kam.

Da Harvey es meisterhaft verstand, sich unauffällig zu verhalten und trotzdem den Anschein zu wecken, mit ihm sollte man sich nicht anlegen, konnte er sich die Perversen vom Hals halten und sich aus so manchen Situationen befreien. Wenn er mit Jeff in der Zelle saß, redeten sie kaum miteinander und in der Zeit, in welcher er alleine war, schrieb er Kurzgeschichten und Essays, oder er las Thomas Manns Werk „Buddenbrooks“ in der deutschen Originalfassung. Übersetzungen waren noch nie sein Ding gewesen. Am dritten Tag jedoch kam es, wie es kommen musste. Kenny Spades, ein mehrfacher Sexualstraftäter, der nun wegen Totschlags saß, fing ihn ab und nahm ihn in die Mangel. „Du hattest ja noch gar nicht deine Willkommensparty, Neuer“, verkündete er mit einem breiten Grinsen und holte ein Springmesser heraus, welches er offenbar irgendwie in den Knast geschmuggelt hatte. „Und weißt du, ich hab da so einen kleinen Tick. Mit Blut und Geschrei wird es erst richtig heiß…“

„Danke, aber darauf verzichte ich lieber“, entgegnete Harvey kühl und hielt sich bereit, einen möglichen Angriff abzuwehren und dann stiften zu gehen. Aber als Spades über ihn herfallen wollte, da tauchte plötzlich Jeff auf und rief „Hey Spades, du sollst beim Spielen doch nett zu den anderen Kindern sein.“

„Verpiss dich Jeff, du störst.“ Was soll das, fragte sich Harvey und war irritiert. Wieso mischte sich der denn plötzlich ein und was versprach er sich davon? Der inhaftierte Schauspieler konnte sich das Ganze nicht wirklich erklären und entschloss sich erst mal dazu, Jeffs wahre Absichten herauszufinden und sich weiterhin für den Ernstfall bereit zu halten. Der Serienmörder ergriff Spades' Hand und drückte das Handgelenk so fest, dass dieser das Messer nicht mehr festhalten konnte, sodass es zu Boden fiel. Wütend schlug er mit der Faust nach ihm, doch der Serienkiller wich einfach zur Seite aus und stieß ihm einen Brieföffner direkt in die Halsschlagader. Spades riss die Augen weit auf und presste eine Hand gegen seinen Hals, während er nach hinten taumelte. Jeff packte ihm am Schopf, drückte seinen Kopf in den Nacken und stach ihm die Augen aus, dann stieß er sein Opfer zu Boden. Dieser zappelte hilflos und geblendet auf dem Boden herum und röchelte, wodurch er auf eine bizarre Art und Weise wie ein Fisch auf dem Trockenen wirkte. Jeff nahm das Messer des Sterbenden an sich, packte Harvey am Arm und zerrte ihn mit sich. „Es wird gleich einen Lockdown geben und wenn wir in der Nähe sind, heißt das für die nächsten zwei bis drei Monate Extraurlaub in der Isolationszelle.“ Der Killer zog seine blutverschmierte Jacke aus, warf sie in eines der offen stehenden Belüftungsrohre und holte aus einem Versteck eine zweite hervor, die er gegen seine alte auswechselte. Offenbar hatte er schon eine gewisse Übung darin, Häftlinge abzustechen und betrieb das schon eine ganze Weile so. „Moment mal, was ist denn ein Lockdown?“

„Wenn es zu gewaltsamen Übergriffen mit Schwerverletzten oder zu Todesfällen kommt, werden die Häftlinge für den Rest des Tages in die Zellen gesperrt.“ Jeff führte Harvey auf dem direkten Weg zur Zelle zurück und tatsächlich dauerte es keine zehn Minuten, bis der Lockdown ausgerufen und alles verriegelt wurde. Kaum, dass die Wachen für einen Moment außer Sichtweite waren, packte er Harveys Arm, drehte ihn auf den Rücken und drückte ihn mit dem Gesicht zur Wand, wobei er ihm ein Messer an die Kehle hielt. Der inhaftierte Schauspieler blieb ruhig und fragte „Was soll das werden, Jeff?“

„Das sollte ich eher dich fragen. Ich merke doch, dass du irgendetwas ausheckst und mich die ganze Zeit beobachtest. Schon, als du hier rein kamst, hab ich dir sofort angemerkt, dass du etwas im Schilde führst. Du beobachtest alles und jeden hier und ich will wissen, wieso. Ich lass mich nämlich nicht gerne ausspionieren, weißt du?“ So ist das also, dann hat mich mein Gefühl also doch nicht getäuscht, dachte Harvey und atmete tief durch. Jeff hat mich also tatsächlich beobachtet, weil er gespürt hat, dass ich etwas vorhabe. Nun, wenn das so war, dann machte es keinen Sinn mehr, weiterhin zu schweigen. „Du hast Recht Jeff, ich bin mit einem bestimmten Plan hergekommen. Ich hab dich beobachtet, weil du dich von den anderen Häftlingen hier deutlich unterscheidest. Es ist die Grausamkeit deiner Taten und die Art, wie du tötest, die meine Aufmerksamkeit erregt hat.“

„Nun komm mir bloß nicht mit zu vielen Komplimenten, sondern rück direkt mit der Sprache raus.“

„Ich will, dass du mir beibringst, wie man Menschen tötet.“ Hier ließ der entstellte Mörder ihn los und schon brach er in ein schallendes Gelächter aus. Er kugelte sich regelrecht vor Lachen und musste sich den Bauch festhalten, so als sorge er sich darum, dass dieser ihm noch platzen könnte. Dann steckte er das Messer weg und hielt sich stattdessen am Bett fest, um nicht auch noch umzufallen. Der Kerl kriegte sich schon gar nicht mehr ein vor Lachen und hatte sogar Tränen in den Augen. „Du… du willst…“, brachte er unter seinem wahnsinnigen Gelächter hervor und schaffte es erst, sich zu beruhigen, als einer der Wachmänner gegen die Zellgitter schlug und rief „Ruhe da drin!“ Jeff kam langsam wieder runter, bekam aber sein amüsiertes Grinsen nicht aus dem Gesicht. „Sag mal, hörst du dich selbst reden, was du da für einen Schwachsinn erzählst? Du bittest allen Ernstes mich darum, dass ich dir das Töten beibringe? Mal ganz im Ernst: Wenn du mich verarschen willst, bist du an den Falschen geraten. Wenn du es irgendjemandem heimzahlen oder dich rächen willst, dann mach das bitteschön alleine und lass mich da raus. Wenn du nicht den Mumm aufbringst, jemanden abzustechen, dann ist das allein dein Problem und nicht meines, kapiert? Versuch erst mal erwachsen zu werden, Junge.“

„Es geht mir nicht um Rache“, erklärte Harvey mit fester Stimme und sah Jeff todernst an. „Ich bin durchaus in der Lage, jemanden umzubringen. Aber es geht mir nicht darum, bloß einfach zu töten, indem ich einfach so Leute erschieße, erschlage oder ersteche. Ich will ein Blutbad anrichten, wie man es in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Und es soll ein so entsetzlicher Anblick werden, dass es die ganze Nation entsetzt und erschüttert. Und nicht nur die Nation, sondern die ganze Welt.“ Jeffs Lachen war nun endgültig gewichen und er sah seinen Zellengenossen mit einem Blick an, der sich nur schwer deuten ließ. Es war schwer festzustellen, ob er ihn für dumm, oder für übergeschnappt hielt. Schließlich aber verdüsterte sich sein Blick und er schien irgendwie gereizt oder genervt zu sein. „Hör mal gut zu, Junge: Wenn du mich hier für dumm verkaufen willst, dann musst du lebensmüde sein. Und einschleimen hilft bei mir auch nicht. Besonders nicht, wenn du mich dabei noch verarschen willst.“

„Ich will weder das eine noch das andere. Ein Sprichwort sagt: Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. Und es ist mein voller Ernst.“

„Was will ein Doktor oder Schauspieler denn schon groß anstellen? Bleib besser hinter deinen Büchern, du verschwendest meine Zeit und meine Nerven.“ Aber Harvey blieb fest stehen. Er wollte sich jetzt nicht abbringen lassen, sondern deutlich zeigen, wie ernst es ihm wirklich war. „Gehen wir doch eine Wette ein“, schlug er schließlich vor und das ließ seinen Gegenüber aufhorchen. „Wenn ich dir beweise, dass ich zu mehr fähig bin, als bloß zu lernen oder zu unterrichten, dann wirst du mir alles beibringen, was ich wissen will und vor allem wissen muss. Wenn ich es nicht schaffen sollte, kannst du mich umbringen.“ Der Typ pokert hoch, dachte Jeff und sein Interesse wurde geweckt. Noch nie war ihm jemand begegnet, der so ein hohes Risiko einging und trotz seiner offensichtlichen Nachteile dermaßen überzeugt von sich war. Entweder war dieser Kerl total übergeschnappt, oder aber er unterschätzte ihn tatsächlich. Er wollte ihn auf die Probe stellen. „Und was genau hast du bitteschön vor?“

„Sag du mir, was ich tun muss und ich werde es machen. Etwas, das sich hier sonst keiner trauen würde.“ Eindeutig pokerte Harvey sehr hoch, aber er war sich seiner Sache sicher, denn er war sich seiner Fähigkeiten durchaus bewusst und hatte Vorkehrungen getroffen, die ihm seinen Job erleichtern sollten. Was auch immer Jeff fordern mochte, er würde es noch übertreffen. So viel stand fest. Mit einem heimtückischen Grinsen setzte sich der Killer auf den Tisch, den Harvey zum Schreiben für seine Essays und Kurzgeschichten nutzte. „Also gut, dann werden wir mal sehen, wie selbstgefällig du noch weiterhin grinsen wirst, wenn du mir den Glücksbringer des Shutcalls bringen sollst. Du weißt doch, was ein Shutcall ist, oder?“

„Der Häftlingsboss. Ist es vielleicht dieser Drogenboss Jeremy Fisher?“

„Exakt! Da er die Ware liefert, ist er der unumstrittene King hier und jeder weiß, dass er einen Glücksbringer hat: ein Springmesser mit einer ganz besonderen Gravur. Es ist eine Spezialanfertigung und einzigartig. Er legt es nie aus der Hand und wenn du es schaffen solltest, es ihm abzunehmen, werde ich meinen Hut vor dir ziehen (wenn ich denn einen hätte) und unsere Abmachung erfüllen. Seien wir mal großzügig und machen einen Zeitraum von 14 Tagen aus. Es gibt in diesem Spiel nur eine einzige Bedingung: Alles ist erlaubt, außer Taschendieberei. Ich werde dich wie ein Schießhund beobachten und alle deine Schritte verfolgen. Sollte ich das Gefühl haben, du versuchst es ihm wie ein Taschendieb aus der Tasche zu klauen, dann steche ich dich auf der Stelle wie Kenny Spades ab, ganz egal, ob da Wärter in der Nähe sind. Ansonsten ist alles erlaubt. Egal ob du ihn dafür umbringst, ihn verarschst, bezahlst oder jemanden engagierst, der das für dich tun würde.“ Das klang fair und mit einem siegessicheren Lächeln erklärte Harvey „Ich brauch für so etwas die Hälfte der Zeit.“ Mit einem Händedruck besiegelten sie die Wette und gleich am nächsten Tag begann er damit, seine Pläne umzusetzen. Bereits im Vorfeld hatte er damit gerechnet, dass es auf so etwas Ähnliches hinauslaufen würde und da er sich auf seinen Gefängnisaufenthalt vorbereiten konnte, hatte er seine Wartezeit nicht untätig verbracht. Ein paar der Gefängniswärter nämlich hatte er im Vorfeld bestochen oder mit brisanten Fotos, Aufnahmen und mit anderen unschönen Details erpresst, sodass diese für ihn Drogen ins Gefängnis schmuggeln würden und das nicht gerade kleine Mengen! Auch hatte er bereits im Vorfeld dafür gesorgt, dass Fisher und seine Leute auf dem Trockenen lagen und die Sicherheitsvorkehrungen verschärft wurden, sodass die Drogenkuriere nicht mehr durchkamen. Somit war er der Einzige, der das Gefängnis versorgen konnte. Zuerst aber brauchte er Leute, die mitmachten und ihm gehorchten. Das war auch kein Problem, denn er kannte eine Bande von Rockern, die sich immer zum Pokern trafen und um hohe Geldbeträge spielten. Mindesteinsatz waren 2.000$. Harvey sprach sie an und erklärte, dass er gerne mit einsteigen würde. Mit einer etwas schüchternen wie naiven Art schaffte er es den Anschein zu erwecken, dass er zwar mal gepokert hatte, aber keine großen Erfahrungen besaß. Als Sicherheit, dass er auch tatsächlich zahlen konnte, legte er die Einstiegssumme in Bar auf den Tisch und erklärte, dass seine Eltern genug Geld hätten. Da die Gier dieser Leute größer war und sie sich ihrer Sache sicher waren, ließen sie ihn mitspielen. Hier aber wandte Harvey eine umgekehrte Taktik an, um seine Gegner auszutricksen. Da er Dramaturgie studiert hatte und als einer der besten Theaterschauspieler bekannt war und zudem Psychologe war, konnte er den Anschein erwecken, als hätte er überhaupt keine Ahnung, wie man richtig pokerte. All die kleinen Symptome, die Nervosität und ein schlechtes Blatt verraten konnten, wandte er so dezent an, dass es nicht zu offensichtlich war und er trotzdem auffallen musste. Das Endergebnis war, dass er den Spielern so hohe Summen entlocken konnte, dass sie es kaum bezahlen konnten. Er hatte geblufft, nicht um ein gutes Deck vorzutäuschen, sondern um sich zum Opfer und zur Zielscheibe zu machen. Da sie ihn so nicht bezahlen konnten und ihn beinahe noch gelyncht hätten, beschwichtigte er sie mit der Erklärung, dass er diese Situation vergessen wird, wenn sie ihm dafür ein paar Gefälligkeiten erweisen würden. Hierauf legte er einen 200g-Beutel Koks auf den Tisch und weihte sie in seinen Plan ein, Drogen zu schmuggeln. So hätten auch sie etwas davon. Binnen zweier Tage hatte Harvey nicht nur den Drogenhandel im Gefängnis vollständig unter Kontrolle, sondern auch Leute an seiner Seite. Er hatte extra mit so viel Stoff auf einmal aufgefahren, weil er wusste, dass es sich rasend schnell im Knast herumsprechen würde. Und tatsächlich dauerte es nicht einmal einen halben Tag, bis er unzählige Anfragen erhielt. Drogen und Zigaretten lieferte er in Mengen, die Aufsehen erregen mussten. Und da der Shutcall seine Position unbedingt halten wollte, war abzusehen, dass er versuchen würde, Harvey entweder umzubringen oder ihn zu einem Deal zu bewegen. Da dieser aber inzwischen genauso viele Leute auf seiner Seite hatte wie Jeremy Fisher, würde die zweite Option zutreffen. Am fünften Tag schon kam der amtierende Shutcall zu ihm und bot ihm die Zusammenarbeit an. Harvey würde ihn mit Stoff beliefern und er würde seine Sicherheit, Einfluss und Macht garantieren. Zwar war Harvey inoffiziell besser gestellt als Fisher, aber er willigte trotzdem ein, weil er die Wette mit Jeff bedenken musste. Bevor er aber per Handschlag einwilligte, fragte er direkt „Woher weiß ich, dass ich mich auf dich verlassen kann und welche Garantie kannst du mir geben, dass du mir nicht in den Rücken fallen wirst?“ Da Fisher unter enormen Zugzwang stand, weil er wusste, dass der Schauspieler alle Fäden in der Hand hielt und ihn noch absägen würde. Also gab er ihm seinen Glücksbringer als Zeichen für sein Vertrauen und als Garantie. Somit war Harvey innerhalb von fünf Tagen zur rechten Hand des Häftlingsbosses geworden und hatte die Wette gewonnen. Doch damit wollte er sich nicht zufrieden geben, denn er wollte ein Zeichen setzen und Jeff zeigen, dass er, obwohl er „bloß“ ein Bücherwurm und Schauspieler war, genauso gefährlich sein konnte wie ein Schwerkrimineller. Da ein Zeitraum von 14 Tagen vereinbart worden war, nutzte er die Zeit, um Fishers Leute auf seine Seite zu bringen. Er bot ihnen bestes Heroin für gewisse „Freundschaftsdienste“ an und als der neunte Tag sich dem Ende zuneigte, wurde erneut der Lockdown ausgerufen und die Nachricht ging durchs Gefängnis, dass Jeremy Fisher, Colton Rhimes und A.J. Miltner ermordet worden waren. Diese Morde waren von anderen Häftlingen begangen worden, welche sofort in die Isolierzellen eingesperrt wurden. Damit waren die drei mächtigsten Häftlinge aus dem Weg geräumt. Mit einem siegessicheren und eiskalten Lächeln warf Harvey Jeff das Messer von Fisher zu, welches Ziel der Wette war. Und tatsächlich zeigte sich der Psychopath tief beeindruckt. „Respekt, ich ziehe meinen Hut vor dir“, sagte er während er das Messer begutachtete. „Du hast es nicht nur geschafft, Fisher seinen Glücksbringer abzuluchsen, sondern auch noch zum neuen Shutcall aufzusteigen. Offenbar bist du doch nicht so eine halbe Portion, wie ich dachte.“

„Eines sollte man sich merken“, sagte Harvey schließlich und lehnte sich gegen den Tisch. „Man sollte sich vor Psychologen und Schauspielern hüten. Schauspieler beherrschen das Talent, anderen perfekt etwas vorzuspielen, was sie nicht sind und Psychologen können ihre Gegner jederzeit durchschauen und das Wissen gegen sie verwenden.“

„Nun, zumindest würdest du einen sehr guten Trickbetrüger abgeben. Das hast du schon mal bewiesen. Ob du es schaffst, Menschen nicht bloß umzubringen, sondern sie nach allen Regeln der Kunst abzuschlachten, das steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Aber ich halte mein Wort. Ich werde dir alles beibringen was ich weiß und dir helfen, zu einem Monster zu werden.“ Hier aber hob Jeff drohend den Zeigefinger und grinste seinen Zellengenossen mordlustig an. „Wenn ich merken sollte, dass du nicht aufmerksam bist oder du das alles nicht ernst genug nimmst, wirst du es bitter bereuen. Sollte ich auch nur einen Moment lang Unsicherheit bei dir sehen oder merken, dass du nicht aufpasst oder solltest du mir langweilig werden, oder mir auf die Nerven gehen, bringe ich dich um. Wir sind keine Freunde und du solltest dir immer vor Augen halten, dass du niemanden hier trauen kannst, vor allem nicht mir. Es kann aus völlig heiterem Himmel passieren und aus einer Laune heraus, dann solltest du bereit sein. Sonst liegst du hier als Leiche auf dem Boden!“ Jeff bluffte nicht, das wusste Harvey genau. Dieser Kerl war extrem gefährlich und man durfte ihn keinesfalls unterschätzen. „Hab verstanden!“ Und so begann Jeff damit, seinem "Schüler" alles zu zeigen, was er über das Töten wissen musste. Er erklärte ihm, wie man Menschen schnell und effektiv tötete, wenn es ganz plötzlich geschehen musste und wie man Spuren am besten beseitigen konnte. Auch lehrte er ihn, wie man seine Morde am besten vorbereiten konnte und welche Vorgehensmuster sich am besten bewährt hatten. Harvey lernte schnell und stellte niemals Jeffs Anschauungen oder Methoden in Frage. Als es aber darum ging, eine persönliche Signatur zu entwickeln, mussten sie überlegen. Jeff erklärte „Jeder Serienmörder hat seine persönliche Signatur, sodass man sofort erkennt, dass er diese und jene Morde begangen hat. Meist wählt man seine Signatur danach, was man mit seinen Morden ausdrücken und welche Botschaft man vermitteln will. Was willst du bezwecken oder besser gesagt, was hast du vor?“

„Ich will der Welt ein Zeichen setzen, indem ich den Leuten die Maske vom Gesicht reiße und ihnen zeige, was für ein Abschaum sich dahinter verbirgt. Seien es Kirchenleute die Kinder missbrauchen, Politiker oder Polizisten.“

„Klingt ganz danach, als wolltest du dich als Rächer der Nation aufspielen.“

„Nein, ich bin kein Rächer. Rächer gehen emotional vor und machen oft keinen Unterschied, ob sie Unschuldige mit hineinziehen, oder nicht. Und die Toten und Opfer will ich gar nicht erst rächen, weil ich weiß, dass es nichts an der Vergangenheit ändert. Shakespeare sagte mal „Betrauere nicht, was nicht zu ändern ist sondern ändere, was zu betrauern ist.“ Ich will nicht aus rein persönlichen Motiven handeln und mich von Emotionen leiten lassen, sondern der Welt den Spiegel vorhalten, ob sie es nun will oder nicht. Worte und gute Taten haben bisher wenig bewegt aber Angst, Leid und Terror hingegen haben die ganze Welt geprägt.“ Jeff schien trotzdem nicht ganz zu verstehen, was Harvey eigentlich genau bezweckte und begnügte sich erst einmal damit. Schließlich fragte er „Und was hat dich dazu bewegt? Wieso willst du das tun?“ Harvey offenbarte ihm seine Geschichte und was ihm passiert war. Der Serienmörder hörte ihm aufmerksam zu und nickte bedächtig. „Verstehe. Deshalb haben sie dich auch wegen Widerstandes gegen die Polizei und wegen falscher Verdächtigung eingebuchtet. Zwar klingt mir das alles trotzdem eher nach einem Rachefeldzug aber gut, ich will keine Predigt halten. Ich hab dir mein Wort gegeben und werde es auch halten. Und ich glaub auch schon, ich hab eine gute Idee: Weißt du vielleicht, wie man Menschen die Haut abzieht?“

„Ich hab es noch nie versucht, aber der Gedanke ist mir auch schon bereits gekommen.“

„Okay. Wenn du die Aufmerksamkeit der Welt auf dich ziehen willst, dann reicht es nicht bloß allein, Leute einfach die Haut abzuziehen. Du musst ein Massaker anrichten, dass selbst den Bullen schlecht wird. Das Wichtigste ist: eine Botschaft zu hinterlassen. Eine offene Nachricht an die ganze Nation. Die Medien werden sich darum reißen und es überall in die Nachrichten bringen. Für sie ist es ein gefundenes Fressen, wenn ein Serienmörder ein Manifest hinterlässt. Vor allem, wenn er das Interesse einer großen Mehrheit vertritt und damit für viel Diskussionsstoff sorgt. außerdem solltest du darauf achten, deine Tatorte sehr genau zu wählen. Sie in einer versifften New Yorker Wohnung zu bunkern, wird nichts bringen. Wenn du einen Pfaffen killst, dann lass seine Leiche in einer Kirche finden und am besten in einem so bizarren und unheimlichen Zustand wie nur möglich. Willst du einen Politiker töten, dann in seinem Büro oder in einem öffentlichen Gebäude. Schreib dir das für die Zukunft auf.“ Jeff lieferte eine Reihe von Ideen und Anregungen, deren Inhalte so unfassbar krank und abscheulich waren, dass selbst Harvey fast die Sprache wegblieb. Er beschrieb auch alles so bis ins kleinste abartige Detail, dass einem beim Zuhören allein schlecht wurde. Und obwohl Harvey auch übel wurde, während Jeff ihm bis ins kleinste Detail alles über das Ausweiden von Menschen erzählte, hörte er zu. Natürlich passte er gut darauf auf, niemals Schwäche vor anderen zu zeigen oder Jeff zu nerven, aber dann kam es doch zu einem Angriff. Vielleicht lag es daran, dass er etwas unvorsichtiger wurde, da er leichtes Fieber hatte. Jedenfalls hatte sich Jeff urplötzlich auf ihn gestürzt und ihn mit dem Messer attackiert. Der Schauspieler wehrte sich nach Leibeskräften, doch war er kaum in der Lage, seinen Angreifer abzuwehren. Jeff stach wie ein Verrückter auf ihn ein und neben diversen Stichverletzungen zog sich Harvey tiefe Schnittwunden an der linken Wange und am Hals zu. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinem Angreifer einen Tritt in die Magengrube zu verpassen und ihm mit dem Messer von Fisher einen Stich knapp unterhalb des Brustkorbes zu geben, woraufhin der Psychopath von ihm abließ. Da sie beide schwer verletzt waren, wurden sie ins Krankenhaus gebracht. Harvey musste operiert werden, überlebte aber und Jeff ebenfalls. Es stand aber fest, dass Harvey wohl Narben davontragen würde, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Eines Abends, als er mit bleiernem Kopf im Bett lag, saß plötzlich sein Lehrmeister und Beinahe-Mörder neben ihm. „Willst du mich endgültig umbringen?“

„Hey, ich hatte dich im Vorfeld gewarnt. Aber ich muss zugeben, du hast dich wirklich gut geschlagen. Normalerweise sind alle meine Opfer mausetot. Außerdem wollte ich dich auf die Probe stellen und mich überzeugen, ob du auch wirklich das Zeug dazu hast, in der gleichen Liga zu spielen wie ich.“

„Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“ Jeff grinste und begann mit einem Skalpell zu spielen, welches er wohl geklaut hatte. „Weißt du, normalerweise hätte ich solche Typen wie dich schon in den ersten 12 Stunden kaltgemacht. Aber mir hat dieser Blick in deinen Augen gefallen. Ich glaube, du könntest es tatsächlich schaffen, ein Monster zu werden. Und im Grunde hast du es dir ja sehr gut überlegt. Du hast gesagt, du hättest es auf Menschen abgesehen, die sich hinter der Maske von Vorbildern und Anführern verstecken und ihre Positionen ausnutzen, um Menschen zu schaden, so wie dir und deinen Freund. Ich dachte zuerst, du hast sie nicht mehr alle, aber inzwischen glaube ich jetzt doch verstanden zu haben, warum du diesen Weg gewählt hast. Wirklich sehr clever. Du weißt, dass die Polizei versuchen wird, dein Muster zu durchschauen und alle potentiellen Opfer ausfindig zu machen, die in dein Schema passen. Und das bedeutet automatisch, dass sie die kriminellen Machenschaften ihrer eigenen Leute aufdecken wird und diese ganzen Skandale publik werden. Du bringst da einen enormen Stein ins Rollen, der eine Lawine auslösen wird. Deine Aktionen werden mit Sicherheit Chaos auslösen, ist dir das klar?“

„Natürlich, aber dieses Chaos wird es sein, das den Schmutz vertilgen und die Ordnung wiederherstellen wird.“

„Und was wirst du mit den Leuten machen, die dein Leben zerstört haben? Willst du denn keine Rache für deinen Freund üben?“ Hier sah Harvey ihn mit einem leicht düsteren Blick an. Er sah fürchterlich aus, doch er wirkte immer noch, als könnte er es jederzeit mit Jeff aufnehmen. „Rache bringt die Toten nicht wieder zurück und ändert auch nichts an der Vergangenheit. Wenn es sich um einen einmaligen Fall handelt, werde ich es akzeptieren. Sollte ich aber herausfinden, dass diese Polizisten so etwas schon öfter in der Vergangenheit getan haben, werden sie meine ersten Opfer sein.“

„Wow, trotz allen immer noch so prinzipientreu?“

„Ohne Prinzipien würde ich ein Monster so wie du werden. Ich will ein Monster zum Zweck sein und nicht mehr. Ich weiß, dass es für die anderen keinen Unterschied machen wird und dass das, was ich tun werde, im Grunde falsch ist. Sollten sie mich eines Tages verhaften und zum Tode verurteilen, werde ich es akzeptieren und mich meinem Schicksal fügen. Bis dahin aber werde ich sehr viel Blut vergießen… Und du wirst mich auch nicht aufhalten.“ Jeff begann zu lachen und grinste breit, was aber wie eine wahnsinnige gespensterhafte Fratze aussah. „Ich will dich doch nicht aufhalten, das habe ich niemals behauptet.“

„Und wieso bist du hier?“

„Weil jetzt deine letzte Lektion ansteht.“ Er holte aus seiner Hosentasche eine Kugelschreibermine und öffnete damit Harveys Handschellen, mit denen er ans Bett gefesselt war. Da der Schauspieler noch ein klein wenig benommen durch die vielen Schmerzmittel war, zerrte Jeff ihn hoch und führte ihn zur Tür. „Es wird Zeit, dass du deinen ersten Mord begehst!“ Wie sich herausstellte hatte der psychopathische Serienkiller, während Harvey noch unter der Wirkung der Betäubungsmittel gestanden hatte, bereits Vorkehrungen getroffen und brachte seinen Schüler zum Lieferanteneingang, wo derzeit nichts los war und sie somit ungestört hindurchgehen konnten. Die Tatsache, dass es bereits nachts war, kam ihnen zugute. Die Polizisten, die eigentlich die Zimmer bewachen sollten, waren verschwunden und höchstwahrscheinlich von Jeff getötet worden. Der Weg führte sie zu einem leer stehenden Haus, nicht weit vom Krankenhaus entfernt. „Sag mal, wie lange war ich eigentlich weggetreten?“

„Fast vier Tage. Siehst zwar immer noch beschissen aus, aber heute ist die ideale Nacht, um aus dir einen richtigen Mörder zu machen.“

„So viel Engagement kennt man ja gar nicht von dir. Womit hab ich diese Ehre denn bitteschön verdient?“

„Wenn wir uns eines Tages wieder gegenüberstehen werden, will ich sehen, ob du es tatsächlich schaffen kannst, mich zu töten. Wäre doch wirklich amüsant zu sehen, ob der Schüler den Lehrer übertreffen kann.“ Jeff war eindeutig verrückt, aber Harvey wollte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, und obwohl er noch völlig neben der Spur war, so fühlte er sich durchaus imstande, jemanden zu töten. Sie betraten schließlich einen Keller, wo ein Mann auf einem Tisch lag. Er sah tot aus und trug die Kleidung eines Polizisten. Als Harvey näher trat, glaubte er nicht recht zu sehen als er merkte, dass der Kerl noch atmete und fragte Jeff, was mit dem Kerl los war. „Ich wollte es dir ein bisschen einfacher gestalten und hab ihm eine Ladung Tetrodotoxin, also Kugelfischgift, verpasst. Er ist vollständig paralysiert, kriegt aber trotzdem alles mit. Der Witz ist, dass er sich nicht wehren kann, geschweige denn überhaupt schreien.“ Er brach in ein sadistisches Gelächter aus und gab dem vollständig paralysierten Polizisten einen Klaps auf die Wange. Harvey war nicht nach Lachen zumute. „Und wer zum Teufel ist das?“

„Officer Steve Thompson. Der Kerl hat in der Vergangenheit ganz schön viel Unsinn angestellt. In den letzten sechs Monaten hat er vier Tote zu verbuchen und er hat einen Jugendlichen bei einem Straßenkrawall derart zusammengeschlagen, dass dieser bis heute noch im Koma liegt. Den letzten Klopper hat er sich geleistet, als er eine Leibesvisitation bei einer Frau durchführte und sie dabei nicht bloß durchsucht hatte. Die Frau hat ihn angezeigt, ist aber selbst zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil sie ihn sexuell genötigt hat und handgreiflich wurde. Also doch genau das, was du suchst.“ Jeff schien irgendwie ziemlich großen Spaß zu haben, das merkte selbst ein Blinder. Offenbar hatte er jetzt ein neues Hobby gefunden und das war, andere zum Mord anzustiften und selbst dabei Zuschauer in der ersten Reihe zu sein. Bei einem so kranken Hirn wie seinem war das ja auch nicht weiter verwunderlich. Auf einem anderen Tisch hatte er alle nötigen Werkzeuge ausgebreitet und erklärte, wie Harvey vorgehen sollte und was er zu beachten habe, wenn er einem Menschen wirklich die Haut entfernen wollte. „Ich schlage vor, du probierst es erst einmal an einer einfachen Stelle. Dazu eignet sich sehr gut der Torso. Als Erstes musst du die Kleidung entfernen.“ Harvey gehorchte und zog dem Polizisten die Jacke und das Hemd aus, sodass der Oberkörper frei lag. Im Gesicht war keine Regung zu sehen und die Augen schauten starr zur Decke. Irgendwie fühlte er sich unwohl. Es war das erste Mal, dass er einen Menschen umbringen würde und am liebsten hätte er das Gesicht des Mannes verdeckt, damit es ihm leichter fiel. Aber das ließ Jeff nicht zu. „Wenn du den Blick deiner Opfer nicht ertragen kannst, wirst du es niemals schaffen. Stell dir vor, sie wehren sich, schreien herum und betteln um Gnade. Was willst du dann tun? Wenn du zu einem Monster werden willst, darfst du keinerlei Gnade zeigen und darfst nicht eine Sekunde zögern. Du musst lernen, deine Menschlichkeit über Bord zu werfen und solche Gefühle wie Angst oder Mitleid abzuschalten. Wenn du das schaffst, dann gelingt es dir auch, Menschen auf solch eine Weise zu töten. Keine Sorge, das erste Mal ist immer etwas schwierig. Ich hab es zwar auf Anhieb ziemlich gut hingekriegt, aber auch nur, weil ich ein Psychopath bin.“ Bei diesen letzten Worten kicherte er und lief langsam auf und ab, während er wartete, dass sein Schüler endlich anfing. Dieser nahm ein Skalpell in die Hand und setzte die Klinge an den Brustkorb. Jeff schaute ihm genau auf die Finger. „Pass aber auf, dass du nicht zu tief schneidest. Es reicht, wenn du oberflächlich schneidest und dann langsam die Haut vom Fleisch schälst.“ Harvey führte den ersten Schnitt durch und versuchte, seinem Opfer nicht in die Augen zu sehen. Trotzdem entging ihm nicht, dass dem Paralysierten Tränen kamen. Er wusste, dass sein Opfer Schmerzen litt, aber er durfte jetzt nicht aufhören. Wenn er es jetzt nicht schaffte, dann waren all seine Bemühungen umsonst gewesen. Indem er sich auf das hier und jetzt und damit auf seine Arbeit konzentrierte, gelang es ihm, alles andere um ihn herum auszublenden. Er ließ sich von Jeffs Worten lenken und kaum, dass er sich versah, hatte er den Schnitt zu Ende geführt und begann nun damit, die Haut langsam und vorsichtig zu entfernen. Hier und da waren einige Schnitte noch etwas grob und unbeholfen, aber summa summarum leistete er gute Arbeit und schließlich hatte er die ganze Haut vom Brustkorb bis zum Unterleib entfernt. Seine Hände waren blutverschmiert, er selbst war schweißgebadet und ihm wurde speiübel. Jeff klopfte ihm auf die Schulter und grinste. „Sehr gut. Für dein erstes Mal hast du saubere Arbeit geleistet. Und nun wird es Zeit, ihm den Gnadenstoß zu geben. Vergiss nicht, er lebt immer noch.“ Am liebsten wäre Harvey lieber ins Krankenhaus zurückgekehrt, denn ihm war fürchterlich elend zumute. Aber dann erinnerte er sich an den Grund, warum er all das getan hatte und dachte an all den Schmerz und die Trauer, die er in der Vergangenheit empfunden hatte. Chris… er dachte an seinen verstorbenen Freund Chris und das war es, das ihm half, all sein Mitgefühl und seine Angst loszulassen. Er holte zum Schlag aus und stieß seinem Opfer das Skalpell in die Brust. Ein leises, kaum hörbares Stöhnen war zu hören, doch da stieß er erneut zu. Jeff beobachtete das Ganze schweigend und mit deutlicher Zufriedenheit. Als der Polizist tot war und Harvey erschöpft das Skalpell fallen ließ, hielt Jeff ihn am Arm fest, um ihn auf den Beinen zu halten. Der Schauspieler war schneeweiß im Gesicht und sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Sein Kreislauf war völlig im Keller und wurde schließlich zu einem Stuhl gebracht, auf den er sich setzen konnte. „Gratuliere“, zischte der Psychopath grinsend. „Du hast deinen ersten Mord begangen. Na, wie hat es sich angefühlt?“ Doch Harvey antwortete erst nicht. Ihm wurde kurzzeitig schwarz vor Augen und kalter Schweiß lief ihm das Gesicht runter. Schließlich aber fand er doch die Kraft zum Sprechen. „Es fühlte sich beschissen an.“

„Aber zum Ende hin hast du es doch noch geschafft, zu einem Monster zu werden und diesen Typen abzustechen. An was hast du gedacht?“

„An Chris und an den Grund, warum ich das alles so wollte.“

„Gut, das solltest du dir immer vor Augen halten, wenn du nicht bei jedem Mal zusammenklappen willst wie jetzt. Bleib erst mal sitzen und zieh deine Klamotten aus. Ich räum den Saustall hier auf.“ Gerade wollte sich Jeff der Leiche widmen, da hielt Harvey ihn zurück. „Beantworte mir eine Frage, Jeff: Wie hat es sich angefühlt, seine eigene Familie zu töten?“ Hier aber wurde dieser still und das Grinsen auf seinem Gesicht verschwand. Eine Weile schwieg er, aber schließlich antwortete er „Ich habe nichts gedacht oder gefühlt, als ich es tat. Wenn man den Verstand verliert, denkt man nichts. Als Psychologe müsstest du es ja am besten wissen. Man handelt völlig irrational und schert sich einen Dreck darum, ob es die eigene Familie ist, oder dein Todfeind. Als diese Arschlöcher mich fast umgebracht hatten, da hat sich in meinem Kopf etwas ausgeschaltet und ich hab im Grunde nur gehandelt, ohne zu denken.“

„Hast du denn niemals den Mord an deiner Familie bereut?“ Für einen Moment sah Jeff Harvey mit einem Blick an, der beinahe darauf schließen lassen konnte, dass er ihm sofort mit dem Skalpell die Kehle aufschlitzte für diese Frage. Harvey wusste, dass es extrem gefährlich war, so etwas überhaupt zu fragen und dass sein Lehrmeister ihn dafür umbringen würde. Aber er war so neben der Spur, dass er das gar nicht in Betracht zog. Zu seinem Erstaunen machte Jeff überhaupt keine Anstalten, ihn umzubringen. Er senkte den Blick und sagte mit einer fast traurigen Stimme „Ich… ich wollte meinen Bruder nicht töten. Zu meinen Eltern hatte ich nie ein sonderlich gutes Verhältnis aber Liu war nicht bloß mein Bruder, sondern auch mein bester Freund. Ich wollte ihn beschützen, aber ich war letzten Endes nicht in der Lage, ihn vor mir selbst zu schützen. Aber wie du schon sagtest: Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Deshalb ist es mir irgendwann egal geworden, wen ich umbringe. Ich gebe dir einen guten Rat mit auf dem Weg mein Freund: Vergiss niemals, weshalb du das alles tust. Halte dir immer dein Ziel vor Augen und vor allem, wie schrecklich für dich dieser erste Mord war. Denn in dem Moment, wo es dir Spaß macht, Menschen auf so eine Weise zu töten, wo du beginnst ihre Schmerzensschreie zu genießen und auch keine Reue mehr empfindest, dann bist du bereits ein Monster. Du hast dir einen echt harten Weg ausgesucht. Es wird nicht leicht für dich werden, wenn du dir deine Menschlichkeit bewahren willst. Du wirst schlaflose Nächte haben und dir immer wieder vor Augen halten, dass du Menschen tötest, die Familien und Freunde haben.“

„Das ist der Preis, den ich zahle. Aber ich kann nicht mehr zurück…“

„Da hast du wohl Recht.“ Harvey wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog sein blutverschmiertes Shirt aus. Sowohl dieses als auch die Messer warf Jeff zusammen mit der Leiche auf einen Stapel Holz und Zeitungen und übergoss alles mit Benzin. „Was hast du vor?“

„Wonach sieht das wohl für dich aus? Ich fackle das Haus ab. Es ist sowieso nicht bewohnt und da dies hier bloß ein Testmord war, darf dieser erst einmal nicht mit dir in Verbindung gebracht werden, bis du dir eine passende Identität zurechtgelegt hast. Außerdem sind hier überall deine Fingerabdrücke. Um alles komplett zu vernichten, eignet es sich am besten, ein kleines Feuer zu legen. Für die Zukunft solltest du dir eine elegantere Lösung einfallen lassen. Jeden Tatort abzufackeln wird dir eher den Ruf eines Feuerteufels einbringen.“ Harvey hörte nur mit Mühe zu. Er versuchte wieder auf die Beine zu kommen, jedoch wurde ihm erneut schwarz vor Augen und er musste sich übergeben. Nachdem Jeff seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, verließen sie das Haus und als der entstellte Serienmörder die Benzinspur anzündete, brannte das Haus binnen weniger Sekunden lichterloh. Sie beide eilten zurück ins Krankenhaus und gingen wieder zu ihren Zimmern. Wie sich später herausstellen sollte, hatte Jeff die Wachmänner gar nicht getötet, sondern ihnen bloß ein starkes Schlafmittel verabreicht und sie erst einmal versteckt, damit niemand Verdacht schöpfte. Er kettete Harvey wieder ans Bett, hatte jedoch selbst keine Lust, wieder ins Gefängnis zurückzugehen. „Mein Urlaub ist jetzt vorbei und ich kehre wieder zu meiner eigentlichen Tätigkeit zurück. Ich hab mein Wort gehalten, nun sieh zu, dass du das Beste daraus machst. Vergiss nicht: Um eine Welt zu erschüttern, muss man unvorstellbar grausam sein.“

„Grausam, nicht unnatürlich will ich sein. Und grausam muss ich sein, um eine gute Absicht zu erhalten. Der Anfang ist gemacht, aber das Schlimmste steht noch bevor.“

„Hamlet, nicht wahr? Du zitierst wirklich wie ein Poet… wie ein Poet des Todes. Mach’s gut, Harv. Vergiss nicht, ich werde weiterhin ein Auge auf dich haben. Eines Tages werden wir uns wieder gegenüberstehen und dann wird sich herausstellen, wer von uns beiden der Bessere ist. Enttäusche meine Erwartungen nicht.“ Damit verschwand Jeff und als die Polizei anrückte, war er unauffindbar. Harvey ging, nachdem seine Verletzungen verheilt waren, ins Gefängnis zurück und blieb dort drei Monate, bis er wegen guter Führung vorzeitig entlassen wurde. Bis dahin blieb er der unumstrittene Shutcall und niemand wagte es, sich mit ihm oder seinen Leuten anzulegen. Nach seiner Entlassung brauchte er jedoch eine Weile, bis er überhaupt wieder an sein eigentliches Vorhaben denken konnte. Stattdessen ging er zum Friedhof, kaufte beim Floristen einen Strauß weißer Rosen und legte sie an einem Grab nieder. In dem Grabstein, der von einem kleinen Engel bewacht wurde, war folgende Inschrift eingemeißelt:
 

„Chris Dullahan
 

*14.02.1988 †22.10.2013
 

And so died a noble heart. Good-Night, dear friend. And flights of angels sing thee to thy rest.”
 

