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Meine Creepypastas

Paranormale (Horror) Geschichten
von

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Grey: Der Alptraum

Grey war alles andere als wohl bei dem Gedanken gewesen, Viola so ganz alleine zurückzulassen, aber was sollte er denn sonst tun? Er konnte ja schlecht durch die Dornenhecke und darüber klettern war auch unmöglich. Dieses verdammte Labyrinth machte ihn ja noch verrückt, wenn das noch so weiterging. Was sollte denn noch alles kommen? Hier gab es wahnsinnig lachende Horrorpuppen aus menschlichen Körperteilen, zweiköpfige Hunde und Ranken mit einem Eigenleben. Nicht zu vergessen diese fiesen schwarzen Rosen, die einen mit ihrem Duft betäuben konnten. Und als wäre das nicht schon genug, veränderte das Labyrinth immer wieder seine Beschaffenheit, sodass es eher ein reiner Glücksfall wäre, wenn er Viola wieder fand. Hoffentlich passierte ihr bis dahin auch nichts. Nun lief er schon eine gefühlte Ewigkeit herum und hatte nichts als Sackgassen und leere Gänge vorgefunden. Aber dann kam er wieder auf einen großen Platz raus, wo es aber dieses Mal keine Statuen, Bilder oder Brunnen gab, sondern so etwas wie ein Haus. Es war vollständig mit Rosen und Dornenranken bewachsen und sah aus, als wäre es einem Märchen entsprungen. Naja, an solch einem Ort musste ihn ja gar nichts mehr wundern. An der Tür hing ein Namensschild, jedoch war die Inschrift unleserlich gemacht worden. Grey öffnete vorsichtig die Tür und lugte hinein. Was ihn jedoch da drin erwartete, war keine kleine Hütte, wie sie von draußen aussah, sondern eine gigantische Halle, die sich über mehrere Stockwerke erstreckte. Er staunte nicht schlecht, als er das sah und war zuerst ziemlich irritiert. Zuerst wollte er sofort wieder gehen, um weiter nach Viola zu suchen, doch da hörte er von einem der oberen Stockwerke Schritte. Sie klangen nach festem Schuhwerk, es konnte also unmöglich ein Monster sein. Ob Viola doch losgelaufen und hier gelandet war? Nein, diese Schritte klangen nach Männerschuhen. Er beschloss erst einmal, nachzusehen wer da war. Vielleicht hatte sich ja noch jemand in dieses Labyrinth verirrt und suchte einen Ausweg. Grey stieg die Wendeltreppe hinauf und kam schließlich ins obere Stockwerk, wo überall Bücherregale standen. Es waren so viele Bücher, dass man sie gar nicht mehr zählen konnte und auf einem Tisch lag ein Buch, welches den Titel „Traumchronik“ trug. Jedes dieser Bücher hatte irgendetwas mit Träumen zu tun und so wie es aussah, hatte hier jemand wohl ein klein wenig die Lektüren dieser Bibliothek studiert. Nur dumm, dass es hier so dunkel war. Zwar gab es hier Fackeln und Kerzen, aber sie waren allesamt gelöscht worden und nur wenige Lichter spendeten etwas Helligkeit. Grey holte seine Taschenlampe hervor und begann sich ein wenig umzusehen. „Hallo? Ist hier jemand?“ Die Schritte verstummten augenblicklich und es blieb still. „Keine Sorge“, rief er und durchleuchtete alles mit der Taschenlampe. „Ich bin unbewaffnet und gehöre nicht zu diesen Kreaturen.“ Er hörte ein leises Klicken, das wie das Spannen eines Hahns klang, wenn eine Pistole entsichert wurde. Grey ahnte Böses und wollte hinter einem Bücherregal in Deckung gehen, da hörte er eine Stimme rufen: „Mach die Taschenlampe aus!“ Da er den Besitzer dieser Stimme lieber nicht provozieren wollte, folgte er lieber seinen Anweisungen und machte das Licht aus. Kurz darauf kam eine Gestalt zum Vorschein, die er nicht erkennen konnte in der Dunkelheit, aber sie hielt eine Pistole in der Hand. „Wer bist du und was suchst du hier?“