„Es ist immer wieder ein komisches Gefühl, hier zu sein“, ertönte eine Stimme neben ihm und als Harvey sich nach rechts umschaute, sah er Chris neben sich stehen. Er sah genauso aus wie damals und trug wie immer seinen lilafarbenen Schal, die dunkelblaue Jacke und seinen Streifenpullover. „Schon merkwürdig, mein eigenes Grab zu sehen.“

„Hasst du mich eigentlich für das, was ich getan habe?“

„Was für eine Frage. Ich könnte dich doch niemals hassen, Harvey! Deine Taten mag ich zwar nicht befürworten, aber warum sollte ich dich abhalten? Würdest du auf einen Toten hören, wenn du ihn für eine durch eine Geisteskrankheit entstandene Halluzination hieltest, oder eine durch Tollerei erzeugte Halluzination für einen toten Freund? Problem ist, dass nur du mich siehst und hörst. Eine typische Hamlet-Situation: Er sah seinen Vater, doch die Mutter hielt ihren Sohn für verrückt.“

„Also bin ich verrückt, oder du bist wirklich da.“

„Entweder das, oder es ist damals bei der Operation etwas schief gelaufen. Der Arzt sagte ja, dass es ein experimenteller Eingriff war und dass es Komplikationen geben könnte. Es wäre also möglich, dass ich kein Geist und auch keine durch Wahnsinn hervorgerufene Halluzination bin, sondern eine Halluzination, hervorgerufen durch Spätfolgen durch die Hirntransplantation.“ Harvey fühlte einen tiefen Stich in seinem Herzen und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. All der Kummer, den er in den letzten drei Monaten zurückgehalten hatte, brach mit einem Male heraus und er ließ ihm freien Lauf. „Es tut mir Leid…“, brachte er schließlich hervor. „Hätte ich damals anders reagiert, dann hättest du nicht sterben müssen.“

„Gib dir nicht die Schuld dafür.“ Tröstend legte er eine Hand auf Harveys Schulter. Das Schlimmste aber an dieser Geste war, dass dieser sie deutlich spürte, als wäre Chris wirklich noch da. „Niemand von uns hat Schuld daran, was passiert ist. Egal welchen Weg du von nun an gehen wirst, ich werde für dich da sein. Und nun komm, es wird langsam kalt, sonst wirst du wieder krank.“ Harvey nickte und zündete noch eine Grabkerze an, bevor er zu seinem Wagen ging. Er wusste, dass es für ihn keinen Weg mehr zurückgab. Mit dem ersten Mord, den er begangen hatte, hatte er auch gleichzeitig sein Schicksal gewählt. Er wusste, dass er einen unglaublich harten Weg gewählt hatte und dass er noch viel mehr leiden würde. Aber er würde trotzdem weiter vorangehen und seinen Weg mit Leichen pflastern. Und es würde noch eine Menge Blut und Tränen fließen…

Harvey the Skinner: Der Antichrist

Es war immer wieder eine besondere Atmosphäre in der Kirche St. Michael und obwohl Pastor Theodor schon so viele Jahre in Kirchen, Domen, Kathedralen und Kapellen verbracht hatte, erfüllte es ihn doch stets mit Ehrfurcht, wenn er sie betrat. In der Kirche war es vollkommen still, nur seine Schritte hallten in diesem ehernen Gebäude wider. In seinem Geiste hörte er die gregorianischen Gesangschöre und die wundersamen Klänge der Orgel. Als er am Altar und am Jesuskreuz vorbei ging, blieb er kurz stehen, kniete ehrfürchtig nieder und bekreuzigte sich, bevor er weiterging, um die Spendenboxen zu leeren. Heute in der Messe waren dieses Mal mehr Leute als sonst gewesen, weshalb sich der Geistliche auch mehr Spenden als sonst erhoffte. Als er jedoch an den Sitzbänken vorbeiging, da bemerkte er eine Bewegung und erkannte schließlich, dass da jemand in der hintersten Reihe saß. Es war ein junger Mann von vielleicht 26 oder 27 Jahren. Er trug ein Kapuzenshirt und hatte Bandagen im Gesicht. Auch seine Hände waren bandagiert und er sah aus, als hätte er ziemlich schlimme Dinge erlebt. Schweigend saß er da und schaute hoch zu den Fenstern, wo die Bilder vom Erzengel Michael zu sehen waren, wie er den Drachen erschlug. Irgendetwas Trauriges lag in seinem Blick und Pastor Theodor entschloss sich, die Spenden später einzusammeln und mit diesem Menschen zu reden, der offensichtlich Trost brauchte. Als er zu ihm ging, sah ihn der Bandagierte an und lächelte müde. „Einen wunderschönen Tag haben wir heute, Pater. Und wie angenehm still es ist. Ich gehe allein deshalb schon gern in Kirchen, weil von ihnen etwas Beruhigendes und zugleich Mystisches ausgeht.“

„Da haben Sie wohl Recht.“ Pastor Theodor setzte sich neben ihn und schaute ebenfalls zu den Fensterbildern. „Eine Kirche vermittelt stets das Gefühl von Geborgenheit und Schutz. Hier findet man immer Zuflucht, egal was es auch sei.“

„Ja, das stimmt. Auch deshalb komme ich in der letzten Zeit immer öfter hierher.“

„Wenn Sie Trost oder seelischen Beistand brauchen, können Sie sich jederzeit gerne an mich wenden, mein Sohn.“ Wieder ein trauriges Lächeln. Der Bandagierte fuhr sich durch sein langes, schwarzes Haar und offenbarte eher ungewollt, dass er an seiner linken Hand nur noch drei Finger besaß. Die anderen waren ihm offenbar abgetrennt worden und er trug auch blutverschmierte Bandagen. Anscheinend war dies erst vor kurzem geschehen. Der Verletzte seufzte und rieb sich schließlich Tränen aus dem rechten Auge, da das andere durch die Bandagen verdeckt war und wahrscheinlich auch fehlte. „Verzeihen Sie, Pater…“

„Ist schon gut, mein Sohn.“

„N-nennen Sie mich ruhig Charlie.“

„Also gut, Charlie. Erzählen Sie, wer Ihnen das angetan hat und haben Sie keine Angst. Solange Sie hier sind, kann Ihnen nichts zustoßen.“ Der Bandagierte nickte und versuchte, sich zusammenzureißen. Aber Pastor Theodor sah ihm an, dass ihm etwas schwer auf der Seele lastete. „Als ich klein war, da hat mein Vater Dinge getan… schlimme Dinge… Er war allein erziehend, da meine Mutter schon recht früh einfach so abgehauen ist und uns alleine ließ. Mein Vater war ein Trinker und verlor schließlich seinen Job. Das führte recht schnell dazu, dass er oft gewalttätig wurde, wenn er betrunken war. Wenn ich nicht tat, was er von mir verlangte, schlug er mich grün und das ging so ein paar Jahre lang. Irgendwann ist mir das alles zu viel geworden und…“ Der Verletzte hielt inne und sah den Pastor unsicher an. Er wirkte wie geprügelt und schien Angst davor zu haben, den Satz zu Ende zu sprechen. „W-werden Sie es der Polizei sagen, wenn ich Ihnen etwas Schlimmes beichte?“

„Nein, Charlie. Wenn ich Ihnen die Beichte abnehme, dann wird dies hier zwischen Ihnen, mir und dem Herrn selbst bleiben.“

„Okay…“ Wieder eine Pause und wieder nahm Charlie all seinen Mut zusammen. „Als ich diese ganzen Übergriffe nicht mehr ertragen konnte, hab ich mich zur Wehr gesetzt. Vater hat mir daraufhin das Auge ausgestochen und mir die Finger abgehackt. Als ich das Messer in die Hand bekam, hab ich den Scheißkerl abgestochen und den allerletzten Blutstropfen aus ihm herausgequetscht. Dieser Bastard hat mir mein Leben zerstört und deshalb habe ihm auch seines zerstört, indem ich ihn endlich umgebracht habe.“ Charlie presste eine Hand gegen sein bandagiertes Auge und in seinem Gesicht war blinder Hass zu sehen. „Ich weiß, dass das, was ich getan habe, ein unverzeihliches Verbrechen war. Aber sagen Sie mir, hat es ein verdammter Pädophiler überhaupt verdient, weiterzuleben?“

„Nun Charlie, das zu entscheiden, liegt allein bei Gott. Der Herr wird die Sünder ihrer gerechten Strafe zuführen. Ihr Vater wird sich vor einem höheren Gericht verantworten müssen für seine Tat.“

„Glauben Sie, dass ein solcher Mensch überhaupt noch verdient hat, jemals in den Himmel zu kommen? Sagen Sie mir Ihre ehrliche Meinung.“

„Wenn er seine Sünden niemals bereute, dann nicht. Aber meine Meinung ist nicht von Bedeutung. Der Herr wird über seine Seele richten. Und Sie Charlie, sollten Buße tun und für Ihre Seele beten. Ich könnte…“ Pastor Theodor sprach nicht zu Ende, denn da spürte er einen schmerzhaften Stich im Arm und als er hinsah, erkannte er entsetzt, dass Charlie ihm mit einer Spritze in den Unterarm gestochen und ihm irgendetwas injiziert hatte. „Was… was hat das…“ Der Pastor stand hastig auf und wich von dem Verstümmelten zurück, der ihm einen tödlichen Blick zuwarf. Entsetzen packte den Geistlichen und er wollte fragen, was ihm da gespritzt worden war, doch er konnte es nicht. Er spürte ein unangenehmes Kribbeln auf der Zunge und er konnte kaum noch ein Wort hervorbringen. Seine Beine knickten um, doch er konnte sich noch geistesgegenwärtig an einer Bank festhalten und flüchtete in Richtung Sakristei. Charlie stand auf, ging zum Eingang und verriegelte die Tür. „Tut mir Leid, aber hier ist Endstation für Sie.“ Nachdem der Haupteingang verschlossen war, kam er auf den Flüchtenden zu und begann, seine Bandagen abzunehmen. Dabei enthüllte er, dass er gar keine Verstümmelungen hatte und dass alles nur Maskerade war. Selbst die Haare waren bloß eine Perücke. Fassungslos und schockiert starrte der Pastor ihn an und schleppte sich weiter zur Sakristei, da gaben seine Beine endgültig nach und er versuchte zu kriechen. Mit einem eiskalten Lächeln setzte der Demaskierte einen Fuß auf den Rücken des Pastors und nagelte ihn somit am Boden fest. „Versuchen Sie es gar nicht erst, Sie kommen eh nicht weit. Ich hab Ihnen Tetrodotoxin verabreicht, ein sehr effektives Nervengift, welches in richtig dosierter Menge paralysierend wirkt. Das hat den Vorteil, dass ich Sie gar nicht erst fesseln muss und Sie trotzdem alles mitkriegen. Zuerst einmal möchte ich mich bei meinem richtigen Namen vorstellen: ich bin Harvey the Skinner.“ Nun entfernte er die letzten Pflaster und Bandagen von seinem Gesicht und enthüllte an seiner linken Wange zwei lange Narben, die diagonal bis knapp unter seinem Auge verliefen und auch am Hals besaß er welche. Pastor Theodor wurde blass, als er das hörte. Er hatte von diesem Serienmörder gehört, der mindestens 20 Polizisten die Haut abgezogen und ihre Leichen auf unvorstellbar bestialische Weise auseinandergenommen und ihre Gedärme an die Wand genagelt hatte. Und die Häute hatte er zu Bezügen vernäht, was dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt hatte. Aber dabei schlug er doch nur in den USA zu. Was also hatte er hier in Deutschland verloren? „Wissen Sie, ich bin vom Beruf her in erster Linie Schauspieler und als solcher war es ein Leichtes für mich, Sie an der Nase herumzuführen. Und mein Vorteil war auch, dass ich im Vorfeld schon die deutsche Sprache beherrschte. Aber das Völkchen spürt ja für gewöhnlich den Teufel nicht, selbst dann nicht, wenn er sie am Kragen hat. Natürlich war Charlie nur meine Maskerade und somit müssen Sie dem, was ich Ihnen in dieser Gestalt gesagt hatte, keinen Glauben schenken. Bin ich auch von Natur nicht ehrlich, so bin ich’s zuweilen aus Zufall. Aber genug der Worte und lassen wir endlich Taten sprechen.“ Damit packte Harvey den paralysierten Pfarrer am Kragen und schleifte ihn hoch zu dem großen, kreisrunden Altar und legte ihn darauf. „Wissen Sie, worin das Problem bei einer Religion liegt? Alle Religionen sind aus simpler Gier, Angst, Betrug, Fantasie und Poesie gemacht. Zumindest sagt das Edgar Allan Poe, keine Ahnung, ob Sie den kennen. Ich persönlich respektiere die Religion als ein Mittel, um die Menschen zusammenzuführen und ihnen Kraft und Trost zu spenden. Aber was mir gegen den Strich geht, sind Pfaffen, die ihre Vertrauensposition ausnutzen und sich an unschuldigen Kindern vergreifen. Wenn sie denn wenigstens dafür bestraft würden, wäre mir das recht und dann bräuchte ich das hier eigentlich nicht zu tun, aber das wahre Verbrechen besteht doch darin, dass die Kirche das einfach verschweigt, oder herunterspielt. Und was macht der Papst? Er tut rein gar nichts! Normalerweise würde man doch denken, dass etwas Gescheites dabei rumkommt, wenn ein Gott sich erst sechs Tage lang plagt und selbst am Ende noch Bravo sagt. Aber das zeigt eigentlich, dass Gott wohl ziemlich gepfuscht haben muss bei seiner Schöpfung.“ Während Harvey sprach, holte er unter seinem Pullover ein Messerset hervor und breitete es neben dem Pfarrer aus, der sich beim besten Willen nicht bewegen konnte und nun in Panik geriet. Er wusste, was gleich kommen würde: dieser Wahnsinnige würde ihm die Haut abziehen und ihn danach genauso massakrieren wie die anderen Opfer. „Wissen Sie, worin der Unterschied zwischen uns beiden liegt? Ich als Schauspieler trage eine Maske, um die Menschen zu unterhalten und sie wissen sehr wohl, dass ich mein wahres Selbst verberge. Sie aber spielen hier den ehrlichen und aufrichtigen Pfarrer, der unter den Schutzmantel des Geistlichen kleine Jungs missbraucht. Was für eine Ironie, dass die Menschen nur hinter ihrer Maske ganz sie selbst sind. Ich hab es ja auch nicht auf alle Menschen abgesehen, sondern hauptsächlich auf die von Vorbildern wie Ihnen, die ihre Stellung ausnutzen, um ungehindert Leben zu ruinieren. Aber eines will ich klar stellen: Es geht mir hier nicht darum, Rache für diese armen Seelen zu üben. Auf Dinge, die nicht mehr zu ändern sind, muss auch kein Blick mehr zurückfallen. Was getan ist, ist getan und bleibt. Mir geht es eher um die Zukunft und darum, den wahren Antichristen aus dem Gotteshaus zu vertreiben.“ Mir einem unheilvollen Lachen klopfte Harvey dem Pfarrer auf die Wange und begann, seine Kleidung zu wechseln. „Da das Gift noch lange Zeit seine Wirkung tun wird, müssen wir nichts überstürzen. Wenn Sie sich anstrengen, finden Sie die Kraft, Mund und Zunge zu bewegen. Es ist doch so eintönig, bloß allein zu reden. Die richtige Dosierung ist leider noch nicht ausgefeilt. Aber andererseits wäre es genauso eintönig, wenn ich immer wieder ein Schmerzgestöhne und Gejammer zu hören kriege.“ Der Typ ist vollkommen durchgeknallt, dachte der Pastor und schaffte es mit Mühe, seinen Mund zu öffnen. Seine Zunge fühlte sich taub an und wie von einem dicken Pelz belegt. Außerdem war das unangenehme Kribbeln im Mund unerträglich. Nur mit Mühe brachte er hervor „Das können Sie nicht tun… ich bin unschuldig.“

„Ach bitte Pater, nun halten Sie sich selbst zum Narren. Ihr Fall ist doch an die Öffentlichkeit gekommen und nur weil der Papst die Füße still hält und die Sache unter den Teppich kehrt, konnten Sie Ihre Tätigkeiten unbehelligt fortführen. Ich habe selbst mit einem der Jungen gesprochen, die Sie missbraucht haben und er hat mir alles gesagt. Aber ich muss schon zugeben: Sie haben wirklich ganze Arbeit geleistet, um Ihre Verbrechen zu vertuschen. Dazu gehört ein besonderes Maß an Kaltblütigkeit. Findest du nicht auch, mein Freund?“ Hier sah der Serienmörder Chris an, der sich auf der anderen Seite des Altars befand und bislang geschwiegen und die Sache nur beobachtet hatte. Der Pastor bewegte seinen Kopf mit Mühe zur Seite, um nachzusehen, wer da noch war. Er sah aber niemanden, sie waren beide allein. Dieser Mann da, der ihn gleich töten würde, redete mit der Luft… Als er bemerkte, dass der Pastor verwirrt war, erklärte er „Machen Sie sich keine Mühe, etwas zu sehen, was nicht da ist. Ich rede nur gerade mit meinem Freund Chris, der letztes Jahr verstarb. Ich rätsele bis heute noch, ob ich tatsächlich einen Toten sehen kann oder langsam wahnsinnig werde. Es heißt ja, dass Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen. Und dann ist da ja noch die Frage, ob Wahnsinn nicht die höchste Form von Intelligenz ist. Wie viel Herrliches und Gewaltiges kann ein krankes Hirn infolge einer besonderen Befähigung erzeugen, die über gewöhnliche und alltägliche Vernunft erhaben ist? Ohne Chris hätte ich nie erfahren, dass ich hochbegabt bin und damit zu jenen Leuten gehöre, die auf dem schmalen Grad zwischen Wahnsinn und Genie wandeln. Aber ich hab mir nie viel aus meiner Hochbegabung gemacht, ich wollte kein Wissenschaftler und Nobelpreisträger werden. Solche Leute gibt es zu viel und jedes Bestreben, sich zum Übermenschlichen emporzuschwingen, führt unmittelbar zum Absturz ins Untermenschliche. Hab ich nicht Recht, Chris? Ja richtig, ich zitiere schon wieder Poe. Aber der wissentliche Gebrauch eines Zitats am falschen Ort kann sehr klug und von stärkster Bedeutung sein, wenn der Zitierende sein Geschäft versteht. Und du weißt doch, wie wir beide das Schauspiel und das Zitieren von bedeutenden Werken lieben. Okay, ich tue es auch, weil ich versuchen will, mich ein wenig von der Sauerei abzulenken, die ich gleich noch anrichten werde. Also Pater, denken Sie nicht allzu schlecht von mir. Ich versuche nur etwas Niveau und Klasse mit einzubringen. Chris, ich würde dir raten, lieber nicht hinzusehen. Das könnte kein sehr schöner Anblick für dich werden.“

„Schon in Ordnung“, antwortete Chris, dessen Worte allein nur Harvey hören konnte. Er nahm nun eine altmodische Rasierklinge in die Hand und begann langsam die spärlich gewordene Kopfbehaarung abzuschneiden. Dabei zeigte sich, dass er sehr geschickt mit dem Messer umgehen konnte und eine sehr ruhige Hand hatte. „Wenn man die Haut vom Gesicht abschneiden will, muss man erst einmal alles entfernen, was stören könnte. Hat mir mein Lehrmeister beigebracht. Deshalb sollte man Bart und Haare vorher abrasieren. Das Schöne ist ja, dass wir keine Angst zu haben brauchen, dass uns irgendjemand stören könnte. Eine abgeschlossene Kirche ist in Deutschland ja sowieso nichts Ungewöhnliches.“ Nach und nach wurde der Stoppelbart abrasiert, ebenso wie die die Kopfbehaarung. Harvey war hochkonzentriert und redete munter weiter. „Meine ersten zwanzig Opfer hab ich zwar vollständig gehäutet, aber ehrlich gesagt ist mir der Aufwand viel zu groß. Rücken, Bauch, Brust, Arme und Beine sind ja recht einfach, weil es wenig Unebenheiten gibt, aber Hände und Füße und vor allem der Kopf sind da schon viel schwieriger und vor allem extrem zeitaufwendig. Deshalb begnüge ich mich von jetzt an nur mit dem Gesicht und dem Torso. Es stört Sie doch nicht, wenn ich einfach so weiterquatsche, Pater? Wenn ich offen gestehen soll, ist mir diese Arbeit eigentlich absolut widerwärtig. Der Gestank von Blut, die verklebten Hände und der Anblick von rohem Fleisch, Muskeln, Sehnen, Knochen und Gedärmen sind mir höchst zuwider und bescheren mir jedes Mal einen Brechreiz. Der erste Mord war wirklich ein Alptraum für mich gewesen, aber ich tue es trotzdem. Ich habe so vieles auf mich genommen, da wäre es eine Feigheit, jetzt einfach aufzuhören.“ Harvey hatte schließlich die komplette Gesichts- und Kopfbehaarung entfernt und begann nun unterhalb des Kinns den ersten Schnitt anzusetzen. Als er den rasenden Schmerz spürte, stöhnte der Pastor gequält auf und versuchte zu schreien, doch nun war auch der Rest seines Gesichts gelähmt. Doch anstatt weiterzuschneiden, hielt Harvey inne, denn ihm war etwas eingefallen. „Darf ich Sie etwas fragen, Pater? Mir ist nämlich etwas eingefallen, was mich seit einiger Zeit beschäftigt: Wo sitzt Ihrer Meinung nach die menschliche Seele? Im Kopf oder im Herzen?“ Verständnislos sah ihn der Pfarrer an und verstand die Frage nicht. Da keine Antwort kam, seufzte Harvey und sagte „Wir können es auch so regeln, dass ich Ihnen ein Auge herausschneide, um Sie etwas gesprächiger zu machen. Also, wo sitzt Ihrer Meinung nach die Seele? Im Kopf oder im Herzen? Wenn Sie „Kopf“ sagen wollen, geben Sie einfach ein „o“ zur Antwort und für Herz ein „a“.“ Es dauerte einen Moment, bevor der Pfarrer mit einigem Zögern ein „o“ zur Antwort gab, woraufhin Harvey erleichtert aufatmete und zufrieden lächelte. „Ich danke Ihnen, Pater. Vielleicht ist es ja doch nicht der Verstand, sondern allein das Hirn, welches nicht in Ordnung ist. Hast du gehört Chris?“

„Ja hab ich. Aber solltest du nicht langsam mal etwas mehr Tempo an den Tag legen? Wer weiß, wie lange du hier noch so unbehelligt herumwerkeln kannst, ohne dass jemand reinkommt oder Verdacht schöpft. Ich mach mir wirklich Sorgen, dass sie dich wieder einsperren könnten, wenn sie dich hier finden!“

„Hast auch wieder Recht. Also dann Pater, sind Sie bereit? Als Dankeschön für die Antwort werde ich jetzt gleich sofort loslegen und Sie nicht noch länger als nötig auf die lange Folter spannen.“ Wieder setzte Harvey das Skalpell an und führte den Einschnitt weiter fort. Er ging sehr behutsam vor und war hochkonzentriert. Als er fertig mit dem Hals war, drehte er den Pfarrer auf den Rücken und führte einen weiteren Schnitt den Hinterkopf hinunter bis zum Nacken. „Damit es einfacher geht, werde ich vom Hinterkopf anfangen und mich so bis zum Gesicht voranarbeiten. Dumm nur, dass die Ohren im Weg sind, aber das haben wir gleich.“ Harvey führte die Klinge den Nacken entlang, machte einen „Bogen“ um die Ohren herum und setzte direkt wieder unterhalb des Unterkiefers an und verband so die Schnitte miteinander. Als das vollbracht war, sprach er „So, jetzt beißen Sie die Zähne zusammen, wenn Sie können, Pater. Das wird nämlich richtig wehtun.“ Und kaum, dass er das gesagt hatte, begann Harvey damit, ganz vorsichtig die Haut vom Fleisch zu trennen. Pastor Theodor hätte am liebsten vor Schmerz geschrieen, den Kopf hin- und hergeworfen und sich dagegen gewehrt, doch er war zur Unbeweglichkeit verdammt und konnte nichts gegen diesen unbeschreiblichen Schmerz tun. Langsam schälte sich die Haut vom Hinterkopf ab, doch nach der Hälfte der Arbeit musste Harvey innehalten, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er war blass im Gesicht und er keuchte leise, trotzdem setzte er wenig später seine Arbeit fort. Der Paralysierte selbst litt Höllenqualen. Die frei gelegten Stellen brannten, als hätte man Säure darauf geschüttet und der pulsierende Schmerz war fast nicht zu ertragen. Warum nur kam niemand und rettete ihn vor diesem Verrückten? Wenn nicht bald ein Wunder geschah, würde er sterben… Als Harvey das jammervolle Stöhnen hörte und sah, dass sich auf dem großen, kreisrunden Altar Tränen sammelten, seufzte er entnervt. „Nun stellen Sie sich nicht so an. Sie haben doch auch nicht darüber nachgedacht, was die kleinen Jungen durchleiden mussten, an denen Sie sich vergangen haben. Wer anderen schlimme Dinge antut, der sollte eigentlich bereit sein, selbst Schlimmes durchleiden zu müssen. Also reißen Sie sich endlich zusammen und kommen Sie mir ja nicht auf den Gedanken, den Herrn mit Ihren geheuchelten Gebeten auf den Geist zu gehen. Ihnen hilft jetzt auch kein Beten mehr. Wenden Sie sich doch besser an den Teufel, er würde an Ihnen und Ihrem gottlosen Verhalten mit Sicherheit Gefallen finden.“ Das Brennen war entsetzlich und Tränen tropften auf den Altar und vermischten sich mit Blut. Der Geistliche versuchte mit aller Kraft, sich zur Wehr zu setzen und ihn erfüllte Panik, weil er gar nichts tun konnte. Heilige Mutter Gottes, bitte lass es bloß ein Traum sein. Lass es schnell vorbei gehen und lasse einen Blitz auf diesen Verbrecher niederfahren… Doch egal, wie viel er auch betete, Harvey führte seine Arbeit unerbittlich fort. Schließlich drehte dieser den paralysierten Pfarrer auf den Rücken, sodass der von Haut befreite Hinterkopf auf dem kalten Marmor bloß lag. Der brennende Schmerz wurde zu einer schier unerträglichen Qual und selbst ein Stöhnen brachte er nicht mehr zustande. Seine Stimmbänder schienen vollständig gelähmt zu sein und nur die Atmung funktionierte noch halbwegs. Bitte lass es endlich aufhören. Heiliger Vater, ich bereue all meine Sünden, aber bitte erlöse mich endlich von dieser Qual, dachte der Pfarrer, während Harvey nun vorsichtig die Haut von oberhalb der Stirn abzuschälen begann. Als ihm aber der Schweiß in die Augen lief, musste er erneut seine Arbeit niederlegen und zog die blutverschmierten Handschuhe aus. „Verdammt noch mal, so kann man einfach nicht vernünftig arbeiten.“ Mit einem Handtuch wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht und trank einen Schluck Wasser aus einer Flasche. „Wissen Sie Pater, ich hab mich immer gefragt, was die Katholiken eigentlich für ein Problem haben und warum ausgerechnet bei denen immer wieder Missbrauchsfälle gemeldet werden. Komischerweise funktioniert es bei den Protestanten ganz gut und bei uns in den USA haben wir auch nur äußerst selten solche Probleme. Aber immer sind es die Katholiken. Wieso überhaupt kleine Jungen? Ich glaube, diese völlig überholten und unsinnigen Traditionen sind der eigentliche Grund dafür. Ich verstehe den Sinn des Zölibats einfach nicht. Er verbietet die Ehe und den Geschlechtsverkehr, aber Sie müssten doch selbst wissen, dass die meisten von uns nicht ohne können. Was ist denn falsch daran, eine Frau oder einen Mann zu lieben und überhaupt zu heiraten? Die Protestanten sind glücklich damit und ich finde es sowieso unverschämt, dass ihr die Frauen an der kurzen Leine haltet und sie nicht einmal das Priesteramt bekleiden können. Lieber die Homosexuellen diskriminieren, den Frauen die Rechte absprechen und sich an kleinen Jungs vergreifen, richtig? Aber Sie werden schon sehen, was Sie davon haben. Wenn die Menschen erst einmal erkennen, was alles schief läuft, werden sie dagegen protestieren und Veränderungen erzwingen. Und wenn die Kirche immer noch nicht mitmacht, wird das irgendwann zu ihrem Untergang führen. Die massenhaften Kirchenaustritte sind erst der Anfang…“ Als Harvey seine kurze Pause beendet hatte, zog er sich ein neues Paar Latexhandschuhe an und nahm wieder seine Arbeit auf. Dieses Mal ging es ihm schneller von der Hand und binnen weniger Minuten hatte er die komplette Haut entfernt, sodass das Gesicht und auch der gesamte Kopf einen fürchterlichen Anblick gaben. Der Pfarrer, der vor lauter Schmerzen und Qualen das Bewusstsein verloren hatte, wurde mit einer Adrenalinspritze zurückgeholt. „Aber Pater, Sie verpassen ja noch den ganzen Spaß. Wenn schon ich die ganze Schweinerei alleine machen muss, ist es ja nur fair, wenn Sie wenigstens dabei sind.“ Harveys Blick wanderte zu Chris, der unruhig die Kirche durchwanderte und nervös wirkte. Er sorgte sich offenbar, dass jemand hereinkommen und seinen Freund bei der Tat erwischen könnte. „Ist alles in Ordnung, Chris?“

„Ich bin bloß besorgt, dass dich jemand sehen könnte. Zieh es also bitte nicht allzu sehr in die Länge, okay?“

„Ja, ja… ich mach das schon, keine Sorge.“ Und wieder widmete er sich seinem Opfer zu. „Ich hoffe, Sie halten mich nicht für verrückt, weil ich mit einem Toten rede. Aber er ist der Einzige, mit dem ich mich halbwegs vernünftig unterhalten kann. Als er noch lebte, haben wir immer davon geträumt, auf den größten Bühnen der Welt aufzutreten. Wir kannten alle Shakespeare Werke auswendig und spielten beide in denselben Stücken. Witzigerweise spielte er fast immer den tragischen Helden und ich den bösen Widersacher. War er der Hamlet, hatte ich die Rolle von Laertes oder die des Königs. Ich hingegen spielte den MacBeth und er den MacDuff. Als er den Romeo spielte, war ich Tybalt. Die einzige Ausnahme war Othello. Da spielte ich den bösen Jago und er den Cassio. Othello war ja ein Schwarzer, deshalb war es Quatsch, einen von uns für die Rolle zu besetzen. Und bei einer Neuinterpretation von "Romeo und Julia" spielte ich ausnahmsweise den Romeo und er den Julian. Die Neuinterpretation stammte übrigens von meiner Feder und es war unser allererster großer Durchbruch als Duo gewesen. Sogar in Deutschland sind wir gemeinsam aufgetreten, als Goethes „Faust“ aufgeführt wurde. Drei Mal dürfen Sie raten, wer wen gespielt hat: Chris war Faustus und ich Mephistopheles. Sie können mir glauben, es war einfach atemberaubend, diese Rollen zu spielen und in Versen zu sprechen. Auch wenn ich die Kirchenmoral von Deutschland katastrophal finde, so bewundere ich die Deutschen für ihre großartigen Dichter. Das war auch der Grund, warum Chris und ich Deutsch gelernt haben. Und im Fechten waren wir so gut, dass man es uns tatsächlich als echten Kampf abgekauft hat. Selbst die Schauspieler hinter der Bühne haben einen Schreck gekriegt, als er mir als MacDuff den tödlichen Stoß versetzt hat und ich zu schreien anfing.“ Harvey begann zu lachen, aber es hatte etwas Schmerzvolles und seine Augen zeugten von unendlich tiefem Kummer. „Aber das ist jetzt für immer vorbei… jetzt gibt es kein Duo mehr und genauso wie Hamlet seinen toten Vater sieht, bewegt sich Chris und spricht, als wäre er noch am leben. Können Sie sich vorstellen, wie beschissen das für mich ist? Ich hab echt Angst, dass ich verrückt werde! Woher soll ich wissen, dass Chris nicht vielleicht noch da ist und nur ich ihn sehen kann, weil man mir sein Hirn implantierte, nachdem er gestorben ist, oder ob es die ersten Symptome einer Schizophrenie sind?“ Harvey, dessen Nerven offensichtlich ziemlich angeschlagen waren, sank zu Boden und hielt das Skalpell umklammert. Chris lief zu ihm und kniete sich neben ihn hin und legte tröstend einen Arm um seine Schulter. „Harvey, hör auf damit, dir darüber den Kopf zu zerbrechen. Du machst dich noch selbst kaputt.“

„Er war der Einzige, der je verstanden hat, was in meinem Dickkopf vor sich ging. Er wusste, wie ich unter meiner Maske aussehe und er hat die gleiche Leidenschaft wie ich geteilt. Mit ihm zusammen war ich zum ersten Mal wirklich glücklich. Aber dann haben sie uns alles genommen. Unsere Träume, Chris’ Leben und mir höchstwahrscheinlich den Verstand. Und anstatt, dass wir Gerechtigkeit erfahren, sperren sie mich ins Gefängnis. Genau da ist mir klar geworden, dass das so nicht weitergehen kann. Ich musste etwas tun und zwar diesen Abschaum an den Pranger stellen, zu dem die Leute aufsehen und der in Wahrheit nicht besser ist, als diese ganzen Mörder, Vergewaltiger und Ausbeuter. Von da an wusste ich, dass ich den Rest meiner Tage damit verbringen würde, Leute wie Sie zu jagen und der Welt ihr wahres Gesicht zu zeigen!“ Harvey hatte sich wieder aufgerichtet und obwohl er immer noch todunglücklich aussah, war die Wut und Verbitterung in seinen Augen deutlich zu sehen. Nun legte er das Skalpell weg und zerrte den immer noch paralysierten Pfarrer vom Altar runter und schleifte ihn zum großen Jesuskreuz. „Wenn die Polizei mich jagt, wird sie auch gleichzeitig nach Leuten suchen, die meine nächsten Opfer werden könnten. Sie werden die ach so sauberen Kirchenherren und Politiker unter die Lupe nehmen, genauso wie ihre eigenen Reihen und dann den ganzen Schmutz zu Tage fördern. Und wenn die Medien davon Wind kriegen (was natürlich ganz außer Frage steht), wird die ganze Welt davon erfahren. Ich bin es, der den Stein ins Rollen bringen wird, um damit endlich etwas in dieser Welt zu ändern! Und Sie, Pater Theodor, werden ein Teil davon sein.“ Harvey nahm das große Jesuskreuz herunter und begann nun damit den Jesus loszumachen und stattdessen den Pfarrer daran festzubinden. Mit etwas Mühe und Kraftanstrengung richtete er das Kreuz wieder auf und entblößte die Brust des Mittfünfzigers. Nun begann er einen großflächigen Teil der Brust und des Bauches von Haut zu befreien, was dieses Mal deutlich besser und schneller voranging als am Gesicht. Nachdem die Haut entfernt war, schlitzte er seinem Opfer den Bauch auf und beobachtete mit angewiderter Miene, wie Blut und Gedärm herausquollen. Sein Blick verhärtete sich und etwas Düsteres lag in seinen Augen. In diesem Moment sah er wirklich wie ein eiskalter Mörder aus. „Sic Semper Tyrannis“, das war das Letzte, was er zu Pater Theodor sagte, bevor er ihm das Messer in die Brust stieß und somit tötete. Blut spritze ihm ins Gesicht und auf die Kleidung. Kaum, dass er das Messer weggelegt hatte, begann er nun emsig damit, den Tatort herzurichten. Chris schaute ihm über die Schulter und fragte „Was machst du jetzt?“

„Den Leuten einen möglichst bizarren Anblick liefern und meine Ansichten und Ziele zum Ausdruck bringen, so wie Jeff es mir beigebracht hat. Ich hab dem Pater gesagt, dass er eigentlich der menschliche Antichrist ist, deshalb werde ich auch dem Rest der Welt zeigen, dass er einer ist.“ Mit Blut begann Harvey nun damit, einen Kreis zu und darin ein umgekehrtes Hexagramm zu malen. Schließlich schrieb er noch in großen Buchstaben in perfektem Deutsch „Gott lebt nicht im Hause eines gottlosen Pfarrers.“ Als Nächstes nahm er die Gedärme, die aus dem Bauch des toten Pfarrers heraushingen und wickelte sie ihm um den Hals und bastelte eine Schlinge daraus. Während er diese blutige Arbeit, blieb sein Gesicht unverändert und es war unmöglich zu erkennen, was er in diesem Moment dachte oder fühlte. Als er schließlich fertig war, begann er seine Sachen einzupacken, zog den blutverschmierten Pullover aus und stopfte ihn zusammen mit den Bandagen und der Perücke in einen Rucksack. Die Messer säuberte er mit einem Desinfektionstüchlein und rollte das Set zusammen, bevor er es ebenfalls verstaute. Der Gestank von Blut hing wie ein dichter Dunstschleier in der Luft und Harvey hätte sich beinahe übergeben. Noch immer trug er seine Handschuhe und nachdem er sich das Blut abgewischt hatte, ging er zu der Figur der Jungfrau Maria hin und zündete ein paar Kerzen an. „Wenn Sie wüsste, was in diesem Gotteshaus geschehen ist, würde sie mit Sicherheit Tränen vergießen. Sie hat ja auch einen Sohn.“Chris nickte traurig und ergriff zaghaft den Arm seines Freundes. „Da hast du wohl Recht.“

„Na komm, wir sollten besser gehen. Ich bin hier fertig und wir sollten dafür sorgen, dass die Polizei zuerst den Tatort findet, bevor irgendwelche alten Leute noch einen Herzinfarkt kriegen, wenn sie hier reinkommen. Nicht auszudenken, wenn Kinder hier reinkommen und das hier sehen.“ Harvey verschwand damit durch die Sakristei, welche direkt in den Pfarrhof führte. Im Pfarrhaus rief er die Polizei an und wollte dann gehen, da sah er einen kleinen Jungen, der zur Kirche ging und eine Tasche an sich gepresst hielt. Er kannte den Jungen, er hatte mit ihm über die Missbrauchfälle des Pfarrers gesprochen und durch ihn genug Informationen sammeln können. Was zum Teufel machte der denn hier? „Hey, Niklas!“ rief er und lief zu ihm hin. Der Junge schrak zusammen, war aber erleichtert, als er sah, dass es Harvey war. „Hallo Dr. Dahmer.“

„Sag mal Niklas, was willst du denn hier? Hat der Pfarrer gesagt, dass du hierher kommen sollst?“ Der Junge nickte und schrumpfte merklich zusammen. Der Kleine war sicher von dem Kerl gezwungen worden, herzukommen, dachte Harvey und streichelte dem 8-jährigen den Kopf. „Geh wieder nach Hause, Niklas. Du brauchst nicht hinzugehen. Hier, das ist für dich.“ Harvey zog einen kleinen Schlüsselanhänger aus seiner Hosentasche, der einen kleinen Engel darstellte und gab ihm den kleinen Jungen. „Pfarrer Theodor wird dir nie wieder wehtun, versprochen.“

„Danke Dr. Dahmer…“ Damit nahm der Kleine den Schlüsselanhänger mit dem Schutzengel an und ging nach Hause. Harvey sah ihm traurig hinterher. „Der arme Junge. Ich werde nie begreifen, wie Menschen nur so etwas Grausames tun können.“

„Du hast doch deinen Doktortitel in Psychologie. Da müsstest du doch die Antwort kennen.“ Harvey sah Chris mit einem nur schwer zu deutenden Blick an und erklärte „Vom psychologischen Aspekt schon. Ich weiß, dass einige Menschen diesen Drang dazu haben und im Grunde nichts dafür können. Aber menschlich gesehen kann ich es nicht begreifen, warum sie sich nicht Hilfe suchen, sondern lieber stattdessen das Leben von Kindern zerstören. Und wenn es auch noch Menschen sind, zu denen sie eigentlich aufblicken sollten, wem sollen sie dann noch vertrauen? Solche Geschichten lassen mich überhaupt an der Menschheit zweifeln.“

„Aber versuch es mal von der Seite zu sehen: Wenn du es tatsächlich schaffen solltest, die Menschen darauf aufmerksam zu machen was hier eigentlich schief läuft, wird sich vielleicht eines Tages etwas ändern und dann kommen diese pädophilen Pfarrer nicht mehr so einfach davon. Dann müssen auch keine Kinder mehr leiden.“

„Ich hoffe es, Chris. Dann muss ich wenigstens keine Menschen mehr töten. Komm, lass uns gehen, bevor die Polizei aufkreuzt.“ Harvey ging ein Stückchen die Straße entlang, bis er seinen Mietwagen erreichte. Bevor er losfuhr, betrachtete er noch einen Moment die Kirche St. Michael und schwieg. Schließlich aber legte er den Rückwärtsgang ein, fuhr aus der Parklücke und verließ den Tatort. Chris, der auf dem Beifahrersitz saß, fragte nach einer Weile „Und wo geht’s jetzt hin?“

„Na wohin denn wohl? Zu unserer nächsten Adresse. Ich hab hier immerhin noch 15 weitere Pfarrer auf meiner Liste, bevor es wieder zurück in die USA geht.“

Harvey the Skinner: Der Informant

Die Luft war erfüllt von Zigarettenrauch und die Beleuchtung war mehr als miserabel. Keines der beiden Dinge störte Harvey großartig, er saß am Tresen und trank mit einem düsteren Blick einen Drink und dachte nach. Im Hintergrund liefen gerade die aktuellen Top 100 der Charts und einige finster dreinblickende Typen spielten Billard, oder saßen zusammen und tranken Bier oder hochprozentige Drinks. Harvey hatte es sich in einer Ecke bequem gemacht und sich ein Headset aufgesetzt. Nicht etwa um zu telefonieren, sondern um sich mit seinem verstorbenen Freund Chris zu unterhalten, den nur er sehen und hören konnte, ohne dass ihn nicht gleich jeder für verrückt hielt. Chris saß neben ihm und sah ebenso nachdenklich aus. „Tja“, sagte er nach einer Weile des Schweigens. „Gar nicht so einfach das alles, nicht wahr? Zwar hast du gelernt, wie man Leute abschlachtet, aber leider fehlt dir etwas ganz Wichtiges.“ Harvey ließ ein leises Grummeln vernehmen und trank einen Schluck Wodka. Er hatte jetzt dringend etwas Hochprozentiges nötig. „Ich weiß selbst, dass mir zur Durchführung meines Plans die Opfer fehlen. Leider ist das Ganze nicht so einfach wie man es sich vorstellt und ich wusste, worauf ich mich einlasse. Zwar könnte ich mir so viele Namen aus dem Ärmel schütteln, aber das Problem ist, dass ich nicht einfach so loslegen kann. Was, wenn ich Unschuldige erwische, die zu Unrecht angeklagt und freigesprochen wurden? Wenn mir das nur ein einziges Mal passiert, dann war alles umsonst. Außerdem könnte ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.“

„Und was ist mit den Polizisten, die für unser Dilemma verantwortlich sind und die Juristen, die dich ins Gefängnis gebracht haben?“ Hier stürzte Harvey sein Glas hinunter und rieb sich die Augen. „Ich habe schon Jeff gesagt, dass ich keine Rache will. Rache macht das Geschehene nicht ungeschehen und nimmt auch nicht den Schmerz. Mit Rache macht man sich doch nur etwas vor und ich will mich nicht von Emotionen leiten lassen, sonst verliere ich irgendwann mein Ziel aus den Augen. Außerdem bin ich erst seit gestern wieder draußen und da wollte ich nicht gleich wieder in den Knast, weil ich eine Gruppe Polizisten umbringe. Trotzdem kann ich auch nicht ewig weglaufen, immerhin habe ich bereits einen Menschen umgebracht.“ Sie schwiegen beide bedrückt und Harvey ließ gedankenverloren seinen Blick durch die Bar schweifen. Nicht weit von den Billardspielenden Gestalten saß ein junger Mann von knapp 16 oder 17 Jahren, der am Tresen saß und von dort aus auf die Dartscheibe zielte. Jedes mal Bulls Eye… Wenigstens einer, der Glück hatte. Schließlich unterbrach Chris diese bedrückende Stille und schlug vor „Wie wär’s, wenn wir einfach mal irgendwo hingehen und uns von diesen Dingen ablenken? Manchmal kommen die besten Ideen ganz zufällig und dann wird dir auch sicher etwas Gutes einfallen.“

„Vielleicht hast du Recht. Aber ich glaub, das wird wohl heute nichts mehr. Vielleicht ist es besser, wir gehen wieder nach Hause, bevor ich noch zu viel trinke.“ Gerade wollte Harvey aufstehen, da ließ sich plötzlich jemand neben ihn in die Bank fallen und legte einfach die Füße auf den Tisch. Es war der Typ, der soeben noch Dart gespielt hatte. „Meine Güte, ihr zieht ja Gesichter, dass einem direkt die Laune am Saufen vergehen kann. Ist denn jemand gestorben oder was?“

„Entschuldige mal“, rief Harvey gereizt und stand nun auf. „Was zum Teufel ist dein Problem, Mann? Suchst du etwa Streit?“

„Hey Harvey, jetzt komm mal runter…“, versuchte Chris ihn zu beruhigen und hielt ihn am Arm fest. „Johnny ist ein alter Kumpel von mir.“ Als Harvey das hörte, beruhigte er sich wieder etwas und setzte sich hin. Dieser „Johnny“ kannte Chris? Dann hatte er sich vielleicht gezielt zu ihm gesetzt, weil er mit ihm sprechen wollte? Harvey blieb misstrauisch und fragte nach. „Kennen wir uns etwa?“

„Nicht direkt, aber dafür deinen Freund Chris. Wir haben uns vor einer gefühlten Ewigkeit kennen gelernt. Wie geht’s dem alten Poeten denn so?“ Harvey senkte den Kopf, als er diese Frage hörte und wieder fühlte er diesen Schmerz in seiner Brust. Offenbar wusste Chris’ alter Bekannter nichts davon und so entschied er sich, seinen Ärger runterzuschlucken und ihm die traurige Botschaft schonend beizubringen. „Chris ist… vor einigen Monaten verstorben…“

„Ach echt?“ fragte Johnny verwundert und schien nicht den leisesten Anflug von Trauer oder Anteilnahme zu zeigen. Stattdessen zeigte er sich etwas irritiert und bemerkte beiläufig, während er seinen Martini trank. „Dabei sieht er mir doch recht munter aus.“ Nun war Harvey endgültig verwirrt. Wie zum Teufel konnte Johnny denn Chris sehen, wenn er doch eigentlich gar nicht da war? Harvey war sich sicher gewesen, dass nur er alleine Chris sehen und hören konnte. Seitdem er mit Chris’ transplantierten Gehirn in seinem Kopf aufgewacht war und ihn sehen konnte, hatte er sich die Frage gestellt, ob er verrückt wurde, ob bei der Operation ein Fehler unterlaufen war, oder ob er nicht sogar einen Geist sehen konnte. Und jetzt kam so ein dahergelaufener Kerl daher, der Chris von früher kannte und ihn genauso wie Harvey sehen konnte. Harvey war so durcheinander, dass er noch nicht einmal fragen konnte, wie das überhaupt möglich war. Erst als ein kahl geschorener Mexikaner mit unzähligen Tätowierungen zu ihnen kam, wurde Harvey aus seiner anfänglichen Schockstarre gerissen. „Ey was glotzt du so blöde?“ Johnny trank ungerührt seinen Martini weiter und fragte kalt und gelassen „Hast du ein Problem, Taccogesicht?“ Noch nie hatte Harvey gesehen, wie ein Mann so schnell rot vor Wut im Gesicht wurde. Wütend packte er Johnny am Kragen und zerrte ihn vom Sitz hoch. Er nahm es gelassen hin. „Pass auf was du sagst du Hurensohn, oder ich werde dir ein Loch in den Schädel knallen.“ Hier aber warf Johnny ihm einen äußerst giftigen Blick zu und seine Augen leuchteten in einem dämonischen Rot auf. In ihnen schien ein infernalisches Höllenfeuer zu lodern. Nun war es Johnny, der den Mexikaner am Arm packte und ihn mit solcher Kraft zudrückte, dass er unter Schmerzensschreien brach. „Pass du besser auf. Wenn du willst, kannst du gerne Ärger haben.“ Und damit schlug Johnny ihm direkt ins Gesicht und der Mexikaner flog quer durch die Bar, wobei er den Billardtisch mit sich riss. Harvey begriff gar nicht, was da eigentlich passiert war und hatte auch keine Zeit dafür, da rief Chris plötzlich „Pass auf!“ und schon flog eine leere Bierflasche auf Harvey zu und nur eine schnelle Reaktion rettete ihn. Johnny hingegen grinste breit und ließ seine Fingerknöchel knacken. „Na, wen von euch Knalltüten darf ich noch die Fresse polieren?“

„Was zum Teufel hat der Kerl für ein Problem, Chris?“

„Er ist etwas speziell“, versuchte Chris zu erklären, aber man sah ihm an, dass ihm Johnnys rüpelhaftes Verhalten mehr als unangenehm war. Binnen weniger Sekunden herrschte eine heftige Prügelei, in die auch schließlich Harvey mit reingezogen wurde. Ein bärtiger Rocker mit Lederjacke bekam ihn nämlich am Kragen zu fassen und wollte ihm einen Faustschlag ins Gesicht verpassen, da gelang es Harvey mit Müh und Not, sich von ihm zu befreien und ihn mit einem Barhocker niederzuschlagen. „Verdammt noch mal du Vollidiot“, rief er Johnny zu, der offenbar sichtlich Spaß zu haben schien. „Musste das unbedingt sein?“