„Ich weiß es leider nicht, ich habe keine Ahnung.“

„Willst du mich verarschen?“

„Nein, ich sag die Wahrheit. Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Wirf die Taschenlampe rüber, damit ich dich sehen kann.“

Grey hielt es für das Beste, zu gehorchen und warf die Taschenlampe zu der Gestalt rüber und hob dann die Hände als Zeichen, dass er unbewaffnet war. Kurz darauf wurde er vom starken Lichtstrahl der Taschenlampe geblendet und musste die Augen zukneifen. Zuerst starrte ihn die Gestalt nur an, aber dann ließ sie die Taschenlampe sinken, eilte auf ihn zu und… umarmte ihn. Grey war wie vom Blitz getroffen und verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. „Ich fass es nicht, du bist es wirklich. Und ich dachte schon, du wärst tot. Oh Mann, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.“

„Entschuldigung, aber kenne ich dich irgendwo her?“ Sofort ließ die Gestalt von ihm ab und im schwachen Licht der Kerzen glaubte Grey, einen Jungen von vielleicht 20 Jahren zu erkennen, der sehr elegant gekleidet war und eine sehr blasse und schon fast schneeweiße Haut hatte, die fast wieder unnatürlich aussah. Das aschblonde Haar war ordentlich zurückgekämmt und der junge Mann machte eine sehr akkurate und vornehme Erscheinung. Seine Augen waren von einer unbestimmten Farbe, sie konnten blaugrau oder ganz grau sein, irgendwie milchig trüb. Verwirrt und zugleich besorgt sah ihn sein Gegenüber an. „Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin es, dein alter Freund Anthony. Okay, es sind jetzt gut über sechzig Jahre her, aber du müsstest dich doch an mich erinnern.“ Doch Grey konnte sich überhaupt nicht an diesen jungen Mann erinnern, geschweige denn an den Namen. „Es tut mir Leid, aber ich kann mich an gar nichts erinnern. Ich… ich habe vor einiger Zeit mein Gedächtnis verloren.“

„Oh, verstehe. So ist das also. Dann hast du auch dein eigenes gelöscht. Schon gut, das kriegen wir schon irgendwie wieder hin. Mensch, dann bist du all die Jahre ohne Gedächtnis durch die Weltgeschichte gelaufen? Das muss echt hart gewesen sein. Aber wenigstens geht es dir gut. Ich hätte echt nicht mehr damit gerechnet, dass du noch lebst. Nicht, nachdem sie dich damals niedergeschossen haben.“ Grey war sich nicht ganz sicher, was er sagen sollte. Offenbar war dieser Anthony ein sehr guter Freund von ihm, zumindest verhielt er sich so. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht an ihn erinnern und das war ihm ziemlich peinlich. Wie sollte er ihn anreden, wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten? Anthony selbst schien diese Situation recht locker zu sehen und klopfte ihm auf die Schulter. „Schon gut, du musst dir deswegen nicht gleich den Kopf zerbrechen. Bis du dein Gedächtnis wieder hast, können wir einfach von vorne anfangen. Aber sag mal, wie bist du denn eigentlich hierher gekommen?“

„Ich war bei dieser Ausstellung und bin ins Rosenlabyrinth im Garten gegangen. Dann wurde es immer später und ich bin kurz eingenickt. Ein kleines Mädchen hat mich von ein paar giftigen Rosen gerettet und sie wusste auch nicht, wo sie war. Unterwegs wurden wir getrennt und jetzt suche ich einen Weg zu ihr.“

„Wie heißt dieses Mädchen?“

„Viola.“

„Hm, der Name sagt mir nichts. Hast du sonst noch hier jemanden getroffen?“

„Außer ein paar Monstern niemanden. Du bist der zweite Mensch, den ich hier sehe. Aber sag mal, weißt du vielleicht, was das hier für ein Ort ist und wie wir hier gelandet sind?“ Anthony legte sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, während er nachdachte und betrachtete Grey eine ganze Weile. „Hast du schon mal etwas von einem Wesen gehört, welches man Dream Weaver nennt?“

„Der Name sagt mir was. Ja, ich glaube ich bin in das Labyrinth gegangen weil ich das Gefühl hatte, es wäre sehr wichtig.“

„Dann hat dich dein Spürsinn nicht getäuscht. Du musst wissen, dass dies hier gar nicht das Labyrinth ist, welches du betreten hast. Dies hier ist eine Art Parallelwelt, die auch als Traumdimension bezeichnet werden kann. Sie ist nur im Entfernten unserer realen Welt nachempfunden und wurde vom Dream Weaver erschaffen. Und offenbar wurden du und das kleine Mädchen durch eine Art Riss oder Portal in die andere Welt gebracht.“

„Und wie bist du hier gelandet?“

„Ich hab jemanden verfolgt, der ebenfalls auf der Suche nach dem Dream Weaver ist. Ihr Name ist Mary Lane und sie ist auch eine alte Bekannte von dir. Sie ist ziemlich gefährlich und hat vor, den Dream Weaver unter ihre Kontrolle zu bringen und die reale Welt vollständig durch eine von ihr geschaffene Traumwelt zu ersetzen. Und dafür geht sie über Leichen!“ Grey erblasste als er das hörte und seine Angst um Viola wurde noch größer. Der Name Mary Lane ließ in seinem Unterbewusstsein etwas klingeln. Ja richtig, Mary Lane! Sie hieß doch mit richtigem Namen Marie Lena Johann. Aber sie war doch selbst nur ein kleines Mädchen. Mehrere Szenen tauchten vor seinem geistigen Auge auf und plötzlich wurde ihm einiges klarer. „Ja richtig, ich erinnere mich an sie. Mary war doch das kleine Mädchen mit den rotbraunen Haaren.“

„Richtig, aber inzwischen ist sie erwachsen, zumindest äußerlich. Im Grunde ist aus dem kleinen Übel von damals das große Unheil von heute geworden. Wenn wir nichts unternehmen, dann wird sie die ganze Welt noch auf den Kopf stellen. Ich hab ja versucht sie aufzuhalten, aber sie hat meinen Doppelgänger getötet, der meinen Platz eingenommen hat, während ich mich vor ihr versteckte. Als ich gehört habe, was sie vorhat, bin ich ihr in die Traumdimension gefolgt, um zu verhindern, dass sie eine Riesendummheit macht. Außerdem meinte sie, dass du vielleicht auch hier sein könntest und ich hatte schon irgendwie gehofft, dass du noch am Leben sein könntest.“ „Was würde denn passieren, wenn Mary Viola findet? Würde sie ihr etwas antun?“

„Nun, lass es mich so ausdrücken: Sie wird die Kleine zu Hackfleisch verarbeiten!“ Dann durfte er keine Zeit verlieren. Gemeinsam verließen sie das Haus und machten sich auf den Weg, um nach Viola zu suchen. Sie mussten sie noch vor Mary finden, sonst könnte es zu spät für die Kleine sein. Welcher Weg der richtige war, wusste keiner von ihnen. Sie richteten sich nach ihrem Gefühl. „Sag mal Anthony, wenn du mich kennst, kannst du mir vielleicht sagen, wie ich heiße?“

„Klar. Du heißt Vincent Rose, aber dein deutscher Name lautet Vinzent Erik Rosenstein und deine Familie ist schon seit einer Ewigkeit tot. Dein Vater starb bei Stalingrad, deine Mutter wurde von den Sowjets erschossen. Du bist also Vollwaise.“

„Und kannst du mir sagen, was mit meinem Auge passiert ist?“

„Ein Bombensplitter hat dich im Gesicht getroffen, als du versucht hast, ein kleines Kind von der Straße zu holen. Ach ja, dank dir konnten Mary, ich und die anderen entkommen. Insgesamt sechs Kinder konnten wir bei unserem Ausbruch aus dem Forschungslabor retten. Ich hab mich so gut es ging um sie gekümmert, aber Mary konnte ich nicht unter Kontrolle halten. Sie ist weggelaufen und erst mit der Selbstmordclubgeschichte konnte ich sie aufspüren. Diese Verrückte hat unzählige Schüler überm Jordan gehen lassen, um ihre Kräfte auszutesten.“ Sie erreichten schließlich einen stark erhellten Weg, der dem lichtentwöhnten Vincent in den Augen wehtat. Er fragte sich, warum plötzlich alles so hell war, aber das konnte ihm auch egal sein. Ein Gefühl sagte ihm, dass er Viola schon ganz nahe war und das allein war ihm jetzt wichtig. Aber kaum hatten sie den Weg erreicht, da rief Anthony „Warte, ich kann da nicht durch!“ Vincent blieb stehen und sah seinen alten vergessenen Freund verwirrt an. „Was ist?“