„Hey, ich hab nicht angefangen, sondern die Taccofresse da hinten.“ Trotzdem scheint der Kerl seinen Spaß daran zu haben, andere zu provozieren, dachte Harvey und entschied sich lieber für den Rückzug. Er legte das Geld für seinen Drink auf den Tresen und ging schon in Richtung Ausgang, da schrie jemand hinter ihm auf und als er sich umdrehte, kam ein weiterer Rocker und hatte ein Messer in der Hand. Er kam so plötzlich, dass Harvey gar nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte, doch da tauchte Johnny wie aus dem Nichts auf und packte die Klinge. Sie schnitt eine tiefe Wunde in seine Hand, aber er achtete gar nicht darauf, sondern trat den Angreifer in den Bauch und riss ihn von den Füßen. „Hey, wer von euch Pappnasen hat gesagt, dass hier mit Waffen gekämpft wird?!“

„Na wir, du Pisser.“ In dem Moment richtete der Mexikaner eine Pistole auf die beiden und drückte ab. Die Kugel schoss direkt auf Harvey zu, doch Johnny stellte sich dazwischen und fing sie mit seinem Arm ab. Sie bohrte sich tief bis in den Knochen und blieb stecken. Nicht einmal eine Miene verzog er, obwohl es doch unglaublich schmerzen musste. Wer zum Teufel ist dieser Typ, fragte sich Harvey und sah, wie Blut aus Johnnys Wunde tropfte. „Nun gut“, sagte er schließlich und funkelte den Mexikaner böse an. „Wenn wir also schon Waffen mit ins Spiel bringen, das kannst du gerne haben!“ Johnny griff in seine Tasche, doch in dem Moment traf ihn eine Kugel direkt in die Stirn und Blut spritzte auf. Harvey sah entsetzt, wie sein Retter zu Boden fiel und sich eine Blutlache ausbreitete. „Scheiße“, rief er und wich zurück. Diese Typen hatten Johnny umgelegt und er war mit Sicherheit der Nächste. Chris ergriff Harveys Arm und zerrte ihn in Richtung Tür. „Los hau ab Harvey, bevor sie dich auch umbringen.“ Gerade wollte Harvey gehen, da fiel der nächste Schuss und streifte ihn nur knapp an der Schulter. „Hey, wo willst du denn bitteschön hin?“

„Ich will keinen Ärger machen, sondern einfach nur gehen.“

„Ist mir so was von egal. Wer mir den Arm bricht, ist ein toter Mann und dich werde ich ebenso kalt machen wie deinen Freund.“ Das war’s, dachte Harvey und sah, wie der Lauf auf ihn gerichtet wurde. Er wird mich einfach abknallen und ich kann nichts dagegen tun. Was für ein Alptraum. Erst gestern aus dem Knast gekommen und jetzt gleich eine durchlöcherte Leiche in einer Bar. Harvey, der wusste, dass eine Flucht in dieser Situation unmöglich war und noch nicht einmal eine Waffe bei sich trug, musste wohl oder übel dem Tod ins Auge sehen. Er schloss die Augen und bereitete sich auf die Kugel vor, da hörte er plötzlich laute Schreie und ein dumpfer Knall, als würde jemand zusammenbrechen. Als er die Augen öffnete, sah er tatsächlich an die fünf Männer am Boden liegen. In ihren Köpfen steckten Wurfmesser. Doch das eigentlich Unfassbare war, dass Johnny wieder aufstand. Dabei floss immer noch Blut aus seiner Wunde und man sah auch deutlich, dass die Kugel ihn erwischt hatte. Aber wie zum Teufel konnte der Kerl überhaupt noch am Leben sein? Der Schuss hätte ihn entweder töten oder ins Koma bringen müssen. Auch der Mexikaner war entsetzt und schoss noch mal und traf dieses Mal Johnnys Brust. Der Verletzte taumelte zurück und spuckte Blut. Doch anstatt endgültig umzufallen, rief er wütend „Scheiße du Arschloch, das tat weh!“

„Wer oder was bist du eigentlich?“ Johnny taumelte ein wenig und presste eine Hand auf seine Stirn. Blut tropfte auf den Boden und war der beste Beweis dafür, dass das keine Täuschung war. Er war wirklich verletzt, daran bestand kein Zweifel. Aber warum war er nicht tot? Harvey verstand das nicht. „Wer ich bin, fragst du? Dann schreib dir mal Folgendes auf: Ich bin der Typ, der deinen mexikanischen Arsch höchstpersönlich in die Hölle verfrachten wird.“ Etwas blitzte in Johnnys Hand auf und es folgte eine schnelle Bewegung, die Harvey kaum mit den Augen verfolgen konnte. Kurz darauf war ein Dartpfeil zu sehen, der sich direkt in die Stirn des Mexikaners bohrte und ihn tötete. Johnny ließ den Blick durch die Runde wandern, doch die anderen hatten eindeutig genug. Das war ihnen eindeutig nicht geheuer und so war die Schlägerei beendet. Johnny holte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch hervor und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. „Scheiße… die wissen auch echt nicht mehr, wie man sich richtig nach alter Schule prügelt. Aber nein, heutzutage wird sofort nach der Waffe gegriffen. Das ist mal wieder typisch Amerika. Ich hasse diesen Drecksladen… Und jetzt komm Kleiner, ich hab die Schnauze voll und brauch jetzt einen Drink.“ Damit schleifte Johnny den völlig verwirrten Harvey hinter sich her und verließ die Bar. „Hey Moment mal“, rief Harvey und wollte sich losreißen, doch Johnny hielt ihn fest und so blieb ihm nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. „Wo willst du mit mir hin und was hat das alles zu bedeuten?“

„Schnauze halten und mitkommen.“

„Tu lieber was er sagt“, meldete sich schließlich Chris, der den beiden folgte. „Keine Sorge Harvey. Du kannst Johnny vertrauen. Er ist zwar ein Ekel, aber ist nicht unser Feind.“

„Du solltest besser auf ihn hören Harv!“ pflichtete Johnny bei und betrat schließlich einen irischen Pub, der ein Hinterzimmer besaß, welches der Verletzte ohne Umschweife für sich beanspruchte. Zwar war dieses bereits besetzt, aber er schmiss die Pokerrunde hochkant raus und schloss die Tür, um ungestört zu sein. Schließlich setzte er sich auf einen der Stühle und begann mit einem Messer zu hantieren und die Kugel aus seinen Arm zu schneiden. „Ich hasse es, wenn diese verdammten Dinger stecken bleiben. Sorgt jedes Mal für Ärger an der Flughafenkontrolle. Oh Mann, die Jungs spielen heutzutage echt nicht mehr fair. Kaum wird man ausfallend, schon wird geschossen. Ist wenigstens bei dir noch alles dran, Harv?“

„Erklär mir lieber, was das alles zu bedeuten hat. Wer zum Teufel bist du und vor allem: Was bist du?“ Johnny biss die Zähne zusammen, als er die Kugel aus seinem Arm zog. Er presste sein blutverschmiertes Taschentuch auf die Wunde und fluchte leise. Die Verletzung an seinem Kopf war vollständig verschwunden. „Wenn du schon studiert hast, kannst du doch eins und eins zusammenzählen, Schlaumeier.“

„Du… du bist kein Mensch?“

„Hundert Punkte für den Kandidaten.“

„Und was bist du dann?“

„Wir tragen viele Namen und haben im Grunde keinen wirklichen. Wir leben seit langer Zeit unter euch und verstecken uns. Wir sind keine Menschen und sehen äußerlich genauso aus wie ihr. Im Prinzip bin ich genauso wie du ein Schauspieler, der sich hinter der Maske eines Menschen versteckt.“

„Und was war zwischen dir und Chris?“

„Das kann er dir gern selbst erklären. Zwar plaudere ich sehr gerne aus dem Nähkästchen, aber man sollte die Geheimnisse von Freunden lieber nicht ausplaudern.“ Harvey sah zu Chris, der ein wenig verlegen aussah. Er zögerte noch, aber dann erklärte er, dass er Johnny in einer Selbsthilfegruppe kennen gelernt und sich so mit ihm angefreundet hatte. Harvey war fassungslos. „Wieso zum Teufel hast du mir nie erzählt, dass du in einer Selbsthilfegruppe warst?“

„Das war, bevor wir uns auf der Uni wiedergetroffen haben. Ich hatte eine Zeit lang Probleme und war von Antidepressiva abhängig. Ich war in einer Selbsthilfegruppe für Medikamentenabhängige und Johnny hat mir schließlich Mut gemacht und mir sehr geholfen.“ Harvey musste sich erst einmal setzen, um das alles zu verdauen. Sein bester Freund war medikamentenabhängig und in einer Selbsthilfegruppe gewesen? Und jetzt traf er auf einen komischen Typen namens Johnny, der allem Anschein nach kein Mensch war und genauso wie er Chris sehen konnte? „Wieso kannst du Chris sehen?“ Johnny, der nun aus seiner Tasche eine Flasche Whiskey sowie zwei Gläser rausgeholt hatte, schenkte sowohl sich selbst als auch Harvey ein. Dieser nahm dankend an und stürzte es sogleich runter, Johnny tat es ihm gleich. „Vielleicht, weil ich ihn mit deinen Augen sehen kann. Das ist meine Spezialität. So weiß ich, was auf der ganzen Welt los ist und ich kenne wirklich alle schmutzigen Geheimnisse. Angefangen davon, was der Papst so heimlich auf macht, wenn keiner zusieht und welche Pornos der Präsident versteckt hat. Und so weiß ich auch von deinem kleinen Geheimnis, mein Freund. Du willst Menschen töten, um etwas in dieser Welt zu bewegen, richtig?“ Harvey war sich nicht ganz sicher, was das alles zu bedeuten hatte und woher Johnny von seinen Plänen wusste. Außer ihm selbst, Jeff und Chris wusste niemand davon und weder Jeff noch Chris würden etwas ausplaudern. „W… woher weißt du…“

„Mensch, hast du mir nicht zugehört? Ich bin kein Mensch und ich kann durch die Augen anderer Menschen sehen. Ich sehe, was sie tun, wenn sie glauben, sie sind unbeobachtet. Um einen literarischen Vergleich zu nennen: Voll die 1984-Nummer! Totale Überwachung Non-Stop. Ist ein guter Vorteil beim Pokern…“ Harvey hatte genug von der ganzen Scheiße und stand auf. Das alles wurde ihm langsam zu dumm. Nun gut, dass der Typ nicht normal war, das sah er ein, aber diese Masche hier kaufte er ihm nicht ab. Eigentlich wollte Harvey gehen, da rief Johnny ihm hinterher „Du steckst gerade in einem echten Dilemma Kumpel. Zwar hat dir der gute Jeff gezeigt, wie du Menschen die Haut abziehen kannst, aber leider fehlen dir die Opfer. Und du hast Angst, dass du Unschuldige erwischen könntest, nicht wahr?“ Harvey erstarrte, als er das hörte und fassungslos sah er Johnny an, der ihn listig angrinste. Dieser Kerl war ihm nicht geheuer. Woher wusste er nur von seinem Problem, wieso konnte er Chris sehen und was wollte er von ihm? Letztere Frage beantwortete er schließlich, indem er ihm eine Liste in die Hand drückte. „Hier sind die Namen von 20 Polizisten, die genau in dein Schema passen. Sie haben wirklich viel Dreck am Stecken, angefangen von Korruption bis hin zu Körperverletzung, Mord und Totschlag. Sie alle wurden freigesprochen und die Opfer hatten das Nachsehen. Du kannst gerne die Liste selbst überprüfen, alle Einträge sind stimmig. Betrachte sie als kleines Geschenk von mir.“ Harvey nahm die Liste entgegen und fand auch Namen von Polizisten, die ihm bekannt vorkamen. Neben den Namen waren Kontaktdaten, Adressen und Vergehen verzeichnet. Dieser Johnny hatte sich wirklich viel Arbeit gemacht, doch Harvey ahnte, dass da ein Haken an der Sache war und so fragte er nach. Johnny holte aus seiner Tasche ein kleines Medikamentendöschen heraus und warf sich zwei Tabletten ein. Harvey erhaschte einen kurzen Blick auf das Etikett. Es waren Schmerzmittel.

„Ich finde deine Idee interessant und ehrlich gesagt erinnerst du mich ein wenig an mich selbst. Offen gesagt war ich auch mal so drauf, dass ich gegen jene gekämpft habe, die ihre Macht für ihre kriminellen Machenschaften missbrauchten und anderen geschadet haben. Ich weiß wie hart es ist und eben weil ich deine Beweggründe verstehe, will ich dir helfen. Das Töten selbst kann ich dir nicht abnehmen, aber zumindest kann ich dir Arbeit abnehmen und dir dabei helfen, Opfer zu finden, die genau in dein Schema passen. Natürlich musst du nicht ja sagen, es ist nur ein Angebot und betrachte diese Liste hier als eine kleine Aufmerksamkeit von mir. Natürlich steht es dir frei, die Liste auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Du musst dich auch nicht sofort entscheiden.“

„Wer genau bist du eigentlich?“

„Die meisten nennen mich Johnny the Devil, aber ich vermeide es lieber, mich so zu nennen. Es gibt schon bereits jemanden, der diesen Titel mehr als verdient hat. Von den Leuten, die mich besser kennen, werde ich auch Johnny the Trickster genannt. Um es klarzustellen: Ich bin weder gut noch böse und stehe stets auf meiner eigenen Seite. Ich bin ein Betrüger und Falschspieler und breche für gewöhnlich Regeln, Gesetze und Tabus, aber ich sorge auch für ein Umdenken. Also unterscheide ich mich gar nicht allzu sehr von dir, nur mit der Ausnahme, dass du viel ehrlicher bist als ich.“

„Und wieso sollte ich dir vertrauen, wenn du selbst von dir behauptest, ein Lügner und Betrüger zu sein?“

„Weil wir beide das gleiche Ziel verfolgen. Ich kämpfe auf meine Weise, du auf deine. Und da du momentan nicht weiterkommst, will ich dir helfen. Irgendwie finde ich dich sympathisch und außerdem wäre Chris sicher nicht wirklich begeistert, wenn ich seinen besten Freund verarsche.“

„Da hast du Recht“, bestätigte Chris und nickte. Er hatte sich gegen den Pokertisch gelehnt und die Arme verschränkt. „Und dass du Harvey helfen willst, ist wirklich nett von dir. Ich weiß, dass du normalerweise niemals irgendetwas umsonst machst.“

„Na, es ist doch nicht umsonst“, entgegnete Johnny schließlich und stand auf. Er war wohl im Begriff zu gehen. „Ich für meinen Teil glaube daran, dass Harvey es vielleicht schaffen könnte, die erhoffte Lawine auszulösen. Und als ich selbst gegen eine Übermacht gekämpft hatte, da war ich auch nicht alleine. Wobei ich zugeben muss, dass das eine ganz andere Liga war. Harvey will pädophile Priester, korrupte und kriminelle Politiker und ebenso kriminelle Polizisten töten, um die Welt zum Umdenken zu bewegen und ich habe damals für das Überleben vieler Menschen gekämpft. Damals wäre es beinahe zu Rassentrennungen und zum Genozid an „Mischlingen“ gekommen. Kranke Vorstellung, aber leider wahr. Zum Glück wurde dieser Wahnsinn gestoppt, bevor er beginnen konnte… das hätte schlimme Katastrophen zur Folge gehabt. Aber dein Anliegen ist von ähnlicher Wichtigkeit und wenn ich helfen kann, indem ich dir meine Fähigkeiten als Informant zur Verfügung stelle, tue ich das gerne. Du kannst mich jederzeit erreichen, wenn du deine Entscheidung getroffen haben solltest, Harvey.“ Damit reichte Johnny ihm eine Karte, auf der eine Mobiltelefonnummer verzeichnet war. Statt eines vollständigen Namens stand da einfach nur „Johnny“. Offenbar wollte er lieber so anonym wie möglich bleiben. Damit verabschiedete sich Johnny und war schon fast zur Tür raus, da hielt Harvey ihn mit einer letzten Frage zurück, die ihn interessierte. „Wer war es gewesen, der einen Genozid einleiten wollte?“ Johnny drehte sich nicht um, legte aber eine Hand an den Türrahmen, so als wollte er sich abstürzen und schwieg kurz. Er schien nachzudenken, ob er wirklich die Antwort sagen wollte, aber dann sagte er mit einem fast traurigen Unterton in der Stimme „Die gleiche Frau, die mich zur Welt gebracht hat.“ Und damit verschwand Johnny durch die Tür, ohne sich von Harvey oder Chris zu verabschieden.
 

Harvey kehrte mit einem gemischten Gefühl zurück in seine Wohnung und warf sich aufs Bett. Der Alkohol machte sich allmählich bemerkbar und er wollte sich einfach nur hinlegen und schlafen. Er fühlte sich wie gerädert und ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es schon vier Uhr morgens war. Doch obwohl er todmüde war und sich kaum noch bewegen konnte, fand er keine Ruhe. Dieser Johnny ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er hatte einen Kopf- und Brustschuss einfach so überlebt, als wäre es gar nichts gewesen und er konnte seinen verstorbenen Freund Chris ebenfalls sehen. Und er hatte ihm eine Liste mit Namen hinterlassen… „Sag schon, was bedrückt dich? Ist es wegen Johnny?“ fragte Chris, der an seinem Bett saß und besorgt aussah. Harvey zog seine Jacke aus, machte aber keine Anstalten, sich umzukleiden, sondern blieb im Bett liegen. „Ich weiß nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Ich trau diesem Typen einfach nicht über den Weg. Er kommt einfach zu mir, quatscht mich an, zettelt einen Streit an, bei dem er zwei Mal angeschossen wird und noch nicht einmal einen Notarzt braucht und dann erzählt er mir, dass er mir helfen will. Sag du mir doch, was ich davon halten soll. Wer ist dieser Johnny eigentlich?“

„Tja, viel weiß ich nicht über ihn“, gestand Chris und wich verlegen Harveys Blick aus. „Bevor ich an die Schule für Hochbegabte kam, ist so einiges passiert, das ich nicht ganz verarbeiten konnte und da ich zu dem Zeitpunkt niemanden hatte, mit dem ich reden konnte, fing ich an, Antidepressiva zu nehmen.“

„Was ist denn passiert? Wurdest du gemobbt?“

„Nicht ich, aber ein ehemaliger Mitschüler von mir. Ich kannte seine Zwillingsschwester sehr gut und war mit ihr befreundet. Sie… sie hat unter furchtbaren Umständen Selbstmord begangen und das hat mich ziemlich verfolgt. Und als dann mein anderer Bekannter zusammen mit seiner fünfjährigen Schwester Opfer im Hafenwasser ertrank, hab ich den totalen Zusammenbruch gehabt und verfiel in Depressionen. Da ich merkte, dass ich dabei war, medikamentenabhängig zu werden und deshalb bin ich auf Anraten des Heimleiters in eine Selbsthilfegruppe gegangen. Du weißt ja, ich bin im Waisenhaus aufgewachsen. Naja, und in der Selbsthilfegruppe habe ich dann Johnny kennen gelernt. Er hat ziemlich hohe Dosen an Schmerzmitteln genommen, hat aber lange Zeit nicht wirklich mitgemacht und war genauso ein Arsch wie Doktor House. Aber ich hab ihm eine Chance gegeben, weil ich dachte, er ist vielleicht kein schlechter Kerl. Immerhin warst du früher auch nicht besser. Du hättest mich immerhin fast verprügelt, weil ich deiner Meinung nach ein Streber war. Jedenfalls, als ich mich dann nach der Selbsthilfegruppe mit Johnny getroffen hatte, kamen wir näher ins Gespräch und ich habe gemerkt, dass er trotz dieser unausstehlichen Art kein schlechter Kerl ist und wir haben uns angefreundet.“

„Warum hast du mir nie von ihm erzählt?“

„Weil Johnny verschwunden ist, kurz bevor wir beide uns an der Uni wiedergetroffen haben. Er sagte, dass er einige wichtige Dinge zu tun habe und er deswegen verschwinden müsse. Danach kam er auch nicht mehr zur Selbsthilfegruppe und da ich nicht einmal seinen Nachnamen kannte, war es mir auch nicht möglich, ihn zu finden.“

„Wusstest du, dass er kein Mensch war?“ Chris nickte und erzählte, wie er davon erfahren habe. Johnny habe ihm damals seine Fähigkeiten vor Augen geführt, indem er sich selbst die Augen verbunden hatte und Chris mehrere Karten aus einem Deck ziehen ließ. "Niemals hatte er falsch gelegen und auch die Symbole, die ich gezeichnet hatte, waren allesamt richtig. Aber er hatte mich gebeten, niemandem davon etwas zu sagen.“

„Und warum nicht?“

„Weil einige Leute ihn töten wollen.“ Harvey dachte an Johnnys Worte, als er ihn fragte, gegen wen er gekämpft hatte und wer damals einen Genozid einleiten wollte. Dieselbe Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte… seine Mutter? Wollte seine eigene Mutter ihn töten? Wenn das stimmte, musste das echt hart sein. „Warum war Johnny von Schmerzmitteln abhängig?“

„Keine Ahnung. Er hat eigentlich nie wirklich viel von sich selbst erzählt, sondern lieber über andere getratscht. Er ist auch nicht gerade einfach. Ständig hat er sich mit der Polizei angelegt, suchte immer wieder Streit und hatte vor nichts und niemandem Respekt. Daran scheint sich bis heute nichts geändert zu haben…“

„Dem kann ich nur zustimmen.“ Irgendwann schließlich fand Harvey doch ein bisschen Schlaf und gleich, als er am nächsten Tag aufwachte, begann er sich die Liste genauer anzusehen. Um wirklich sicherzugehen, dass alle diese Leute zu Recht hier standen und tatsächlich in sein Schema passten, musste er sie alle überprüfen und Nachforschungen anstellen. Da Harvey nicht dumm war und schon mit 20 Jahren seinen Doktortitel in der Psychologie hatte und zum Teil auch wirklich abgebrüht war, konnte er das Umfeld seiner potentiellen Opfer problemlos aushorchen und Beweise sammeln. Seine Talente als Schauspieler kamen ihm zugute, dass er sich perfekt tarnen und seine Mitmenschen täuschen konnte. Er zog wirklich jede Rolle nach allen Regeln der Kunst durch. Angefangen von einem Rechtsanwalt über ein gleichgesinntes Opfer bis hin zum Journalisten, der die Wahrheit aufdecken wollte. Da er sich an der Universität intensiv mit Körpersprache und Mikroexpression beschäftigt hatte, war es ihm möglich, sofort festzustellen, wann sein Gegenüber log oder die Wahrheit sagte. Binnen zwei Wochen hatte er genug Beweise gesammelt, um festzustellen, dass alle 20 Personen schuldig waren. Sie alle hatten Verbrechen begangen und konnten sie dank ihrer Position vertuschen, oder ihrer Strafe entkommen. Gleich am darauf folgenden Tag begann Harvey, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Seine ersten Opfer waren zwei Polizisten, die sich mehrmals der Körperverletzung im Dienst schuldig gemacht hatten. Sie hatten auf einen Jungen krankenhausreif geschlagen und dieser war an seinen Verletzungen gestorben. Trotz der erdrückenden Beweislage wurden sie nie belangt und das war es, was Harvey gesucht hatte. Wo die Justiz offensichtlich versagte, würde er in Aktion treten und mit seinen grausamen Taten die Welt auf diese Missstände aufmerksam machen. Indem er zum Verbrecher wurde, würde er vielleicht etwas bewegen und die Welt ein kleines Stückchen verbessern. Die beiden Polizisten konnte er recht einfach überwältigen, indem er sie direkt nach dem Dienst abfing und betäubte. Schließlich brachte er sie in ein leer stehendes Haus, wo er sie auf OP-Tische legte und sie entkleidete. Er entkleidete und fixierte sie anschließend mit Gurten, da er das Tetrodotoxin später einsetzen wollte. Er wartete geduldig, bis die beiden Polizisten zu sich gekommen waren und begann nun langsam die Tische zu umrunden, während er seinen Opfern in die Augen sah. „Guten Morgen die Herrschaften. Ich hoffe, Sie liegen nicht allzu unbequem.“

„Wer… wer sind Sie und was haben Sie mit uns vor? Was ist das hier?“

„Mich kennen Sie nicht. Mein Name ist Harvey und ich werde Sie jetzt gleich töten.“ Der Polizist verlor jegliche Farbe im Gesicht und geriet in Panik. Er stemmte sich mit aller Macht gegen die Gurte, aber es war vollkommen zwecklos. „Warum tun Sie das? Wenn es um etwas Persönliches geht, dann…“

„Mir geht es nicht um persönliche Dinge. Gegen Sie persönlich habe ich überhaupt nichts und ich habe Sie auch deswegen nicht ausgesucht, weil Sie ein Polizist sind. Es geht mir lediglich darum, der Welt ein Zeichen zu setzen und mit meinen Taten die Menschen zum Nachdenken anzuregen. Indem ich Sie beide und noch 18 weitere Menschen töte, werde ich die ganze Welt erschüttern, wenn sie erst einmal sehen, zu was ich fähig bin. Glauben Sie mir, eigentlich will ich ja gar keine Menschen umbringen, aber leider hat die Justiz weitestgehend versagt, als Sie Ihre Verbrechen einfach so unter den Teppich kehren konnten. Zum Beispiel den Jungen, den Sie krankenhausreif geschlagen haben oder den Familienvater, welchen Sie bei einem Einsatz erschossen haben. Sie haben Ihre Position und Ihre Macht schamlos ausgenutzt, um sich vor Ihrer gerechten Strafe zu drücken und haben dafür andere ins Unglück gestürzt. Aber ich kann Ihnen versichern: Es geht mir nicht um Rache oder so. Den Opfern kann ich ihre Verstorbenen nicht zurückbringen, indem ich Sie töte. Aber indem ich ein wahres Blutbad anrichte und der Welt meine Botschaft hinterlasse, werde ich sie alle dazu zwingen, sich selbst den Spiegel vorzuhalten und die Menschen dazu bewegen, sich selbst gegen diese Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen. Sollte ich also merken, dass mein Stein, den ich ins Rollen bringen werde, die gewünschte Lawine auslöst, besteht für mich gar kein Grund mehr, Menschen zu töten. Verstehen Sie? Aber leider muss ich jetzt jemanden töten und glauben Sie mir: Das wird für uns alle kein Vergnügen.“ Der Kerl ist verrückt, dachte Officer Benson und drehte den Kopf, wo sein Kollege ebenfalls da lag, allerdings war dieser noch bewusstlos. Harvey breitete auf einem Tisch mehrere Werkzeuge aus und begann seine Messer zu schleifen. „Keine Sorge. Ich bin erst mal mit Vorbereitungen beschäftigt und solange Ihr Kollege noch betäubt ist, haben wir alle Zeit der Welt, uns in Ruhe zu unterhalten. Erzählen Sie ruhig: Wie war es denn, einen Menschen zu töten, ohne dafür belangt zu werden?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden! Ich habe streng nach Vorschriften gehandelt und der Typ hatte eine Waffe in der Hand!“

„Eine Soft-Air Pistole um genau zu sein und als er diese abgelegt hatte, weil er es mit der Angst zu tun bekam, prügelten Sie auf ihn ein. Ihre Kollegen haben Sie gedeckt und sich allesamt des Meineids schuldig gemacht. Haben Sie sich mal überlegt, wie es der Familie geht?“

„Ich habe es nicht mit Absicht getan, verdammt. Ich stand so unter Stress die letzten Tage, da habe ich vielleicht etwas überreagiert.“

„Das kann ich gut nachvollziehen“, erklärte Harvey und musterte Officer Benson mit einem eiskalten Blick. „Jedem gehen irgendwann mal die Sicherungen durch. Ich selbst war damals nicht besser. Ständig habe ich mich geprügelt, andere herumgeschubst und ständig nur Ärger gekriegt, bis meine Eltern mich sogar zur Adoption freigeben wollten, weil sie mich nicht mehr im Griff hatten. Aber wenn man schon so einen Mist verzapft, muss man auch die Verantwortung dafür tragen und dazu stehen, was man getan hat. Und Fakt ist, Sie haben unschuldige Menschen auf dem Gewissen und sich vor Ihrer Strafe gedrückt, indem Sie Ihre Machtposition ausgenutzt haben. Sind Sie sich eigentlich im Klaren darüber, was Sie da eigentlich angerichtet haben? Polizisten haben eine Vertrauensposition! Wenn die Menschen Hilfe brauchen und in Not sind, an wen wenden sie sich dann? Natürlich die Polizei! Und wenn diese das Vertrauen dieser Menschen in solch einer schamlosen Weise missbraucht, an wen sollen sie sich da noch wenden? Wem können sie noch vertrauen? Genau in diesem Moment greifen diese Menschen in ihrer Verzweiflung selbst zur Waffe oder beenden einfach ihr Leben. Ihr ganzes Leben wird zerstört und das alles richten Sie und Ihre Kollegen an und sind sich nicht einmal im Klaren darüber, was das für andere bedeutet. Es ist Ihnen vollkommen egal, wie es Ihren Opfern geht und ich werde der ganzen Welt einen Denkzettel verpassen und zeigen, dass es an der Zeit ist, diesen Schmutz zu beseitigen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will gar nicht erst zu Mord und Totschlag aufrufen mit meiner Aktion. Ich will einfach nur das Bewusstsein der Menschen wecken und nach sorgfältiger Überlegung ist mein Plan sogar erfolgsversprechender als eine Straßendemonstration.“

„Welcher Plan?“

„Ich werde erst einmal zwanzig Morde begehen und die Tatorte so bestialisch gestalten, dass es um die ganze Welt gehen muss. Und mein Manifest, das ich hinterlasse, wird meine Botschaft an die Bevölkerung sein. Die Polizei wird dieses Manifest unter Verschluss halten, aber die Medien haben so ihre Methoden. Eben weil ich so wichtige Themen anspreche, werden sie alles versuchen, mein Manifest in den Nachrichten zu veröffentlichen oder zu erwähnen und die Menschen werden sich allein schon aus Neugier damit auseinander setzen. Denn ein offensichtlich gestörter Psychopath, der Leuten die Haut abzieht, erregt bei weitem mehr Aufmerksamkeit und Interesse als jemand, der laut schreiend mit einem Demonstrationsschild durch die Straßen rennt. Und die Polizei wird nicht untätig bleiben. Indem ich gezielt solche Individuen wie Sie jage, werden sie alles in ihrer Macht setzen, um neue potentielle Opfer zu finden. Und dann werden die Polizei und das FBI auch auf den Schmutz in ihren eigenen Reihen aufmerksam und ihn zur Verantwortung ziehen. Die Menschen werden sich gegen die raffgierigen Politiker zur Wehr setzen oder den Papst unter Druck setzen, dass er endlich aufhört, die pädophilen Priester im Vatikan vor dem Gesetz zu verstecken.“

„Aber… aber wenn Sie mich töten, sind Sie doch auch ein Verbrecher. Das ist doch ein Widerspruch!“

„Keineswegs“, erklärte Harvey und lächelte herablassend. „Ich werde zwar zum Verbrecher und für die Menschen werde ich zu einem Monster. Aber ich tue Böses, um Gutes zu schaffen und ich bin allein nur deshalb grausam, um gute Absichten zu erhalten. Außerdem bin ich für den Moment bereit, wenn sie mir entweder die Giftspritze geben, oder mich auf den elektrischen Stuhl setzen. Merken Sie sich das, Officer Benson: Wer anderen Schlimmes antut, sollte das nur tun, wenn er bereit ist, dass auch ihm etwas Schlimmes angetan wird. Wenn Sie wirklich Reue empfunden hätten, dann hätten Sie für Ihr Vergehen geradestehen müssen. Und außerdem gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen Richtigkeit und Notwendigkeit. Aber jetzt ist es zu spät. Stattdessen haben Sie die Ehre, Teil des Steins zu sein, der eine gewaltige Lawine auslösen wird. Damit Sie mir nicht so viel herumzappeln, werde ich Ihnen etwas geben. Mein Lehrmeister hat mir Tetrodotoxin empfohlen, wissen Sie was das ist? Das ist Kugelfischgift. Ist eigentlich ziemlich gefährlich, aber wenn es richtig dosiert ist, kann es einen Menschen vollständig lähmen, ohne ihn direkt zu töten. Wirklich praktisch.“ Damit stach Harvey die Spritze direkt in den Oberarm seines Opfers und gab ihm die Injektion. Officer Benson schrie in Panik und warf seinen Kopf umher, doch Harvey blieb ruhig, doch in seinem Blick lag etwas Seltsames, was man nicht genau deuten konnte. „Glauben Sie mir ruhig Officer. Sie werden nicht der Einzige sein, der leidet. Es wird mir genauso wehtun wie Ihnen, aber das ist die Bürde, die ich mir selbst auferlege. Die Schuldgefühle, die Angst, der Ekel und die Alpträume werden meine Strafe sein und mich gleichzeitig daran erinnern, dass ich noch ein Mensch bin. Solange ich keinen Gefallen am Töten und Foltern entwickle und es mir kein sadistisches Vergnügen bereitet, Leuten bei vollem Bewusstsein die Haut abzuziehen, weiß ich nämlich, dass ich noch kein wirkliches Monster bin. Denn das ist es, wovor ich am allermeisten Angst habe. Und in dem Moment, wo ich zu einem richtigen Monster werde, kann ich keine Menschen mehr töten. Vergessen Sie nicht, dass ich bloß ein Monster zum Zweck bin! Wenn die Zustände nicht so dramatisch wären, dann würde ich niemals einen Menschen töten. Halten Sie mich ruhig für verrückt oder überheblich. Was ich Ihnen sage, ist die volle Wahrheit und das, was ich wirklich denke.“ Harvey wartete, bis die Lähmung vollständig eingesetzt hatte. Er vergewisserte sich, dass sein Opfer tatsächlich bewegungsunfähig war, dann nahm er die Gurte ab. Officer Benson folgte ihm mit den Augen und hatte Angst vor dem, was kommen würde. Noch größer wurde seine Angst aber, als er sah, wie sein Entführer blass wurde und zu schwitzen begann. Dieser Verrückte hatte auch Angst… aber warum tat er es trotzdem? Der hatte sie nicht mehr alle, er war nicht richtig im Kopf. Nun legte Harvey eine Hand auf Officer Bensons Brust und begann den ersten Schnitt zu setzen. „Als Erstes werde ich bei den einfachsten Stellen anfangen. Torso, Rücken, dann die Arme und Beine. Zu allerletzt werde ich Ihnen die Haut vom Gesicht schälen und der Menschheit zeigen, wie hässlich Sie unter dieser Haut wirklich sind. Ich werde allen zeigen, dass Sie es nicht wert sind, die Haut eines Menschen zu tragen. Dafür besitzen Sie nämlich nicht genug Menschlichkeit!“ Harvey erhob das Skalpell und stand kurz davor, es Officer Benson in die Brust zu rammen, aber er hielt mitten in der Bewegung inne. Der Polizist sah, wie seine Hand zitterte und sich in Harveys Augen Tränen sammelten. „Scheiße“, murmelte er und rieb sich die Tränen mit dem Handrücken weg. „Trotz allem bin ich immer noch viel zu emotional bei der Sache. Ich brauch wohl etwas mehr Übung, um meine Gefühle unter Kontrolle zu halten… Aber… wenn Typen wie Sie nicht gewesen wären, dann hätte es nicht so weit kommen müssen. Dann hätte mein bester Freund nicht sterben müssen… Dann hätte ich jetzt nicht sein verdammtes Hirn transplantiert bekommen, weil man mir eine verfickte Kugel in den Kopf geschossen hat!!!“ Harvey schaffte es nicht, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und sank in die Knie. „Sie haben nicht die geringste Ahnung, was Sie und die anderen mit solchen Aktionen eigentlich anrichten. Wie viele Leben Sie damit zerstören und wie vielen Sie ihre Träume und Hoffnungen nehmen. Den Glauben an Gerechtigkeit… den Glauben an die Menschlichkeit… Aber Ihnen ist es scheißegal. Hauptsache, Sie können Ihre eigene Haut retten. Und selbstsüchtige skrupellose Menschen wie Sie sind es, die ich vor der ganzen Welt demaskieren werde, selbst wenn ich dabei draufgehen sollte. Nur so kann ich etwas ändern und verhindern, dass sich solche Tragödien wiederholen.“ Diese Stimme, die so erfüllt von Schmerz, Wut und Trauer war, schnürte Bensons Brust zu. Er sah in diese Augen, in denen sich Verzweiflung, Hass und Hoffnungslosigkeit widerspiegelten. Die Augen eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hatte, weil er zuvor alles auf einem Schlag verloren hatte. Und in ihnen glaubte Officer Benson auch, die Augen seiner Opfer zu sehen. Ob sie genauso verzweifelt und hoffnungslos waren wie dieser junge Mann da? Oder war es vielleicht der Blick der Mutter, deren Sohn er fast umgebracht hatte, nur weil er einfach mal Frust ablassen wollte? „Stellen Sie sich vor, jemand hätte es Ihrer Familie angetan. Könnten Sie dann genauso kaltblütig darüber hinwegsehen?“ Officer Benson hätte gerne geantwortet, aber er war nicht im der Lage dazu. Aber er spürte auch, dass selbst Worte nichts bewirkt hätten. Nicht bei ihm. Für Harvey waren Worte schon lange nicht mehr von Bedeutung. Denn Worte konnten ein gebrochenes Herz nicht heilen. Ein brennender Schmerz riss den Polizisten aus seinen Gedanken, als Harvey nun mit seiner Arbeit begann. Viel zu schnell und viel zu tief schnitt er die Haut auf, aber das war ihm egal. Solange er es schaffte, beim Abziehen keine Fehler zu machen, war es egal. Obwohl seine Augen immer noch von Tränen gerötet waren, wirkten sie auf einmal vollkommen leer. Verzweiflung, Schmerz und Hass waren gewichen. Harveys Gesicht wirkte auf einmal wie kalter Marmor und war völlig ausdruckslos geworden. Auch die Augen wirkten auf einmal leer. Ein Schalter schien sich bei ihm umgelegt zu haben und völlig ungerührt begann er nun, den ersten Teil der Haut zu entfernen. Er ging nun viel professioneller ans Werk und schaffte es, die Haut vollständig von Brust, Bauch und Unterleib abzutrennen. Diese Wunden brannten entsetzlich und schmerzten, dass es den Polizisten beinahe um den Verstand raubte. Am liebsten hätte er geschrieen, sich herumgeworfen, um sich seiner Schmerzen zu entäußern, aber er war zur stummen Regungslosigkeit verdammt. Schließlich drehte Harvey ihn auf den Rücken und fuhr dort mit seiner Arbeit fort. „Ich hoffe, Sie spüren den Schmerz auch deutlich, Officer Benson. Denn vergessen Sie nicht: Es soll uns beiden gleichermaßen wehtun.“ Fast eine Stunde brachte Harvey damit zu, sein Opfer fast vollständig von Haut zu befreien und legte das blutverschmierte Skalpell schließlich beiseite. Dafür nahm er etwas in die Hand, was wie eine elektrische Knochensäge mit Kreisblatt aussah. Als Harvey das Gerät anschaltete, ertönte ein unheilvolles Surren. „So, Officer Benson. Jetzt, da ich Sie von Ihrer Maske befreit habe, ist es an der Zeit, dass ich jetzt mit dem eigentlichen Blutbad beginne.“ Ohne die Miene zu verziehen, schnitt Harvey erst die Finger ab, dann die Hände, Füße, Unterarme, Oberarme und auch die Beine wurden in ihre Einzelteile zerlegt. Die Luft war schwer vom Blutgeruch und kaum, dass die Extremitäten nach allen Regeln der Kunst amputiert waren, entledigte Harvey ihn seiner Organe. Exakt dieselbe Prozedur wiederholte er bei seinem zweiten Opfer. Innerhalb von vier Tagen hatte er alle zwanzig Leute getötet und trat nun in die letzte Phase seines Plans ein. Mit Nägeln befestigte er die Organe seiner Opfer an die Wände, mit den Häuten aber hatte er anderes im Sinn. Nachdem er diese getrocknet und behandelt hatte, begann er, Bezüge daraus zu nähen und das Zimmer auf bizarrste Art und Weise damit zu dekorieren. Er selbst war leichenblass und sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Tatsächlich hatte er sich kurz nach der Ausweidung seines ersten Opfers erbrechen müssen und erlitt beim zweiten und dritten Mal beinahe einen Kreislaufzusammenbruch. Aber jetzt war es endlich vorbei… fürs Erste zumindest. Erschöpft saß er auf einem Stuhl und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Seit Tagen hatte er kaum geschlafen, weil ihn die schrecklichen Bilder seiner Opfer verfolgten. Aber das war der Preis, den er freiwillig dafür zahlte. Chris kniete neben ihm und hielt seine Hand. „Hey Harvey, was hast du?“

„Ich fühl mich beschissen, das ist alles. Oder wie würdest du dich fühlen, wenn du als normaler Mensch so ein Blutbad anrichtest, obwohl du es eigentlich gar nicht ertragen kannst?“

„Harvey, bitte überleg dir noch mal, ob du das wirklich tun willst. Du machst dich nur selbst kaputt und du weißt nicht, ob du wirklich etwas mit dieser Aktion bewegen kannst.“

„Und woher soll ich wissen, dass sich etwas ändern wird, wenn ich es nicht mehr tue? Wenn ich einfach einen Rückzieher mache und meinen Plan verwerfe, dann hätte ich das alles gar nicht tun müssen. Dann hätte ich diese Menschen gar nicht umbringen müssen… dann… dann hätte ich sie völlig umsonst umgebracht.“ Chris senkte traurig den Blick und hielt Harveys Hand fest. „Du riskierst so viel und wirst letzten Endes doch nichts gewinnen, selbst wenn du es schaffen solltest. Ich habe einfach nur Angst, dass du irgendwann daran zerbrechen wirst, Harvey.“

„Es geht nicht darum, was ich dazugewinnen kann, sondern darum, ob ich überhaupt gewinnen kann. Wenn auch nur eine Hand voll Menschen meine Botschaft versteht, dann habe ich doch etwas geschafft. Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnen. Aber genug davon. Wir sollten gehen, bevor die Polizei eintrifft. Ich habe denen einen anonymen Hinweis gegeben, bevor noch irgendein anderer das hier findet. Ist zwar unwahrscheinlich, aber ich will keine Unschuldigen mit reinziehen.“ Damit erhob sich Harvey und legte einige beschriebene Seiten auf einen Tisch und positionierte sie so, dass sie sofort ins Auge fallen mussten. Sein Manifest… seine Botschaft an die ganze Welt und seine Warnung an jene, die er von nun an jagen würde.
 