„Ich… ich kann nicht da durch. Ich habe eine Lichtallergie und allein schon künstliches Licht tut höllisch weh.“

„Wolltest du deshalb, dass ich die Taschenlampe ausmache?“ Anthony nickte und wich vor dem grellen Licht zurück und versuchte, seine Augen dagegen abzuschirmen. Für ihn, der gezwungen war, ein Leben in der Dunkelheit zu führen, war es immer wieder ein Schmerz, hineinzusehen und mit den Jahren war es mit seiner Krankheit immer schlimmer geworden. Jetzt da durchzugehen, würde zu viel für ihn werden. Im Laufe der Zeit hatte er eine regelrechte Lichtphobie entwickelt und bekam jedes Mal Panik, wenn er diesem ausgesetzt war. Vincent sah besorgt, wie Anthony noch blasser wurde (was eigentlich kaum noch möglich war) und wie ihm der Angstschweiß kam. Schließlich aber kam ihm eine Idee. Er zog seinen Mantel aus und warf ihn dem Lichtscheuen über. „So müsste das doch eigentlich gehen. So bist du vor dem Licht geschützt und kannst ohne Probleme durchgehen. Oh Mann, warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“ „Weil es mir vielleicht etwas peinlich ist, darüber zu sprechen, dass ich Angst vor dem Licht habe!“ Vincent konnte einfach nicht anders, als zu schmunzeln und legte einen Arm um Anthonys Schultern, um ihn vorsichtig zu führen. Sie gingen gemeinsam weiter und zwischendurch erkundigte sich er nach dem Zustand seines Freundes. „Es geht schon. Mir ist nur ein bisschen schwindelig…“

„Denk einfach an etwas Schönes, halte die Augen geschlossen und versuch ruhig zu atmen, dann geht das schon. Komisch, das ist das erste Mal, dass ich so etwas in diesem Labyrinth sehe.“

„Das liegt daran, dass der Dream Weaver versucht, uns mit unseren Ängsten zu quälen. Und da du vorhin so cool von Monstern geredet hast, vermute ich, dass er es besonders auf Viola abgesehen hat, weil Kinder schneller zu erschrecken sind. Er spioniert unser Unterbewusstsein aus und foltert uns mit unserer schlimmsten Angst, um uns zu brechen. Da du aber dein Gedächtnis gelöscht hast, konnte er deine noch nicht finden. Ich hingegen bin ein einfaches Opfer. Vor Monstern und geistesgestörten Teenies hab ich ja keine Angst, aber Licht ist das Einzige, was mir zu schaffen macht.“

„Jeder hat seine Ängste und daran ist nichts peinlich.“ Anthony lugte kurz unter dem Mantel hervor und sah seinen alten Freund mit einem Schmunzeln an. „Selbst ohne dein Gedächtnis bist du noch ganz der Alte. Wenigstens du hast dich nicht verändert. Ich hingegen bin älter geworden. Ich hatte keine Lust, mein Leben lang ein 16-jähriger zu bleiben und Mary ist jetzt eine junge Frau, wenn auch nur äußerlich. Aber du siehst noch genauso aus wie vor sechzig Jahren.“