Um sich von den Strapazen, dem furchtbaren Gestank und dem entsetzlichen Anblick zu erholen, ging Harvey zurück in seine Wohnung, wo er fast eine halbe Stunde lang unter der Dusche kauerte. Egal was er auch tat, es stank wirklich alles nach Blut ihm war entsetzlich schlecht. Nachdem er ein paar Aspirin und Magentabletten eingenommen hatte, zog er seine Jacke an und machte sich auf den Weg. In einem irischen Pub bestellte er sich erst einmal einen Whiskey und betrachtete die Karte, die Johnny ihm dagelassen hatte. „Der Kerl hat nicht gelogen“, sagte er nach einer sehr langen Zeit des Schweigens. „Alle Namen waren korrekt.“

„Willst du ihn anrufen?“ fragte Chris und sah ihn prüfend an. Harvey zögerte jedoch mit seiner Antwort, sondern trank einen Schluck und spürte, wie der Alkohol seine erlösende Wirkung tat. „Es könnte mir tatsächlich Arbeit ersparen, wenn ich einen Informanten hätte. Allerdings traue ich dem Braten nicht wirklich, weil ich diesen Johnny nicht einzuordnen weiß. Er mag zwar dein Freund sein und womöglich will er mich tatsächlich unterstützen, aber ich schaffe es nicht, ihn zu durchschauen. An der Universität habe ich Psychologie studiert und alles über Mikroexpression gelernt. Ich weiß, wann jemand lügt und was er fühlt, während er spricht. Aber dieser Johnny verstand es perfekt, seine wahren Absichten vor mir zu verbergen. Und das bereitet mir Sorgen.“

„Du bist eben jemand, der gerne die volle Kontrolle hat und anderen überlegen ist, nicht wahr? Du hast dich seit damals kein bisschen verändert. Derselbe Dickkopf, der immer stärker als andere sein muss, um bloß nicht schwach zu wirken.“

„In einer Welt, wo die Starken regieren, kann man nur überleben, wenn man stark ist. Das müsstest du als Waisenkind verstehen.“

„Und immer noch derselbe Zyniker.“ Dazu sagte Harvey nichts, sondern trank noch einen Schluck. Er begann nun die Nummer in sein Handy einzutippen und wollte gerade die Nummer anrufen, da ließ sich jemand ihm gegenüber auf die Bank fallen und legte die Füße auf den Tisch. „Na Schätzchen, hattest du Sehnsucht nach mir?“ Harvey konnte es nicht wirklich glauben, als sich da gerade Johnny zu ihm gesetzt hatte. Wie viel hatte er von seinem Gespräch mit Chris mitbekommen und seit wann war er hier? „Wo… woher weißt du…“

„Ich hatte es dir doch gesagt. Ich sehe alles, was du siehst, deshalb kann ich auch Chris sehen und verstehen. Und außerdem kommt noch die Tatsache hinzu, dass ich einfach viel zu neugierig bin, als dass ich dir nicht hinterherspionieren könnte. Ich wollte sehen, was du tust und wie du dich schlägst. Auch wenn ich offen gestanden einen miesen Charakter habe, so hast du mein aufrichtiges Mitgefühl.“ Johnny bestellte sich ein Bier und setzte sich nun richtig hin, wobei er nun die Arme auf den Tisch legte und sich vorbeugte. Ein seltsamer Glanz lag in seinen glutroten Augen, die nichts Menschliches verrieten. „Ich mach dir folgendes Angebot, Harv: Ich werde dir meine Fähigkeiten zur Verfügung stellen, um dir bei deinem Plan zu helfen. Zwar mag ich nicht den Eindruck erwecken, aber ich glaube an das, wofür du einstehen willst und ich finde dich irgendwie… süß. Aber wie Chris schon mal sagte: Für gewöhnlich mache ich nichts umsonst oder besser gesagt gratis!“ Ein heimtückisches Grinsen verriet nichts Gutes und Harvey beschlich das Gefühl, als würde ihn dieser Dienst von Johnny noch so einiges kosten. Der Kerl war ein Schlitzohr und ein Betrüger, wenn es darauf ankam. Harvey funkelte ihn misstrauisch an und fragte „Was willst du von mir?“

„Nichts, was du nicht entbehren könntest. Und das sind zwei Dinge. Erstens: Ich suche nach jemandem und es ist mir ungeheuer wichtig, diese Person zu finden. Trotz meiner Fähigkeit habe ich sie aus den Augen verloren und ich weiß auch nicht, unter welchem Namen sie sich aktuell nennt. Hast du schon mal diese Frau hier gesehen?“ Damit reichte Johnny ihm ein Foto, auf dem eine junge Frau von vielleicht 20 Jahren zu sehen war. Sie hatte feuerrotes Haar, ebenso rote Augen und trug zu einer weißen Bluse eine rote Weste, auf welcher der Name „Christine“ genäht war. Um den Hals trug sie Goldschmuck und ihr Blick verriet, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte und man sie niemals unterschätzen sollte. „Ich will lediglich wissen, ob du sie schon mal gesehen hast.“

„Nein, noch nie. Und du?“ Chris sah Harvey über die Schulter und schaute sich das Foto genauer an. Er überlegte eine Weile, dann schien ihm etwas einzufallen. „Ich selbst nicht, aber ein Bekannter von mir hat von einem Mädchen erzählt, das der Beschreibung nach auf dieses Foto passt. Sie fährt einen Hudson Hornet und verschwindet ebenso plötzlich, wie sie immer auftaucht.“ Diese Antwort schien Johnny zu genügen und er lächelte zufrieden. „Gut, das genügt mir zu wissen, dass sie noch da ist.“

„Wer ist das und wieso suchst du nach ihr?“

„Ach, das ist so ne komplizierte Familienkiste. Gut, da du dank Chris schon mal den ersten Teil erfüllt hast, bin ich mir sicher, dass du auch den zweiten erfüllen kannst. Fragt sich nur, ob du dir das wirklich zumuten kannst.“ Na super, jetzt kommt’s, dachte Harvey missmutig und leerte schließlich sein Glas. „Und was wäre das?“

„Wie gesagt: Es ist nichts, was du nicht entbehren könntest und ich bin auch nicht an solch materielle Dinge wie Geld interessiert. Geld verliert Wert, Reichtum vergeht… Aber der Mensch bzw. Nichtmensch hat gewisse Grundbedürfnisse. Und Tatsache ist, dass ich diese ewige Herumwanderei leid bin. Fakt ist, ich brauch ne Bleibe und wenn wir in Zukunft so viel miteinander zu tun haben werden, könnten wir auch genauso gut die ganze Zeit aufeinander hocken. So hab ich wenigstens jemanden, den ich mit meinen unerträglichen Attitüden in den Wahnsinn treiben kann. Bis jetzt hat es niemand länger als zwei Wochen mit mir ausgehalten. Wenn du bereit dafür bist, dich dieser zusätzlichen Herausforderung zu stellen, werde ich dir helfen. Egal was du wissen willst, ich werde dein Informant sein.“ Harvey dachte zuerst, Johnny wollte ihn bloß verschaukeln, als dieser doch tatsächlich statt Geld oder ähnlichem bloß zu seinem Mitbewohner werden wollte. Das war doch lächerlich, aber andererseits… irgendwie passte es auch zu so einem schrägen Kerl wie ihm. Chris sah abwechselnd zu seinen beiden Freunden und fragte „Und? Was sagst du dazu, Harvey?“

„Na schön. Wenn es bloß das ist, dann würde ich sagen: Der Deal steht.“ Mit einem Handschlag besiegelten sie ihre Abmachung und damit holte Johnny sogleich eine neue Liste raus. „Um hier ein wenig Abwechslung reinzubringen, habe ich dieses Mal 16 Priester aufgeschrieben, die während ihres Amtes kleine Jungen angefasst und sie zu unschönen Dingen gezwungen haben. Einziger Haken ist allerdings, dass die meisten von ihnen aus Deutschland stammen.“

„Schon okay, ich wollte mich sowieso nicht bloß allein auf Amerika beschränken.“ Harvey wollte schon die Liste entgegennehmen, doch Johnny hielt sie zurück. „Ich hab dir noch vergessen, eine Kleinigkeit zu sagen: Wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann ist es Folgendes: Schleich dich niemals, aber auch wirklich NIEMALS von hinten an mich ran oder komm mir mit irgendwelchen dämlichen Rückenklopfern. Wenn du das machst, breche ich dir den Arm. Und vor allem: Finger weg von meinen Sachen.“ In diesem Moment sah Johnny ihn mit einem Blick an, der verriet, dass er nicht scherzte. Es war der gleiche bösartige Blick wie Jeff, als dieser ihn gewarnt hatte, dass er ihn sofort töten würde, wenn er unachtsam wurde. „Schon verstanden.“ Sogleich verschwand das mörderische Funkeln in seinen Augen und Johnny lächelte zufrieden. „Gut, dann werden wir sicherlich gute Freunde werden, mein lieber Harvey.“

Harvey the Skinner: Das Opfer

Als er aufwachte, konnte sich Officer Dawson kaum bewegen. Ein Blick auf seinen Körper verriet ihm, dass er mit Gurten an einer Art OP-Tisch fixiert war und ein helles Licht blendete ihn. Er war so gut gefesselt, dass er nur noch seinen Kopf bewegen konnte. Kalter Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn. Wo war er? Was hatte das alles zu bedeuten und warum war er gefesselt? Als er den Blick zur Seite wandte und auf einem Tisch mehrere Skalpelle, Messer und Operationswerkzeuge sah, machte sich eine furchtbare Gewissheit in seinem Kopf breit. Und bestätigt wurde diese Befürchtung, als er über dem Tisch mit den Werkzeugen an einer Art Wäscheleine lange Fetzen hinunterhängen sah, die wie Haut aussahen. Großer Gott, dachte er und er bekam nun Todesangst. Er hat mich erwischt… der Skinner hat mich erwischt. Officer Dawson sah sich nun weiter um, konnte aber nicht viel erkennen. Der Raum war fensterlos und auch sonst ließ nichts drauf schließen, wo genau er sich befand. Er vermutete aber, dass er sich in einem Keller befinden musste. Ja, wieso auch nicht? Immerhin hatte man die Leichen seiner zwanzig Kollegen auch zerstückelt und gehäutet in einem Keller gefunden. Die Häute waren zu Bezügen vernäht worden und der Skinner hatte ein Manifest hinterlassen, in welchem er der Polizei, dem korrupten Rechtssystem und sogar der Kirche den Kampf ansagte. Schon seit Wochen hatte er in Angst gelebt, weil er wusste, dass er auch zu den Leuten gehörte, auf die es der Skinner abgesehen hatte. Aber… als sich lange Zeit nichts tat und er stattdessen ein paar pädophile Priester in Deutschland abschlachtete, begann er sich sicherer zu fühlen. Und nun hatte es ihn doch erwischt. Ein eisiger Schreck durchfuhr Dawson, als er plötzlich Schritte hörte. Eine Tür wurde geöffnet und jemand summte eine leise Melodie. Er hörte, wie Metall gegen Metall schleifte. Offenbar schärfte er bereits die Messer. „Guten Morgen, Mr. Dawson. Haben Sie gut geschlafen?“

„B-bitte… bitte lassen Sie mich gehen. Es tut mir Leid, was ich getan habe. Ich habe es nicht so gewollt.“

„So? Dann wissen Sie also bereits, wer ich bin? Nun, Sie scheinen eine sehr gute Auffassungsgabe zu besitzen, das muss ich Ihnen lassen. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich die Häute hier erst einmal aufgehängt habe. Bevor ich sie nämlich weiterverarbeite, müssen sie erst richtig behandelt werden, sonst werden sie rissig. Aber es geht nicht um die Häute meiner letzten Opfer, sondern um Sie, Mr. Dawson. Sie können sich glücklich schätzen, dass Ihnen allein meine ganze Aufmerksamkeit gewidmet ist, denn Sie sind so etwas wie ein besonderer Ehrengast für mich. Und nur keine falsche Bescheidenheit. Bescheidenheit hat immer so etwas Geheucheltes und Verlogenes an sich. Außerdem würde ich mir an Ihrer Stelle gar nicht erst die Mühe machen, mich zu belügen. Ich weiß nämlich bereits alles über Sie. Alles, was ich will ist, es noch einmal aus Ihrem Munde zu hören.“

„Was… was wollen Sie von mir wissen?“ Officer Dawson wurde nervös und verstand nicht, was der Skinner mit ihm vorhatte. Wieder hörte er Schritte und aus dem toten Winkel seines Blickfeldes trat ein groß gewachsener junger Mann von vielleicht 26 bis 28 Jahren ins Licht, der eine rote Lederjacke trug und brünettes Haar hatte. Seine Augen waren grasgrün und an seiner linken Wange hatte er zwei lange Narben, ebenso wie am Hals. Officer Dawson kannte dieses Gesicht und entsetzt weiteten sich seine Augen. „Oh Gott…“ brachte er fassungslos hervor, als er realisierte, wer da vor ihm stand. „S-sie etwa?“

„Schön Sie wiederzusehen, Officer Dawson. Ihrer Reaktion zufolge scheinen Sie sich noch gut an mich zu erinnern. Kein Wunder, immerhin haben Sie und Ihre Kollegen mich damals niedergeschossen und später auch verhaftet. Erinnern Sie sich noch an den Prozess? Ich wurde wegen Widerstandes gegen die Polizei, Verleumdung und falscher Verdächtigung zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt.“ Der Polizist spürte, wie ihm sämtliches Blut aus dem Kopf wich und Panik überkam ihn. „Sie sind Harvey Dahmer?“ Ein stummes Nicken kam zur Antwort und zu seinem größten Entsetzen begann der Entführer nun mit einem Skalpell zu spielen, welches er offensichtlich benutzen wollte. „Ganz Recht, ich bin Harvey Charles Dahmer. Ist mir ebenfalls ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.“

„Wollen Sie mich etwa umbringen, weil ich… weil ich…“

„Weil Sie mir in den Kopf geschossen haben, das wollen Sie doch sagen, oder? Nein, mir geht es nicht um persönliche Rache. Was würde mir so etwa wie Rache denn auch großartig nützen? Sie bringt mir weder Chris zurück, noch kann sie die Dinge ungeschehen machen, die passiert sind. Im Grunde ist Rache nichts Weiteres als eine traurige Illusion und der völlig falsche Weg, den Schmerz und den Zorn zu bekämpfen. Wenn Sie mein Manifest gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass ich nicht auf Rache aus bin. Ich will mit radikalen Methoden die Menschen dazu bewegen, das ganze System zu überdenken, selbst gegen die Willkür der Justiz und der Reichen anzukämpfen und etwas zu ändern. Aber ich rede zu viel von meiner Person. Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Dawson.“ Der Polizist war sich nicht sicher, ob dieser Kerl mit den Narben im Gesicht einfach nur verrückt war, oder verbittert. Vielleicht war er ja sogar beides und er fürchtete, dass ihm noch eine entsetzliche Tortur bevorstehen würde. Langsam wanderte die Spitze des Skalpells zu seinem Auge. „Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen und wenn Sie meinen, Sie könnten mich belügen, dann werde ich Ihnen zuerst das Auge entfernen und dann nach und nach sämtliche Zähne ziehen, wenn es sein muss. Also, kommen wir ins Geschäft?“

„J-ja…“

„Gut. Die erste Frage können Sie sich ja sicherlich schon denken, nicht wahr? Und vergessen Sie nicht: Ich bin ein Profi, was Mikroexpression betrifft. Ich bin wie Lightman aus „Lie to Me“: Schon die kleinsten Gesichtsbewegungen verraten mir, was Sie denken und fühlen. Deshalb versuchen Sie gar nicht erst, mich für dumm zu verkaufen. Nun möchte ich von Ihnen wissen: Warum wurde die Polizei zu uns geschickt?“ Tatsächlich hatte der Polizist mit dieser Frage bereits gerechnet und er wusste, dass dieser Harvey nicht bluffte. Allein die aufgehängte Haut an der Wäscheleine war Beweis genug, dass er ihm genau das Gleiche antun würde, wenn er nicht gehorchte. Also entschied er sich, gleich von Anfang an mit offenen Karten zu spielen. „Das Ganze war eine schreckliche Verwechslung gewesen. Der Haftbefehl ging nicht gegen Chris Dullahan, sondern gegen Jake und Jil Dungaree.“

„Und wer sind die beiden?“

„Ein Ehepaar, das seit Jahren gemeinsam diverse Mordserien begeht. Jake Dungaree wird beschuldigt, mehrere Menschen abgeschlachtet und dann ihr Fleisch verkauft zu haben, da er eine eigene Metzgerei besaß. Und seine Ehefrau Jil wird auch die Blutmalerin genannt, weil sie mit dem Blut ihrer Opfer Portraits malt und diese am nächsten Tatort zurücklässt. Die beiden haben zusammen mehr als 30 Menschen auf dem Gewissen. Allerdings ist da wohl irgendetwas durcheinandergebracht worden, sodass statt Dungaree nun Dullahan in den Akten stand. Und da von zwei Personen die Rede war, wurden Sie irrtümlich für Jake Dungaree gehalten.“

„Verstehe. Und da Chris sehr androgyn aussah, wurde er fälschlicherweise für eine Frau gehalten.“ Der gefesselte Officer nickte und fuhr fort. „Uns wurde gesagt, dass das Ehepaar äußerst gefährlich und zudem noch bewaffnet sei.“

„Aber wir waren nicht bewaffnet, das haben Sie und Ihre Kollegen doch gesehen. Ich hab sogar versucht, vernünftig mit Ihren Kollegen zu reden und die Sache aufzuklären, aber dann haben Sie einfach das Feuer eröffnet.“ Harvey schien nun gar nicht mehr so bedrohlich zu wirken, sondern wirkte auf einmal ganz normal und harmlos, als wolle er lediglich in Ruhe mit Dawson sprechen. Paradoxerweise ließ ihn genau das noch verrückter und unheimlicher erscheinen. „Ich wollte das ja nicht und natürlich ist mir auch aufgefallen, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte. Aber Erickson und den anderen war das völlig egal und sie hatten mich vorher schon so unter Druck gesetzt, weil ich verwirrt war, warum das Ziel plötzlich Dullahan hieß.“

„Sie wurden unter Druck gesetzt?“ fragte Harvey erstaunt und hob erstaunt eine Augenbraue. „Ja. Sie sagten mir, ich solle die Schnauze halten und meine Anweisungen befolgen. Dass ich auf Sie geschossen habe, war wirklich nicht meine Absicht, es war in dem Moment eine ungewollte Kurzschlussreaktion.“

„Erzählen Sie, was genau in der Wohnung passiert ist und wie Chris gestorben ist.“

„Die Kollegen haben sich direkt auf ihn gestürzt und er wollte flüchten. Ich stand völlig regungslos da, sah die Angst in seinen Augen und verstand, dass da irgendetwas gründlich schief lief. Aber dann… ich hab nicht viel gesehen, aber da stürzte Ihr Freund, schlug gegen die Tischkante und brach sich dabei das Genick. Das alles geschah so schnell, aber ich weiß noch, dass er sie angefleht hatte, nicht auf ihn zu schießen. Er hatte wirklich Todesangst gehabt in diesem Augenblick. Sein Tod war ein schrecklicher Unfall gewesen… Und ich wollte Sie eigentlich auch nicht töten. Aber Sie hatten meinen Kollegen am Kragen gepackt und sahen aus, als wollten Sie ihm etwas tun und in dem Moment habe ich völlig falsch reagiert.“

„Das hatte auch seinen Grund gehabt. Ihre Kollegen haben uns einfach so überfallen und dann angefangen, auf Chris einzuprügeln. Die haben auf ihn eingetreten, als er am Boden lag und da musste ich etwas tun, weil ich ihn vor diesen Verrückten retten wollte. Warum haben Sie denn nichts unternommen, als es Ihre Pflicht war?“ Tränen der Angst und Verzweiflung sammelten sich in den Augen des Polizisten und liefen sein kaltes Gesicht hinunter. Harvey selbst zeigte keine Emotionen, keine einzige Regung, als wäre sein Gesicht völlig erstarrt. Er wartete geduldig auf die Antwort, vor der sich der Polizist nicht drücken konnte. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Jahrelang habe ich erlebt, wie Kollegen bewaffnete Dealer oder andere Kriminelle verhaften und dabei etwas grob vorgehen. Zuerst dachte ich ja noch, es würde alles rechtens zugehen, aber als ich dann gesehen habe, wie sie auf ihn eingeprügelt haben, war ich einfach unsicher in dem Moment. Und diese Unsicherheit hat mich einfach gelähmt. Ich meine, das waren meine Kollegen, mit denen ich seit fast zwanzig Jahren zusammenarbeite!“ Harvey nickte bedächtig und begann nun langsam den Tisch zu umrunden. „Und was ist dann passiert? Wurde der Fall nicht irgendwie untersucht oder wurden Disziplinarverfahren eingeleitet?“

„Natürlich mussten wir uns vor unseren Vorgesetzten erklären und Erickson und die anderen hatten gemeinsam beschlossen, den Vorfall so darzustellen, als wäre es Notwehr gewesen. Schließlich wurde auch ich gefragt, aber anstatt die Wahrheit zu sagen, habe ich meinen Kollegen einfach nach dem Mund geredet. Ich wollte meinen Job nicht verlieren! Meine 8-jährige Tochter ist schwer krank und ich hatte sowieso kaum genug Geld, um die Dialysebehandlung zu bezahlen. Und ich hab es als allein erziehender Vater sowieso schon schwer gehabt.“ Der Strom aus Tränen wollte nicht versiegen, denn der Officer hatte nicht nur Angst um sein Leben. Nein er hatte auch Angst um sein Kind. Was sollte denn aus seiner Tochter werden, wenn er tot war? Wer würde dann für die Dialysebehandlung aufkommen und wer würde sich um sie kümmern? Ihre demenzkranken Großeltern? Nein, ganz sicher nicht. Und an Harveys Mitgefühl konnte er ja auch schlecht appellieren. Dieser hatte seinen besten Freund verloren und er wäre durch einen Kopfschuss beinahe gestorben. Und er war völlig unschuldig zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden! Wie sollte dieser Mensch da noch Mitleid haben? Es war doch nur völlig verständlich, dass Harvey ihn jetzt abgrundtief hasste und ihm die schwerkranke Tochter völlig egal war. Dawson hatte vollstes Verständnis dafür, dass er gleich genauso endete, wie seine 20 Kollegen oder die 15 deutschen Priester. „Soll ich Ihnen erzählen, was passiert ist, Mr. Dawson? Im Gefängnis habe ich wirklich eine nette Bekanntschaft mit einem Menschen gemacht, von dem Sie sicherlich gehört haben müssen. Sein Name ist Jeffrey Blalock, er ist auch bekannt als Jeff the Killer. Die Narben in meinem Gesicht und an meinem Hals sind ein nettes Souvenir von ihm, als er versuchte, mich umzubringen. Aber er hat mir auch sehr viele nützliche Dinge übers Töten beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man ein Blutbad am besten anrichtet und wie man einem Menschen ganz langsam und vorsichtig die Haut abzieht.“ Hier hielt Harvey nun das Skalpell an Dawsons rechte Wange und beobachtete, wie dieser nun wirkliche Todesangst bekam und schon damit rechnete, von ihm genauso gehäutet zu werden wie seine anderen Opfer. Doch es passierte nichts. Nein, Harvey setzte zwar das Skalpell an, aber er führte den Schnitt nicht aus. In seinem Blick lag etwas Schwermütiges und Trauriges. Es war in diesem Moment nur äußerst schwer zu sagen, was er wirklich dachte. „Wissen Sie, dass man an mir einen experimentellen Eingriff durchgeführt hat? Man pflanzte mir das Hirn meines toten Freundes ein und seitdem sehe ich ihn. Ja, er steht in dem Moment zu ihrer Rechten und hört alles, was wir sagen.“ Sofort drehte Dawson seinen Kopf nach Rechts, aber er sah niemanden. „Machen Sie sich keine Mühe, ich bin der Einzige, der ihn sehen und hören kann. Chris pflegt immer zu sagen „Das ist eine typische Hamlet-Situation.“ Nun, MacBeth trifft es wohl eher, wenn ich so darüber nachdenke. Seit ich nach dieser Operation aufgewacht bin, kann ich ihn sehen und hören und ich spüre sogar, wenn er eine Hand auf meine Schulter legt. Können Sie sich vorstellen, wie schlimm das eigentlich ist? Ich weiß nicht einmal, ob ich verrückt bin, oder ob bei der Operation etwas fruchtbar schief gelaufen ist. Jeden Tag und jede Sekunde sehe ich ihn und dabei ist er tot… Stellen Sie sich mal vor, sie würden Ihre tote Frau Tag für Tag sehen, obwohl sie nicht mehr lebt. Oder Sie sehen Ihre kleine Tochter Celia, nachdem sie gestorben ist. Wenn Sie sich das vorstellen können, dann wüssten Sie, wie es mir geht.“ So viel Schmerz, dachte Dawson, als er in diese grasgrünen Augen sah, in denen es keinen Glanz mehr gab. So viel Schmerz, Leid und Hoffnungslosigkeit spiegelten sich in ihnen wieder… Es schien so, als würde nur diesen Menschen nur noch der Wunsch am Leben erhalten, dass sich an dieser grausamen Ungerechtigkeit in diesem Land etwas änderte. Sonst gab es da nichts mehr. „Aber das wirklich Grausame an Chris’ Tod ist, dass er fast genauso krank war, wie Ihre Tochter. Er lag mit Leukämie im Krankenhaus und hat zwischendurch mit dem Tod gekämpft. Und kaum, dass er seine Krankheit überwunden hatte, wurde er einfach so umgebracht! Und sagen Sie mir bloß nicht, dass das bloß ein Unfall gewesen war. Wären Sie und Ihre Kollegen nicht gewesen, dann hätte Chris nicht sterben müssen!“ Nun war Harvey laut geworden und wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. Das war nicht gespielt oder vorgetäuscht. Diese Wut war echt und die 35 Opfer haben es sicher auch am eigenen Leib zu spüren bekommen. Dawson wusste, dass er sterben würde, alles Bitten und Flehen würde auch nichts bringen. Aber was ihm wirklich Angst machte, war die Tatsache, dass Harvey den Namen seiner Tochter kannte. „Wo… woher kennen Sie den Namen meiner Tochter?“ Hier aber spielte sich ein eiskaltes Lächeln auf Harveys Lippen und wieder begann er mit seinem Skalpell zu spielen. „Mein Informant versteht eben sein Geschäft. Ich weiß, wo Sie wohnen, in welchem Krankenhaus Ihre Tochter ist und welche Medikamente sie bekommt.“ Panik stieg in den Polizisten auf, als er das hörte. Worauf wollte dieser Kerl denn hinaus? Hatte er etwa vor, seine Tochter zu töten? Wollte er ihn vielleicht vor die Wahl stellen? „Bitte, lassen Sie meine Tochter in Ruhe. Wenn Sie mich töten wollen, dann tun Sie es, aber tun Sie meinem Kind nichts!“ Hierauf verdüsterte sich Harveys Blick und er packte mit seiner freien Hand Dawson an der Kehle und drückte zu. „Sie wollen mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe? Sind Sie sich überhaupt im Klaren darüber, in welcher Lage Sie sich befinden? Sie haben gar kein Recht darauf, mir irgendetwas zu verbieten!“

„Es… es tut mir Leid…“ Daraufhin ließ Harvey wieder von ihm ab und betrachtete seine Geisel eine Weile, ohne etwas zu sagen. Dann aber setzte er wieder ein eiskaltes Lächeln auf und legte sein Skalpell weg. Stattdessen holte er eine Spritze hervor und zog langsam die Kappe ab. Dawson wusste, was das bedeutete und geriet in Panik. Er hatte die Autopsieberichte seiner Kollegen gelesen und wusste, dass der Skinner seine Opfer mit Tetrodotoxin lähmte, um sie dennoch bei vollem Bewusstsein häuten und dann töten zu können, ohne dass sie sich zur Wehr setzen konnten. „Da Sie gerade so vorlaut waren, Mr. Morgan, werde ich meine Pläne ändern. Wenn ich mit Ihnen fertig bin, knöpfe ich mir die kleine Celia vor.“

„Nein bitte! Ich flehe Sie an, bitte tun Sie meinem Kind nichts. Sie hat Ihnen nichts getan, sie ist unschuldig. Es tut mir Leid, was ich Ihnen und Chris angetan habe und ich wünschte, ich hätte damals etwas unternommen, damit das alles nicht so weit hätte kommen müssen. Sie können doch nicht ein unschuldiges achtjähriges Kind töten wollen, das weder Ihnen noch überhaupt jemandem etwas getan hat.“ Doch Harveys Lächeln blieb und schließlich stach er die Nadel in Dawsons Hals, woraufhin er ihm das Mittel injizierte. „Oh, Sie werden sich wundern, zu was ich alles in der Lage bin.“ Dawson spürte, wie langsam sein Bewusstsein schwand und selbst seine Zunge lahm wurde, sodass er kaum noch sprechen konnte. Celia… dieser Kerl wird Celia töten… Er versuchte, sich mit aller Macht bei Bewusstsein zu halten, doch der Kampf wurde mit jeder fortschreitenden Sekunde immer schwerer. Der ganze Raum verschwand und alles wurde in eine tiefe Dunkelheit getaucht.
 

Als Dawson wieder aufwachte, lag er auf der Couch in seinem Apartment und sein Kopf schmerzte. Verwirrt sah er sich um und begriff zunächst nicht, was passiert war. Seltsam, dachte er und setzte sich langsam auf. Habe ich das vorhin bloß geträumt? Bin ich etwa auf der Couch eingeschlafen und habe bloß geträumt, dass der Skinner mich entführt und beinahe getötet hätte? Verrückt, wirklich verrückt. Dawson begann ungläubig zu lachen. Für einen einfachen Traum hatte er sich aber ganz schön echt angefühlt. Er konnte sogar noch den Stich im Hals spüren, der von der Nadel herrührte. Dawson griff zu seinem Handy, welches sich auf dem Couchtisch befand und stellte fest, dass er mehrere Stunden tief und fest geschlafen hatte. Und außerdem hatte er gleich drei Anrufe verpasst. Ein Schreck durchfuhr ihn als er las, dass das Krankenhaus angerufen hatte. Es musste etwas mit seiner Tochter passiert sein. Hatte er etwa doch nicht geträumt und hatte dieser Serienmörder vor, seiner Tochter etwas anzutun, als Rache für seinen toten Freund? Sofort schnappte sich Dawson seine Jacke und die Autoschlüssel und fuhr auf den schnellsten Weg zum Krankenhaus. Die Angst um seine Tochter war unbeschreiblich groß, denn immerhin hatte dieser Harvey ja angedroht gehabt, Celia umzubringen.

Die Autofahrt schien sich ewig hinzuziehen, obwohl Dawson mehrere rote Ampeln überfuhr und mindestens 20km/h zu schnell fuhr. Er raste um die Kurven und lediglich ein Wunder hielt ihm die Streifenpolizei vom Leib. Nach einer Viertelstunde erreichte er schließlich das Krankenhaus, parkte am Straßenrand und eilte am Empfang vorbei direkt zu den Treppen, welche zu den oberen Etagen führte. Er rempelte mehrere Pfleger und Patienten an und erreichte dann endlich die vierte Etage. Keuchend blieb er kurz stehen, um Luft zu holen. Der Schweiß lief ihm in die Augen und seine Lunge schmerzte. Doch er riss sich zusammen und lief weiter, bis er die Kinderstation erreichte und das Zimmer erreichte, wo seine Tochter lag. Zuerst hoffte er noch, dass er sich völlig unnötig Sorgen gemacht hatte und alles tatsächlich nur ein Traum gewesen war. Doch als er dann die Tür öffnete und ein leeres Zimmer vorfand, traf ihn der Schlag und sein Herz setzte fast aus. Sie war nicht hier… er war zu spät. Harvey hatte sie bereits geholt und entführt. Celia… seine arme kleine Celia war doch erst acht Jahre alt. Warum nur hatte Harvey ein unschuldiges Kind getötet? Warum nicht ihn, wo er es doch war, der ihn niedergeschossen hatte? Dawson musste sich an der Wand abstützen, doch er hatte keine Kraft mehr in den Beinen und sank in die Knie. Er schaffte es nicht einmal zu weinen, sondern starrte nur betäubt ins Leere. Eine Stimme hinter ihm ertönte und eine Krankenschwester trat in sein Blickfeld. „Sir, geht es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Meine… meine Tochter…“

„Sind Sie Mr. Dawson, der Vater von Celia Dawson?“ Ein schwaches „ja“ war die einzige Antwort, zu der er imstande war. „Kommen Sie bitte mit.“ Beinahe mechanisch und wie betäubt folgte der Polizist der Krankenschwester und war sich sicher, was gleich kommen würde. Entweder würde er gleich auf seine Kollegen treffen, die das Verschwinden seiner Tochter untersuchten, oder er musste sie in der Leichenhalle identifizieren. Großer Gott, warum nur war er nicht schneller gewesen und hatte diese Tragödie verhindert? Jetzt würde er sie nie wieder sehen und wenn, dann nur ihre Leiche.

Die Krankenschwester führte ihn durch eine Zahl von Gängen, bevor es dann die Treppe runterging. Dawson war so in seinen Gedanken gefangen, dass er gar nicht registrierte, wohin er eigentlich geführt wurde, aber das war ihm auch egal. Die Worte der Schwester hörte er gar nicht, sie klangen in seinen Ohren, als würden sie von irgendwo weit her kommen oder als wären sie durch Watte gefiltert worden. Dann blieben sie an einer Tür stehen, die die Schwester öffnete und Dawson wurde schließlich hineingeführt. Zu seiner Verwunderung war es nicht die Leichenhalle, sondern ein Aufwachraum für Patienten nach einer Operation. Und in einem der Betten lag seine kleine Celia und schlief seelenruhig. Sie war an ein EKG angeschlossen und es schien ihr gut zu gehen. Und sie war nicht alleine, denn in dem anderen Bett lag Harvey und auch er schien zu schlafen. Nun war Dawson völlig verwirrt und wandte sich an die Schwester. „Was… was hat das…“

„Ich hatte Ihnen doch erzählt gehabt, dass wir mehrmals versucht haben, Sie zu erreichen. Wir haben nämlich kurzfristig einen geeigneten Spender gefunden und dieser junge Mann hat sich bereit erklärt, Ihrer Tochter eine Niere zu spenden. Da sich Celias Zustand verschlechtert hatte, mussten wir die Operation sofort durchführen.“ In diesem Moment wurde Dawson endgültig von seinen Gefühlen überwältigt und er musste sich erst einmal setzen. Celia war wohlauf und sie hatte eine neue Niere? Aber warum bloß hatte Harvey das getan? Hatte er nicht angedroht gehabt, er würde Celia etwas antun? Wieso spendete er ihr eine Niere, wenn ihr Vater ihn um ein Haar erschossen hätte und zudem für den Tod seines besten Freundes mitverantwortlich war? Wieso um alles in der Welt rettete er das Kind seines Beinahemörders und setzte dabei quasi selbst sein Leben und seine Gesundheit aufs Spiel? Aber dann fiel es Dawson wie Schuppen von den Augen. Harvey hatte doch gesagt gehabt, es ging ihm nicht um persönliche Rache und er hatte auch nicht direkt gesagt, dass er ihn und seine Tochter töten wollte. Aber was sollte diese ganze Aktion und warum spendete er Celia eine Niere? „Wie… wie geht es Celia?“

„Ihr Zustand ist stabil und es gab auch keine Komplikationen. Natürlich wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen, wie gut ihr Körper die neue Niere annehmen wird, aber bislang sieht es sehr gut aus.“

„Und was ist mit ihm?“

„Mr. Dahmer geht es auch gut. Er muss sich nur von der Operation erholen.“ Dawson ging zu seiner Tochter hin und strich ihr sanft durchs Haar. Ihr Gesicht war blass und sie war etwas mager und ausgezehrt durch die Dialysen. Aber es schien so, als würde langsam das Leben in sie zurückkehren. Harvey hatte doch tatsächlich seiner Tochter das Leben gerettet mit der gespendeten Niere. Seine kleine Celia würde nun endlich gesund werden und ein normales Leben führen können, ohne diese ganzen Krankenhausaufenthalte und Dialysen. Mit einem liebevollen Kuss auf ihre Wange ging Dawson und wartete, bis beide wieder aufwachen würden. Dies dauerte knapp zwei Stunden, aber als er Celia auf ihrem Zimmer besuchen ging und ihr strahlendes Lächeln sah, wurde er für diese Wartezeit mehr als entschädigt. Überglücklich schloss er sie in die Arme und war noch nie in seinem Leben so froh, sie in den Armen zu halten. Zwar war sie noch körperlich sehr erschöpft, aber allein von ihr zu hören, dass sie sich viel besser fühlte (trotz der Schmerzen durch die Transplantation), nahm ihm eine große Last von der Seele. „Daddy“, sagte sie schließlich und sah ihn mit ihren großen funkelnden Augen an. „Wie geht es eigentlich Harvey?“

„Meinst du den jungen Mann, der neben dir gelegen hatte?“ Sie nickte. „Harvey ist mein Freund. Er ist mich besuchen gekommen und hat gesagt, dass er mir helfen wird, wieder gesund zu werden.“

„Wie oft ist er dich denn besuchen gekommen?“

„Seit…“, die Kleine musste überlegen. „Seit einem Monat, glaube ich. Er hat mir Geschichten vorgelesen und einen Piraten gespielt. Er ist Schauspieler und war richtig lustig. Geht es ihm gut?“

„Ja, es geht ihm gut.“

„Sagst du ihm bitte „danke“ für mich? Versprochen?“ Dawson versprach es und gab seiner Tochter einen Kuss, dann legte sie sich hin und schlief wieder ein. Sie brauchte jetzt dringend Ruhe, um sich von der Operation zu erholen. Eine Weile blieb der Polizist bei ihr, dann verließ er das Zimmer und die Kinderstation. Sein Weg führte in die untere Etage, wo Harvey Dahmer in einem Einzelzimmer lag. Auch er sah erschöpft und abgekämpft aus. Dawson schloss die Tür hinter sich und setzte sich zu ihm ans Bett. „Und? Wie geht es Ihrer Tochter?“

„Sie fühlt sich trotz der Schmerzen viel besser. Ich glaube, sie wird tatsächlich gesund werden.“

„So ein Glück“, seufzte Harvey und lächelte. Es war kein aufgesetztes und vorgetäuschtes Lächeln, sondern aufrichtig und man sah ihm die Erleichterung an. Dawson aber sah nicht danach aus, als könnte er lächeln. Nein, ihm plagten Schuldgefühle und er wusste nicht, wie er Harvey gegenüber treten sollte. Er hatte ihm zugetraut, dass er Celia etwas antun würde und dabei hatte er ihr seine Niere gespendet. „Ich möchte mich und auch im Namen meiner Tochter bei Ihnen bedanken. Sie haben Celia das Leben gerettet. Aber… warum haben Sie das getan? Warum haben Sie mich entführt und mich glauben lassen, Sie würden mich und meine Tochter umbringen wollen? Wieso haben Sie mich nicht getötet, obwohl ich mitschuldig an Ihrem Zustand und dem Tod Ihres besten Freundes bin?“

„Ich habe Ihnen doch gesagt gehabt, dass ich keine Rache will und Celia hat nichts mit dem zu tun, was zwischen uns beiden vorgefallen ist. Und außerdem hatte ich niemals vorgehabt, Sie oder das Mädchen zu töten.“ Nun verstand Dawson gar nichts mehr. Harvey war doch der gefürchtete Skinner, der es auf korrupte und kriminell gewordene Polizisten abgesehen hatte und er, Jeremiah Dawson, gehörte doch auch dazu. Eigentlich hätte Harvey doch allen Grund gehabt, ihm genauso die Haut abzuziehen, wie all seinen Opfern zuvor. „Warum?“ Harvey sah zur Zimmerdecke und sein Blick nahm wieder etwas Melancholisches an. „Ich jage Polizisten, die einen Scheißdreck darauf geben, wie viele Leben sie zerstören, nur um ihre eigene Haut zu retten. Sie handeln aus rein selbstsüchtigen Gründen und…“

„Aber ich habe doch auch aus Selbstsucht so gehandelt“, unterbrach Dawson und kämpfte nun mit den Tränen. „Ich habe Sie fast umgebracht und Ihr Freund ist meinetwegen tot. Wegen mir waren Sie im Gefängnis.“

„Was passiert ist, das ist passiert“, erklärte Harvey mit ruhiger Stimme. „Und wenn ich offen gestehen muss, habe ich Sie auch wirklich gehasst. Aber ich habe mir Ihre Person näher angesehen und schließlich erkannt, warum Sie das getan haben. Sie haben aus selbstsüchtigen Gründen gehandelt, weil Sie nur auf die Weise das Überleben Ihrer Tochter garantieren konnten. Ohne das Geld, was Sie verdient hätten, hätte Celia auf lange Sicht ohne die Dialysen nicht überleben können. Als ich erkannt habe, dass Sie nicht aus Habsucht, sondern aus Sorge um Ihre Tochter so gehandelt haben, da hatte ich Verständnis für Sie. Und dann habe ich mir überlegt, was ich tun könnte und ließ daraufhin einen Test machen. Da ich schon zuvor schon Blut und Knochenmark gespendet habe, ging alles recht schnell und so erfuhr ich, dass ich ein geeigneter Spender für Celia bin. Schon verrückt diese Ironie, nicht wahr?“

„Ich… ich habe das nicht verdient. Nach alledem, was ich Ihnen angetan habe, riskieren Sie Ihr eigenes Leben und Ihre Gesundheit.“

„Ja, das ist schwer nachvollziehbar, das stimmt schon“, gab Harvey zu und lächelte müde. „Ich habe so viele Menschen umgebracht und das auf solch eine abscheuliche Art und Weise. Aber in Wahrheit ist dies alles nur eine Maske. Mit meinen grausamen Taten versuche ich der Welt die Augen zu öffnen und obwohl ich äußerst brutal und eiskalt zu meinen Opfern bin, ist das nicht mein wahres Ich. Derjenige, der Celia die Niere gespendet hat, war nicht der Skinner, sondern Harvey C. Dahmer. Ich hab es auch nicht getan, weil ich einfach so Lust dazu hatte, sondern weil ich ein Zeichen setzen wollte. Auch für mich selbst.“

„Und was für eines?“

„Dass man trotz dieser Vorgeschichten in solchen Situationen helfen sollte. Und wenn man schon nicht vergeben kann, dann sollte man doch wenigstens so viel Menschlichkeit besitzen, um einen todkranken Angehörigen seines Feindes das Leben zu retten, wenn man dazu in der Lage ist. Im Grunde ist das, was ich tue, wirklich ziemlich widersprüchlich: Ich bin grausam und brutal, um gleichzeitig mit solchen Aktionen an der Menschlichkeit zu appellieren. Menschlichkeit ist nicht selbstverständlich, Mr. Dawson. Nicht jeder Mensch besitzt sie und viele verwerfen sie einfach. Dabei ist die Menschlichkeit genau das, was uns von Monstern unterscheidet. Zwar bin ich als der Skinner ein Monster, aber ich bin und bleibe lediglich ein Monster zum Zweck. Aber ich will nicht nur die Menschen durch Angst zum Umdenken bewegen. Ich will auch mit solchen Taten eine Änderung bewirken. Deshalb habe ich nur eine einzige bescheidene Bitte an Sie, Mr. Dawson: Allein Ihrer Tochter zuliebe und anderen, die Opfer der Willkür von Polizisten und Amts- und Würdenträgern sind, sollten Sie Ihre bisherigen Handlungen überdenken und sich die Frage stellen, ob Sie nicht etwas dagegen tun können. Ich verlange nicht, dass Sie den gleichen Weg einschlagen wie ich, denn dieser Weg ist im Grunde falsch, aber notwendig. Wenn Sie irgendwann den Mut finden sollten, sich gegen solche Machenschaften innerhalb der Polizei zu wehren und sich für die Opfer stark zu machen, dann tun Sie es auch. Das ist meine einzige Bitte an Sie.“ Und hierbei ergriff Harvey seine Hand, während er sprach. Dawson war überwältigt und war kaum in der Lage, darauf zu antworten. Harvey hatte sich ihm als Skinner offenbart und bat noch nicht einmal darum, dass er seine Identität geheim hielt. „Sind Sie sich denn überhaupt im Klaren, was Sie da eigentlich tun? Ich bin Polizist und verpflichtet, Sie hier und jetzt wegen mehrfachen Mordes zu verhaften. Man wird Sie zum Tode verurteilen!“

„Das weiß ich“, erklärte Harvey schließlich. „Ich war mir von Anfang an dessen bewusst. Aber wer nicht bereit ist, selbst getötet zu werden, der darf auch keinen anderen Menschen töten. Das war das Risiko, das ich eingegangen bin und deshalb war ich auch bereit, im schlimmsten Falle verhaftet und zum Tode verurteilt zu werden. Ich weiß, dass das, was ich getan habe, ein unverzeihliches Verbrechen war. Ich habe auch nie von mir behauptet dass das, was ich tue, richtig ist. Zwischen richtig und notwendig liegt ein himmelweiter Unterschied. Wenn Sie mich verhaften und einsperren lassen, bin ich Ihnen nicht böse drum. Es ist Ihre Pflicht und damit zeigen Sie, dass Sie trotz allem streng das Gesetz befolgen. Entscheiden Sie ruhig, was Sie tun werden. Ich bin mit jede Ihrer Entscheidungen zu frieden.“ Dawson konnte nicht fassen, was er da eigentlich hörte. Harvey rettete seiner Tochter das Leben und ließ ihn selbst lediglich mit dem Schrecken davonkommen als Lektion für seine Tat und jetzt würde er sich sogar freiwillig verhaften lassen. Was wäre er denn für ein Mensch, wenn er ihn jetzt einfach so verhaften würde? „Sie sind ein Verbrecher, das stimmt und nach dem Gesetz verdienen Sie den Tod. Als Polizist würde ich Sie sofort verhaften. Aber als Vater und Mensch kann ich es nicht tun. Wie könnte ich mich im Spiegel ansehen und es mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn ich den Retter meiner Tochter ins Gefängnis sperre und ihn somit umbringe? Sie verlangen zu viel von mir.“

„Durchaus nicht“, erklärte Harvey und sah ihn mit diesen wunderschönen grasgrünen Augen an. „Sie müssen selbst entscheiden, welchen Weg Sie gehen und was mehr Priorität in Ihrem Leben einnimmt: Ihr Pflichtgefühl oder Ihre Menschlichkeit. Wir alle müssen diese Entscheidung treffen und nicht immer ist diese Entscheidung richtig, egal ob man sich für Pflicht oder Menschlichkeit entscheidet. Es kommt ganz darauf an, wie weit wir sie mit unserem Gewissen vereinbaren können. Auch ich habe solch eine Entscheidung getroffen. Entweder mein Stolz und mein Groll gegen Sie, was den Tod der Kleinen zur Folge gehabt hätte, oder aber meine Menschlichkeit. Und ich habe mich für die Menschlichkeit entschieden, denn sie ist im Grunde das wertvollste Geschenk, das wir neben dem Leben und einer Seele überhaupt besitzen. Und auch wenn ich nicht an die Menschlichkeit der Mächtigen glaube, so habe ich Vertrauen in die Menschlichkeit der Kleinen und Schwachen.“

„Und warum haben Sie mich erst glauben lassen, dass Sie mich und mein Kind töten würden?“

„Das wissen Sie doch selbst: Ich wollte Ihnen Angst machen. Angst ist der beste Lehrmeister dafür, etwas aus seinen Fehlern zu lernen, wenn es verbrannte Finger schon nicht tun. Indem ich Ihnen ein Nahtoderlebnis beschert und Sie vor eine Extremsituation gestellt habe, hat sich dieser Tag sehr tief in Ihr Gedächtnis gebrannt und ich hoffe, ich habe Ihnen klargemacht, dass jede Handlung Konsequenzen hat. Mag sie zum Positiven oder zum Negativen sein. Und indem ich Ihnen die schlimmsten Ängste vor Augen geführt habe, haben Sie hoffentlich jetzt den Mut und vor allem die Motivation, diesen schrecklichen Fehler nicht zu wiederholen und noch andere Menschen ins Unglück zu stürzen.“

„Das werde ich ganz sicher nicht, das verspreche ich Ihnen.“ Und tatsächlich kehrte ein kleiner Glanz in diese grasgrünen Augen zurück, als hätte Dawson diesem ungewöhnlichen Menschen ein klein wenig Hoffnung zurückgegeben. Da Harvey noch ziemlich erschöpft von der Operation war, musste die Krankenschwester den Polizisten aus dem Zimmer schicken. In den nächsten Tagen und Wochen kam Dawson seine Tochter so oft es ging besuchen und sprach auch mit den Ärzten. Von diesen erfuhr er, dass Celias Körper die Niere sehr gut angenommen habe und sie schon bald wieder völlig gesund werden würde. Harvey selbst erholte sich von der schweren Operation nicht ganz so schnell und schien oft Schmerzen zu haben, aber er beklagte sich nicht und sein eiserner Wille, schnell wieder auf die Beine zu kommen, beschleunigte seine Heilung. Dawson hatte sehr lange nachgedacht und nach knapp zwei Wochen, als Harveys Entlassung vor der Tür stand, kam er ihn noch einmal besuchen. „Ich habe nachgedacht, Harvey. Ihre Methoden als Skinner kann und will ich nicht unterstützen oder befürworten. Aber Ihre Gedanken und Ihre Ziele haben einen wahren Kern. Ich werde auf meine Art gegen die Korruption und Kriminalität innerhalb der Behörde kämpfen, nämlich auf legale Art und Weise. Der Grund, warum ich Sie nicht melden werde ist der, dass ich Ihnen das Leben meiner Tochter zu verdanken habe und es das Mindeste ist, was ich für Sie tun kann. Wenn aber der Tag kommt, an dem ich Sie als Skinner überführen muss, dann werde ich Sie nicht mehr laufen lassen.“ Und zu seinem Erstaunen lächelte Harvey zufrieden, als hätte er sich genau diese Antwort gewünscht. „Dann habe ich das erreicht, was ich eigentlich wollte: Ich habe etwas bewirkt und ich bin mir sicher, dass Sie ein wirklich großartiger Polizist werden. Ein wunderbarer Vater sind Sie ja bereits. Kümmern Sie sich gut um Celia, ich wünsche Ihnen noch alles Gute.“ Und zwei Tage später wurde Harvey aus dem Krankenhaus entlassen. Er verschwand ebenso plötzlich von der Bildfläche, wie er aufgetaucht war. Dawson selbst machte sich nicht die Mühe, seinen Aufenthaltsort herauszufinden, er hatte andere Pläne. Wenn seine Tochter vollständig genesen war, würde er seine Ziele in die Tat umsetzen und auf seine Weise gegen Korruption, Amtsmissbrauch und Verdunkelung von Straftaten kämpfen. Aber vor allem würde er sich für Menschlichkeit einsetzen, denn diese hatte Celia das Leben gerettet und könnte noch viele weitere Leben retten.

Harvey the Skinner: Die Thule-Verschwörung

„Aua! Johnny, sei doch ein bisschen vorsichtiger!“

„Stell dich mal nicht so an Herzchen und entspann dich, sonst tut es noch mehr weh.“

„Nur weil du so verdammt grob sein musst. Und wenn du nicht gleich aufpasst, bist du deine Hand gleich los!“

„Hey, ich weiß was ich tue. Ist ja nicht mein erstes Mal. Aber ehrlich gesagt würde es doch viel lustiger werden, wenn ich ein Schwesternkostüm anhätte.“ Ein strafender Blick traf Johnny wie einen Pfeil, den er aber mit einem amüsierten Lächeln völlig ignorierte und mit seiner Arbeit fortfuhr. Während Harvey mit nacktem Oberkörper bäuchlings auf dem Bett lag, hatte sein Mitbewohner mehrere Akupunkturnadeln in seinen Körper gesteckt und schien dabei seinen Spaß zu haben. Kein Wunder, denn in gewisser Hinsicht war Johnny nicht nur ein Arsch, sondern auch ein verdammter Sadist. Eigentlich würde Harvey lieber auf solch eine Behandlung verzichten, aber da er durch eine schwere Operation schon seit fast drei Wochen unter chronischen Schmerzen litt und sich weigerte, Schmerzmittel zu nehmen, hatte Johnny eine etwas andere alternative Behandlungsmethode vorgeschlagen. Tatsächlich verstand Johnny sein Handwerk, aber manchmal war er einfach grob und hatte seinen kleinen Spaß dabei, wenn Harvey herumjammerte. Er besaß eben einen echt miesen Charakter. „Und? Hat sich diese Operation denn wenigstens für dich gelohnt?“

„Du kannst doch durch meine Augen sehen, dann weißt du doch, wie die ganze Sache ausgegangen ist.“

„Natürlich, aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch in dein Innerstes blicken kann. Und außerdem wäre es doch ziemlich langweilig, wenn wir nichts zum Reden hätten. Mit Chris kann ich ja leider nicht reden, wenn du nicht da bist. Der Gute ist ja recht anhänglich, da könnte man glatt neidisch werden.“ Harvey sagte nichts dazu, sondern strafte Johnny mit einem weiteren bösen Blick. Schließlich, als die Behandlung vorbei war, zog der Mitbewohner mit dem miesen Charakter nach und nach die Nadeln heraus. „Um auf deine Frage zurückzukommen“, sagte Harvey schließlich, er seinen Kopf auf den Armen abgelegt hatte. „Mir kam es darauf an, das Richtige zu tun. Warum soll ich denn ein kleines Kind sterben lassen, nur weil ich einen Hass auf den Vater schiebe, weil der mir in den Kopf geschossen hat und für Chris’ Tod verantwortlich ist? Aber ich denke, dass sich die Sache gelohnt hat. Die kleine Celia wird dank der neuen Niere wieder gesund und ihr Vater hat seine Fehler bereut. Allein, dass er jetzt auch selbst gegen seine kriminellen Kollegen vorgehen will, ist doch ein guter Fortschritt und bringt mich meinem Ziel näher. Jetzt wird sich nicht nur äußerlich, sondern auch im Inneren etwas ändern.“

„Ich finde aber trotzdem, dass du ganz schön übertrieben hast“, sagte Chris schließlich, der sich die ganze Zeit zurückgehalten und den beiden bloß zugehört hatte. „Ihm zu drohen, dass du seiner Tochter etwas antust, war doch wohl ein bisschen heftig, findest du etwa nicht?“

„Wenn er keinen Schock fürs Leben gekriegt hätte, dann hätte er bis an sein Lebensende diese Feiglingshaltung und würde sich von seinen Kollegen unter Druck setzen lassen, wenn sie Straftaten begehen. Wer in eine Extremsituation gerät und den Tod konfrontiert, kann über sich selbst hinauswachsen.“

„V wie Vendetta, richtig?“ kam es von Johnny, der zwar nicht die gleiche literarische Begeisterung teilte wie die beiden Schauspieler, aber dafür war er in Filmen sehr bewandt. Harvey nickte zur Bestätigung. „So in der Art habe ich mir das gedacht. Allerdings werde ich wohl in der nächsten Zeit kaum etwas ausrichten können. Manchmal kann ich kaum stehen. Naja, so brauch ich für eine gewisse Zeit wenigstens nicht mehr Menschen zu häuten oder aufzuschlitzen. Da bin ich auch mal froh drum.“ Johnny schwieg dazu und begann die Nadeln zu reinigen. Über irgendetwas machte er sich Gedanken, allerdings war ihm nicht anzusehen, was es war. „Alles in Ordnung bei dir, Johnny? In der letzten Zeit bist du irgendwie nachdenklich.“

Doch anstatt zu antworten, legte er die letzten Nadeln beiseite und ging einfach. Doch anstatt durch die Tür, verschwand er einfach durchs Fenster. Es war eben eine von Johnnys sehr merkwürdigen Angewohnheiten, immer durch Fenster zu klettern. Das lag vermutlich daran, dass er einfach jemand war, der aus Prinzip gegen Gesetze, Regeln und Gewohnheiten verstieß. Aber er selbst verlangte von anderen, dass sie sich nach seinen Regeln zu richten hatten. Nun, Harvey hatte sich mit diesem schwierigen Zeitgenossen gut arrangieren können und auch wenn er es nicht offen zugeben würde, war er froh, dass Johnny bei ihm wohnte. So hatte er wenigstens einen lebenden Mitbewohner, der ihn von seinem Kummer und seinen schwermütigen Gedanken ablenken konnte. Auch wenn er ihn manchmal an den Rand des Wahnsinns trieb… Schließlich, nach einigen Stunden klingelte das Telefon und als Harvey abnahm, meldete sich Johnnys Stimme. Er klang genauso vergnügt wie sonst und grüßte, als wäre nichts gewesen. „Heyho Harv, wie schaut’s aus? Kannst du dich wieder gut bewegen?“

„Äh ja, es geht mir gut. Wieso fragst du?“

„Dann komm am besten in unseren Lieblingspub. Es gibt da nämlich etwas sehr Interessantes. Mal zur Abwechslung keine Päderasten-Priester und kriminellen Beamten. Hättest du vielleicht Interesse an einer antisemitischen Organisation, die sich mit Experimenten an Menschen beschäftigt?“ Harvey runzelte die Stirn, als er das hörte. „Ist das nicht ein bisschen 40er-Jahre-mäßig?“

„Nicht ganz. Das Ganze begann schon fast 30 Jahre vorher und die Gruppe besteht bis heute noch. Und wenn mich meine Informationen nicht täuschen, hat nicht nur Chris etwas damit zu tun gehabt, sondern auch eine Reihe von anderen Menschen.“ Diese Information genügte Harvey, um sofort einzuwilligen, sich Johnnys Worte anzuhören. Wenn es etwas mit Chris’ Tod zu tun hatte, dann musste er der Sache nachgehen. Als das Gespräch beendet war, sah Harvey verwundert seinen verstorbenen Freund an, den nur er und Johnny sehen und hören konnten. „Erklär mir das mal, Chris: Was zum Teufel hast du mit einer Gruppe Nazis zu tun?“

„Keine Ahnung, ich hatte noch nie etwas mit solchen Leuten zu tun“, antwortete sein bester Freund und zuckte dabei mit den Achseln. „Johnny ist der Einzige, der zu meinen wirklich ungewöhnlichen Bekanntschaften zählt. Womöglich erfahren wir die Antwort, wenn wir erst einmal bei Johnny im Pub sind.“ Da hatte er auch nicht ganz Unrecht und wenn Chris tatsächlich zu solchen Individuen Kontakt gehabt hätte, dann hätte er es Harvey längst gesagt. Sie beide hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. „Wobei…“ begann Chris schließlich, verschränkte die Arme und legte den Kopf nachdenklich nach hinten. „Es gab in meiner Schulzeit einen Jungen an der Schule, der etwas seltsam war. Das war kurz bevor ich zu deiner Schule wechselte. Er war eigentlich ein netter Kerl, aber er hatte etwas ziemlich Unheimliches an sich, sodass die meisten Kinder Angst vor ihm hatten. Sie hatten sogar versucht gehabt, ihn umzubringen, indem sie ihn die Treppen hinuntergestoßen oder ihn aus dem Fenster geworfen hatten. Der schlimmste Vorfall aber war schließlich der Grund, warum ich die Schule schnellstmöglich wechseln wollte, weil ich Angst vor den anderen bekam.“

„Wieso? Was ist passiert?“

„Sie haben den Jungen zuerst verprügelt und ihm dann Säure ins Gesicht geschüttet. Er konnte sich gerade noch retten, indem er seine Augen mit seinem Arm schützte. Trotzdem hat es ihn den Arm, die untere Gesichtshälfte, als auch Brust und Hals verätzt. Er hat fürchterlich geschrieen und die Kinder sind einfach abgehauen. Ich bin bei ihm geblieben und hab versucht, ihm zu helfen, bis der Notarzt eintraf. Das hat mich selbst Jahre später beschäftigt.“ Das war wirklich eine schlimme Geschichte und für Harvey kaum vorstellbar. Wie konnten Kinder bloß so grausam sein und einen wehrlosen Jungen zuerst verprügeln und ihn dann mit Säure entstellen? „Hat er es wenigstens geschafft?“

„Ja. Er ist kurz darauf weggezogen und lebte mit seiner Schwester und seiner Cousine in einer anderen Stadt. Allerdings ereignete sich ein schrecklicher Unfall und seine kleine Schwester als auch seine Cousine kamen ums Leben. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört.“ „Wirklich eine schreckliche Geschichte. Da hast du Recht. Aber lass uns am besten gleich gehen, solange die Schmerzen noch nicht zurückgekommen sind.“ Harvey warf sich seine rote Lederjacke über und nachdem er seine Stiefel angezogen hatte, machte er sich auf den Weg zum Pub, wo er bereits von Johnny erwartet wurde. Dieser vertrieb sich die Wartezeit mit einem Dartspiel, wobei das Ergebnis immer wieder „Bull’s Eye“ war. Johnny verfehlte niemals sein Ziel. Obwohl es noch nicht einmal vier Uhr war, trank er bereits einen Martini und schien bei deutlich besserer Laune zu sein als vor wenigen Stunden. „Hey ihr zwei, da seid ihr endlich.“ Johnny warf die letzten beiden Dartpfeile und traf wie immer in die Mitte, bevor er sich dann eine etwas ruhigere Ecke suchte, wo sie in Ruhe reden konnten und nicht auffiel, dass sie sich mit einer nicht existierenden dritten Person unterhielten. Da Harvey noch nichts Alkoholisches trinken wollte, bestellte er sich einfach eine Cola. Aus seiner Tasche, die Johnny meist bei sich trug, holte er eine Akte hervor und legte sie Harvey auf den Tisch. „Erinnerst du dich noch an den Chirurg, der an euren Köpfen herumgeschnibbelt hat?“ Harvey musste überlegen, denn an seine Zeit im Krankenhaus konnte er sich nur noch schwach erinnern und Namen wollten ihm nicht mehr so wirklich einfallen. „Ich glaube, es war ein deutscher Name… Aber ich kann mich nicht mehr erinnern.“

„Es war ein deutscher Name, da hast du Recht. Er heißt Johann Hinrich Helmstedter, er lässt sich aber nur bei seinem Zweitnamen nennen. Ich hatte da so ein ungutes Gefühl bei diesem Namen und als ich dann meine Fähigkeiten bei ihm eingesetzt habe, wurde ich schließlich bestätigt: Der Kerl ist ein Verbrecher der übelsten Sorte. Er ist ein KZ-Arzt und hat in den 30ern und 40ern für die Nazis Experimente an Menschen durchgeführt und in den 50ern für die Amerikaner diese Experimente fortgesetzt.“ Johnny zog ein Foto aus der Akte hervor und zeigte es Harvey. Der Mann auf den Bild hatte eine sehr charismatische und elegante Erscheinung, sein aschblondes Haar war zurückgekämmt und seine Augen waren blaugrau. Es war eindeutig der Chirurg, den Harvey gesehen hatte, aber da stimmte etwas nicht. Der Kerl war nie und nimmer älter als 35 Jahre. Wenn Johnny Recht hatte, dann musste der Kerl mindestens 80 Jahre alt sein. „Willst du mich auf den Arm nehmen? Der Kerl ist nie und nimmer so alt. Oder ist das etwa kein Mensch, so wie du?“

„Doch, er ist ein Mensch. Auch wenn er charakteristisch keiner ist. Er verfügt über erstaunliche Fähigkeiten, die er sich bei seinen Experimenten angeeignet hat.“

„Er hat den Jungbrunnen für Hitler entdeckt?“ Johnny lachte, als er das hörte. „Der war gut! Nein, er hat keinen Jungbrunnen entdeckt und auch nicht die absolute Unsterblichkeit. Lies es dir mal selbst durch, dann erkläre ich dir alles Weitere.“ Nach einigem Zögern nahm Harvey die Akte und begann sich die Notizen und gesammelten Dokumente durchzulesen, die Johnny für ihn zusammengetragen hatte. Was er da las, konnte er nur schwer glauben. Dieser Hinrich Helmstedter hatte zu Beginn der 20er ein Experiment begonnen, indem er einen Menschen von Geburt an vollständig isoliert in einem fensterlosen Kellerraum aufwachsen ließ und ihn dort gefangen hielt. Ziel war es herauszufinden, wo Träume ihren Ursprung hatten und ob sie nur durch die Einflüsse der Umwelt entstehen konnten. Die Person, die im Keller eingesperrt war, hatte niemals das Tageslicht erblickt und wurde unzählige Male der psychischen und physischen Folter unterzogen. Und da diese Person trotzdem von Dingen träumen konnte, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, war das für Helmstedter der Beweis gewesen, dass Träume woanders ihren Ursprung haben mussten. So kam er auf ein Wesen, das er als Dream Weaver bezeichnete. Er glaubte, in diesem Wesen den Ursprung aller Träume und die Wurzel des Individualismus gefunden zu haben. Es gelang ihm schließlich, mit solch einem Wesen in Kontakt zu treten und er sollte im Auftrag der Thule-Gesellschaft einen Pakt mit diesem Wesen schließen. Da der Körper des Dream Weavers vor langer Zeit weggesperrt wurde und er sich nur in der Paralleldimension, die er auch die Traumdimension nannte, frei bewegen konnte, war er auf Helmstedter angewiesen. Er lehrte ihn alles über die Dream Weaver und unterstützte seine Experimente. Im Austausch dafür sollte der Dream Weaver ihm ein Mädchen namens Sally ausliefern. Harvey stutzte, als er das las. „Meint er etwa die Sally?“ Johnny nickte. „Sally Kinsley. Sie ist eine Nekromantin und eine äußerst mächtige noch dazu. Sie hat zu Lebzeiten zwei Städte in Schutt und Asche gelegt und hätte das Potential, die ganze Welt zu zerstören.“ Johnny erklärte Harvey, dass Nekromanten Menschen mit einer unglaublich starken negativen Seelenenergie waren, die mit dieser Kraft in der Lage waren, den Tod zu beeinflussen. Sie konnten nach ihrem Tode wieder ins Leben zurückkehren und sogar andere Menschen töten oder retten. Die meisten kehrten in ihren Körper zurück, aber Sally war so ungeheuer mächtig, dass sie keinen normal sterblichen Körper mehr brauchte, sondern sich selbst einen eigenen erschuf, in welchem sie als ein gewöhnliches Mädchen leben konnte. „Eine Gruppe von Parapsychologen, die ebenfalls für Thule arbeiteten, hatten versucht, den Nekromanten die Kraft zu entziehen und damit auch Sally. Sie wollten diese Macht für ihre kriminellen Machenschaften benutzen. Aber Sally machte ihnen mithilfe von Christine (jene Frau, die ich seit längerer Zeit suche) einen Strich durch die Rechnung. Sie nahm den Nekromanten all ihre Kraft und gemeinsam mit ihrem Nachfahren und Christine gelang es ihr, Thules Pläne zu durchkreuzen. Sie konnten damit das Projekt Harmagedon aufhalten. Ein weiteres Projekt ist dieses Dream Weaver Projekt und genau da kommt Chris ins Spiel.“ Hier wurde auch Chris neugierig und schaute den beiden über die Schulter, um selbst einen Blick in die Akte werfen zu können. „Helmstedter gelang es in seinen Experimenten, Menschen die Fähigkeit zu geben, das Unterbewusstsein zu manipulieren und auszuspionieren. Damit waren sie in der Lage, all unsere unterbewussten Handlungen zu steuern und unsere Erinnerungen zu lesen. Schließlich entwickelten sie sogar die Fähigkeit, das Unbewusstsein zu steuern.“ Harvey, der durchaus mit Freuds und Hartmanns Theorie des Unter- und Unbewusstseins vertraut war, erklärte es für Chris, für den das alles etwas unverständlich war. „Das Unbewusstsein ist ein separater Teil des Unterbewusstseins und beinhaltet sämtliche Vorgänge in unserem Körper, auf die wir keinen Zugriff haben. Also zum Beispiel der Stoffwechsel, die Hirnfunktionen und das Herz. Das Unterbewusstsein ist wie eine Art Filter, um unser Bewusstsein nicht zu überfordern. Es filtert viele Einflüsse und Reize aus, die wir nicht direkt wahrnehmen und viele Bewegungen, die bei uns so automatisch ablaufen, werden vom Unterbewusstsein gesteuert. So ist es uns möglich, mehr als nur eine Sache zu tun. Während wir also atmen, blinzeln und laufen, können wir mit anderen reden. Sonst wären wir kaum dazu in der Lage. Im Unterbewusstsein sind auch all unsere Erinnerungen abgespeichert. Selbst jene, auf die wir nicht zurückgreifen können.“

„Ich sehe schon, ein Doktor der Psychologie versteht sein Fach“, lobte Johnny, allerdings klang er ein klein wenig sarkastisch dabei. Dies war aber darauf zurückzuführen, dass er Harvey ein klein wenig ärgern wollte. Chris erschauderte, als er das hörte. „Gruselig, dass manche Menschen zu so etwas in der Lage sind.“

„Die meisten sind sowieso tot. Insgesamt leben nur noch drei von ihnen. Sie nennen sich selbst Konstrukteure und die vierte ist erst letztens getötet worden. Einer davon ist der werte Doktor Helmstedter, die anderen sind einmal sein jüngster Halbbruder und dessen bester Freund.“

„Dieser Mistkerl hat einen Bruder?“

„Ja, aber der ist harmlos. Im Gegensatz zum Rest der Familie ist er ein ehrlicher Kerl und man kann ihm vertrauen.“

„Schön und gut“, sagte Chris schließlich, der ein wenig ungeduldig wurde. „Aber was hat das alles mit mir zu tun?“ Johnny seufzte und auf einmal schwand dieses listige Grinsen, was er sonst immer an den Tag legte. Er hatte irgendwie etwas Bedrücktes angenommen, was sowohl Harvey als auch Chris nicht behagte. „Das Ganze ist sehr kompliziert. Ihr müsst wissen, dass Thule hinter der Waffe eines alten Kultes her ist. Es ist ein Buch, welches durch sieben Siegel verschlossen ist. Für diese Siegel gibt es vier Schlüssel und mit diesem Buch könnte man Katastrophen von apokalyptischen Ausmaßen auslösen. Und ich muss es wissen, denn ich habe sowohl das Buch als auch die Schlüssel versteckt, um die Welt vor ihrem sicheren Ende zu bewahren.“ Zuerst sah Harvey Johnny ungläubig an und verstand nicht, was er davon halten sollte, aber er sah auch keinen Grund, warum sein Mitbewohner ihn verarschen würde. Immerhin war selbst kein Mensch und da war dieses Gerede von einer Waffe dieser Art gar nicht mal so unwahrscheinlich. „Und was hat das nun jetzt mit Chris zu tun und warum man mir sein Gehirn eingepflanzt hat?“

„Ich habe Chris damals nicht zufällig in der Selbsthilfegruppe getroffen“, gestand Johnny schließlich und kratzte sich verlegen am Kopf. Chris wollte gerade etwas sagen und ihm war anzusehen, dass er nicht gerade erfreut war, aber da kam Johnny ihm zuvor. „Ich weiß nicht warum, aber seit Jahrhunderten werden Menschen mit dem Wissen geboren, wo sich diese vier Schlüssel befinden. Papst Urban war der Erste und er schrieb Folgendes: Der erste Schlüssel liegt in den Händen eines Engels, der zweite befindet sich im Besitz des Teufels, der dritte wird von einer Hexe verwahrt und der Schnitter Tod trägt den vierten Schlüssel. Ich vermute, dass es daran liegt, dass ich damals meine eigenen Erinnerungen entfernt habe. Falls ich nämlich gefangen genommen werden sollte, dürften sie niemals von mir erfahren, wo sich diese Waffen befinden. Wie gesagt: Es würde den Untergang der Welt bedeuten. Chris war der Letzte, der mit diesem Wissen zur Welt kam und irgendwie erfuhr Thule davon. Da ich sie mit meinen Fähigkeiten im Auge behalten konnte, konnte ich schneller handeln und löschte seine Erinnerungen an die Schlüssel, die allein für sich schon extrem gefährlich sind und Katastrophen auslösen könnten. Ich dachte, dass es genügen würde, um ihn vor diesen Leuten zu schützen. Aber anscheinend hatte das nichts gebracht und so ließ Thule ihren Einfluss bei der Polizei spielen, damit Chris verhaftet wurde.“ Harvey erinnerte sich an Dawsons Gespräch, der ihn in den Kopf geschossen hatten und dessen Kollegen für Chris’ Tod verantwortlich waren. Er hatte von einer Namensverwechslung gesprochen, aber trotzdem wollte man unbedingt Chris verhaften. War dies alles etwa eine Art Verschwörung gewesen? „Dummerweise starb Chris und Helmstedter konnte unmöglich an das Unterbewusstsein eines Toten heran, weil er weder dies noch überhaupt ein Bewusstsein besitzt. Also nutzte er auch deine Situation Harvey, und pflanzte dir Chris’ Gehirn ein. So hoffte er, an die Informationen zu kommen. Allerdings hat es nicht funktioniert…“

„Weil Chris diese Erinnerungen nicht mehr besitzt?“ Johnny nickte und trank den Rest seines Martinis. Nun bestellte sich auch Harvey etwas Hochprozentiges, um diese Neuigkeiten erst einmal zu verdauen. „Es liegt aber auch daran, dass etwas Unerwartetes bei der Operation passierte. Etwas, das dieser Nazi-Doktor niemals für möglich gehalten hätte. Zuerst war ich mir nicht sicher gewesen und habe die letzten Tage und Wochen nachgeforscht. Aber inzwischen bin ich mir fast sicher: Chris hier ist gar keine Einbildung oder ein Symptom für eine Geisteskrankheit. Sein Geist, also sein Bewusstsein und Unterbewusstsein existiert immer noch. Allerdings bloß in sekundärer Form, da sich sein Gehirn in deinen Körper befindet und somit dein Ich dominiert! Da euer beider Bewusstsein koexistiert, könnt ihr miteinander kommunizieren und du kannst ihn sogar sehen.“ Chris, der von Psychologie kaum eine Ahnung hatte, verstand nur Bahnhof. Harvey hingegen konnte diese Gedankengänge deutlich besser nachvollziehen, war aber sehr skeptisch. Er hatte noch nie von solch einem Fall gehört und es erschien ihm auch relativ unmöglich. Eigentlich hatte er sich sowieso gefragt, warum er trotz des fremden Gehirns immer noch er selbst war. Das wäre eigentlich unmöglich. Johnny erklärte, dass der Mensch aus drei Komponenten bestand: Einer Seele, einem Geist und einem festen Körper. Der Körper war das Gefäß für die ersten beiden Komponenten. Die Seele war der Lebensatem und das, was den Menschen erst lebensfähig machte. Sie teilte sich in positive und negative Energie auf. Die positive repräsentierte das Leben und die negative den Tod. Der Geist repräsentierte das Bewusstsein und Unterbewusstsein und alles, was dazugehörte. „Da die Seele und der Geist quasi im Kopf sitzen, hat sich der Geist oder sogar beides auf deinen Körper übertragen, als man dir Chris’ Hirn einpflanzte. Und da sowohl dein Geist als auch der von Chris unterschiedliche Hirnströme aussenden, die sich überlappen, führte dies zu einer Bewusstseinsanomalie. Das machte es für Helmstedter völlig unmöglich, euch beide auszuspionieren, oder zu beeinflussen. Heißt als: Ihr seid gegen die Konstrukteure immun.“ Harvey atmete erleichtert auf, als er das hörte. Gleichzeitig kamen ihm sogar ein paar Tränen. „Ich… ich bin nicht verrückt?“

„Zumindest nicht in dem Sinne.“ Der Drink kam und Harvey stürzte seinen Whiskey in einem Zuge runter und bestellte sich gleich den nächsten. Zu hören, dass Chris’ Erscheinung nicht auf eine Geisteskrankheit beruhte, sondern von einer Bewusstseinsanomalie herrührte, war eine unendliche Erleichterung für ihn. Auch Johnny schien seine Freude zu teilen, genauso wie Chris. Sie unterbrachen diese ernste Angelegenheit, um Harvey die Chance zu geben, sich erst einmal mit der neuen Situation anzufreunden und vor allem die Tatsache zu feiern, dass Chris keine Halluzination war, sondern er wirklich da war. Doch nach einer Weile beendete Johnny diese Pause und berichtete weiter. „Jedenfalls ist die Thule-Gesellschaft nach wie vor hinter diesen Schlüsseln her und ebenso hinter dem Buch. Wenn ihnen das gelingen sollte, werden sie eine Säuberung einleiten, der mindestens drei bis vier Milliarden Menschen das Leben kosten könnte. Vergesst nicht: Diese Organisation verfolgt die gleichen Ziele wie einst die Nazis: Die Erschaffung einer absolut reinen menschlichen Rasse, die allen anderen überlegen ist. Nämlich die der Arier. Und deshalb werden sie alle erbarmungslos jagen und auslöschen, die nicht in ihr Schema passen. Ausländer, Rassenmischlinge, Behinderte, Alte und Kranke. Heißt also, es würde einen Genozid bedeuten.“ Ein Genozid? Harvey dachte an die Worte Johnnys, die er ihm bei seinem ersten Treffen mit ihm gesagt hatte. Johnny hatte damals seine Mutter aufgehalten, einen Genozid einzuleiten, bei dem sie auch ihren eigenen Sohn auslöschen wollte. Ein schrecklicher Verdacht kam Harvey schließlich. „Hat deine Mutter mit Thule zu tun?“

„Höchstwahrscheinlich. Ich weiß es leider nicht genau, weil sie offenbar sehr zurückgezogen lebt und sich im Hintergrund hält. Aber das würde zumindest erklären, warum Thule von dem Buch weiß. Es gehörte einem antiken Kult an, der noch vor den ersten Religionen existierte und sozusagen die Wurzel des Gottesglaubens darstellt. Dem Kult gehören höhere Wesen an, die von den Menschen wie Götter verehrt wurden.“

„Und was weißt du alles über den Kult?“ Doch ein niedergeschlagenes Kopfschütteln war das ungute Anzeichen dafür, dass Johnnys Gedächtnis nicht mehr ganz auf der Höhe war. „Ich kann mich kaum noch an damals erinnern, weil ich viele meiner Erinnerungen gelöscht habe, damit meine Mutter das Buch und die Schlüssel nicht finden konnte. Ich weiß nur, dass sie uns alle verraten hat und ich deshalb zusammen mit einigen anderen diesen Kult verlassen habe. Ich wollte von Rassen-, Kultur- und Religionstrennung und der absoluten Reinheit nichts wissen und fand diese Methoden verachtenswert. Kurz bevor ich die meisten meiner Erinnerungen löschte, versteckte ich die vier Schlüssel und das Buch und war mir sicher, dass es niemals wieder zu einer solchen Beinahe-Apokalypse kommen würde. Nicht wenn ich das verhindern kann.“

„Das heißt, wir müssten mehr über den alten Kult in Erfahrung bringen, um mehr über unsere Gegner zu erfahren und wie wir sie aufhalten können.“ Das bestätigte Johnny und schon kam er mit einem Vorschlag. „In Bayern hat Thule einen Stützpunkt, wo sich wahrscheinlich nützliche Aufzeichnungen über die Projekte und den alten Kult finden müssten. Kommt aber ganz darauf an, was du willst, Harvey.“ Hier brauchte er nicht lange zu überlegen und erklärte „Wenn ich ein noch schlimmeres Unglück verhindern kann, indem ich Thule zerschlage und verhindere, dass sie die Schlüssel und das Buch in die Hände kriegen, dann werde ich natürlich alles tun, was dafür nötig ist. Was meinst du Chris?“ Auch dieser war absolut einverstanden und damit war die Sache beschlossen. Sie würden sich nach Bayern aufmachen, den Stützpunkt stürmen und Informationen über den alten Kult und die Experimente der Thule-Gesellschaft sammeln, um mehr über ihren wahren Gegner zu erfahren. Die korrupten Beamten und pädophilen Priester waren jetzt erst einmal zweitrangig. Wenn Johnny Recht hatte und eine Organisation von antisemitischen Soziopathen versuchte tatsächlich, mit einer apokalyptischen Waffe einen Genozid einzuleiten, der Milliarden von Menschen das Leben kosten würde, hatte dies den absoluten Vorrang. Harvey würde schon dafür sorgen, dass sie niemals ihre Pläne verwirklichen würden. Selbst wenn der Preis dafür sein Leben war, er würde diese Welt nicht einfach so aufgeben und sie einer Bande von Verrückten schutzlos ausliefern. „Aber eines beschäftigt mich noch“, sagte Harvey schließlich und legte die Stirn in tiefe Falten. „Wenn Chris so ungeheuer wichtig für Thule ist, war es vielleicht ein Zufall, dass er gestorben ist oder ist da etwas passiert, wovon nicht einmal Dawson etwas gewusst hatte? Was, wenn es jemanden gab, der ihn zum Schweigen bringen wollte?“

„Um das herauszufinden, müssen wir den Stützpunkt auseinander nehmen.“

Johnny the Devil: Das verlorene Kind

Der Himmel hatte sich verdüstert und in der Ferne war bereits das Donnern eines herannahenden Gewitters zu hören. Aber selbst wenn es regnen und gewittern sollte, es würde nichts an der Lage des kleinen, namenlosen Mädchens ändern. Am ganzen Körper zitternd und mit nichts als einem einfachen Sommerkleid bekleidet, kauerte sie in der dunklen Ecke einer kleinen Seitengasse, versteckt hinter einem Container. Die Gasse war schmutzig und es stank, aber es war der einzige Ort, wo sie Zuflucht fand. Sie hatte Angst. Angst vor den Menschen, die sie ein Monster nannten und sie herumschubsten, schlugen oder sie wegstießen. Und sie hatte entsetzliche Angst vor sich selbst und dem, was sie auslöste. Nicht weit von ihr entfernt lag die Leiche eines Mannes, wahrscheinlich ein Drogendealer. Von seinem Kopf war nicht mehr viel übrig, nachdem sie ihm diesen versehentlich zerfetzt hatte. Sie wusste nicht, was das eigentlich gewesen war. Er hatte sie am Arm gepackt und bedroht und sie wollte doch nur, dass er sie losließ. Und dann hatte sie diese unheimliche Kraft gespürt, welche schließlich dafür verantwortlich war, dass irgendetwas diesem Mann den Kopf zerstört und ihn somit getötet hatte. Es war auch nicht das erste Mal gewesen, dass sie Menschen auf diese Weise tötete, obwohl sie es doch gar nicht wollte. Manchmal fielen die Menschen einfach tot um, wenn sie sie auf Abstand halten wollte oder etwas riss ihnen plötzlich ein Loch in die Brust. Und dann wiederum geschah es auch, dass die Körper der Leute sich so merkwürdig verdrehten und ihre Knochen brachen. Inzwischen nannten sie alle ein Monster und wer sie sah, der griff sie an oder lief vor ihr weg. Manchmal sah sich das Mädchen in einem Spiegel an um festzustellen, ob irgendetwas an ihrem Aussehen Schuld war, wieso niemand sie lieben konnte. Und zugegeben, ihre Augen waren nicht gerade das, was man normal nennen konnte. Sie waren leuchtend rot und von Schatten umrandet und ihr schwarzes lockiges Haar beschönigte die Tatsache auch nicht. Aber war das der Grund dafür, wieso die Menschen allein deshalb schon wegliefen, wenn sie in ihre Nähe kamen? Wer war sie überhaupt und warum hatte sie diese Gabe? Sie konnte sich an nichts erinnern. Nicht daran, wer sie war und wie ihr Name lautete, sie wusste auch nicht, warum sie diese Kräfte hatte. Wenn sie versuchte, sich zu erinnern, sah sie nur so etwas wie kurze Bilder von einem fensterlosen hell erleuchteten Raum und Männern in Laborkitteln. Aber mehr auch nicht. Seitdem irrte sie ziellos umher und versteckte sich in kleinen Verschlägen oder Gassen. Ihr war kalt und sie hatte Hunger, doch sie traute sich nicht hervor. Sie fragte sich in diesem Moment, was wohl aus ihr werden sollte. Würde sie den Rest ihres Lebens alleine bleiben und für immer so leben müssen, ohne Hoffnung auf Besserung? Gab es denn niemanden auf der Welt, der sie lieben konnte? Bei diesem Gedanken brach sie in Tränen aus und sie fühlte sich furchtbar einsam. Sie wollte doch nur, dass irgendjemand keine Angst vor ihr hatte, ihr die Hand reichte und sagte, dass er sie so lieb hatte wie sie war. Mehr wollte sie nicht, aber dieser Traum würde wohl für immer unerfüllt bleiben. Denn alle Menschen, die mit ihr zu tun hatten, würden früher oder später mit ihrem Leben bezahlen. Sie hörte Schritte näher kommen und jemand pfiff ein Lied. Angst überkam das kleine namenlose Mädchen und sie realisierte, dass da jemand auf sie zukam. Großer Gott, was sollte sie bloß tun? Wer auch immer es war, er durfte ihr nicht zu nahe kommen. Sie hatte Angst, dass sie diese Person schlimmstenfalls auch töten konnte. Und das durfte sie nicht zulassen. Deshalb rutschte sie noch enger an den Container und verbarg sich im Schatten, in der Hoffnung, dass man sie nicht bemerkte und sie in Ruhe ließ. Bitte geh weiter und sieh mich nicht! Ich will dir nicht wehtun… Sie sah den Schatten der Person auf dem Boden und das Pfeifen wurde laute. Nun machte sie sich noch kleiner und sah dann die Gestalt vor ihr stehen. Es war ein Junge von vielleicht 17 Jahren, nicht sehr groß gewachsen und mit ebenso schwarzen Haaren und roten Augen wie sie. Er trug einen schwarzrot gestreiften Rollkragenpullover, darüber noch einen beigefarbenen Pullunder mit Kapuze und einen schwarzen Mantel. Zu den zerschlissenen Jeans trug er kniehohe schwarze Lederstiefel. Er kam direkt auf sie zu und grinste fröhlich. „Na, da hab ich dich doch endlich gefunden.“ Ängstlich sah sie ihn an und stammelte mit zitternder Stimme „K-komm mir nicht zu nahe!“ Gelassen und mit den Händen in den Manteltaschen blieb er stehen und sah sie aufmerksam an. Warum nur zeigte er keine Angst oder Abneigung gegen sie, so wie alle anderen Menschen? Irgendwie schien er ein wenig seltsam zu sein. „Wer bist du und was willst du von mir?“

„Ich? Ich bin Johnny und ich bin hier, weil ich nach dir gesucht habe. Hast ein ganz schönes Chaos angerichtet, als du diese Menschen umgebracht hast. Hab gehört, dass ein Monster mit roten Augen hier sein Unwesen treiben soll, also bin ich mal hergekommen, um das mal näher zu überprüfen. Und was sehe da? Statt einem furchteinflößenden Monster bloß ein kleines, zitterndes Häufchen Elend und daneben ein toter Junkie. Schon eine herbe Enttäuschung, wo ich mich doch extra auf den weiten Weg gemacht habe. Aber andererseits muss ja nicht alles so sein, wie es den Anschein hat, nicht wahr?“ Irgendwie war dieser Junge ihr unheimlich und sie spürte deutlich, dass er anders war als andere Menschen. So als wäre er gar kein Mensch… „Was willst du damit sagen?“

„Damit, dass ich gut Bescheid weiß. Immerhin bin ich ja auch kein Mensch.“

„Und was bist du dann?“

„Früher nannten uns die Menschen Götter, Teufel, Engel oder Dämonen. Aber in Zeiten wie diesen, wo sie nicht mehr an so etwas glauben, nennen sie uns schlicht und ergreifend höhere Wesen. Wir stammen aus einer anderen Welt und einer ebenso anderen Zeit und haben uns schließlich diesem Leben hier angepasst. Inzwischen können die Menschen uns schon gar nicht mehr von ihresgleichen unterscheiden. Genauso wie du dein wahres Selbst hinter der Fassade eines Menschen verbirgst und vorgibst, jemand zu sein, der du gar nicht bist. Aber solange du damit überleben konntest, war es vollkommen in Ordnung, nicht wahr? Dumm nur, dass deine Aura so stark ist, dass die Menschen trotzdem spüren, dass du ein Monster bist.“ Das Mädchen sah ihn angsterfüllt an und fragte sich, was er wohl von ihr wollte. Ein seichter Wind wehte und sie sah etwas an der Innenseite seines Mantels aufblitzen. Messer! Dieser Kerl trug ein ganzes Arsenal an Wurfmessern mit sich herum. Er ist gefährlich, schoss es ihr durch den Kopf und sie fragte sich, was sie tun sollte. Töten wollte sie ihn nicht. Sie wollte überhaupt niemanden töten, diese ganzen Vorfälle waren doch nur ein Versehen gewesen. Womöglich war er ein Killer und sollte sie ausschalten, weil sie zu gefährlich war. Entweder wird er mich umbringen oder ich ihn. Wie soll ich das bloß lösen? „Sag mal Kleine, was genau erhoffst du dir eigentlich von deinem jetzigen Leben? Willst du dich ewig verstecken und Menschen töten, wenn sie dir zu nahe kommen und du Angst vor ihnen hast? Wonach suchst du eigentlich?“

„Ich will wissen, wer ich bin und warum ich diese Kraft habe, die nichts anderes kann, als Menschen zu verletzen, oder sie zu töten.“

„Bist du dir sicher, dass du es wirklich wissen willst? Wenn ich dir einen Rat geben darf: Lass es einfach sein! Du willst doch in Wirklichkeit die Antwort gar nicht wissen. Im Grunde zweifelst du doch selbst, ob du wirklich eine Existenzberechtigung in dieser Welt hast, wenn du nichts anderes tun kannst, als Menschen umzubringen. Wenn es doch eh niemanden gibt, der dich liebt, wieso sollst du dann noch weiterleben? Also was nützt dir die Antwort über den Grund für deine Existenz, wenn du doch sowieso der Auffassung bist, dass du kein Recht darauf hast, zu leben?“

„Ich will endlich Gewissheit haben!“ rief das Mädchen beinahe verzweifelt und die Tränen kamen ihr. Johnnys Worte taten ihr im Herzen weh und sie hasste ihn dafür, dass er das sagte, aber leider war es die Wahrheit. Er hatte sie durchschaut und stellte sie auf die Probe. Er spielte mit ihren Gefühlen und zog sicherlich sein Vergnügen aus ihrem Leid. Was für ein Mistkerl er doch war. Amüsiert über diese Antwort kicherte er. „So, du willst Gewissheit haben. Nun gut, die kannst du haben. Weißt du, ich weiß nämlich ziemlich viele Dinge, denn durch meine Gabe bin ich in der Lage, durch die Augen anderer zu sehen und auch das zu hören, was sie sagen. Darum bleibt mir kein Geheimnis verborgen, von niemandem auf dieser Welt. Du, meine Liebe, bist nichts Weiteres als ein fehlgeschlagenes Experiment, eine billige Kopie. Du wurdest einzig und allein zu dem Zweck im Labor gezüchtet, um später einmal als Waffe für den Krieg zu dienen und all jene auszurotten, die nach den Vorstellungen anderer kein Recht auf ein Leben haben. Du bist eine biologische Zerstörungsmaschine und nichts Weiteres als eine Kopie eines Mädchens namens Sally-Ann Kinsley. Und nichts an dir gehört wirklich dir selbst. Dein Aussehen wie auch deine Kräfte sind nichts Weiteres als Kopien. Sogar deine Gedanken und Zweifel sind die von Sally.“ Ein Abgrund schien sich unter ihren Füßen aufzutun, als sie das hörte und Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überkam sie. Sie war eine Zerstörungswaffe, einzig und allein zu dem Zweck erschaffen, um Menschen zu töten? Stimmte das wirklich? War das wirklich der einzige Grund, warum sie geboren wurde? „Du lügst, das ist nicht wahr!“ „Wer von uns lügt hier?“ fragte Johnny listig und seine Augen funkelten dämonisch. „Du bist hier diejenige, die sich selbst belügt, weil du einfach nicht wahrhaben willst, dass ich Recht habe. Du versuchst vor der Realität zu fliehen und hast deshalb deine eigenen Erinnerungen gelöscht: Weil du nicht akzeptieren konntest, dass du ein Vernichtungswerkzeug bist und absolut gar nichts an dir wirklich dir selbst gehört. Nicht einmal deine Seele oder deine DNA. Alles ist bloß eine minderwertige Kopie, deshalb kannst du diese Kräfte auch nicht unter Kontrolle halten und tötest jeden um dich herum, der dir Angst macht. Im Grunde deines Herzens wusstest du schon die ganze Zeit, dass du eine lebende Waffe bist und bist dennoch davor weggelaufen. Und obwohl du immer wieder Menschen tötest, klammerst du dich ans Leben. Ganz schön selbstsüchtig, oder nicht?“ Die Furcht und die Traurigkeit des kleinen Mädchens wichen langsam und stattdessen wurde ihr Herz von Wut ergriffen. Sie stand auf und rief „Was ist denn selbstsüchtig daran, leben zu wollen?“

„Weil du es dir wünschst, obwohl du weißt, dass deinetwegen noch mehr Menschen sterben werden. Du stellst dein Leben über das der anderen und im gleichen Moment zweifelst du an deiner eigenen Daseinsberechtigung, weil du niemandem wehtun willst. Das ist ein ziemlicher Widerspruch, findest du nicht?“ Worauf wollte Johnny denn eigentlich hinaus? Das Mädchen verstand nicht, was er damit eigentlich sagen wollte und wieso er ihr das alles eigentlich sagte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und hätte ihn im Moment am liebsten geschlagen. „Ich will aber nicht selbstsüchtig sein, okay? Und überhaupt: Hältst du dich für etwas Besseres, nur weil du von dir selbst behaupten willst, du wärst es nicht?“

„Überhaupt nicht“, antwortete er gelassen und lächelte ein wenig hochmütig. „Weißt du, jedes Lebewesen ist selbstsüchtig und niemand bildet eine Ausnahme. Wer behauptet, durch und durch selbstlos zu sein, der ist ein schamloser Lügner. Aber selbstsüchtig zu sein heißt noch lange nicht, dass man dadurch automatisch ein schlechter Mensch ist. Denn ein gewisses Maß an Selbstsucht ist sogar gut, denn das bedeutet, dass wir uns an das Leben klammern und es wertschätzen. Wer nie an sich selbst denkt, der kann sich kein Leben aufbauen, geschweige denn überhaupt überleben. Jede Aktion, jeder Wunsch für uns selbst ist eine Form der Selbstsucht. Wenn wir arbeiten und Geld verdienen, tun wir es in erster Linie allein für uns selbst und wenn wir uns etwas kaufen oder essen und trinken, dann ist es auch Selbstsucht. Ohne ein gewisses Maß an Selbstsucht würde keiner von uns überleben. Und auch du bist selbstsüchtig, weil du dich trotz deiner wahren Natur ans Leben klammerst und dich nicht schon längst umgebracht hast.“