„Sechzig Jahre? Wie kommt es, dass wir so jung geblieben sind?“

„Durch unsere Fähigkeit, das Unterbewusstsein zu beeinflussen, erlangten wir auch die Kontrolle über das Unbewusstsein und damit über sämtliche Vorgänge im Körper. Somit wird die Alterung und Hormonproduktion verändert und wir können somit bestimmen, ob wir älter werden wollen oder nicht. Das ist eigentlich schon das ganze Geheimnis. Wenigstens müssen wir uns keine Sorge wegen Falten machen…“ Dass der arme Kerl in solch einer Situation lachen konnte, war schon mal ein gutes Zeichen. Schließlich waren sie endlich aus dem Licht raus, als sie um die Ecke bogen und einen weiteren weitläufigen Platz erreichten. Anthony aber musste erst einmal eine Pause einlegen und sich setzen. Sein Herz raste wie wild, sein Puls war auf 180 und ihm war so schwindelig, dass er beinahe umgekippt wäre. Mit einem Taschentuch wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn und man sah, wie sich an seiner rechten Gesichtshälfte, die mit dem künstlichen Licht in Berührung gekommen war, eine leichte Rötung bildete. Er gönnte sich aber nur einen kurzen Moment Ruhe, denn er wollte Mary so schnell es ging finden und sie töten, bevor es zu spät war. Außerdem behagte ihm der Gedanke nicht, dass ein kleines Mädchen dieser Verrückten noch über den Weg lief. „Ich würde dir gerne noch eine Frage stellen, Anthony: Warum sind Viola und ich hier?“

„Ich vermute, dass der Dream Weaver es auf Viola abgesehen hat. Wenn er sie hier tötet, kann sie nicht ins Jenseits übergehen, sondern bleibt für immer in dieser Welt gefangen. Sie ist nicht die Erste und wahrscheinlich auch nicht die Letzte. Und du bist wahrscheinlich eher versehentlich mit in diese Welt gebracht worden, oder aber du bist ihr unbewusst gefolgt. Genauso wie du unbewusst all die Jahre deine Fähigkeiten eingesetzt hast, um jung zu bleiben. Das dürfte noch eine richtig spannende Sache werden.“ Sie erreichten eine Weggabelung wo erneut zwei Schilder je eine Richtung wiesen. Auf dem linken Schild stand „Weg des Monsters“ und auf dem anderen „Weg des Dämons“. Leider konnte man unmöglich daraus schließen, welcher Weg der Richtige war, also entschieden sie sich, getrennt weiterzusuchen. Anthony wollte den Weg des Dämons gehen und so ging Vincent den anderen. Kaum, dass sie die Wege betraten, schloss sich der Durchgang und sie waren auf sich allein gestellt. Vincent hatte kein gutes Gefühl bei diesen unheilvollen Wegnamen und er fürchtete, dass da noch einiges auf ihn zukommen könnte. Aber seine größte Sorge galt Viola. Sie war noch ein Kind und vollkommen wehrlos, selbst mit dem Taschenmesser. Aber auch andere Dinge beschäftigten ihn, nämlich das, was Anthony ihm gesagt hatte. Mary hatte versucht ihn umzubringen und wollte die reale Welt durch eine Traumwelt ersetzen, über die sie allein herrschen würde. Was war nur mit Mary geschehen, dass sie so etwas tun wollte? War das wirklich der Plan gewesen, den Anthony beiläufig erwähnt hatte? Nein, er konnte sich nicht vorstellen, dass sein altes Ich tatsächlich vorgehabt hatte, so etwas zu tun. Aber wieso nur hatte Mary sich diesen Wahnsinn in den Kopf gesetzt? Was hatte sie dazu getrieben? Leider konnte er sich nicht daran erinnern, was vor der Zeit im Institut mit Mary geschehen war. Tatsache aber war, dass sie ziemlich gefährlich und gewaltbereit zu sein schien. Hoffentlich konnte wenigstens er vernünftig mit ihr reden. Vincent bog nach links ab und hörte schnelle Schritte näher kommen. Irgendjemand rannte in seine Richtung und rief laut „Komm raus, komm raus, wo immer du bist! Ich finde dich sowieso du kleines Monster.“ Vincent hielt es für besser, sich lieber für den Ernstfall zu bewaffnen und hob einen faustgroßen Stein auf. Schnell ließ er ihn in seiner Manteltasche verschwinden, denn da kam auch schon ein Mädchen von vielleicht 18 oder 19 Jahren aus einem Seitengang herbeigeeilt und ihr Blick hatte etwas Wahnsinniges und Mordlüsternes an sich. „Wo bist du?!“ schrie sie laut und hielt ein Fleischermesser in der Hand. „Komm sofort raus, damit ich dich…“ Das Mädchen verstummte augenblicklich, als sie Vincent erblickte und ihn erkannte. Ihre Augen weiteten sich und sie ließ beinahe das Messer fallen. „Das… das glaube ich ja nicht“, brachte sie hervor und kam langsam auf ihn zu. „Du bist es tatsächlich. Nach all der Zeit bist du endlich zurückgekehrt…“ Vincent sah sie stirnrunzelnd an, denn er konnte dieses wunderschöne Gesicht nicht zuordnen. War das wirklich Mary Lane? Sie war ja tatsächlich nicht mehr wiederzuerkennen. Lediglich dieses wunderschöne Haar war unverkennbar geblieben. „Mary?“ fragte er zögernd und blieb wie angewurzelt stehen. „Bist du es wirklich?“