„Und du?“

„Ich bin durch und durch selbstsüchtig und rücksichtslos. Egal was auch kommt, in erster Linie interessiere ich mich nur für mich selbst und dafür, wie ich meine Interessen am Besten durchsetzen kann. Dabei ist es mir vollkommen egal, wie vielen Menschen ich damit vor den Kopf stoße. Rücksicht und Feingefühl waren sowieso nie wirklich meine Stärken. Bevor ich mir auch nur ansatzweise den Kopf über andere zerbreche, denke ich zu allererst allein an mich selbst. Mich kümmert es herzlich wenig, was andere über mich denken und wie sehr sie manchmal unter meinem Egoismus zu leiden haben. Wenn sie ein Problem damit haben, dass ich ein egoistisches Arschloch bin, ist es allein ihr Problem, ich werde es trotzdem tun. Und auch dass wir zwei Hübschen miteinander reden, hat einen selbstsüchtigen Grund. Nämlich, dass ich mir auf die Weise erhoffe, meine Langeweile ein wenig zu zerstreuen und ein klein wenig Ablenkung vom langweiligen Alltag zu finden. Denn heute ist in der Bar eh nicht viel los, da lohnt sich eine Prügelei leider nicht.“ Dass er ein rücksichtsloser und egoistischer Mistkerl war, glaubte sie ihm gerne. Aber dass er so locker darüber redete, dass er einen ziemlich miesen Charakter besaß, war in ihren Augen schon ein bisschen merkwürdig. Entweder besaß dieser Typ auch noch einen absolut narzisstischen Charakter, oder er war einfach nur ein Psycho. Vielleicht aber auch beides. Und sie war nichts Weiteres für ihn, als ein Mittel, um seine Langeweile zu vertreiben? Es tat schon weh, das zu hören. „Das heißt also, du willst mir gar nicht helfen?“

„Wieso sollte ich, wenn du doch so selbstlos bist, wie du von dir behauptest? Wenn du wirklich nicht selbstsüchtig sein willst, dann beende doch hier und jetzt dein Leben. Gib dir die Kugel, stirb den Hungertod oder spring vom nächsten Dach. Keiner wird auch nur eine Träne deinetwegen vergießen und mit deinem Tod würdest du sogar unzählige Menschen retten. Zwar hast du selbst nichts davon, aber so sieht nun mal die absolute Selbstlosigkeit aus, Schätzchen. Und wenn du weiterleben willst, musst du nun mal damit leben, dass du eine Gefahr für andere bist.“ Das Mädchen senkte den Blick und sie vergrub die Hände in ihr Kleid. Was sollte sie bloß tun? Etwa sterben, damit sie keine Menschen mehr töten konnte? Oder weiterleben und versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen? Sie war eine im Labor gezüchtete Killermaschine, ein Experiment, ein Klon von Sally-Ann Kinsley. Nichts an ihr gehörte ihr selbst. Weder ihr Aussehen, noch ihre DNA oder ihre Gabe. Und doch wollte sie nicht glauben, dass sie kein eigenständiges Lebewesen ohne ein eigenes Bewusstsein war. Sie wollte nicht sterben, das wusste sie. Sie wollte weiterleben, auch wenn sie wusste, dass ihr Leben hoffnungslos und einsam war und sie eine Gefahr für andere war, solange sie lebte. Wie Johnny richtig erkannt hatte: Sie war selbstsüchtig. Aber war es denn so falsch, leben zu wollen, obwohl es vielleicht das Leben anderer Menschen fordern konnte? „Ich will nicht sterben“, brachte sie unter heftigen Schluchzern hervor und wischte sich die Tränen weg. „Ich will weiterleben!“ Jonny sagte nichts, sondern betrachtete sie eine Weile, ohne etwas zu sagen. Dann aber kam er direkt auf sie zu und griff in die Innenseite seines Mantels. Das kleine Mädchen bekam Angst und glaubte zunächst, er würde sie mit dem Messer umbringen wollen. „Nein, bleib weg! Lass mich in Ruhe!“ Sie wich zurück und versuchte ihr Gesicht mit den Händen zu schützen. Doch dann spürte sie, wie Johnny etwas mit ihren Haaren machte und als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, dass er ihr mit seinem Messer ihr Haar kürzer geschnitten hatte. Er hielt ihr abgeschnittenes lockiges pechschwarzes Haar in der Hand und ein kräftiger Windstoß wehte die einzelnen Strähnen davon. „Was… wieso hast du gemacht?“ „Wenn du wirklich als eigenständiges unabhängiges Lebewesen weiterleben willst, dann musst du dich verändern. Du hast nichts, also musst du dir alles selbst aufbauen. Eine eigene Identität, ein eigenes Aussehen und einen eigenen Namen. Nur so wirst du nicht länger bloß die Kopie von irgendjemandem sein, die niemand braucht oder haben will. Wenn du dir ein eigenes Leben erschaffen willst, musst du dir das nehmen, was du dazu brauchst. Komm mit.“

„Wo… wohin denn?“ Doch Johnny antwortete nicht, sondern ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. Sie verließen die Gasse und wurden direkt von drei Leuten in Empfang genommen, die genauso etwas Seltsames ausstrahlten wie Johnny. Einer von ihnen trug einen Arztkittel und eine Brille. Er machte einen etwas zwielichtigen Eindruck. Neben ihm stand ein blonder Junge, vielleicht in Johnnys Alter, der ein lilafarbenes Stirnband trug und der mehrere Ringe an den schwarz lackierten Fingern trug. Und bei ihm stand ein sehr androgyn aussehender junger Mann mit langem brünettem Haar, einem Kapuzenshirt und einem kühlen und desinteressierten Blick. Sowohl er als auch der Junge mit dem Stirnband hatten beide verschiedene Augenfarben: blau und braun, wobei die Reihenfolge bei ihnen genau spiegelverkehrt war. Johnny legte dem kleinen Mädchen eine Hand auf die Schulter und wandte sich den dreien zu. „So Leute, ich hab die Kleine. Das hier ist Annie und sie hat sich für ein eigenes Leben entschieden. Annie, das sind Ezra Trigger und Cedric Raven. Die beiden Geschwister werden sich von nun an um dich kümmern. Und diese linke Bazille da ist unser Arzt oder besser gesagt Quacksalber Eneos Solem. Er wird dir ein neues Aussehen geben, damit du nicht länger Sallys Kopie bist.“ Nun verstand das Mädchen, das von nun an Annie heißen sollte, überhaupt nichts mehr. Was hatten diese Leute denn mit Johnny zu schaffen und wieso waren sie hier? Hatte Johnny das alles etwa die ganze Zeit geplant gehabt und gewusst, wie sie sich entscheiden würde? Hatte er etwa nur mit ihr gespielt? Sie war völlig durcheinander und verstand gar nichts mehr. „Sie sieht aus wie Ai Enma aus Jigoku Shoujo“, bemerkte Ezra trocken und legte den Kopf ein wenig zur Seite, während er sie betrachtete. Cedric stöhnte und verdrehte die Augen. „Ezra, fang nicht schon wieder mit deinem bescheuerten Anime-Quatsch an. Du siehst aber auch in jeder Person einen Anime-Charakter. Mich hältst du für Jens aus Pokemon und Johnny vergleichst du allen Ernstes mit Izaya Orihara. Wobei… das passt schon wirklich wie die Faust aufs Auge. Aber jetzt mal im Ernst: Vergiss diesen Blödsinn und konzentrier dich lieber!“

„Ja, Bruderherz.“ Damit ging Ezra zu ihr hin, kniete sich hin und streichelte sanft die Wange des kleinen Mädchens. „Keine Sorge, wir werden uns gut um dich kümmern. Jetzt bist du nicht mehr alleine.“

„Wer… wer seid ihr denn?“

„Wir gehören auch zu jenen, die niemand haben will. Wir sind Mischlinge, die kein Zuhause haben und verfolgt und verstoßen wurden. Und wir kümmern uns um jene, die genauso wie wir alleine sind und nichts und niemanden haben, als uns selbst. Du gehörst nun auch zu den verlorenen Kindern, dazu.“ Als Annie das hörte, konnte sie ihr Glück kaum fassen, brach in Tränen aus und umarmte Ezra schluchzend. Diese Leute hatten überhaupt keine Angst vor ihr und wollten sie auch nicht töten. Im Gegenteil, sie wollten ihr ein Zuhause und eine Familie geben. Noch nie war jemand so zu ihr gewesen. Sanft streichelte ihr Cedric den Kopf um sie zu trösten. „Keine Sorge Annie, jetzt musst du nie wieder alleine sein.“ Johnny und Eneos betrachteten die Szene und Ersterer lächelte zufrieden. Wirklich alles war wie geplant abgelaufen. Das war ja schon fast zu einfach gewesen. Schließlich aber wandte er sich an Eneos und funkelte ihn böse an. „Wenn du aus ihr eines deiner abartigen Kunstwerke machst, dann reiß ich dir den Kopf ab und schieb ihn dir bis zum Anschlag hinten rein.“ Doch der Arzt lächelte nur amüsiert darüber und erklärte „Keine Sorge, ich verstehe mein Fach sehr gut und solche Kleinigkeiten sind ja nichts Besonderes für mich.“ „Pah, dir würde ich nicht mal meine benutzte Unterwäsche anvertrauen, du Quacksalber“, gab Johnny mit einem kräftigen Ellebogenhieb in die Seite zurück und wandte sich zum Gehen. Er war sowieso kein Mann großer Abschiedsszenen und er hatte auch keine Lust, sentimental zu werden. So etwas war einfach nur peinlich und absolut unnötig! Doch da hielt ihn jemand am Arm zurück. Es war Ezra. „Was hast du als Nächstes vor, Johnny?“

„Ach, es gibt da diesen einen Schauspieler und Psychologen, der heute aus dem Gefängnis entlassen wurde. Vielleicht habt ihr ja schon mal von ihm gehört. Er hat vor einiger Zeit einen sehr guten Freund verloren, den ich gut kannte. Ich glaube, ich muss ihm ein wenig unter die Arme greifen und ihn ein bisschen ärgern, damit er nicht noch auf dumme Gedanken kommt. Und außerdem wird er meine Hilfe sehr gut brauchen können.“ Damit ließ Ezra ihn los und nickte, wobei sich sein gleichgültiger Gesichtsausdruck nicht änderte. „Verstehe. Du meldest dich aber, wenn du Hilfe brauchst. Wir, die verlorenen Kinder aus dem alten Krieg, helfen einander und werden immer da sein, wenn du uns brauchst.“ Johnny konnte sich sein amüsiertes Kichern nicht verkneifen und kniff Ezra scherzhaft in die Wange. „Egal wie du auch aussiehst, du redest immer noch wie ein Mädchen.“ Doch Ezra sah ihn weiterhin ernsthaft an. Aber er nickte und akzeptierte einfach, dass Johnny fürs Erste alleine arbeiten wollte. Er wusste, dass er sich schon melden würde, wenn es eng für ihn werden sollte. Nicht mehr lange würde es dauern, bis es wieder beginnen würde und wo sie um ihre Existenz kämpfen mussten, um zu verhindern, dass wieder so viel Blut vergossen werden musste wie damals. Es stand viel auf dem Spiel, das wusste auch Johnny. Aber noch war es zu früh, um aktiv zu werden. Alles, was sie tun mussten war, Johnny zu vertrauen und seine Anweisungen zum richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Dann würden sie tun, was er ihnen auftrug und diese Aufträge gewissenhaft ausführen. Obwohl Johnny ein ausgemachtes Arschloch war, vertrauten Ezra und Cedric ihm blind, denn sie kannten auch Johnnys andere Seite, die er zu verbergen versuchte. „Ich geh dann mal.“ Doch bevor er endlich gehen konnte, zupfte Annie an seinem Ärmel und sah ihn mit ihren roten Augen an. „Warum hast du gelogen?“ „Hä?“ fragte er etwas verwirrt und sah zu ihr herab. „Warum hast du behauptet, du würdest nur an deine Interessen denken?“

„Wieso? Denkst du etwa anders über mich?“

„Du bist gar nicht so selbstsüchtig, wie du von dir behauptest. Der Grund, warum du mich aufgesucht und mir all das gesagt hattest… du wolltest mir nur helfen, oder? Du wolltest mir einen Platz in dieser Welt geben. Es ging dir nicht um deine persönliche Unterhaltung, sondern darum, mir zu helfen, weil ich niemanden habe und ganz alleine bin. In Wahrheit bist du ein sehr netter Mensch, nicht wahr?“ Doch Johnny lachte bloß und tätschelte ihr den Kopf. „Oh Mann Kleine, du bist echt viel zu naiv. Die Wahrheit ist, ich bin ein absolut schlechter Mensch, wenn ich überhaupt einer wäre. Finde dich damit ab, ich war schon immer ein Arschloch aus Leidenschaft und ich werde auch immer eines aus Leidenschaft bleiben.“ Damit verschwand Johnny und das kleine, bis vor kurzem noch namenlose Mädchen sah ihm nach. Tief im ihren Herzen wusste sie, dass sie Recht hatte. Egal wie viele Makel oder schlechte Angewohnheiten dieser Johnny hatte und wie oft er auch log oder seine Späße auf Kosten anderer trieb. Er hatte tief in seinem Innersten doch einen guten Kern und sie war sich sicher, dass er niemals zugelassen hätte, dass sie sich das Leben nahm.
 

Johnny schlenderte gut gelaunt die Straße entlang und bemerkte, wie die ersten Regentropfen fielen. Das Gewitter hatte die Stadt nun erreicht. Na was soll’s, dachte er und holte aus seiner Jackentasche das kleine Döschen mit den Schmerztabletten, von denen er gleich drei schluckte. Soll es doch regnen, mich stört es nicht. Nun holte er sein Handy hervor und schaute auf die Uhrzeit. Zwar war es noch etwas zu früh, aber er entschied sich, schon mal in die Bar zu gehen, wo seine Zielperson bald aufkreuzen würde. Er suchte in seinem Ordner mit den Bildern nach und fand das Foto schließlich. „Harvey Charles Dahmer…“, murmelte er und grinste verschlagen. „Ich brenne schon richtig darauf, dich mal persönlich kennen zu lernen.“

Cry the Slasher Teil 1: Humiliation

Das grelle Licht der Neonröhren und der leichte Geruch nach Desinfektionsmitteln ließ Kian unbehaglich fühlen und er spürte diese unangenehme Atmosphäre, die in den Krankenhäusern immer vorzuherrschen schien und die ihm mehr als zuwider war. Kian McKee hasste diesen Geruch und dieses grelle Licht, ebenso wie diese sterilen Flure und diese bedrückende Atmosphäre von Tod und Krankheit. Genau aus diesem Grund mied er Krankenhäuser und war immer froh, wenn er nicht hierhin gehen musste. Doch leider war es dieses Mal unvermeidlich, an diesen Ort zu gehen. Er rieb sich seine Hand, die ihm bandagiert worden war und fühlte den Schmerz in seinem ganzen Körper. Wirklich alles tat ihm weh und er fühlte sich, als wäre er unter die Räder eines LKWs geraten. Ihm war schlecht und am liebsten hätte er sich übergeben, aber er riss sich zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Insbesondere, dass er starke Schmerzen hatte. Vor allem in seiner unteren Körperhälfte. Er wollte nicht darüber reden und auch nicht, dass irgendjemand davon erfuhr. Gerne hätte er auch verhindert, dass sein jüngerer Zwillingsbruder Ryan das gesehen hätte, aber es sollte nicht so sein. Denn er hatte es selbst gesehen und das war für Kian das Schlimmste. Es war einfach erniedrigend und beschämend zugleich, dass sein Bruder ihn in diesem Zustand sehen musste. Was würde dieser nur von ihm denken und vor allem, wie würde er reagieren? Leider war es nicht das erste Mal, dass es passiert war… und wahrscheinlich auch nicht das Letzte Mal. Aber Kian kam inzwischen irgendwie damit klar. Er konnte es ertragen und wegstecken, solange er seinen Bruder hatte. Und diesen hatte es bei weitem schlimmer erwischt, denn dieser hatte durch den Schock und die heftige Aufregung schon wieder einen Anfall erlitten. Ryan litt seit seiner Geburt an einer schwachen Lunge, insbesondere der linke Lungenflügel war eigentlich total kaputt und nachdem die Situation mal wieder eskaliert war, hatte er einen Spontanpneomothorax erlitten, zumindest nannten es die Ärzte so. Ryan hatte keine Luft mehr bekommen, starke Schmerzen gehabt und krampfhaft gehustet, war er ohnmächtig geworden. Er würde erst mal zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben müssen. Wie lange das dauern würde, wusste Kian nicht, aber das würde Ryan ihm sicherlich gleich noch sagen. Seine Hand wanderte zu seiner leicht geschwollenen Wange, die ebenfalls schmerzte. Wäre sein jüngerer Zwillingsbruder nicht so früh von der Schule gekommen, hätte das alles nicht passieren müssen. Wäre er nicht ins Schlafzimmer gekommen und hätte sich eingemischt und sich so furchtbar aufgeregt, dann hätte es nicht so weit kommen müssen. Er konnte von Glück reden, dass sein Anfall nicht ganz so schlimm war, wie es zunächst ausgesehen hatte. Sonst hätte es vielleicht viel schlimmer werden können. Kian hatte alles getan, um seinem Bruder diese Aufregung zu ersparen und ihn zu beschützen, aber er war letzten Endes nicht in der Lage dazu gewesen. Aber es half nichts, sich über so etwas Gedanken zu machen, davon würde es auch nicht besser werden. Aus seiner Hosentasche holte Kian sein kleines Döschen mit den Tabletten, nahm eine heraus und schluckte sie. Diese Medikamente musste er schon seit einigen Jahren nehmen. Wofür sie genau da waren, wusste er selbst nicht genau. Jedenfalls halfen sie ihm, starke emotionale Schwankungen vorzubeugen und seine Symptome zu lindern, die seine Kopfschmerzen mit sich brachten. Er hatte sie schon immer als Kind gehabt, allerdings waren sie eher selten aufgetreten, aber besonders seit dem Tod seiner Mutter waren sie schlimmer geworden und mit ihnen die Symptome. Und seit den ersten Übergriffen von Eddie war es die Hölle… Sein ganzer Körper war inzwischen gezeichnet und er tat sein Bestes, um die Spuren zu verbergen, insbesondere vor seinem Bruder. Natürlich war es hart, diese Schmerzen und diese Schläge zu ertragen, aber allein der Gedanke, dass Ryans nächster Anfall vielleicht sein letzter sein könnte, war zu viel für ihn. Lieber erduldete er diese ganze Tortur alleine, als wenn seinem Bruder etwas zustoßen würde.

Nachdem er sich einigermaßen gesammelt hatte, öffnete er die Tür des Krankenzimmers und trat vorsichtig ein. Ryan McKee war das kränkliche Ebenbild seines Bruders. Blond, grauäugig und von etwas zarter Statur, aber um einiges blasser und hagerer. Ja er wirkte schon etwas zu mager und sah besonders jetzt in diesem Zustand alles andere als gesund aus. Um seinen Zustand zu stabilisieren, hatte man ihn zusätzlich noch an eine Sauerstoffzufuhr angeschlossen und er wirkte inzwischen wieder etwas klarer. Ihn so zu sehen schmerzte Kian und er spürte, wie sich seine eigene Brust zusammenschnürte. Insbesondere als er Ryans traurige Augen sah, als würde dieser gleich in Tränen ausbrechen. „Kian“, brachte er mit schwacher Stimme hervor. „Es tut mir so Leid, dass dir das passiert ist. Ich wünschte, ich wäre früher nach Hause gekommen und hätte das verhindern können.“ „So ein Unsinn“, rief Kian und ballte die Hände zu Fäusten. „Du hättest dich nicht einmischen dürfen. Ich komm schon klar, kapiert? Verdammt noch mal, warum hast du das getan? Du weißt doch, dass du dich nicht zu sehr aufregen darfst! Du hättest sterben können, verstehst du? Wir sind zwar Zwillinge, aber ich bin trotzdem dein älterer Bruder und ich pass auf dich auf.“ Kian merkte, dass er wieder laut geworden war und sich wieder aufregte. Sofort beruhigte er sich wieder und fuhr sich durchs Haar. „Tut mir Leid, ich wollte mich nicht so aufregen. Aber Ryan, wer weiß, ob du den nächsten Anfall überleben wirst! Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn dir etwas passiert. Ich komm schon klar, okay?“ Doch Ryan sah unglücklich aus und wich dem Blick seines älteren Zwillingsbruders aus. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, sich zusammenzureißen, doch er konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen kamen. Schon immer war er viel sensibler gewesen als sein älterer Bruder und war eine kleine Heulsuse. Tröstend nahm Kian ihn in den Arm. „Warum tun wir uns das eigentlich noch an, hä? Es kann doch nicht ewig so weitergehen, dass er dir so was antut! Das ist doch kein Leben. Kian, dass er dich verprügelt, ist an sich schon schlimm genug und du brauchst nicht zu glauben, ich würde das nicht mitkriegen! Ich sehe doch, dass du dich manchmal vor Schmerzen kaum bewegen kannst. Aber dass er dich…“ Ryan sprach nicht weiter und brachte die nächsten Worte, die ihm schon auf der Zunge lagen, einfach nicht über die Lippen. Auch er schämte sich, seinen großen Bruder darauf anzusprechen.

„Aber wo sollen wir denn hin?“ fragte Kian und setzte sich auf einem Stuhl, nachdem er sich von seinem Bruder gelöst hatte. „Mum ist tot und von unserem Dad haben wir auch nie was gehört. Und außer unserem Stiefvater haben wir keine anderen Verwandten. Und auf der Straße zu leben ist keine Alternative. Dich lässt er doch in Ruhe, oder nicht? Also lass das einfach allein meine Sorge sein, okay? Ich werde schauen, dass ich die Schule schnellstmöglich beende und mir einen Job suche. Dann können wir endlich die Fliege machen. Und du siehst zu, dass du wieder gesund wirst, hörst du?“ Ryan gab es für dieses Mal auf und nickte niedergeschlagen. In dieser Situation konnte er Kian einfach nicht überreden, sich an irgendjemanden zu wenden und Hilfe zu suchen. Er schämte sich einfach zu sehr dafür, mit anderen über diese… Sachen… zu reden. Ryan konnte ihn gut verstehen. Er selber würde sich nicht anders fühlen, wenn er in seiner Situation wäre und über diese Übergriffe zu reden war nicht einfach. Und solange Kian noch einen Grund hatte, weiter durchzuhalten, konnte er die Stärke aufbringen, es mit sich alleine auszumachen. Sein jüngerer Bruder gab ihm diese Kraft und deshalb war Ryan wohl oder übel gezwungen, sich zu schonen und schnell wieder gesund zu werden, um Kian beizustehen. Natürlich würde er ihn selber gerne beschützen, wenn er denn nur könnte. Aber wegen seiner kaputten Lunge konnte er einfach nichts tun, als seinem Bruder zu vertrauen, dass dieser sich schon irgendwie durchboxen würde. „Bitte pass auf dich auf, ja? Ich muss heute und morgen leider noch zur Beobachtung da bleiben.“ „Klar doch. Und du siehst zu, dass du schnell wieder fit wirst.“ Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, fuhr Kian zurück nach Hause. Im Haus war es dunkel, wahrscheinlich war Eddie wieder in der Kneipe was trinken. Hoffentlich blieb er so lange wie möglich weg. Als er die Haustür aufschloss, durchfuhr ihn ein brennendes Stechen und sein Kopf begann zu dröhnen. Der Schmerz breitete sich über seine gesamte Schädeldecke aus und ließ für einen kurzen Augenblick seine Sicht verschwimmen. In der letzten Zeit bekam er diese Kopfschmerzen öfter und hatte bereits seine Tablettendosis erhöhen müssen, um sie zu bekämpfen. Doch trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sie immer wieder in unregelmäßigen Intervallen auftraten. Und mit diesen Kopfschmerzen traten manchmal auch Halluzinationen auf, die aber meist harmlos waren und nicht länger als drei Sekunden andauerten. Aber was ihm zu schaffen machte, war das, was diese Kopfschmerzen in seiner Psyche auslösten. Er spürte Wut… Hass… Es war, als würde er eine Stimme in seinem Inneren hören die ihm zuflüsterte Los, mach schon! Beende es!!! Natürlich hätte Kian nicht mal im Traum daran gedacht, Eddie umzubringen, auch wenn er ein widerlicher, versoffener und brutaler Kerl war, der seinen Frust an seinen Stiefsöhnen ausließ. Kian hatte zumindest dafür sorgen können, dass er Ryan nichts antat. Deshalb bekam er auch den Teil ab, den auch Ryan kassiert hätte. Doch das Schlimmste war, dass Eddie seine Angst um Ryan schamlos ausnutzte, um ihn unter Druck zu setzen. Wenn er nicht tat, was sein Stiefvater sagte, würde dieser seinem Bruder etwas antun. Und mit großer Wahrscheinlichkeit würde er ihm „solche“ Dinge antun, an die er sich lieber nicht erinnern wollte. Eine wirklich hoffnungslose Lage, aus der er keinen Ausweg wusste. Wohl oder übel musste er das noch eine ganze Weile mitmachen, bis er eine Gelegenheit fand, mit Ryan von Zuhause abzuhauen und sich irgendwo eine neue Bleibe zu suchen, wenn er einen Job hatte. Aber das würde noch dauern und im Moment fühlte er sich einfach zu erschöpft und zu elend, um sich mit diesen Plänen zu befassen. Ich brauche einfach etwas Ruhe, dachte er und ging die Treppe rauf in sein Zimmer. Einfach ein paar Stunden schlafen und dann war alles wieder in Ordnung.
 

Am nächsten Morgen fühlte sich Kian noch schlechter als gestern. Zwar waren seine Kopfschmerzen gewichen, dafür aber spürte er die Blessuren des Vortages mehr als deutlich und gut geschlafen hatte er auch nicht. Da Eddie sicher wieder irgendwo was Trinken war, gab es auch dementsprechend in der Küche nichts Vernünftiges und die wenigen Lebensmittel im Kühlschrank waren auch schon hoffnungslos verdorben. Aber das kümmerte Kian nicht weiter. Er ernährte sich seit geraumer Zeit sowieso von Fast Food in Form von Pizza, Pasta, Burgern und dem, was er sich beim Chinesen bestellte. Wegen seinem Stoffwechsel konnte er sowieso essen was er wollte und nahm nicht ein Gramm zu. Dumm nur war, dass er dann immer gleich für drei Personen essen konnte. Zuerst aber ging er ins Bad und machte sich fertig. Als er sich so im Spiegel betrachtete, sah er es nun mehr als deutlich. Unter seinem rechten Auge, an der Schulter und wirklich überall an seinem Körper hatte er blaue Flecken. Manche von ihnen verblassten bereits, andere waren neu und auf seinem rechten Arm waren Brandspuren von Zigarettenstummeln zu sehen. Und seine Hände, die er sich manchmal blutig gebissen hatte, um Eddies Übergriffe auszuhalten, waren auch kein schöner Anblick und hatten Narben hinterlassen. Da sie sowieso mal wieder bandagiert waren, würde man das zum Glück nicht sehen und wenn er sich einen langärmeligen Pullover anzog, konnte er die anderen Spuren vor den Augen der anderen verbergen. Das war seine Welt…

Nachdem er sich angezogen und seine Tasche gepackt hatte, verließ er das Haus und erwischte noch rechtzeitig den Bus zur Schule. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust dazu, heute zur Schule zu gehen, sondern wäre viel lieber im Bett geblieben. Aber wenn er schwänzte, lief er noch Gefahr, Eddie über den Weg zu laufen und das wollte er lieber verhindern. Auf noch einen Übergriff konnte er verzichten und er wollte auch nicht, dass sein Bruder irgendetwas mitbekam, wenn er wieder zurückkam und seine untere Hälfte tat immer noch furchtbar weh und machte es ihm schwer, sich hinzusetzen. Und wieder musste er an Ryans gestrigen Anfall zurückdenken. Das letzte Mal, als ein Anfall von ihm sogar lebensbedrohlich geworden war, war vor drei Jahren, als ihre Mutter gestorben war. Ein Hirntumor, der zu spät entdeckt und entfernt worden war, hatte sie dahingerafft. Da Ryan am meisten von ihnen beiden an ihr gehangen hatte, hatte ihr Tod ihn besonders getroffen und er hatte einen so heftigen Anfall bekommen, dass er auf der Intensivstation gelandet war. Es war ein Spannungspneumothorax geworden. Durch den Riss in seinem linken Lungenflügel war Luft hineingeströmt und daraufhin war seine Lunge kollabiert, sodass er zu ersticken drohte. Allein schon zu hören, dass sich die Lunge so stark dabei aufblähte, dass sie sogar das Herz verdrängte, war eine absolute Horrorvorstellung für Kian und deshalb war er bereit, alles zu tun, um seinem Bruder einen weiteren Anfall dieser Art zu ersparen. Denn der Arzt hatte ganz deutlich gesagt, dass Ryan es beim nächsten Mal wahrscheinlich nicht überleben könnte. Das durfte Kian nie und nimmer zulassen!

„Hey McKee!“ Als Kian aus dem Bus ausstieg, wanderte sein Blick zu Roary Killigan und seiner Gang. Na super, die hatten ihm gerade noch gefehlt. „Hab gehört, dein Alter hat dich mal wieder kräftig verdroschen. Hat er es dir auch schön ordentlich besorgt?“ Kian entschied sich, ihn einfach zu ignorieren und weiterzugehen. Er hatte keine Lust, sich mit irgendjemandem zu streiten, oder Unruhe zu stiften. Auf das Niveau wollte er sich nicht herablassen. „Hey du Stück Scheiße, ich rede mit dir!“ „Kein Interesse“, gab er kühl zurück und ging in Richtung Schuleingang. Doch da hörte er schnelle Schritte hinter sich und als er sich umdrehte, schlug ihm auch schon jemand mit der Faust ins Gesicht und er fiel zu Boden. Roary, ein kräftig gebauter Footballspieler von gut 1,85m Größe baute sich vor ihm auf und trat ihm auf seine bandagierte Hand. Der rasende Schmerz kehrte wieder zurück und Kian schrie auf. „Hör mal zu, du kleine Schlampe! Du solltest endlich mal lernen, wo hier dein Platz ist. Hier weiß doch inzwischen jeder, dass du dich von deinem Alten ficken lässt, also spiel dich hier mal nicht so auf!“ Bevor Kian etwas erwidern konnte, trat Roary ihm gegen die Schläfe und verpasste ihm noch einen zusätzlichen Tritt in die Seite, woraufhin er und der Rest der Clique höhnisch zu lachen begannen und mit ihrem Handys Fotos schossen. „Was für eine Schwuchtel“, rief Billy und lachte. Schließlich gingen sie weiter und ließen Kian auf dem Boden liegen. Alles in ihm tat weh. Sein ganzer Körper schmerzte entsetzlich und am liebsten wäre er einfach regungslos liegen geblieben. Doch das war keine Alternative. Also biss er sich auf die Unterlippe, als er mühsam wieder auf die Beine kam und wankend in Richtung Schuleingang ging. Gleich schon an der Treppe kam ihm Abby entgegen und rannte dabei so schnell, dass sie beinahe wieder über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Gerade noch rechtzeitig konnte Kian sie auffangen, bevor sie hingefallen wäre. „Kian, ist alles in Ordnung mit dir? Haben sie dich schon wieder verprügelt?“ Doch er schüttelte nur den Kopf und lächelte. „Schon gut, ist alles halb so wild. Nur ein paar Kratzer, mach dir darüber keine Sorgen.“ Abby und er kannten sich schon seit dem Kindergarten und waren gute Freunde. Doch seit ihre Eltern ans andere Ende der Stadt gezogen war, sahen sie sich nur noch in der Schule, was für Kian ein herber Schlag gewesen war, denn sie war die Einzige in seinem Umfeld, die er wirklich eine gute Freundin nennen konnte. Die anderen gingen ihm entweder aus dem Weg, oder sie schikanierten ihn. In der Schule war sie neben Ryan der einzige Rettungsanker, den er noch hatte. Aber er hatte ihr nie von den Dingen erzählt, die ihm passierten. Weder von den heftigen Mobbingattacken seiner Mitschüler, noch von den gewalttätigen Übergriffen seines Stiefvaters. Natürlich blieb ihr nicht verborgen, dass er immer mit Verletzungen zur Schule kam, aber auch sie war auf ihre Weise völlig hilflos und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. „So kann das doch nicht weitergehen. Hast du schon mal daran gedacht, es dem Rektor zu melden?“ „Wegen so einer Kleinigkeit doch nicht. Das ist alles halb so wild.“

„Ich verstehe dich echt nicht. Allem und jedem hilfst du und du hilfst sogar alten Leuten beim Tragen, aber ein einziges Mal Hilfe anzunehmen ist schon zu viel für dich. Versteh mal einer deinen falschen Stolz.“

„Es kann mir doch eh keiner helfen“, entgegnete er mit kraftloser Stimme und begleitete Abby zu den Schließfächern. „Die Lehrer wissen doch selbst nicht, wie sie das noch in den Griff bekommen sollen und sind selber vollkommen überfordert. Und auf eine andere Schule will ich auch nicht wechseln, weil ich Ryan nicht alleine lassen will. Ich muss doch auf ihn aufpassen, verstehst du? Ich hab echt Angst, dass er an seinem nächsten Anfall sterben wird. Und es dauert doch sowieso nicht mehr lange. Zwei Jahre und ich bin hier eh weg.“ Verständnislos schüttelte Abby den Kopf. Sie gingen ins Klassenzimmer und setzten sich an ihre Plätze. Heute würde ein Test in Algebra geschrieben werden und obwohl Kian genug gelernt hatte, fürchtete er, dass er durchfallen würde. In der letzten Zeit waren seine Noten sowieso immer schlechter geworden, weil er durch seine ganzen Probleme kaum die Zeit zum Lernen hatte. Und wenn er mit schlechten Noten nach Hause kam, setzte es ebenfalls Schläge, weil er ein Versager war, der es zu nichts brachte. Wenn man so darüber nachdachte, war das ein echter Teufelskreis. Im Klassenzimmer herrschte Lärm und Kian schloss die Augen, als er merkte, dass seine Kopfschmerzen langsam wieder zurückkehrten. Inzwischen hatte er sie schon fast täglich und immer, wenn er sie hatte, wurde er so leicht reizbar… Er konnte keine lauten Geräusche ertragen, vor allem nicht das laute Geschrei und Gelächter seiner Mitschüler. Die Tür ging auf und Mr. Parker, der Mathelehrer kam herein. Laut knallte die Tür hinter ihm zu und Kian zuckte unmerklich zusammen. Warum kannst du die Tür nicht zumachen wie jeder normale Mensch, du Arschloch? Unmerklich wurde der Griff um seinen Bleistift stärker und er versuchte, sich wieder zu beruhigen. Laute Geräusche waren ein absolut rotes Tuch für ihn, wenn er Kopfschmerzen hatte. Er war dann wie ausgewechselt und man durfte ihm nicht zu nahe kommen, oder ihn groß in Anspruch nehmen. In den minutenlangen Intervallen, wenn er mal wieder diese Schmerzen hatte, war es am Besten, ihn gar nicht erst anzusprechen, sondern ihn einfach in Ruhe zu lassen. Wirklich alles regte ihn dann auf. Das schrille Gekreische und Gekicher der Mädchen, das Gegröle der Jungs und selbst das Kratzen der Stifte über dem Papier in der Stille machte ihn wahnsinnig. Schnell griff er in seine Tasche und suchte das Döschen mit seinen Tabletten. Zwar halfen sie ihm nicht wirklich, seine Schmerzen zu betäuben, dafür aber konnten sie ihn einigermaßen wieder beruhigen. Er suchte in seiner Tasche, doch er fand sie nicht. Verdammt, wo hatte er seine Tabletten hingetan? Hatte er das Döschen etwa zuhause vergessen? Na super, das war ja mal große Klasse… „Gibt es ein Problem, McKee?“ fragte Mr. Parker als er bemerkte, dass Kian in seiner Tasche kramte, anstatt ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Sofort entschuldigte Kian sich und versuchte, die Sache zu erklären. „Entschuldigen Sie bitte, Mr. Parker. Ich finde meine Medikamente gerade nicht.“ „Hat da jemand die Pille nicht genommen?“ rief Leo und lautes Gelächter ertönte. Seid doch still, dachte Kian und presste eine Hand gegen seine Schläfe, wobei er die Augen schloss. Seid doch nicht so laut… das NERVT!!! „Geht es dir nicht gut?“ fragte der Mathelehrer als er sah, dass Kian deutlich blasser wurde. Doch dieser schüttelte nur den Kopf und murmelte „Es geht schon…“ Tja, er hatte wohl seine Medikamente zuhause vergessen. Das war zwar ärgerlich, aber es würde doch sicher nicht so tragisch werden, wenn er sie erst heute Abend nahm, wenn er wieder zuhause war. Bis dahin war nur zu hoffen, dass die Kopfschmerzen irgendwann wieder nachließen. Doch dann geschah etwas Seltsames. Etwas, das noch nie zuvor passiert war. Ein unangenehmes Kribbeln durchfuhr seinen rechten Arm und seine Hand. Es war nicht schmerzhaft, eher wie ein unangenehmes Ziehen in seinen Muskeln, als wäre irgendetwas in seinem Körper unruhig und als hätte er zu viel Energie. Kian merkte, dass er unruhig wurde und sich nicht konzentrieren konnte. Seine Hand begann unangenehm zu kribbeln und seine Fingerspitzen fühlten sich irgendwie taub an. Das Ziehen in seinem Arm wurde unangenehm und er begann mit dem Daumen gegen den Bleistift zu drücken, den er in der Hand hielt. Gleichzeitig wuchs der Schmerz in seinem Kopf zu einen Dröhnen an und betäubte all seine anderen Schmerzen. Seine Ohren waren überreizt und schienen wirklich alles viel deutlicher und intensiver wahrzunehmen als sonst und das überforderte ihn. Das Kratzen der Stifte über dem Papier, das Rascheln der Blätter, das leise Flüstern… es wurde einfach zu viel für ihn. Er schaffte es nicht, sich vernünftig auf den Test zu konzentrieren. Wieso nur musste das Kratzen und Rascheln nur so furchtbar laut sein? Nur mit Mühe gelang es ihm, die Fragen des Tests zu beantworten und ein paar Formeln aufzustellen. Trotzdem wusste er, dass er absolut auf ganzer Linie versagte. Nach dem Test würde er vielleicht am besten zur Apotheke gehen und ein paar Schmerzkiller kaufen. Irgendetwas Gutes, um die Kopfschmerzen loszuwerden. Und wahrscheinlich musste er sich auch bei seinem Therapeuten melden, um sich stärkere Medikamente verschreiben zu lassen. Denn die Aggressionen in ihm wurden schlimmer und in den letzten Tagen verschwanden sie selbst dann nicht, als er seine Medikamentendosis eigenwillig erhöht hatte, um einen besseren Effekt zu erzielen.

Als die Pausenglocke ertönte, hielt sich Kian die Ohren zu und war gleichzeitig erleichtert, endlich diesen blöden Test hinter sich gebracht zu haben. Erleichtert lehnte er sich zurück und atmete tief durch, wobei er den Kopf ein wenig zurücklegte. Doch lange sollte dieser friedliche Moment nicht andauern, denn da stieß ihn jemand unsanft an der Schulter an. Es war Roary. „Hey du Schwanzlutscher, du hast wohl vorhin was vergessen, oder? Ich krieg noch deine Kohle! 20 Mäuse wären das!“ Diese Stimme… diese gottverfluchte laute und grölende Stimme trieb ihn noch zur Weißglut. Warum musste er ihn ausgerechnet jetzt nerven? Ausgerechnet jetzt, wo er diese Kopfschmerzen hatte? Seine Hand umklammerte die Schere, mit der er meist irgendwelche Figuren aus Seiten herausschnitt.
 

Beende es!

Beende es!

Na los doch!

Töte ihn und beende es!
 

„Hey McKee, ich rede mit dir!!!“ In dem Moment, als Roary die Hand auf den Tisch schlug, da wurde es zu viel für ihn. Dieser Lärm brachte ihn zur Raserei, er konnte sich nicht mehr beherrschen und dieser laute Knall war genau der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. In einer Kurzschlussreaktion rammte Kian ihm die Spitze der Schere in die Handfläche und bohrte sie tief ins Fleisch. Roary schrie vor Schmerz und wusste nicht, wie ihm geschah. Kian zog die blutverschmierte Schere heraus, packte ihn und holte schon aus, um ihm die Spitze ins Auge zu rammen, da wurde er von hinten gepackt und gegen einen der Tische geschleudert. Er schlug sich den Hinterkopf und in dem Moment durchzuckte ein infernalischer Schmerz seinen gesamten Schädel. Sein Hirn fühlte sich an, als würde es gleich explodieren und er fürchtete, dass dieser Schmerz ihm noch den Verstand rauben würde. „Du Pisser hast mir eine Schere in die Hand gerammt. Dafür bringe ich dich um!“

„Ich hätte es beenden sollen, dann hätte ich endlich Ruhe…“ Das war zu viel für den cholerischen Rowdy. Er packte den am Boden liegenden Kian und zerrte ihn hoch. „Ich mach dich kalt!!!“ Doch dieses wütende Geschrei hörte sein Opfer nicht mehr. Alles um ihn herum begann zu verschwimmen, vor seinen Augen flackerten kleine Lichter und Farben tanzten wild umher. Das Kribbeln in seiner Hand verstärkte sich und das Dröhnen in seinen Ohren wurde lauter. Alles um ihn herum versank in eine tiefe Schwärze und er verlor das Bewusstsein. Es war eine erholsame und wohltuende Ohnmacht, in der dieser entsetzliche Schmerz endlich wich und er sich gleich viel besser fühlte. Insgesamt wusste Kian nicht, wie lange er ohnmächtig geblieben war. Jedenfalls war es lange genug, dass er im Sanitätsraum zu sich kam und die Schulkrankenschwester gerade dabei war, seinen Puls zu messen. Er setzte sich auf, bereute dies aber auch schon gleich wieder, da ihm gleich wieder schwarz vor Augen wurde und die Schmerzen wieder mehr als präsent waren. „Du solltest noch ein wenig liegen bleiben. Schlimmstenfalls hast du eine Gehirnerschütterung. Und was Roary übrigens angeht, der musste ins Krankenhaus.“ Krankenhaus? Kian versuchte sich zu erinnern, was eigentlich passiert war, aber ihm fehlte jegliche Erinnerung, was nach dem Klingeln der Pausenglocke passiert war. Er hatte einen kompletten Blackout. „Was ist denn eigentlich passiert?“ „Was passiert ist? Du hast ihm deine Schere in die Handfläche gestoßen und wolltest ihm das Auge ausstechen, so wie die anderen gesagt haben. Danach hat es eine heftige Rauferei gegeben und dabei bist du mit dem Kopf gegen einen Tisch geschlagen und hast kurz darauf das Bewusstsein verloren. Was ist nur in dich gefahren, McKee? Sonst bist du doch nicht so. Ich kenne dich doch als einen ruhigen und stillen und netten Jungen, wie ist das bloß passiert?“ Doch Kian wusste keine Antwort darauf. Er konnte sich einfach nicht erinnern. Er wusste nur, dass er diese Kopfschmerzen gehabt hatte. „Ich glaub, es ist einfach zu viel geworden. Der Stress mit meinem Stiefvater, dann Ryans Lungenkollaps. Und seit Wochen habe ich immer diese Kopfschmerzen… Außerdem war ich so blöd und habe meine Medikamente zuhause vergessen.“ Besorgt sah die Schulkrankenschwester Diane ihn an und legte ihm einen kühlen Lappen auf die Stirn. „Du solltest dich besser hinlegen und auch mal zum Arzt gehen. Ich kann schon verstehen, dass das momentan echt hart ist. Vor allem die Schikanen und das mit deinem Bruder. Aber wenn das mit den Kopfschmerzen so häufig auftritt und dann auch noch so stark, solltest du das wirklich untersuchen lassen. Welche Symptome hast du noch?“ Kian versuchte sich zu erinnern, was er im Unterricht gefühlt hatte, aber egal wie sehr er es auch versuchte, das Bild blieb schwarz. Er schüttelte den Kopf und murmelte „Ich weiß es nicht mehr. Irgendwie kann ich mich an rein gar nichts mehr erinnern. Und was die Kopfschmerzen betrifft, sie treten nicht direkt an der Stirn oder an der Schläfe auf, sondern am ganzen Kopf. Es fühlt sich dann an, als würde er von einem Schraubstock eingeklemmt werden und als versuche etwas gewaltsam aus meinem Kopf auszubrechen.“ Diane nickte besorgt und gab ihm ein Glas mit aufgelösten Aspirintabletten. „Ich bin kein Arzt und auch kein Psychologe. Vielleicht sind es ja nur psychosomatische Symptome, die durch Stress entstehen. Aber… wenn die Kopfschmerzen häufiger auftreten und du Symptome wie Übelkeit, Krämpfe oder Taubheitsgefühl hast, musst du sofort zum Arzt gehen, okay?“

„Wollen Sie etwa damit sagen, ich hätte irgendwas am Kopf?“ Diane haderte noch damit, eine klare Antwort zu nennen, denn sie kannte sich nicht genug aus und ohne klare Untersuchung konnte sie auch keine Diagnose erstellen. Aber sie hatte da so eine leise Befürchtung. „Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht ist es auch nur eine harmlose Geschichte, aber du solltest wirklich besser auf deine eigene Gesundheit achten. Du willst doch nicht, dass Ryan sich deinetwegen noch mehr Sorgen macht. Wenn er mal zu mir kommt, weil er wieder Atemschwierigkeiten bekommt, erzählt er immer wieder davon, dass er sich Sorgen um dich macht. Und die Spuren an deinen Armen…“ Sie schob seinen Ärmel hoch und entblößte damit seinen Arm, wo die Brandnarben der ausgedrückten Zigaretten zu sehen waren. Instinktiv zog Kian seinen Arm zurück und verbarg diesen wieder unter seinen Ärmel. „Sagen Sie niemandem etwas davon, okay?“

„Wer hat das getan? Roary oder dein Stiefvater? Hey, wenn du Hilfe brauchst, du kannst dich an die Polizei wenden, okay?“ Kian wandte den Blick von ihr ab und fühlte wieder die Scham als er daran zurückdachte, was passiert war… in seinem Haus… im Schlafzimmer… Er wollte nicht darüber reden, mit niemandem. Wenn er diese Gerüchte bestätigte, würde es eine niemals enden wollende Hölle werden. Dann würde alles nur noch schlimmer werden. Natürlich hatte er daran gedacht, sich an die Polizei oder an das Jugendamt zu wenden und ihnen zu sagen, was Eddie ihm eigentlich antat. Aber er hatte Angst vor der Reaktion. Seine Mitschüler würden ihm und Ryan das Leben erst recht zur Hölle machen und sie würden entweder ins Heim, oder in eine Pflegefamilie kommen. Was, wenn Eddie seine Drohung wahr machte und Ryan etwas antat? Und Kians größte Angst war, dass er und sein Bruder getrennt werden könnten. Was, wenn Ryan wieder einen Anfall bekam und er nicht da war um ihm zu helfen? Wer würde ihn denn beschützen, um so etwas zu verhindern? Nein, er würde niemals zur Polizei oder zum Jugendamt gehen! Nicht wenn er und sein Bruder auf diese Weise getrennt werden würden, oder wenn dadurch Ryan etwas passieren könnte. Er musste das irgendwie alleine schaffen. „Danke Diane, aber ich glaube, ich werde jetzt nach Hause gehen.“ Kian stand auf und merkte, dass sich seine Kopfschmerzen in dem Moment etwas besserten. Aber auch nur ein wenig. Er wollte das Gespräch an dieser Stelle einfach beenden und nach Hause gehen. Besorgt sah ihm die Schulkrankenschwester nach. „Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du Probleme hast.“ „Danke, aber ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können.“ Damit schnappte er sich seine Jacke und seine Tasche, dann verließ er das Zimmer. Da noch Unterricht war, herrschte angenehme Stille auf den Gängen und er musste niemandem über den Weg laufen. Wenigstens eine gute Nachricht für diesen beschissenen Tag. Nachdem Kian noch ein paar Sachen aus seinem Schließfach geholt hatte, ging er ins Büro des Rektors, um den Vorfall zu klären und sich für heute abzumelden. Dieser war mehr als sauer und fragte ihn, was er sich dabei gedacht habe, einem Mitschüler eine spitze Schere in den Handrücken zu rammen. Kian saß mit gesenktem Kopf da und zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich kann mich an rein gar nichts erinnern.“

„Das ist ja wohl die faulste Ausrede, die ich bis jetzt gehört habe!“ brüllte der Rektor wütend, stand auf und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. Durch den Lärm verstärkten sich die Kopfschmerzen wieder und Kian zuckte unmerklich zusammen. „Du kannst dich nicht erinnern? Verdammt, das war Körperverletzung, was du dir da geleistet hast. Ist dir klar, dass ich dir einen Schulverweis erteilen kann?“ Das laute Geschrei des Rektors machte Kian aggressiv. Sein ganzer Körper spannte sich an und während er eine Hand gegen seine Schläfe drückte, krallte sich seine andere in die Armlehne. Warum nur muss er so laut schreien und stellt mich als den Schuldigen hin? Roary war doch selbst Schuld, oder nicht? Sicherlich hatte er ihn mal wieder total provoziert und er hatte diese Abreibung mehr als verdient.
 

Los doch, beende es!

Ramm dem Kerl den Brieföffner in die Kehle, damit er endlich Ruhe gibt!
 

„McKee, ich rede mit dir!!!“ Kian blinzelte und wachte aus seiner kurzzeitigen Apathie auf und bemerkte, dass er gerade vollkommen weggedriftet war. „Entschuldigen Sie, mir geht es nicht gut. Ich hab Kopfschmerzen, schon seit Wochen und momentan ist es ziemlich stressig bei mir zuhause. Und mein Bruder musste gestern wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das ist gerade alles etwas viel für mich.“ Da der Rektor wohl sah, dass es ihm tatsächlich nicht gut ging, wurde er ein wenig ruhiger und setzte sich wieder in seinen schwarzen Ledersessel. „Ich sehe dieses Mal vom Schulverweis ab, McKee. Das mit deinem Bruder tut mir Leid und ich weiß, dass Roary Killigan kein Unschuldslamm ist und einiges verbrochen hat. Aber dennoch bleibt mir nichts anderes übrig, als dich den Rest der Woche vom Unterricht zu suspendieren. Auf Killigan wird auch noch einiges zukommen.“ Noch mal mit einem blauen Auge davongekommen, aber so ganz konnte sich Kian nicht darüber freuen. Sein Blick wanderte zu dem Brieföffner, der in greifbarer Nähe vor ihm lag. Was hatte er gerade noch gedacht gehabt? Irgendetwas war doch mit dem Brieföffner gewesen… Doch er konnte sich nicht erinnern und schob es deshalb auf seine Kopfschmerzen. „Entschuldigen Sie den ganzen Ärger, ich wollte das wirklich nicht.“ Das war ehrlich gemeint. Kian konnte ja selbst nicht glauben, dass er dermaßen ausrasten und Roary tatsächlich die Schere in den Handrücken rammen würde. Das sah ihm doch gar nicht ähnlich. Selbst wenn er wieder diese Schmerzen hatte, so hatte er noch nie die Beherrschung verloren, sondern hatte sich stets allein innerlich aufgeregt. Wahrscheinlich war es wirklich nur eine Kurzschlussreaktion gewesen, weil so viel auf einmal passiert war. Das konnte jedem mal passieren. Aber wenigstens flog er nicht von der Schule. Nun gut, ein großer Trost war das ja auch nicht gerade, aber zumindest hatte Eddie keinen allzu großen Anlass, um wieder auszurasten. Mit einer etwas niedergeschlagenen Stimmung verließ Kian das Büro des Rektors und machte sich auf dem Weg nach Hause. Die kühle Brise war eine Wohltat und er spürte, wie das Dröhnen in seinem Kopf ein klein wenig nachließ. Wahrscheinlich ist es wirklich nur der Stress, dachte er sich und ging zur Bushaltestelle. Aber was hatte er da noch mal mit dem Brieföffner im Büro des Rektors machen wollen? Irgendetwas war da doch gewesen? Doch egal wie viel er auch nachdachte, es wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen und noch immer konnte er sich nicht an den Vorfall mit Roary erinnern. Es war so, als wäre er kurz vor der Pausenglocke bewusstlos geworden und dann im Krankenzimmer aufgewacht. Ob Gedächtnisstörungen auch bei Stress auftreten konnten, oder lag es an dem Schlag gegen die Tischkante? Nun, womöglich war das ja tatsächlich so.

Als der Bus kam, setzte sich Kian gleich an einen der Fensterplätze und lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe, wobei er die Augen schloss. In diesem Augenblick fühlte er sich so müde und erschöpft wie schon seit Tagen nicht mehr. Dabei schlief er immer ausreichend und an Bewegung mangelte es ihm auch nicht. Er war der beste Sportler in seiner Klasse und der schnellste Läufer an der ganzen Schule. Und im Parcoursrennen machte ihm auch niemand Konkurrenz. Diese Müdigkeit und die Kopfschmerzen mussten von der Aufregung kommen! Kian musste sich unfreiwillig an gestern erinnern und ihm wurde schlecht. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und er spürte wieder den brennenden Schmerz in seiner unteren Hälfte. Sofort versuchte er diese Bilder wieder zu verdrängen, doch da sah er auch schon das Bild direkt und ganz deutlich vor sich, wie Ryan nach Luft schnappte, sich an die Brust fasste und krampfhaft zu husten begann, bevor er zusammenbrach. Selten hatte Kian solche Ängste ausgestanden, als er ihn so gesehen hatte. Er war sich für einen Moment vollkommen sicher gewesen, dass Ryan einen Spannungspneumothorax hätte und sterben würde. Zum Glück war es nicht so weit gekommen…
 

Als der Bus nach einer Weile an der Haltestelle hielt, stieg Kian aus und lief die restlichen Meter zu Fuß weiter. Inzwischen begann sich der Himmel zu verdüstern und es sah so aus, als würde es nachher ein wenig regnen. Gleich schon als er die Haustür aufschloss, hörte er lautes Hundegebell von nebenan. Es war der Rottweiler des Nachbarn. Dieser elende Köter kläffte den ganzen Tag am Stück, ohne auch nur ein Mal aufzuhören. Sowohl tags als auch nachts. Kurzerhand zog Kian den Schlüssel wieder aus dem Schloss und ging stattdessen nach nebenan und klopfte an die Tür. Wenig später öffnete ihm ein übergewichtiger bulldoggengesichtiger Glatzkopf in einem weißen fleckigen Unterhemd und einer Bierdose in der Hand. „Entschuldigen Sie“, begann Kian und versuchte dabei seine Kopfschmerzen zu ignorieren. „Wären Sie vielleicht so freundlich und könnten Ihren Hund ins Haus holen? Mir geht es leider momentan nicht gut und ich wollte mich ein bisschen hinlegen. Wäre das für Sie in Ordnung?“ Kian bemühte sich wirklich, höflich und freundlich zu sein, doch leider war sein Nachbar einer jener Zeitgenossen, die offenbar auf Krawall gebürstet waren und nichts anderes konnten, als zu pöbeln. Und es war kein Geheimnis, dass er Schwarze hasste wie die Pest und sie am liebsten zurück auf die Baumwollplantagen gejagt hätte. Wenn nötig, sogar mit dem Gewehr. „Jetzt hör mir mal zu, du Scheißer!“ rief er und stieß Kian von sich. Dieser geriet auf der Treppe ins Stolpern und stürzte zu Boden. Mit schwerfälligen Tritten kam sein Nachbar näher und packte ihn am Kragen. „Auf meinem Grund und Boden mache ich allein das, was ich will und dabei lass ich mir von Punks wie dir nicht auf der Nase herumtanzen. Also verpiss dich mal schnell wieder, oder ich werde richtig ungemütlich.“ Damit stieß er ihn wieder zurück und Kian glaubte für einen Moment, ihm würde der Schädel explodieren. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen und Lichter und Farben begannen zu flackern. Er wollte etwas sagen, doch irgendwie schaffte er es nicht, ein vernünftiges Wort hervorzubringen. Wankend kam er wieder auf die Beine und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Irgendetwas lief hier gerade schief, so viel stand fest. Das laute Geschrei seines Nachbarn hallte in seinen Ohren wieder, Konturen begannen sich zu verzerren und er spürte ein seltsames Kribbeln in seinem Kopf. Nicht etwa in seinen Haaren oder auf seiner Haut, sondern in seinem Kopf drin, als würde sich da irgendetwas bewegen. Und auch in seinem rechten Auge begann es seltsam zu jucken. Es fühlte sich an, als würde sich etwas darin winden und sich bewegen. Um diesen Juckreiz loszuwerden, begann er sich das Auge zu reiben. Doch dieses Gefühl blieb, als würde sich in seinem Kopf etwas Lebendiges bewegen. Und es begann sich in seinem ganzen Körper auszubreiten. Was war nur mit ihm los? War das… war das eigentlich normal?
 

Beende es…
 

Wie mechanisch ging Kian zu seinem Haus, ohne weiter auf die Worte seines Nachbarn zu reagieren. Er ging die Treppe hoch in sein Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen und versuchte zu schlafen. Aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, weil der gottverfluchte Hund nicht aufhörte zu bellen. Um sich ein wenig abzulenken, schaltete Kian seine Lieblingsmusik ein und drehte sie auf eine Lautstärke, die für ihn in seiner jetzigen Kondition noch erträglich war. Trotzdem hörte er immer noch das Gebell dieses elenden Köters. Es war ein so nervendes Geräusch und es machte ihn rasend. Seine Hand verkrallte sich in das Bettlaken und die Kopfschmerzen wurden zu einem infernalischen Dröhnen und der Schmerz begann zu pulsieren.
 

Beende es…
 

Sein Blick wanderte zu seinem Wecker neben dem Bett. Seit zwei Stunden bellte der Hund bereits. Wieso um alles in der Welt bellt er die ganze Zeit eigentlich? Der müsste doch irgendwann mal heiser werden oder so. Gab es überhaupt Hunde, die ununterbrochen nur am Bellen waren, ohne einen ersichtlichen Grund zu haben? Kian setzte sich auf, da die Kopfschmerzen noch schlimmer wurden, wenn er sich hinlegte. Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm das kleine Döschen mit seinen Medikamenten und nahm zwei heraus. Zusammen mit einer Ibuprofentablette schluckte er sie und trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche in der Hoffnung, dass es ihm gleich besser gehen würde. Doch das Bellen des Hundes war für ihn einfach nicht mehr zu ertragen.
 

Beende es…

Na los! Beende es endlich!
 

Kian hörte unten die Haustür. Es war sein Stiefvater Eddie, der offenbar von seiner Kneipentour zurückkam. Sicher war der erst mal stockbesoffen genug, um sich hinzulegen und einfach einzuschlafen. Soll der Kerl doch an Leberversagen verrecken… Wenigstens kam er nicht hoch, um ihn auch noch zu nerven. Es reichte schon, wenn der Hund ihm keine Ruhe ließ. Mein Gott, wieso bellt der Hund eigentlich die ganze Zeit? Es gab doch überhaupt keinen Grund dazu, immerhin war es draußen ruhig und es näherte sich auch niemand dem Haus. Müsste er nicht langsam mal von dem ganzen Gebell müde werden?
 

Worauf wartest du?

BEENDE ES ENDLICH!!!
 

Als Kian wieder die Augen öffnete und auf die Uhr schaute, war es bereits kurz nach ein Uhr nachts. Wirklich geschlafen hatte er nicht, er war allerhöchstens bloß für zwei Stunden weggedöst. Seine Kopfschmerzen waren nicht mehr zu ertragen und ihm war furchtbar schlecht. Nur mit Mühe konnte er einen Brechreiz unterdrücken und setzte sich aufrecht hin, woraufhin sich eine kleine Besserung bemerkbar machte. Er schloss die Augen kurz und versuchte sich zu sammeln, doch da hörte er es wieder: den bellenden Nachbarshund. Wieso nur konnte der Hund nicht endlich Ruhe geben und damit aufhören, ihn so zu quälen? Dieses ganze Gebell war ja nicht zum Aushalten! Er musste etwas unternehmen, damit das endlich aufhörte. Er musste es… beenden. Wenn der Nachbar schon nicht aktiv wurde und sich wie das letzte Arschloch aufführte, dann hatte Kian keine andere Wahl. Wenn er endlich zu Ruhe kommen wollte, musste er diesem Terror selbst ein Ende machen. Langsam ging er in Richtung Zimmertür, zog seine Schuhe und seine schwarzen Handschuhe an. Im Haus war es still, offenbar war Eddie wirklich schon am Schlafen. Doch Kian kümmerte sich nicht darum und ging ins Wohnzimmer zur Terrassentür, von wo er aus in den Garten gelangte. In der Laube, wo seine Mutter all die Gartengeräte untergebracht hatte, fand er auch schon das, was er suchte. Ein japanisches Hackbeil, ein so genanntes Jigata Nata, welches sie mal für die Gartenarbeit genutzt hatte. Es lag gut in der Hand, sehr gut sogar und auch das Gewicht war ideal. Kian starrte die 25cm lange Klinge an und wirkte ein wenig neben der Spur, oder als wäre er nicht ganz bei Sinnen. Das Bellen des Hundes hatte kurz aufgehört, aber er wusste nur zu gut, dass der Köter gleich wieder anfangen würde, wenn er dem nicht ein Ende bereiten würde. Und solange fand er keine Ruhe und auch die Kopfschmerzen würden nicht aufhören. Mit Leichtigkeit kletterte Kian über den Zaun und landete im Nachbarsgarten. Der Hund, aufgeschreckt durch den plötzlichen Eindringling im Garten, kam zu ihm gerannt und begann in einer unerträglichen Lautstärke zu bellen und zu knurren. Er war sauer und sah aus, als wollte er gleich angreifen. Doch in dem Moment, als der Vierbeiner sich auf den 16-jährigen stürzte, schlug dieser mit dem Hackbeil und traf ihn in den Kopf. Ein leises, kurzes Winseln war das Einzige, was das Tier von sich gab, bevor ein weiterer Schlag ihn endgültig tötete. Kian hielt kurz inne und sah sich um, ob er vielleicht jemanden geweckt hatte. Aber die Fenster der Nachbarn blieben allesamt dunkel. Niemand hatte etwas gemerkt…
 

Am nächsten Morgen wachte Kian ohne Erinnerungen an die gestrige Nacht in seinem Bett auf und fühlte sich vollkommen erholt. Selbst seine Kopfschmerzen waren weg und er war gut gelaunt, voller Tatendrang und freute sich auf die Entlassung seines Bruders aus dem Krankenhaus. Nur eines verwunderte ihn doch schon: Seine Handschuhe waren tropfnass von Wasser, an seinen Schuhen klebte Dreck und unter seinem Bett lag das Hackbeil aus der Gartenlaube. Und der Hund des Nachbarn blieb ruhig. Ob dem Tier wohl irgendetwas passiert war? Vielleicht war er auch ausgebüxt… bei dem Nachbarn würde er gut verstehen. Aber wieso um alles in der Welt hatte er das Hackbeil seiner Mutter unter dem Bett liegen? Er nahm es in die Hand und sah es sich an. Außer ein paar Kratzern durch die jahrelange Abnutzung sah es ganz gewöhnlich und normal aus. Und er konnte sich auch nicht erinnern, es irgendwann mal dort hingelegt zu haben. Also stand er auf und nachdem er sich angezogen hatte, brachte er das Hackbeil in die Gartenlaube zurück. Er hatte auch keine Lust, sich Gedanken zu machen, wie das Ding denn unter sein Bett gelangt war und wieso seine Handschuhe tropfnass waren. Heute würde Ryan aus dem Krankenhaus entlassen werden und das musste erst einmal gefeiert werden.

Cry the Slasher Teil 2: Change in the Mind

Ryan sah um einiges fitter aus, als Kian ihn vom Krankenhaus abholte und grüßte ihn gut gelaunt. Ihm entging nicht, dass sein älterer Bruder froh war, ihn bei besserer Laune vorzufinden und so erkundigte er sich natürlich nach dessen Befinden, nachdem er selbst versichert hatte, dass er Bäume ausreißen könne. Da Kian seine Stimmung nicht gleich wieder mit der Geschichte mit Roary vermiesen wollte, verschwieg er ihm das erst einmal und erklärte, dass nur der übliche Kram passiert sei, sonst nichts. Doch als Ryan die Süßigkeiten bemerkte, die Kian bei sich trug, war er ein wenig verwundert und fragte „Was willst du mit dem Süßkram?“ Kian, der gerade mit einem Lolli zugange war, zuckte mit den Schultern und antwortete „Na was wohl? Essen!“

„Aber normalerweise stehst du doch gar nicht auf so was.“ „Ich hatte halt Lust darauf!“ Er verstand wohl irgendwie nicht, worin eigentlich Ryans Problem bestand und bot ihm etwas an. Dieser nahm sich eine Lakritzstange und gemeinsam gingen sie zur Bushaltestelle, während Kian die Sachen seines Bruders trug. Sie unterhielten sich über alles Mögliche und die Stimmung war ausgelassen. Nach einer Weile fragte der jüngere Zwilling dann aber „Sag mal Bruderherz, musst du nicht eigentlich heute zur Schule?“ Kian merkte, dass er sich nicht vor der Antwort drücken konnte und sagte „Ich wurde für die Woche vom Unterricht suspendiert, weil es Stress zwischen mir und Roary gab.“

„Wieso wurdest du suspendiert? Was hast du denn angestellt?“

„Ich hab ihm offenbar eine Schere in den Handrücken gestoßen. Allerdings bin ich kurz darauf bewusstlos geworden und kann mich nicht erinnern, was passiert ist.“ Ryan blieb stehen, als er das hörte und sah seinen Bruder fassungslos an. „Du hast WAS getan?“ Nun blieb auch Kian stehen und wunderte sich ein wenig über die Reaktion. Sein Bruder wusste doch, dass Roary es auf ihn abgesehen hatte und ein brutaler Schläger war. „Kian, wieso machst du so etwas? Okay, wir wissen beide, dass Roary ein Arsch ist, aber so etwas sieht dir doch nicht ähnlich!“

„Ich hatte tierische Kopfschmerzen und er hat mich schon vorher auf dem Weg zur Schule genug zusammengestaucht. Bei mir ist wohl einfach eine Sicherung durchgebrannt. Und außerdem hat er mal eine Abreibung verdient, findest du nicht? Ich will jetzt auch nicht weiter darüber reden!“ Ryan sah ihn mit gemischten Gefühlen an und verstand nicht, was mit seinem älteren Bruder bloß los war. Irgendwie wirkte er aggressiver und abweisender als sonst. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Nachdem sie zuhause waren, bestellten sie sich etwas vom Lieferservice und wollten gerade ins Wohnzimmer und den Fernseher anschalten, da kam Eddie herein. Ihr gemeinsamer Stiefvater war ein bärtiger, sonnengebräunter und kräftiger Mann, von dem man schon vom Gesicht ablesen konnte, dass man sich mit ihm besser nicht abgeben sollte. Seine Fahne war deutlich zu riechen und sofort spannte sich jeder Muskel in Kians Körper an. Im betrunkenen Zustand war Eddie gefährlich und es war besser, sich nicht mit ihm anzulegen, das wusste auch Kian. Er wollte einer Konfrontation lieber aus dem Weg gehen, insbesondere weil Ryan hier war und vielleicht wieder einen Anfall erleiden könnte. „Was glotzt’n so blöde?“ fragte der Alkoholiker mit lallender Stimme und verzog das Gesicht, als er Kian ansah. „Willste wieder eine aufs Maul haben, oder was? Das kannste gern haben!“ Kian sagte nichts, doch er machte sich bereit, sich vor Ryan zu stellen und ihn zu schützen, sollte die Situation eskalieren. In dem Moment aber spürte er ein pulsierendes Hämmern und Stechen in seinem Kopf und vor seinen Augen begann alles zu flimmern. Farben tanzten und verschwammen und ihm wurde schlecht, als müsste er sich gleich übergeben.
 

Na los doch! Beende es!

Schlag ihm mit dem Hackbeil den Schädel ein!
 

Der Schmerz wurde intensiver, doch im selben Moment strömte eine unglaubliche Energie durch seinen Körper und er spürte es nun mehr als deutlich. Dieses Verlangen… er spürte es mit jeder Faser und alles in seinem Körper schrie danach, es zu tun… es zu beenden. Dieser elende Dreckskerl soll krepieren. In Kian wuchs der Drang, es endlich zu beenden und ihm mit dem Hackbeil den Schädel zu spalten und ihn zu töten. Doch als er Ryans Berührung an seinem Arm spürte, da wurde er aus diesen Gedanken gerissen und sah sich verwirrt um. Was war da gerade noch mal gewesen? Hatte er nicht irgendetwas vorgehabt? Der stechende Schmerz in seinem Kopf war urplötzlich wieder gewichen und mit ihm auch die Übelkeit. Aber was war da gerade nur mit ihm los gewesen und was hatte er noch eben gedacht? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern und war sichtlich verwirrt. „Entschuldige Eddie, wir wollen keinen Ärger. Wenn du willst, können wir gerne das Wohnzimmer verlassen“, sagte Ryan hastig und stand auf, wobei er Kian ebenfalls vom Sofa zog. „Ist besser so für euch, oder ihr zwei Klone kriegt ein paar aufs Maul!“ Damit zog er seinen älteren Bruder mit sich ging mit ihm in Richtung Tür, um schnellstmöglich mit ihm das Wohnzimmer zu verlassen, doch da packte Eddie ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. Mit einem tödlichen Funkeln in den Augen erhob er die Faust und knurrte „Und du glotzt mich nie wieder so an, oder ich bring erst deinen Bruder und dann dich um!“ Es war offensichtlich, dass er Ryan in diesem Zustand eindeutig mit seinem Bruder verwechselte. Und darum war es nur vorauszusehen, dass es gleich Prügel setzte… Das war zu viel für Kian. Er selbst konnte ja viel wegstecken, aber niemand wagte es in seiner Gegenwart, seinem Bruder auch nur ein Haar zu krümmen. In dem Moment vergaß er sich komplett und drehte durch. „Nimm deine dreckigen Pfoten von meinem Bruder!“ schrie er und warf sich auf Eddie. Dieser ließ Ryan los, der zuerst nicht wirklich begriff, was da gerade passierte, dann aber sah, dass der sonst so höfliche und unauffällige Kian wie von Sinnen auf Eddie einzuprügeln begann und ihn mit einem solchen Blick ansah, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Kian war bereit, ihn umzubringen. In diesem Moment hatte er zum ersten Mal Angst vor ihm. Das war doch gar nicht der geduldige, freundliche und fürsorgliche Kian, den er kannte. Er schien in diesem Moment ein völlig anderer Mensch zu sein. Ryan wurde klar, dass er etwas unternehmen musste, wenn er nicht zulassen wollte, dass der Streit weiter eskalierte. Aber er musste selbst aufpassen, dass er sich nicht zu sehr aufregte. Wenn wieder die Schmerzen in seiner Brust eintraten, musste er schnellstmöglich zur Ruhe kommen, um keinen weiteren Anfall zu riskieren. „Kian, hör auf!“ rief er und versuchte, seinen wie wild gewordenen Bruder von seinem Stiefvater herunterzuziehen, doch dieser stieß ihn einfach weg und die kurze Ablenkung reichte dem betrunkenen Arbeitslosen, um ihm einen Schlag ins Gesicht zu geben. Eddie war ein kräftiger Mann und seine Schläge konnten wirklich verheerend sein, doch Kian steckte den Schlag einfach weg, als hätte er rein gar nichts gespürt. Stattdessen begann er breit zu grinsen und sah ihn mit einem wahnsinnigen Funkeln an. „Das zahl ich dir heim, du elendes Stück Scheiße. Es wird Zeit, es endlich zu beenden!“ Damit stürzte er sich wieder auf ihn und dabei er Kian eine Kraft ein, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Er konnte seinem Stiefvater tatsächlich die Stirn bieten und ihn dann mit einer schweren und massiven Figur auf den Kopf schlagen, woraufhin Eddie das Bewusstsein verlor und zu Boden fiel. Doch anstatt, dass Kian sich endlich beruhigte und wieder zur Vernunft kam, hob er die Figur erneut, um wieder zuzuschlagen. Offenbar wollte er Eddie den Schädel einschlagen! Ryan überkam Panik, als ihm klar wurde, dass sein Bruder völlig außer Kontrolle geraten war und überrumpelte ihn von hinten, um ihn festzuhalten. „Kian, hör auf! Was tust du da? Du bringst ihn noch um! Bitte Bruderherz, du machst mir Angst!“ In dem Moment schien wieder Vernunft in den älteren Zwillingsbruder zurückzukehren. Er ließ die Figur sinken und sein Körper entspannte sich. Langsam beruhigte er sich wieder. Doch kaum, dass Ryan von ihm abließ, brach Kian bewusstlos zusammen.

Es dauerte knapp eine halbe Stunde, bis er endlich wieder zu sich kam. Um zu verhindern, dass er gleich wieder auf Eddie losgehen würde, hatte Ryan seinen Bruder ins Zimmer gebracht und gewartet, bis er wieder aufwachte. „Kian? Geht es dir gut?“ Er bekam nicht sofort eine Antwort, da sich sein Bruder eine Hand gegen die Stirn presste und das Gesicht vor Schmerz verzerrte. Ganz offensichtlich hatte er starke Kopfschmerzen. „Warte“, sagte Ryan und stand auf. „Ich hol dir die Ibus.“ „Meine Medikamente…“, murmelte Kian benommen und setzte sich auf. Ryan holte aus dem Schrank seines Bruders die Ibuprofentabletten, die er bei sich hatte, da er in der letzten Zeit immer häufiger Kopfschmerzen hatte. Fragend wandte sich der jüngere Zwilling zu ihm um. „Hast du sie etwa nicht genommen?“ „Doch, sogar die doppelte Dosis. Aber… ich glaube, sie wirken nicht mehr. Irgendwie hab ich vorhin die Beherrschung verloren.“ Ryan dachte zurück und erinnerte sich wieder an den vor Wahnsinn stechenden Glanz in den Augen seines Bruders. Wieder erschauderte er und bekam Angst. Ob es wirklich nur die Medikamente gewesen waren? Oder war Kian einfach nur durchgedreht, weil es endgültig zu viel für ihn gewesen war? „Verdammt“, murmelte der Benommene und blinzelte. „Was genau ist eigentlich passiert? Ich weiß nur, dass ich total sauer geworden bin, weil Eddie dich gegen die Wand gedrückt hat, aber irgendwie habe ich den totalen Filmriss.“ Ryan schwieg und holte sowohl die Ibuprofentabletten, als auch die Medikamente seines Bruders und reichte sie ihm zusammen mit einer Wasserflasche. Er beobachtete ihn und versuchte festzustellen, ob er wirklich wieder normal war, oder ob da immer noch dieses andere Ich in ihm war. Aber so wie sich Kian verhielt, schien er wieder normal zu sein. Ryan setzte sich auf einen Stuhl und sah ihn ernst an. „Du bist komplett durchgedreht und hast Eddie mit der Eisenfigur K.O. gehauen. Und du hättest ihm noch den Schädel eingeschlagen, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre. Dann bist du einfach umgekippt und ohnmächtig geworden.“ Kian ließ die Wasserflasche sinken und sah genauso fassungslos aus wie Ryan, als dieser die Szene selbst erlebt hatte. Sein jüngerer Bruder atmete tief durch und faltete die Hände wie zum Gebet. „Du solltest wirklich noch mal mit Dr. Marshall reden. Du brauchst Hilfe und zwar dringend. Seit Wochen hast du diese Kopfschmerzen und jetzt ist es sogar schon so weit gekommen, dass du durchdrehst und auf andere losgehst. Das ist doch nicht mehr normal!“ „Verdammt noch mal, ich hab langsam wirklich die Schnauze voll, dass alle mich zum Doktor schicken wollen weil sie meinen, ich sei krank!“

„Du bist krank, Kian! Merkst du das denn nicht?“ Ryan spürte ein leichtes Stechen in der Brust und versuchte sogleich, sich wieder zu beruhigen. Das ist nicht gut… Er durfte jetzt bloß nicht noch einen Anfall erleiden, wo er doch gerade erst aus dem Krankenhaus zurück war. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Sein älterer Bruder sah, was mit ihm los war und beruhigte sich sofort wieder, wobei er niedergeschlagen den Kopf sinken ließ. „Tut mir Leid, dass du das alles mit ansehen musstest. Ich kann es selber nicht wirklich begreifen, warum das so passiert. Irgendwie wird alles immer seltsamer, seit Eddie das letzte Mal über mich hergefallen ist. Zuerst das mit Roary und dann das mit dem Hackbeil.“ Ein Schreck durchfuhr Ryan, als er von dem Hackbeil hörte und fragte „Was hast du mit dem Hackbeil gemacht?“ Unsicher zuckte Kian mit den Schultern und erklärte „Ich habe es heute morgen unter dem Bett gefunden. Außerdem waren meine Handschuhe tropfnass und meine Schuhe dreckig. Aber… ich kann mir nicht erklären, was das zu bedeuten hat. Ich kann mich an rein gar nichts erinnern. Weder an den Angriff auf Roary, noch an den auf Eddie, oder wie dieses Hackbeil unter mein Bett gekommen ist.“ Aufmunternd legte der jüngere Zwilling ihm einen Arm um die Schulter und sah ihn sehr ernst und eindringlich an. „Kian, so kann das nicht weitergehen. Ich kann doch nicht mit ansehen, wie du dich hier aufopferst für mich, damit ich keinen Anfall bekomme und dann noch selbst krank wirst. Bitte versprich mir, dass du zum Arzt gehst und dich untersuchen lässt.“ Kian nickte und versprach es. Das war schon eine Erleichterung für Ryan und so gab er sich fürs Erste zufrieden. Schließlich traf der Lieferservice ein und brachte die Pizzen. Sie setzten sich auf dem Boden, wie sie es oft taten, wenn sie zusammen aßen und lieber im Zimmer blieben, um Eddie nicht über den Weg zu laufen. Doch die Stimmung war gedämpft und Kian entging nicht, dass sich sein Bruder ihm gegenüber distanziert verhielt. Er zögerte jedoch, den Grund zu erfragen, weil er sich ein Stück weit auch vor der Antwort fürchtete. Doch dann stellte er sie endlich und sah, wie bedrückt Ryan eigentlich war. „Du… du hast mir echt Angst eingejagt, Kian. Ich meine, du sahst echt aus, als wolltest du ihn umbringen und du warst ein komplett anderer Mensch. Ich hab dich gar nicht mehr wiedererkannt!“ Dass er tatsächlich Angst vor ihm gehabt hatte, war ein schwerer Schlag für Kian. Sie beide hatten schon immer wie Pech und Schwefel zusammengehalten und waren unzertrennlich. Selbst im Teenageralter konnte nichts und niemand sie auseinanderbringen. Doch dass dieses Ereignis ihr enges Band zertrennen könnte, machte ihm schwer zu schaffen.

„Tut mir Leid, Ryan. Das wird nie wieder vorkommen. Ich ruf gleich mal Dr. Marshall an. Vielleicht brauche ich wirklich einfach nur andere Medikamente.“
 

Gleich am nächsten Tag hatte Kian seinen Termin beim Psychologen, nachdem er den Fall geschildert und erklärt hatte, was passiert war. Auch Dr. Marshall war sehr besorgt darüber und machte kurzfristig einen Termin aus, um mit ihm zu sprechen. Das Ergebnis war für Kian niederschmetternd. Seine Symptome hatten sich drastisch verschlechtert und deshalb musste er stärkere Mittel nehmen, um seine Gefühlsausbrüche unter Kontrolle zu halten. Aber was die Kopfschmerzen betraf, so riet der Psychologe ihm, sich im Krankenhaus einen Termin geben zu lassen. „Starke Kopfschmerzen, die in Phasen auftreten und mit Übelkeit, Halluzinationen und Taubheitsgefühl verbunden sind, sind meist Symptome für einen Hirntumor.“ Kian entwich sämtliche Gesichtsfarbe, als er das hörte und sein Magen verkrampfte sich. „Ein… ein Hirntumor?“ Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie es seiner Mutter ergangen war. Sie war an einem Hirntumor verstorben, da er zu spät entdeckt und entfernt worden war. Und nun ereilte ihn dasselbe Schicksal? Das konnte doch nicht sein. „Können diese Filmrisse auch daher kommen?“ Doch Dr. Marshall hielt sich mit seinem Urteil zurück und erklärte „Ich bin kein Hirnspezialist, aber es treten Fälle auf, in denen es bei Betroffenen zu Wahrnehmungsverzerrungen kommen kann und Symptome von paranoider Schizophrenie oder Persönlichkeitsveränderungen sind auch schon beobachtet worden. Und Gedächtnisstörungen könnten auch auftreten, aber ich will mir lieber kein Urteil bilden, weil ich kein Arzt bin. Ich kann dir aber gerne die Nummer einer Neurochirurgin geben. Ihr Name ist Dr. Hadaly Hammingway und sie ist Spezialistin auf diesem Gebiet.“ Damit gab Dr. Marshall ihm eine Visitenkarte der Chirurgin und verschrieb ihm zusätzlich noch neue Medikamente. „Sollte Dr. Hammingway einen Tumor diagnostizieren, müssen wir noch mal einen Termin ausmachen. Wenn deine Gefühlsausbrüche durch einen Tumor verursacht werden, ist es nicht ratsam, diese Medikamente weiterhin zu nehmen. Dann muss der Tumor schnellstmöglich entfernt werden.“ Kian nickte niedergeschlagen, erhob sich und bedankte sich bei seinem Therapeuten für die Hilfe. Ein Hirntumor? Er hatte tatsächlich genauso wie seine Mutter einen Hirntumor? Das war ein absoluter Alptraum, wenn das wirklich stimmte. Was, wenn er genauso sterben würde wie seine Mutter und Ryan damit ganz alleine war? Wie sollte er sich gegen Eddie zur Wehr setzen? Er würde doch nur wieder im Krankenhaus landen, wenn seine Lunge wieder kollabierte… oder schlimmstenfalls in der Leichenhalle. Was sollte er nur tun? Irgendwie schien das alles nur noch schlimmer zu werden. Wann hörte das denn endlich auf und wann konnte er endlich seine Ruhe vor dieser ganzen Scheiße haben? Den Tränen nahe setzte sich Kian auf eine Bank und hörte in seinem Hinterkopf immer wieder die Worte von Dr. Marshall. Ein Hirntumor… er hatte höchstwahrscheinlich einen Hirntumor! Und dieser war dafür verantwortlich, dass er derartig aggressiv und gewalttätig wurde, wenn diese Kopfschmerzen auftraten? Wie sollte er das bloß Ryan beibringen? Sie hatten beide ja schon ihre Mutter durch einen Hirntumor verloren und jetzt ereilte seinem großen Bruder dasselbe Schicksal. „Hey du Arschloch!“ Kian war so neben der Spur, dass er gar nicht merkte, dass Roary zu ihm kam. Seine verletzte Hand war bandagiert worden und er sah richtig sauer aus. Erst als er am Kragen gepackt und hochgezerrt wurde, bemerkte Kian seinen Peiniger. „Wir zwei haben noch eine Rechnung offen, schon vergessen? Du hast mir die verdammte Schere in die Hand gerammt und das werde ich dir heimzahlen!!“ Wieder dieses Dröhnen in seinem Kopf. Der Schmerz wurde zu einem Pulsieren und erneut begannen seine Augen zu flimmern. Seine Fingerspitzen kribbelten und verloren jegliches Gefühl, alles um Kian herum schien wie durch Watte gefiltert zu werden, selbst sein körperliches Empfinden. So spürte er kaum etwas, als die Schläge und Tritte folgen, die Roary ihm verpasste. Er schlug ihm in die Magengrube und ins Gesicht und als Kian zu Boden fiel, begann er auf ihn einzutreten. Regungslos lag der 16-jährige am Boden und wunderte sich selbst, wieso es nicht mehr so sehr wehtat wie sonst. Und gleichzeitig fragte er sich, wann es wohl vorbei sein würde. Entweder, wenn er endlich tot war, oder wenn Roary verreckte. Egal ob er sich zur Wehr setzte oder nicht, es würde doch sowieso rein gar nichts ändern. Sie würden ihn herumschubsen und zusammenschlagen, weil es ihnen Spaß bereitete. Und während er versuchte, seinen Kopf vor den Tritten zu schützen, wurde das Dröhnen in seinem Kopf stärker.
 

Na los… tu es endlich…

Wie lange willst du denn noch warten?

Entweder du… oder er!

Also mach schon und beende es!!!
 

Das Letzte, was Kian spürte, war ein heftiger Tritt gegen seinen Kopf, dann verlor er endgültig das Bewusstsein. Doch bevor die Welt für ihn in eine pechschwarze Dunkelheit getaucht wurde, fasste er einen Entschluss. Genug war genug. Es war an der Zeit, es endlich zu beenden. Wenn er es nicht tat, dann würde jemand anderes es tun und das bedeutete unweigerlich seinen Tod. Sie würden erst aufhören, wenn er tot auf dem Boden lag. Entweder, weil sie ihn umgebracht hatten, oder weil er sich selbst für den schnellen Ausweg entschieden hatte. Er hatte genug davon, immer nur alles hinzunehmen und still in sich hineinzuweinen. Weinen und Jammern würde nichts an seiner Lage ändern, das wusste er jetzt. Und in diesem Moment übermannte ihn der brennende Hass… Ich hasse dieses Leben… ich… ich will dieses Leben nicht mehr! ICH WILL ENDLICH, DASS ES AUFHÖRT!!!
 

Ryan wachte irgendwann gegen zehn Uhr auf und wunderte sich, dass er einfach so eingeschlafen war. Müde rieb er sich die Augen und ging zu Kians Zimmer um zu sehen, ob er inzwischen schon wieder da war. Doch seltsamerweise war sein Bett unbenutzt und es sah auch nicht so aus, als wäre er überhaupt zurückgekommen. So langsam machte er sich schon Sorgen. Vielleicht war Kian etwas passiert. Womöglich war er wieder mit einem der Schulschläger zusammengeraten und steckte in Schwierigkeiten. Schnell holte er sein Handy heraus und wählte die Nummer seines älteren Zwillingsbruders. Es dauerte eine Weile, dann hörte er es klingeln. Aber es kam nicht aus dem Zimmer, sondern von irgendwo anders her. Zugleich hörte Ryan schwere Schritte und diese klangen nicht nach denen seines Bruders oder von Eddie. Ob das ein Einbrecher war? Die Tür ging auf und zuerst bekam Ryan einen gewaltigen Schreck, dann aber sah er, dass es Kian war. Er trug seinen Mantel und die Handschuhe, hatte außerdem einen Rucksack bei sich, aus welchem der Griff des Hackbeils hervorschaute. Mit einem fremdartigen Blick sah er seinen Bruder an und sagte erst nichts, dann aber schaute er ihn mit einem finsteren Funkeln an. „Was suchst du in meinem Zimmer?“

„Ich… ich hab nur nachgeschaut, ob du im Bett liegst. Aber sag mal, wo warst du denn und… was hast du mit dem Hackbeil gemacht?“

„Nichts“, antwortete Kian in einer ebenso fremdartigen Stimme und grinste. Wenn sie beide sich nicht zum Verwechseln ähnlich wären und Ryan nicht hundertprozentig wüsste, dass das wirklich Kian war, hätte er ihn für einen Fremden gehalten. Er bewegte sich ganz anders und sprach auch nicht wie sein Bruder. Und dieser Blick… er jagte ihm wirklich Angst ein. Es war ein hasserfüllter, wahnsinniger Blick, der nichts Gutes verriet. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm. „Ich musste nur ein paar Dinge zu Ende bringen. Das ist alles.“ Ryan wich instinktiv vor ihm zurück und wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Doch das schien seinem Bruder nicht sonderlich zu gefallen. „Was glotzt du so entsetzt? Hast du etwa Schiss vor deinem eigenen Bruder?“

„Kian, was ist los mit dir und wieso verhältst du dich so komisch? Sag mir bitte, was du mit dem Hackbeil gemacht hast!“

„Du willst es wirklich wissen?“ Das Grinsen wurde noch breiter und erinnerte an eine wahnsinnige Fratze. Ryan gab keine Antwort und sah seinen älteren Zwilling angsterfüllt an. Was hatte dieser vor und was war mit ihm passiert? Das war doch nie und nimmer Kian! Er beobachtete, wie sein älterer Bruder das Hackbeil aus dem Rucksack holte und es in die Hand nahm, als wolle er damit zuschlagen. An der Klinge klebte Blut. Nun bekam Ryan wirklich Angst und wich weiter zurück, wobei er gegen die Wand prallte. Er bekam einen Hustanfall und spürte, wie sich seine Brust schmerzhaft verkrampfte. Oh Gott, nicht schon wieder ein Anfall. Doch nicht jetzt in dieser Situation. „Kian, hör bitte damit auf! Du machst mir Angst!!!“ „Aber wieso denn? Ich bin doch dein Bruder, schon vergessen? Wir zwei waren doch schon immer ein Herz und eine Seele. Da brauchst du doch keine Angst vor mir zu haben.“ Doch da wurde auch schon die blutverschmierte Klinge des Hackbeils gegen seinen Hals gedrückt. Das da war nie und nimmer Kian. „Wer… oder was bist du?“ brachte er hervor und musste wieder husten. Es wurde immer schlimmer und steigerte sich zu einem krampfhaften Würgen und Röcheln. Ryan versuchte, sich zu beruhigen und zu verhindern, dass seine Lunge wieder kollabierte. Warum nur tat Kian das und was war mit ihm passiert, dass er sich so verändert hatte? „Geh ins Bett…“ Das waren Kians einzigen Worte, bevor er die Waffe wieder sinken ließ und sich auf den Weg ins Bad machte, um das Blut abzuwaschen. Doch Ryan wollte es wissen und rief „Was ist los mit dir? Bist du überhaupt noch Kian?“ Es kam keine Antwort. Kian begann das Blut von der Klinge zu waschen und wusch gleich im Anschluss seine Handschuhe. Dann holte er aus dem kleinen Schränkchen das Medikamentendöschen und nahm gleich zwei Tabletten und zwei Ibuprofentabletten. „Geh ins Bett“, wiederholte er und sah Ryan mit einem durchdringenden und kalten Blick an. „Sofort!“ Aus Angst, dass er gleich auch noch angegriffen werden könnte, eilte Ryan in sein Zimmer und schloss die Tür ab. Noch nie hatte er die Tür abgeschlossen, selbst dann nicht, wenn Eddie wieder laut wurde und Kian zusammenschlug. Aber jetzt hatte er einfach nur Angst vor seinem Bruder. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm und er musste unbedingt morgen mit Dr. Marshall telefonieren. Das waren doch nicht bloß Kians übliche Symptome, wenn er seine Medikamente nicht nahm. Er verhielt sich mit einem Male wie eine komplett andere Person! So etwas hatte er noch nie an seinem Bruder beobachten können.
 