„Ja, ich bin es. Ich bin Mary, ich BIN Mary. ICH BIN MARY!!!“ fröhlich lachend eilte sie zu ihm und fiel ihm um den Hals. Tatsächlich hatte Anthony Recht, das war ein kleines Mädchen im Körper einer Erwachsenen. So wie sie sich benahm…. Aber dann, aus völlig heiterem Himmel, schlug Marys Stimmung um und wütend sah sie ihn an und packte ihn an den Armen. „Warum nur hast du mich all die Jahre allein gelassen? Warum? Warum hast du mir das angetan?“

„Tut mir Leid, aber ich habe mein Gedächtnis verloren und…“

„Was? Du hast dein Gedächtnis verloren? Naja, das macht auch nichts. Das kriegen wir schon wieder zurück. Erinnerst du dich denn wenigstens an unser gemeinsames Versprechen? Wir haben uns doch versprochen, dass wir uns beide einen friedlichen Ort schaffen werden und für immer zusammen bleiben. Du hast es versprochen!“ Und damit zeigte Mary ihm das rote Band, welches sie um ihr rechtes Handgelenk trug. Sofort hob Vincent sein eigenes, wo auch er ein rotes Band trug. Und als er es sah, fiel es ihm wieder ein. Er hatte Mary versprochen, dass er, wenn er die Fluchtaktion aus dem Institut überleben würde, eines Tages zu ihr zurückkehrte. Unfassbar, er hatte endlich den Menschen gefunden, den er seit so langer Zeit gesucht hatte. Doch gleichzeitig erfüllte es ihn nicht gerade mit sonderlich großer Freude, dass es Mary war, der er sein Versprechen gegeben hatte. Er konnte nicht sagen warum, aber dieses Mädchen war ihm irgendwie unheimlich. „Mary…“, begann er langsam und befreite sich von ihr. „Stimmt es wirklich, was du getan hast? Hast du wirklich Anthony getötet?“

„Er war selbst Schuld, er wollte uns beide aufhalten und mich töten!“ rief Mary und begann heftig mit den Händen zu gestikulieren, wobei sie immer noch das Messer hielt, was Vincent überhaupt nicht behagte. „Er war sowieso ein Verräter. Er hatte für Dr. Helmstedter gearbeitet. Den Mann, der mich damals im KZ gefoltert und an mir herumexperimentiert und dann uns das alles unter dem Befehl der Amerikaner angetan hat. Er hat es nicht anders verdient, aber du wirst mich nicht verraten, nicht wahr? Du wirst dich nicht gegen mich stellen.“ Diese Mary hatte wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie psychisch nicht mehr ganz gesund war und Vincent wich einen halben Schritt vor ihr zurück. „Und stimmt es auch, dass du vorhast, die reale Welt zu einer Traumwelt zu machen und sie unter deine Kontrolle zu bringen?“

„Das war doch unser Plan gewesen: Uns unsere eigene Welt zu schaffen. Und dazu müssen wir diese Welt erst mal auslöschen, um sie durch unsere eigene zu ersetzen. Und das können wir nur, indem wir den Dream Weaver finden und sein neuer Wirt werden. Wenn wir es schaffen, ihn zu kontrollieren, können wir alles tun, was uns gefällt. Und wer uns dabei im Weg steht, der wird eben sterben müssen. So einfach ist das.“ So allmählich verstand Vincent, was das alles zu bedeuten hatte, trotzdem wollte er partout nicht glauben, dass er damals diesen Plan gefasst hatte. Dieser Plan war doch Wahnsinn! Irgendwie musste er es schaffen, Mary zur Vernunft zu bringen und sie davon abzubringen. „Mary, das kannst du doch nicht tun. Ich kann mich zwar nicht erinnern, was ich damals gesagt habe, aber ich glaube nicht, dass ich wirklich vorhatte, unsere Welt zu einem lebenden Traum zu machen und alles so ins Chaos zu stürzen. Das ist doch verrückt, das können wir doch nicht tun.“