Am nächsten Morgen, als Kian aufstand und in die Küche ging, saß dort bereits Kian mit einem Glas Orangensaft und kritzelte in einem Magazin herum. Ryan blieb in der Tür stehen, als er seinen Bruder sah und fragte sich, ob dieser wieder normal war und ob er das alles wieder vergessen hatte. Kian hob den Kopf und sah ihn wieder mit diesem fremden Blick an. „Guten Morgen“, grüßte er beiläufig und malte weiter in dem Magazin herum. Ryan war nervös und hatte immer noch Angst. „Du Kian, wegen gestern…“ Er kam nicht dazu, weiterzureden, da klingelte es an der Tür. Da Eddie keinerlei Anstalten machte, nachzusehen, ging Ryan hin und erstarrte, als er zwei Polizeibeamte da stehen sah. „Entschuldige bitte, aber bist du Kian McKee?“

„Nein, ich bin sein jüngerer Zwillingsbruder. Worum geht es?“

„Wir hätten da ein paar Fragen. Gestern Nacht wurde die Familie Killigan ermordet. Roary Killigan ging doch auf eure Schule, nicht wahr? Soweit wir gehört haben, hat er einen von euch schikaniert.“ Also doch, dachte Ryan und hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Kian hatte Roary und seine Familie getötet. Doch Ryan konnte das nicht glauben, er wollte es auch nicht glauben! Sein Bruder war kein Mörder! Sein Mund fühlte sich auf einmal so trocken an und ihm wurde schlecht. „Das stimmt schon, aber Roary hatte an der ganzen Schule Feinde, weil er sich mit jedem angelegt hat. Aber Kian kann das gestern gar nicht gewesen sein. Er war auch gestern die ganze Nacht bei mir zuhause und unser Stiefvater war auch da.“

„Können wir kurz mit deinem Bruder reden?“

„Es geht ihm gerade nicht sonderlich gut, aber okay…“

„Oh, was hat er denn?“ fragte der Polizist neugierig, während er sich von Ryan ins Haus führen ließ. „Er leidet seit längerer Zeit unter starken Kopfschmerzen.“ Insgeheim hatte der jüngere Zwillingsbruder schon Angst, dass seine Lüge auffliegen würde, wenn Kian diese Geschichte auch noch zugab, aber dieser bestätigte das falsche Alibi und somit war er erst einmal aus dem Rennen. Ryan brachte die Polizisten zur Tür und als sie gegangen waren, kehrte er in die Küche zurück und wollte seinen älteren Bruder zur Rede stellen. „Hast du das wirklich getan? Hast du Roary und seine Familie getötet?“ Kian wich seinem Blick aus, wollte offenbar nicht darauf antworten. Für Ryan bestätigte sich damit diese schlimme Befürchtung und er konnte es einfach nicht fassen. Was passierte da nur mit seinem Bruder? Wie hatte es nur so weit kommen können, dass er jetzt plötzlich zum Mörder wurde? „Warum hast du das getan? Du hast Menschen getötet und wenn ich nicht gelogen hätte, dann hätten sie dich eingesperrt!“ „Dieser Hurensohn hat es nicht anders verdient! Er ging dir doch genauso auf den Sack, oder etwa nicht?“

„Aber deshalb bringe ich doch nicht gleich einen Menschen um. Und dann noch gleich die ganze Familie… was ist nur in dich gefahren? Wie… wie konntest du nur so etwas Schreckliches tun? Du bist ein Mörder, Kian! Die stecken dich ins Gefängnis, wenn sie das herausfinden.“

„Die Eltern sind doch genauso schuld, weil sie ihn zu diesem Bastard erzogen haben. Ich musste das einfach beenden, sonst hätte es doch nie aufgehört.“

„Mensch Kian, hörst du dich eigentlich selber reden? Das bist doch nicht mehr du! Ich erkenne dich gar nicht wieder.“

„Vielleicht liegt es ja daran, weil ich mir nicht mehr alles gefallen lasse. Entweder du kommst damit klar, oder nicht!“ Ryan verließ die Küche, nahm sich das Telefon und wählte die Nummer von Dr. Marshall, um ihn von dieser Entwicklung zu berichten. Dieser zeigte sich höchst besorgt über diese Entwicklung. Sofort fragte Ryan auch nach, was denn mit Kian los war, doch leider durfte der Psychologe aufgrund der Schweigepflicht keine Details nennen. Doch zumindest konnte er ihm etwas anderes sagen. „Die extreme Persönlichkeitsveränderung und die starken Kopfschmerzen können auf einen Hirntumor hinweisen. Er muss schnellstmöglich in ein Krankenhaus, um sich dort untersuchen zu lassen, bevor sich sein Zustand weiter verschlechtert.“ Für Kian brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen, als er dies hörte und starrte wie betäubt ins Leere. Ein Hirntumor… sein älterer Bruder hatte einen Hirntumor. Das war eine absolute Katastrophe. Nachdem er sich die Nummer der Spezialistin Dr. Hammingway notiert hatte, ging er zu Kian, um ihn damit zu konfrontieren. Doch dieser reagierte plötzlich sehr abweisend und aggressiv und erklärte „Ich werde mir doch nicht von irgendeiner Tussi am Hirn herumschnibbeln lassen. Das kannst du vergessen.“

„Aber wenn du einen Tumor hast, muss er entfernt werden, bevor es noch schlimmer wird. Kian, du bist krank! Du brauchst dringend Hilfe und ich werde nicht zulassen, dass du genauso stirbst wie Mum. Mensch, ich brauche dich doch, ist dir das nicht klar? Außer dir habe ich doch niemanden.“ Ryan war völlig verzweifelt und verstand nicht, wieso sich Kian mit aller Macht dagegen wehrte, sich untersuchen zu lassen. Dabei wusste dieser doch ganz genau, wie gefährlich so ein Hirntumor war. Ryans Brust schnürte sich zusammen und ihm kamen die Tränen. „Kian, du bist ein kompletter Fremder geworden und ich habe echt Angst, dass du mich eines Tages auch umbringen wirst, wenn du sauer auf mich wirst. Bitte lass dich untersuchen. Wenn die Ursache wirklich ein Tumor ist, dann kannst du wieder gesund werden und zwischen uns wird alles wieder okay. Dann hast du diese Aggressionen und diese scheiß Kopfschmerzen nicht mehr.“ Und tatsächlich schien die heftige Reaktion Wirkung zu zeigen. Tatsächlich kehrte wieder dieser vertraute Glanz in Kians Augen zurück und er wirkte nun nicht mehr so fremd und kalt wie zuvor. Er senkte den Blick und nickte schließlich. „Ja… du hast Recht. Tut mir Leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe. Ich glaube, ich hab das alles einfach nicht mehr unter Kontrolle.“ Ryan nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich. Er würde nicht zulassen, dass sein Bruder ins Gefängnis kam, oder schlimmstenfalls sogar starb. All die Jahre hatte Kian die Schläge und Misshandlungen seiner Mitmenschen ertragen, und auch die Übergriffe von Eddie. Dabei war er selbst krank geworden und musste diese Psychopharmaka nehmen, um seine Gefühlsschwankungen unter Kontrolle zu halten und nun hatte er höchstwahrscheinlich sogar einen Hirntumor, der ihn zu einem hochaggressiven Mörder machte. Das alles war einfach zu viel für ihn und Ryan plagte das schlechte Gewissen, dass er die ganze Zeit nichts unternommen hatte, um ihm zu helfen. Wenn nur seine kaputte Lunge nicht wäre, dann müsste er sich nicht ständig von Kian beschützen lassen und dann würde es ihm jetzt nicht dermaßen schlecht gehen. Er hätte ihm schon viel früher helfen müssen dann wäre das alles nicht passiert. „Wir schaffen das schon gemeinsam, okay? Wir sind immerhin Brüder und passen aufeinander auf.“
 

Gleich am nächsten Tag hatte Kian seinen Termin bei Dr. Hadaly Hammingway. Sie war eine wunderschöne schwarzhaarige Frau mit ungarischen Wurzeln und eine hervorragende Hirnchirurgin. Kian musste einige Untersuchungen und Tests über sich ergehen lassen und ihm war deutlich anzusehen, dass es ihm nicht behagte… Er zeigte sich wenig kooperativ und war schlecht gelaunt. Außerdem ließ er die Chirurgin deutlich spüren, dass er ihr nicht über den Weg traute. Immerhin wollte diese völlig fremde Frau an seinem Hirn herumschneiden. Kian wusste selbst, dass er sich sofort in Behandlung begeben musste, wenn er tatsächlich einen Hirntumor hatte und das am besten noch, bevor sich Metastasen bilden konnten. Denn in dem Falle würde es lebensgefährlich für ihn werden und das war auch die Ursache gewesen, dass seine Mutter sterben musste. Dr. Hammingway war geduldig, freundlich und versuchte, die Stimmung ein wenig aufzulockern, aber Kian hasste sie von dem Augenblick an, als er sie das erste Mal sah. Sie wollte an seinem Hirn herumschneiden… Er wollte das nicht! Niemand sollte irgendwas mit seinem Gehirn machen! Diese Frau sollte es bloß nicht wagen, ihn auch nur ein Mal anzurühren.
 

Beende das hier auf der Stelle! Na los doch. Du weißt, was du tun musst, um es zu beenden.
 

Doch Kian konnte dank der Medikamente seine aufgestaute Wut im Zaum halten (insbesondere, weil er eigenmächtig mal wieder seine Tablettendosis erhöht hatte) und dachte dabei die meiste Zeit an seinen Bruder. Das half ihm, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Aber dann musste er sich an die Nacht erinnern, als er Roary einen Besuch abgestattet hatte. Es war in der Nacht gewesen, alles hatte friedlich geschlafen und nicht ein Licht brannte. Mit einer Maske und dem Hackbeil war er losgegangen und hatte an die Tür geklopft. Roarys Vater hatte geöffnet und ehe er sich versah, wurde er schon einen Kopf kürzer gemacht. Blutüberströmt war er ins Schlafzimmer zu Mrs. Killigan gegangen, wo er sie schließlich auch mit dem Hackbeil erschlug. Es war so einfach gewesen, weil sich alles im Dunkeln abgespielt hatte. Und dann war er zu guter Letzt in Roarys Zimmer gegangen. Dieser war noch wach gewesen und hatte Musik gehört. Er hatte ihn nicht sofort erkannt, da Kian die ganze Zeit über eine Maske getragen hatte. Eine weiße Maske, die schwarze Tränen weinte. Natürlich hatte Roary sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, denn da stand ein Maskierter mit einem blutverschmierten Jigata Nata im Türrahmen und lachte wie ein Irrer. Sofort war er aufgesprungen und fragte „Wer zum Teufel bist du?“

„Wer ich bin? Ich bin Cry. Deine Eltern sind übrigens tot und lassen dich herzlich grüßen! Und jetzt ist es an der Zeit, das Ganze endlich zu beenden!“ Das war das Letzte, was er zu Roary gesagt hatte, bevor er auch ihn getötet hatte. Cry… warum nur hatte er sich denn Cry genannt? Er konnte es selbst nicht erklären. Er hätte sich doch genauso gut als Kian McKee erkennen geben können, aber stattdessen hatte er sich Cry genannt. Warum? Wieso nur erschien ihm dieser Name so viel vertrauter? Irgendwie war es schon seltsam. Denn seltsamerweise klang sein eigener Name ihm immer fremder. Es kam ihm dann so vor, als wäre das gar nicht sein richtiger Name und als wäre stattdessen Cry sein eigentlich wahrer Name. Doch wie war er auf diesen Namen gekommen? Auch darauf hatte er keine Antwort. Aber er hatte es endlich geschafft und diesen Horror beendet. Roary würde ihn nie wieder dermaßen zusammenschlagen! „Kian…“ Er beendete diese Gedanken und kehrte wieder ins eigentliche Geschehen zurück. Er sah Dr. Hammingway an, die offenbar schon mehrmals versucht hatte, ihn anzusprechen. Kian… wieso nur klang dieser Name auf einmal so fremd für ihn? Es war doch sein Name! Er hörte ihn schon seit 16 Jahren so und es war definitiv sein Name! Warum nur fühlte es sich dann auf einmal an, als würde man ihn mit einem Namen ansprechen, der ihm gar nicht gehörte? „Entschuldigen Sie, ich war gerade gedanklich woanders…“ Sie sah ihn ein wenig besorgt an, da sie bemerkte, dass es ihm gerade nicht gut ging. Aber sie schien noch mehr beunruhigende Nachrichten zu haben. „Ich habe mir das CT näher angesehen und leider muss ich dir mitteilen, dass das Ergebnis positiv ist. Es ist ein Tumor und leider ist seine Größe bereits bedrohlich! Wir müssen ihn schnellstmöglich entfernen, bevor sich Metastasen in deinem Körper bilden können. Hier, das sind die Bilder.“ Sie legte ihm das CT-Bild vor, wo der Hirntumor deutlich zu sehen war. Insgeheim hatte Kian ja noch gehofft, dass es nicht ganz so schlimm sein würde, aber er war groß und das war besonders beunruhigend. „Deine Gefühlsausbrüche und Kopfschmerzen stammen daher, weil der Tumor gegen dein Gehirn drückt und auch Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen verursacht. Wir müssen aber nachher noch ein paar Gewebeproben entnehmen, um festzustellen, wie aggressiv er wirklich ist und ob sich bereits Metastasen gebildet haben. Und dann müssen wir schnellstmöglich einen Termin ausmachen, um ihn operativ entfernen zu lassen.“ Kian sah von dem Bild auf und starrte sie fragend an. Gewebeproben? Was meinte sie damit? Wollte sie etwa in seinem Kopf herumwuseln und irgendetwas herausschneiden, um es zu untersuchen? Was sollte das denn auf einmal und was dachte sich diese Person eigentlich, was sie da mit ihm machen wollte? Das konnte sie sich schön abschminken! Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass eine Gewebeprobe absolut harmlos war und nichts Schlimmes bedeutete, jagte es ihm Angst ein. Er sprang von seinem Stuhl auf und sah die Chirurgin entsetzt an. Nein, er wollte das nicht. Er durfte nicht zulassen, dass sie irgendetwas an seinem Gehirn machte! „Vergessen Sie es, ich lass mir doch nicht einfach so just for fun an meinem Hirn herumschnibbeln! Das können Sie vergessen, ich will das nicht!!!“ Diese plötzliche Panik und Aufregung nahm die Chirurgin ruhig hin, da sie wohl ahnte, dass dies vielleicht durch seinen Gesundheitszustand bedingt war, dass er paranoid reagierte. „Beruhige dich doch, es ist nichts Schlimmes dabei. Es ist ein absolut harmloser Eingriff, bei dem wir ein paar Zellen des Tumors entnehmen, um festzustellen, wie gefährlich er ist. Je nachdem wie aggressiv er ist und ob er bereits gestreut hat, kann ich feststellen, ob es reicht, ihn operativ zu entfernen, oder ob auch eine Chemotherapie von Nöten ist, um dich zu behandeln. Von deinem Gehirn selbst wird rein gar nichts entfernt.“ „Nein, ich lass mir keine Zellen entnehmen! Wer garantiert mir, dass Sie nicht noch wo anders herumschneiden, wenn Ihnen gerade danach ist und ich nicht wach bin?“

„Ich bin Chirurgin und mache so etwas schon seit Jahren. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden einzig und allein den Tumor entfernen, das ist alles.“ Doch Kian wollte ihr nicht glauben. Er hatte Angst davor, dass sie ihm noch mehr herausschneiden könnte, als sie jetzt gerade versicherte. Aber… wieso nur reagierte er so panisch? Wovor hatte er denn Angst?
 

Lass nicht zu, dass sie das tut… Lass es nicht zu! Töte sie. Du musst sie töten, bevor sie es tun kann!!!

Als sie auf ihn zuging, um ihn zu beruhigen, schnappte er sich den Brieföffner auf ihrem Schreibtisch und hielt ihn wie eine Waffe bereit zum Angriff. Sein logisches Denkvermögen war in diesem Moment komplett ausgeschaltet und er wollte nur noch weg hier. Niemand durfte so an ihm herumschneiden. Weder diese Chirurgin, noch sonst irgendjemand. Und wenn er ihr die Augen ausstechen musste, um sie davon abzuhalten!
 

Worauf wartest du? Na los… tu es… TU ES! BEENDE ES!!!

Mit einem lauten Schrei stürzte er sich auf sie und es gelang Dr. Hammingway noch rechtzeitig, ihr Gesicht zu schützen, als Kian mit dem Brieföffner zustechen wollte. Da dieser nicht scharf genug war, um sie ernsthaft zu verletzen, legte er seine Hände um ihren Hals und begann sie zu würgen. Er musste es beenden… er musste sie töten, bevor sie noch irgendwas an seinem Gehirn machte! „Ki… Kian… hör auf! Beruhige dich doch bitte! Kian!“ „Hören Sie endlich auf, mich so zu nennen!!!“ Er konnte diesen Namen nicht mehr hören, der so fremdartig für ihn klang, als wäre es gar nicht sein wahrer Name. Er hatte die Schnauze voll, er hasste diesen Namen, der sich so falsch anfühlte. Cry… das war sein Name. Es war ein Name, den er sich selbst gegeben hatte und von dem er das Gefühl hatte, es wäre sein richtiger Name. Cry… ja, er war Cry und niemand anderes sonst. Das wusste er. Wer war Kian eigentlich? Jedenfalls nicht er selbst. Dieser Kian… das war nicht er, es war eine andere Person. Er war sich hundertprozentig sicher, dass sein Name nicht Kian, sondern Cry war! „Kian, beruhige dich doch. Niemand will dir etwas tun. Ich will dir helfen, wieder gesund zu werden.“

„Kian ist nicht hier!“ schrie er wütend und drückte fester zu. Mit einem Male durchfloss der brennende Zorn seinen ganzen Körper und in ihm gab es nur noch eines: den Drang zu zerstören und zu töten… den Drang, es endlich zu beenden… „Kian ist nicht hier! ICH BIN CRY! CRY, VERDAMMT!!!“ Es war, als wollte er es in die ganze Welt hinausschreien, damit es alle erfuhren. Durch das laute Geschrei rannten alarmiert die Pfleger herbei und schafften es zu viert, den vor Wut rasenden 16-jährigen zu überwältigen und ihm eine Beruhigungsspritze zu geben. Benommen kam Dr. Hammingway wieder auf die Beine und rang nach Luft. Sie stützte sich auf einem Tisch ab und beobachtete, wie Kian bewusstlos zusammensank. Sein Zustand war schlimmer, als sie zunächst befürchtet hatte… Sie mussten schnellstmöglich mit der Operation beginnen, bevor sich alles noch weiter verschlimmerte.


 


 


 


 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Inspiration für diese Geschichte war das Opening der Animeserie "Paranoia Agent". Es war wirklich ziemlich verstörend, auch wenn nichts Brutales vorkam aber die Menschen in verschiedenen katastrophalen Situationen beherzt lachen zu sehen, ist irgendwie gruselig... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
ACHTUNG SPOILER!!!

Als Fred Moore nach Deutschland kam, traf er auf eine von Sallys Reinkarnationen, die ihr Ebenbild war. Da er von den Nekromanten fasziniert war (und vor allem von Sally), begann er damit, sie zu beobachten und zu zeichnen. Die Sally, die er damals traf, hieß Maria Eisner und starb durch die Hände der Nazis, als sie fälschlich für eine Jüdin gehalten und daraufhin auf offener Straße erschossen wurde. Maria war ebenfalls Nekromantin und tötete die Nazis durch ihre Kräfte und das war der Zeitpunkt, als Moores Faszination zur Besessenheit wurde. Maria starb schließlich ein weiteres Mal bei einem Luftangriff. Der Grund, warum so viele Bilder von „Sally“ in der Nähe von Kriegs- und Katastrophenschauplätzen sind, liegt darin, dass es allesamt verschiedene Reinkarnationen von ihr sind und sie alle dem gleichen Muster verfallen sind: Sie sterben, kehren als Racheengel zurück und werden verrückt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies ist nur der erste Teil meiner Creepypasta zum Hans Bender Projekt. Bald wird eine Fortsetzung folgen, in der es eine überraschende neue Wendung gibt und die Sache in ein anderes Licht rückt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Den Link zum Video "Gloomy Sunday" findet ihr hier unten. Anschauen auf eigene Gefahr:

http://www.youtube.com/watch?v=IN-vbMeJBHA Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hab diese Pasta geschrieben, weil ich noch die Story mit den Wiedergängern im Kopf hatte. Ich hatte für "Das Hans Bender Projekt" auf Wikipedia nachgeschaut und dabei gelesen, dass im Mittelalter oft Scheintote begraben wurden. Tatsächlich existierten auch Fälle, in denen man Todkranke (wie zum Beispiel Pestopfer) in ihrem Zustand einfach in die Massengräber warf und sie dort qualvoll sterben ließ. Also ist die Idee, dass man Pestkranke zu Hauf lebendig begrub, um so die Pest zu bekämpfen, nicht ganz so abwegig ist. Wirklich heftig, aber das ist das Mittelalter. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Endlich wollte ich auch mal etwas zur japanischen Mythologie machen. Was es mit Kokoro auf sich hat, überlass ich allein der Fantasie der Leser. So viel sei zumindest gesagt: Kara no Kokoro bedeutet so viel wie "leeres Herz" und ehrlich gesagt war die namenverwandte Kokoro aus Touhou 13.5 "Hopeless Masquerade" eine echte Inspiration für mich. Jetzt hab ich Puppen und Masken. Was wohl als nächstes kommt? Ich glaub, ich mach mal etwas über verlassene Vergnügungsparks, auch wenn die Idee auch nicht mehr ganz so neu ist.-^^- Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies soll eigentlich keine Hetze gegen Pokemon werden, denn eigentlich mag ich die alten Spiele sehr. Ich wollte nur zeigen, wie krank dieses Spiel eigentlich sein kann, wenn man es aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich freu mich schon richtig auf das Special und konnte es mir einfach nicht nehmen, wenigstens schon mal eine Leseprobe hochzuladen.

Wer sich meine Fanarts schon angesehen hat, wird feststellen, dass schon mal ein paar Charakterbilder für das Special schon mal angefertigt worden sind mit kleineren Informationen zu ihrer Person. Naja, ich hoffe ich hab nicht zu viel gespoilert.

Sally hab ich richtig lieb gewonnen während der Zeit, in der ich Creepypastas schreibe. Sie und Dathan geben ein noch viel süßeres Pärchen ab als "Dathan x Jamie" und manchmal gibt es sogar so traurige Stellen im Special, dass selbst ich heulen muss...

Für Sally passen genau zwei Songs perfekt. Der erste passt zu ihrer grausamen und sadistischen Seite und die andere zu dem, was sie eigentlich ist...

http://www.youtube.com/watch?v=gwG8Kx7hvBw
http://www.youtube.com/watch?v=PaA4ggxwxJ0 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Geschichte von Robert hat sich tatsächlich zugetragen und Robert existiert bis heute noch im Museum. Es handelt sich bei ihm nicht bloß um eine dieser 08/15 Killerpuppengeschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählt. Es existieren einige Berichte und Reportagen zu Robert und Annabelle. Die Geschichte dieser Puppe werde ich als nächstes erzählen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hier ist der Link zu einem Video mit einer Reportage zu Annabelle, die weit aus verstörender ist als diese einfache Geschichte hier:

http://www.youtube.com/watch?v=3ey1QFvcz4c Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte sollte zuerst das geplante Creepypasta Special werden. Allerdings war Sam kein Psychopath sondern ein emotionsloser Killer, der mit seinem Lächeln die Menschen in seinen Bann zieht und sie dann tötet, um ihre Reaktionen und Gefühle zu studieren. Geplant war, dass er Jamie entführt, foltert und Dathan gemeinsam mit Sally nach ihm sucht. Sam sollte Sallys Widersacher sein, also "Happy Sally" vs. "Smiling Sam". Aber schließlich habe ich mich dazu entschlossen, den Fokus mehr auf Sally zu richten und nebenbei die Entstehungsgeschichte von Smiling Sam zu erzählen. Seinen Charakter und seine ganze Person habe ich von Grund auf geändert und bin ehrlich gesagt sehr zufrieden mit ihm.
Ich denke, dass ich um die Weihnachtszeit das zweite Special rausbringe, in dem dieses Mal Dathan einige sehr unangenehme Dinge erfahren muss, die seine Familie und besonders seine Cousine und seine kleine Schwester betrifft. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies ist meine Idee, wie es mit Slender the eight Pages begonnen haben könnte. Hierbei bestehen aber mehrere Möglichkeiten, wie sie entstanden sein könnten:
1. der traumatisierte Spencer fertigte sie als stummen Hilfeschrei an
2. Die verschwundene Annie hat sie hinterlassen und er hat sie eingesammelt
3. Keiner von beiden hat die Seiten verfasst und die Freunde hielten sie irrtümlich für Spencers Zeichnungen
Dies ist hier auch nur die Vorgeschichte zu Slender Man Story. Deshalb müsst ihr euch auch nicht wundern, warum die Auflösung schon so früh ist. Es wird auf jeden Fall spannender! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Story ist meine eigene Interpretation über den Ursprung unseres gesichtlosen Großmannes, den wir als Slender Man kennen. Ich glaube nicht, dass er ein Alien oder eine bizarre Mutation ist. Vielmehr denke ich, dass er aus einer anderen Welt kam und im Grunde außer seinem Äußeren nichts Menschliches an sich hat. Ich habe weder aufgeklärt, ob er seine Opfer tötet, sie absorbiert oder aber sie in seine Welt verschleppt. Ich persönlich glaube, dass er sie absorbiert, um sich so ihrem Aussehen anzupassen und gleichzeitig neue Energie zu sammeln. Dies würde sich allein aus der Tatsache erklären, dass er in dieser Geschichte kein Verdauungssystem besitzt. Die inneren Organe könnten ein weiterer Versuch sein, sich der Anatomie der Menschen anzupassen, wobei der Slender Man auf Sinnesorgane verzichtet, weil er sie nicht braucht und er auch keinen Sinn darin sieht, ein menschliches Gesicht zu bilden. Vielleicht fällt ihm das auch schwer und schafft es nicht. Ich lass euch gerne selbst rätseln. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Pasta hab ich lange vor mir hergeschoben, da mir keine gute Idee für den Schluss eingefallen ist. Zuerst sollte sie damit enden, dass Viola sich widersetzt, ihren Bruder zu töten und sie dann von Sir Bunnyman getötet wird. Aber es wäre keine sehr sinnige Auflösung gewesen. Schließlich kam mir urplötzlich der große Geistesblitz. Und ich finde, diese Creepypasta ist eine meiner Besten. Eine Psychogeschichte mit einigen offenen Fragen und einigen Interpretationsmögilchkeiten.

Sir Bunnymans voller Name ist übrigens ein Wortspiel. Lewis C. lautet komplett Lewis Cypher und klingt doch irgendwie nach "Luzifer" oder? Und Berphomet richtig geschrieben als "Baphomet" ist der Name einer Götzenfigur, die von den Tempelrittern als Teufel verehrt wurde. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Mein Traum wird endlich wahr, in welchem ich ENDLICH mal eine völlig vernachlässigte und doch so vielversprechende Horrorfigur in den Vordergrund stelle: Eine Vogelscheuche. Normalerweise sind die Dinger ja eher harmlos, sie sind schon uralt und die einzige berühmte Vogelscheuche, die ich kenne, ist die aus "Der Zauberer von Oz". Dabei können Vogelscheuchen so unheimlich sein, wenn sie können. Über Vampire und Werwölfe, Haunted Houses oder besessene kleine Mädchen wurde schon bis zum Erbrechen geschrieben und Filme gedreht, jetzt versuch ich mal etwas ganz eigenes! Vielleicht kommt Hollywood ja auch mal auf den Trichter xD Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hier ist als kleiner Einstieg schon mal der erste Teil meines Halloween Specials. Wer belesen ist, wird schnell merken, dass hier sehr viele Anspielungen auf Edgar Allan Poes Gedicht "Der Rabe" zu finden sind (Der Wind, die Fensterläden, das Klopfen an der Tür). Das geschah eigentlich eher unbewusst und erst später hab ich die Gemeinsamkeiten festgestellt. Aber ehrlich gesagt, stört mich das nicht im Geringsten. Ich finde "Der Rabe" klasse, so wie auch alle anderen Werke von Poe. So, ich hoffe, ihr habt viel Spaß beim Lesen, der Rest folgt ab dem 31. Oktober! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wichtig, bitte lesen!!!

Die Idee vom Selbstmordclub basiert auf den Manga "Der Selbstmordclub" von Usamaru Furuya. Diese Creepypasta ist nur ein Teil und wird in anderen CPs weiter erklärt und dann wird auch der Hintergrund um Mary Lane besser offenbart, warum sie so plötzlich verschwand und wer Elly ermordet hat. Wartet einfach die nächsten CPs ab, offene Fragen werden nach und nach beantwortet und auch das Projekt Dream Weaver wird genauer erklärt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Dream Weaver Creepypasta basieren teilweise auf dem Horror-RPG „Ib“, eines meiner Lieblingsspiele. Allerdings war etwas völlig anderes geplant:

Zuerst sollte Anthony wirklich sterben und lediglich seine manifestierten Träume gelangen in das Traumlabyrinth und dort versucht er, Vincent und Viola zu helfen. Dann habe ich mich anders entschieden und einfach ein Double von Anthony sterben lassen, weil er schon im Vorfeld wusste, dass Mary ihn töten würde. Dann hatte ich folgendes Szenario geplant:

Vincent und Anthony werden vom Traumfresser getötet und Viola gelingt als Einzige die Flucht. Als sie aufwacht, denkt sie zuerst, es wäre ein Traum bis sie realisiert, dass alles wirklich passiert war und so kehrt sie wieder in das Traumlabyrinth zurück. Dies sollte damit enden, dass sie es alleine schafft, den Traumfresser zu töten und bleibt für immer in der Traumwelt, wo sie sich Abbilder von Vincent und Anthony erschafft. Auch diese Idee fand ich im Ansatz zwar gut, aber das Ende hat mir nicht gefallen, vor allem weil die Dream Weaver CP so viel Potential hat. So wäre es ja nicht zu meinem Extra Creepypasta Dreiteiler gekommen, wo Viola besonders im zweiten Extra eine sehr wichtige Rolle spielt. Außerdem wollte ich Sally unbedingt wieder zurückholen, weil sie ja inzwischen richtig beliebt ist. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Pasta ist ein Geschenk an meinen kleinen Bruder gewesen, der ein unglaublich großer Missingno Fan und die alten Glitches der ersten Generation liebte. Vor allem Sunny Town hat ihn besonders fasziniert und das war im Grunde der Auslöser für meine Idee, eine Hintergrundgeschichte über Missingnos "Geburt" und den Hintergrund der verglitchten Stadt Sunny Town zu schreiben.

Außerdem lüfte ich das Geheimnis, warum in den nächsten Generationen immer mehr neue Pokemon und Typen gibt und warum aus Einzeltypen bald Doppeltypen werden! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Meine erste richtige Pokemon Creepypasta (die andere zählt eigentlich nicht) handelt ausnahmsweise mal nicht von einem gebrauchten Spiel, das gehackt war sondern von einem brandneuem, das teilweise wirklich verstörende Inhalte aufweist.
Vieles in dieser Geschichte beruht teilweise auf wahre Begebenheiten. Tatsächlich war Pokemon Rot mein allererstes Pokemonspiel, das ich mit den anderen besagten Spielen geschenkt bekam und auch dieses war neu. Und es stimmt auch, dass mich die Erlebnisse im Pokemonturm derartig verstört hatten, dass ich furchtbare Angst bekam, dass meine Pokemon sterben würden, wenn ich sie weiter trainierte. Ich war damals acht Jahre alt und hatte nie mit dem Tod wirklich zu tun gehabt, aber lesen zu müssen, dass Pokemon sterben konnten, war zu viel für mich. Ich hab wirklich geheult, während ich gegen Knoggas Geist gekämpft habe, weil es mir derart nahe ging (Die ganze Lavandia Geschichte finde ich auch alles andere als kindgerecht)… So hat mich die Pokemonturm Musik sehr stark geprägt und mir quasi meine kindliche Unschuld genommen und nicht der Lavandia Theme. Die Geschichte knüpft an mehrere Gerüchte und Theorien über Lavandia an, die teilweise wirklich guter Diskussionsstoff sind.
Warum hat Lavandia keine Arena?
Was hat Blau im Pokemonturm zu suchen?
Wieso gibt es tote Pokemon, obwohl sie im Spiel nicht sterben können?
Warum bringt man ein solch ernstes Thema in ein Spiel für kleine Kinder, wobei man doch sonst versucht hat, alles so kindgerecht wie möglich zu machen? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Puh, endlich hab ich meine wohl aufwendigste Creepypasta bisher fertig bekommen und ich muss sagen, dass ich echt stolz auf meine Arbeit bin. Es hat mich unglaubliche Arbeit und Mühe gekostet, diese Story so realitätsnah wie möglich zu schreiben und mich dabei weitestgehend an reale Fakten zu halten. Nun gut, nicht alles ist wirklich passiert, denn es ist immer noch eine Creepypasta. Aber zumindest kann ich von mir behaupten, echt gute Arbeit geleistet zu haben. Vielleicht schreibe ich irgendwann noch mal eine Creepypasta zu Pokemon. Aber das steht erst mal noch im Raum. Lasst euch einfach überraschen. Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies ist der Auftakt zu einer neuen Creepypasta Reihe und dieses Mal nichts mit Übernatürlichem wie Dream Weaver und Nekromanten, sondern mit der guten alten Killerschiene. Alle Leser, die Jeff the Killer kennen, dürfen sich freuen: Er wird einen Gastauftritt in meiner "Harvey the Skinner" Reihe haben und zu der Handlung wesentlich beitragen. Allerdings in einem völlig anderen Rahmen, als man es von ihm erwarten würde.
Wer übrigens gut belesen ist, wird hier in diesem Manifest einige Zitate aus Shakespeares Werken und sogar aus Goethes "Faust" wiederfinden. Auch der Schreibstil ist etwas altmodischer an einigen Stellen, was Harveys poetische Ader unterstreichen soll. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich sollte die CP über Harveys Ausbildung zum Mörder eine kurze Zusammenfassung werden, aber sie ist dann doch immer länger und länger geworden. Ich wollte nicht bloß zeigen, wie er seinen ersten Mord begeht, sondern auch zeigen, was für ein intelligenter Stratege er ist und auch seine etwas eigenwillige Beziehung zu Jeff vertiefen. Fakt ist: Die beiden sind keine Freunde, aber auch keine Feinde. Jeff interessiert sich für Harvey und findet Gefallen daran, in ihn einen potentiellen Erzfeind zu sehen, der ihn eines Tages vielleicht töten könnte. Aber das ist nun mal Jeff: Absolut verrückt und irrational. Ich hab mich bemüht, Jeff weder zu geisteskrank, noch zu harmlos zu gestalten. Bei den beiden ist es ähnlich wie bei Löwe und Dompteur: Der Löwe spielt zwar mit, greift aber sofort an, wenn er Schwächen sieht. Und so ist es auch bei Jeff. Er ist trotz seiner Sympathie zu Harvey immer noch extrem gefährlich! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies ist die erste richtige „Mord“-Creepypasta von Harvey the Skinner. Dieses Mal verschlägt es ihn nach Deutschland, um Jagd auf die pädophilen Priester zu machen. Ich wollte diese Geschichte unbedingt schreiben und vor allem Gewicht auf Harveys Dialoge legen. Mit dieser Creepypasta wollte ich auf ein sehr ernstes Thema ansprechen und damit auf ein echtes Problem. Tatsächlich hat sich die Kirche (und vor allem Papst Benedikt XVI) nicht gerade mit Ruhm bekleckert, dass sie diese Missbrauchfälle unter den Teppich gekehrt bzw. heruntergespielt haben und der Papst im Grunde diese Päderasten noch in Schutz genommen hat! Bei so etwas könnte ich echt kotzen! Da Deutschland offenbar das einzig bekannte Land ist, indem die katholischen Priester sich an Kindern vergreifen, hab ich Harvey mal zu uns geschickt. Mal sehen, wen er sich als Nächstes vorknöpfen wird. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Johnny hat gewisse Ähnlichkeiten mit Christine, ist aber bei weitem abgebrühter und rücksichtsloser. Er ist kein wirklicher Feind, aber auch nicht wirklich ein zuverlässiger Freund. Man darf ihm nicht immer vertrauen, aber weil er einst einen ähnlichen Kampf wie Harvey bestritt, ist er zum ersten Mal wirklich ehrlich, oder zumindest teilweise.
Johnny gibt nie wirklich viel von sich preis, aber so viel steht fest: Er hat vor nichts und niemandem Respekt, hasst es auf dem Tode, wenn man ihn von hinten überrascht und er ist abhängig von Schmerzmitteln. Im Grunde ist er eine Jugendversion von Dr. House xD Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wirklich creepy ist diese Story von Harvey nicht, aber ich wollte Harvey auch unbedingt mal von einer anderen Seite zeigen. Die Geschichte hat mich selbst emotional sehr berührt und wie auch die anderen Geschichten von Harvey the Skinner soll sie unterhalten, aber auch auf wichtige Themen aufmerksam machen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese CP ist sozusagen die Vorgeschichte zu meiner Fortsetzung zu Umbra. Dort treffen Anthony und Sally auf ihrer Suche nach Belphehgors Körper, der in eine Uhr eingesperrt wurde, auf Harvey und Johnny. Zufällig wollen beide Seiten zum Thule-Stützpunkt. Die einen wollen den Dream Weaver töten, die anderen an die Informationen über die Projekte herankommen.
Geplant ist, dass wirklich alle Fäden zusammenlaufen und sich die Protagonisten der wichtigsten Creepypastas zusammenschließen, um ihren letzten gemeinsamen Feind zu bekämpfen: Thule und damit auch Johnnys Mutter. Geplant dafür sind folgende Charaktere:

Thomas Stadtfeld, Anthony Winter, Sally Kinsley, Harvey C. Dahmer, Johnny, Christine Cunnings, Pristine und als Newcomer: Hinrich Helmstedters Bruder Nathaniel Helmstedter. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte spielt direkt vor dem ersten Treffen von Johnny und Harvey in der CP "Harvey the Skinner: Der Informant". Ich wollte mal eine CP mit Johnny in der Hauptrolle schreiben, da er einer meiner absoluten Favoriten ist. Einfach aus dem Grund, weil er ein rücksichtsloses und respektloses Arschloch mit einem guten Herzen ist. Er stößt andere Menschen vor dem Kopf mit seinem Verhalten und provoziert sie bis zum Äußersten, aber im Grunde ist das seine Art, ihnen zu helfen. Aber er macht es einem wirklich nicht einfach, das zu erkennen. Johnny und Christine sind sich in der Hinsicht ähnlich, wobei Christine aber deutlich mehr Feingefühl und Freundlichkeit an den Tag legt als ihr Ziehsohn. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Cry the Slasher ist der Auftakt zu meiner neuen Creepypasta Serie. Und dieses Mal wird es um NICHTS ÜBERNATÜRLICHES gehen. Aber wer mich kennt, wird schnell feststellen, dass „Cry the Slasher“ kein normaler Serienkiller sein wird. Sonst wäre das ja wohl kaum guter Stoff für eine Creepypasta, besonders nicht von mir. Denn ich hab eben die Angewohnheit, immer eine unglaubliche Hintergrundgeschichte parat zu haben. Ich kann also nur raten, auf die nächsten Teile zu warten und zu erfahren, wie es mit Kian weitergeht und wie er zu „Cry the Slasher“ wird. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (61)
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Von:  Yoshiro15
2015-05-25T21:10:58+00:00 25.05.2015 23:10
Waaaaaaaaa.*hin und her wipp* Das ist sooooo gruselig. Ich hasse diese Puppen. Wua. Sehr gut geschrieben. O.o

YYoshiro15
Von:  elysahria
2015-01-12T05:53:29+00:00 12.01.2015 06:53
Wirklich traurig :,( die Klassenkameraden waren so schlimm!!
Das hast du echt gut geschrieben

Lg ari
Von: abgemeldet
2014-12-29T20:15:44+00:00 29.12.2014 21:15
Wenn es sich beim letzten Absatz um einen Zeitungsartikel oder so etwas in der Art handelt, dann fand ich diese Stelle doch etwas merkwürdig. Okay, der Journalist könnte möglicherweise bekannt sein und sein Verschwinden ist wohl auch aufgefallen, wenn er andere und so darüber nformiert hat - aber dass Shiori in der Zeitung steht? Schließlich gehen dort wirklich unglaublich viele Selbstmörder hin und wie du schon treffend beschrieben hast, findet man praktisch alle 10 Meter irgendeine Leiche (so hart das jetzt klingt). Oder bezog sich das darauf, weil Shiori in den Aufzeichnungen erwähnt wurde? Nein... die Aufzeichnungen wurden schließlich kaum im Artikel erwähnt. Das ist das einzige, was mir aufgefallen ist. ^^ Ansonsten sehr gut geschrieben! Ich habe mich dchon vorher mit diesem Wald beschäftigt, da ich ihn sehr faszinierend finde und hatte selbst überlegt darüber einmal eine Pasta zu schreiben. Und wenn ich nicht so stinkend faul wäre und Kommis schreiben auf dem Handy so umständlich... würde ich dir garantiert zu jedem Kapitel einen hinterlassen. XD Außer bei den Adult-Kapiteln, die kann ich nicht lesen. -_- Während ich für Dathan einige Sympathien gesammelt habe, finde ich Sally wirklich unglaublich creepy! *-* Weiß nicht wieso, aber ich fands unglaublich toll, als die zwei zusammen gearbeitet haben! Hehe, sorry, ich schweife vom Thema ab. Super Arbeit, keep going unso! c:
Von: abgemeldet
2014-12-28T23:05:32+00:00 29.12.2014 00:05
Was eine Pasta dazu bringt, sich in den Kopf des Lesers einzubrennen sind nicht Blut, Gedärme oder besonders grauenerregende Gestalten - sondern schlicht die Kunst des Autors sie realistisch und anschaulich darzustellen. Dein Schreibstil jagt einem wirklich eine Gänsehaut über den Rücken und ich schwör dir, ich hab mich mindestens 4 Mal paranoid umgedreht. Und nach sowas kann man bei mir ne Pasta bemessen xD Wirklich super gemacht! Auch Logikfehler gibt es keine (welche in Creepypastas leider sehr oft vorkommen) oder dieses Schreiben aus der Sicht einer Person, die am Ende stirbt (was für mich keinen Sinn macht).
Antwort von:  Sky-
29.12.2014 10:17
Ja, das kenne ich von "The Strider" wo es hinterher heißt "Man hat meine Leiche nie gefunden" und ich denk mir nur: dafuq? Was ist das denn für eine miese Pasta? Tja, eigentlich habe ich nur aus Protest angefangen zu schreiben, weil ich diese Pastas hasse, die voller Logikfehler strotzen und weil ich diese ganzen Lost Episodes nicht mag.
Von:  elysahria
2014-10-23T14:44:46+00:00 23.10.2014 16:44
Wow das war echt gruselig. Vorallem die Unsicherheit was nun Realität und was nur Einbildung war hat mich dazu gebracht richtig mitzufiebern. Und das Ende ist dir wirklich gut gelungen, also großes Lob; )
Von:  ChaosKat
2014-05-04T11:15:27+00:00 04.05.2014 13:15
Mir gefällt dein schreibstil recht gut. Deine Beschreibungen verbildlichen die die Geschichte gut und, was mir besonders gefällt, du achtest auf diese Details, die das ganze lebendiger machen(zum Beispiel die Wanderszene mit der Landschaft)
Ich finde auch gut, dass du den Schatten nicht näher beschreibst, das erhält das Grauen des Unbekannten.
Mich würde noch interessieren, ob Jake noch einmal von dem Vieh heimgesucht wird/wurde.
Von:  Lyrael_White
2014-02-25T14:50:25+00:00 25.02.2014 15:50
So jetzt habe ich mich endlich auch aufgerafft den Dream Weaver Arc nach zu holen und ich muss sagen, dass er gelungen ist auch wenn ich zwischendrin (Viola: Das Labyrinth) etwas abgeschreckt war weiter zulesen. Im Endeffekt kann ich aber sagen es hat sich gelohnt weiter zu lesen und ich finde es sehr schön, wie du das Ende gestaltet hast. Auch Sallys kleiner Auftritt war sehr willkommen.
Das die Sache mit Mary noch nicht zu Ende ist, lässt auf eine Fortsetzung des Arcs hoffen (Umbra scheint da ja schon ein guter Vorgeschmack zu sein)
Von:  Lyrael_White
2014-02-25T13:26:07+00:00 25.02.2014 14:26
Du verstehst es wirklich sehr gut, die Fäden der verschiedenen Storys auf interessante Weise zu einem hervorragendem Gewebe zu verknüpfen.
Ich erwarte mit Spannung über was wir hier noch alles stolpern werden ausser den tiefsten Abgründen der Gesellschaft und der menschlichen Seele.

Kleiner Hinweis am Rande im dritten Satz verwendest du zweima das Wort "gerade", ich würde es durch ein anderes Wort ersetzen oder zumindest das zweite weglassen um den Lesefluss zu erhöhen.
Von:  Katzenkobold
2014-02-25T12:29:59+00:00 25.02.2014 13:29
Woah :o Das is echt gut!! Und das soll teilweise wirklich so passiert sein!? :o
Ich steh ja generell und überhaupt auf diese "Grusel"geschichten =) Ich habe zwar noch nicht ganz verstanden warum du sie Pasta nennst :D Aber ich werd direkt mal weiter lesen ^-^
Solche Geschichten sind teilweise besser als die heutigen "Horror" Filme! Jedenfalls sehr toll geschrieben, hatte eben total die Gänsehaut :D
Von:  Iovena
2014-02-14T11:10:14+00:00 14.02.2014 12:10
Wow, das ist echt gut geschrieben. Mir gefällt dein Stil total, denn du schaffst es auch, den Mördern eine Persönlichkeit zu geben und ihre Absichten so darzustellen, dass man sie irgendwie sogar mag bzw. ihre Taten nachvollziehen kann. Und ich muss gestehen, bisher ist Harvey mir in seiner Art sogar sympathisch... mal sehen, wie sich das im Laufe der Geschichte entwickelt.
Antwort von:  Sky-
15.02.2014 13:57
Danke für den netten Kommi. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir mit Harvey für einen Aufwand gemacht habe. Ich wollte aus ihn den wohl ungewöhnlichsten Mörder machen, den ich wohl jemals entwickelt habe und das scheint mir auch wohl gelungen zu sein. Da er sehr gerne Shakespeare, Goethes "Faust" und E.A. Poe zitiert, hab ich damit begonnen, sämtliche Werke während meines Seminars zu lesen und sämtliche Zitate in ein Büchlein zu schreiben, die perfekt für Harvey sind. In der Hinsicht bin ich eine kleine Perfektionistin. Vor allem ist Harvey deshalb so besonders, weil er nur deswegen mordet, damit die Leute endlich aufmerksam auf die Missstände wehren und sich gegen die Ungerechtigkeit zur Wehr setzen. Seine Vorgehensweise ist sehr zweifelhaft, aber in dem Manifest spricht er wohl sehr vielen Menschen aus der Seele.


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