„Du… du erinnerst dich nicht… nur deswegen bist du jetzt gegen mich… ja, das muss es sein. Es kann gar nicht anders sein.“ Mary wurde zusehends nervöser und Vincent spürte, wie die Aggressivität in ihr wuchs. „Wenn du dich erinnern könntest, würdest du dich nicht gegen mich stellen.“

„Mary, jetzt beruhige dich doch erst einmal. Lass uns doch vernünftig miteinander reden.“

„HÖR AUF, MICH WIE EINE VERRÜCKTE ZU BEHANDELN!!!“ schrie sie plötzlich und stieß ihn von sich. Vincent fiel nach hinten zu Boden und versuchte sogleich wieder auf die Beine zu kommen, denn Mary sah danach aus, als würde sie gleich Gebrauch von ihrer Waffe machen. „Du hast dich total verändert, Vincent. Du warst sonst immer so lieb zu mir und hast mir immer den Kopf gestreichelt. Aber jetzt behandelst du mich so abweisend, das ist nicht fair. Ich habe fast sechzig Jahre auf dich gewartet und so viel getan, damit wir unseren Traum verwirklichen können. Und wir sind schon so weit gekommen, dass wir bereits in der Welt des Dream Weavers sind. Jetzt müssen wir nur noch den jetzigen Wirt töten und dann den Dream Weaver unter Kontrolle bringen.“

„Seinen Wirt? Wovon sprichst du?“

„Hast du das etwa auch vergessen? Träume können nicht eigenständig weiterexistieren, sie verschwinden einfach. Deshalb braucht der Dream Weaver einen menschlichen Wirt, von dessen Verstand, Träume und Fantasien er sich ernährt. Wenn er seines Wirtes überdrüssig ist, verschleppt er ihn in seine Welt und verschlingt ihn, bevor er sich einen neuen sucht.“

„Aber das würde ja bedeuten…“

„Dieses Mädchen, diese Viola ist die jetzige Wirtin. Aber sie kann den Dream Weaver nicht beherrschen, im Gegenteil. Er ist es, der sie wie eine Marionette an Fäden steuert. Vincent, wir sind unserem Ziel so nahe. SO NAHE!!! Wir können uns eine ganz neue Welt erschaffen und wie Götter leben. Alles, was wir dafür tun müssen ist, das kleine Balg abzustechen. Aber dummerweise ist sie mir entwischt, wir müssen sie also suchen gehen, damit wir sie töten können.“ Vincent konnte nicht fassen, was er da hörte, aber wenn er so darüber nachdachte, ergab das alles tatsächlich Sinn. Wenn Viola tatsächlich der Wirt war, dann verstand er endlich, warum er ihr unbewusst gefolgt war. Nicht sie war es, die er zu finden versucht hatte, sondern der Dream Weaver. Und als sie ins Labyrinth gegangen war, hatte der Dream Weaver sie in diese Traumdimension verschleppt um sie zu verschlingen und er, Vincent war ihr gefolgt, ohne sich darüber bewusst zu sein. Mary, die wohl auch gespürt hatte, dass der Dream Weaver aktiv wurde, folgte als Nächstes und machte sofort Jagd auf Viola, während sich Anthony irgendwie im Irrgarten verlief und im Haus landete. Immer mehr verbanden sich die einzelnen Fragmente aus Vincents dürftiger Erinnerung langsam zu einem Gesamtbild. Und als er diese Bruchstücke zusammenfügte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, wer hinter dem Dream Weaver selbst steckte: Sir Bunnyman, Violas angeblicher imaginärer Freund. Das musste es sein. Offenbar hatte sich der Dream Weaver mit einem Teil ihres Unterbewusstseins verschmolzen und sich systematisch von ihr abgekapselt. Er war es, der ihre Familien tötete und sie psychisch so erkranken ließ, dass sie wochenlang mit Leichen im Haus lebte, ohne etwas zu merken. Sie wurde die ganze Zeit von ihm manipuliert und jetzt, da sie sich in seiner Welt befand, war sie für diese Zeit von seinem Einfluss befreit. Und jetzt wollte Mary sie töten? „Das kann nicht dein Ernst sein. Was hat Viola denn getan, dass du sie gleich umbringen willst? Sie ist ein Kind verdammt!“

„Getan hat sie nichts. Ich hab auch nichts gegen sie persönlich, trotzdem kann ich genug Gründe aufzählen, um sie zu töten. Wenn sie nicht stirbt, kommen wir nicht an den Dream Weaver heran. Das muss dir doch auch klar sein, selbst mit Gedächtnisverlust.“

„Tut mir Leid, aber da mache ich nicht mit. Ich töte keine Kinder, niemals!“ Marys Miene verfinsterte sich und giftig blitzte sie Vincent an. Ihr Gesicht wurde zu einer hasserfüllten Fratze, sie umklammerte das Messer fester in der Hand und Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. „Du… du willst dieses Dreckstück mir vorziehen? Nach all dem, was wir gemeinsam erlebt haben?“

„Ich habe Viola versprochen, dass ich sie beschützen werde und ganz sicher werde ich bei diesem Plan nicht mitmachen!“

„Das ist nicht fair“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor. „Du lässt mich einfach so fallen, obwohl ich extra für dich erwachsen geworden bin, damit wir beide gemeinsam glücklich werden können. Ich erkenne dich gar nicht wieder, Vincent. Das bist nicht du! Niemals. Du hast dich völlig verändert, du bist nicht mehr der Junge, den ich damals so geliebt habe.“ Das hasserfüllte Gesicht wich einem breiten Grinsen und Mary brach in ein manisches Gelächter aus. „Na gut, dann wirst du wohl auch sterben müssen, Vincent.“

„Bist du völlig durchgeknallt? Warum willst du mich töten?“

„Ich kann nicht zulassen, dass du unseren Plan vereitelst. Weder du, noch sonst jemand anderes. Aber keine Sorge. Wenn ich euch alle getötet habe, werdet ihr trotzdem in meinen Träumen weiterleben. Dann wirst du wieder ganz der Mensch sein, den ich damals geliebt habe und wir beide werden zusammen glücklich werden.“

„Aber ich würde trotzdem sterben und was dann lebt, ist doch nur eine Illusion. Du kannst Menschen nicht einfach so durch Traumbilder ersetzen, die nicht echt sind. Damit würdest du dich nur selbst belügen und in eine Traumwelt einsperren, aus der du nie wieder entkommen kannst. Das kann es doch nicht sein.“

„Du weißt ja nicht, was du da redest. Du bist nicht der alte Vincent, deshalb kannst du es nicht verstehen. Schade eigentlich, ich hätte dich gerne am Leben gelassen. Aber ich denke, als lebender Traum wärst du mir lieber. Also sei so nett und wehr dich nicht, wenn ich dich absteche!“ Damit ließ sie das Messer auf ihn herabsausen, doch Vincent stieß sie mit aller Kraft von sich und Mary fiel nach hinten. Daraufhin holte er den Stein hervor und die Wut und der Zorn flammten in seinem Herzen auf. Er verstand es nicht. Warum nur tat Mary solch schreckliche Dinge und warum wollte sie ihn töten, wo er sich doch so aufopferungsvoll um sie im Institut gekümmert hatte? „Warum habe ich damals mein Leben aufs Spiel gesetzt, um euch zu retten? Warum habe ich mein Gedächtnis gelöscht und bin jahrzehntelang durch die Welt geirrt, nur um dich zu finden? Du hast versprochen, dass du ein braves Mädchen bleiben wirst, bis ich zurückkehre und was tust du? Du bringst meinen besten Freund um!!!“

„Sie sind ja nur in dieser Welt tot, aber wenn ich der neue Wirt des Dream Weaver werde, dann kann ich sie alle zurückholen, wenn du magst. Dann werden sie für immer mit uns glücklich sein.“

„Was meinst du mit „alle“? Hast du etwa auch die anderen umgebracht?“

„Ich hatte ja keine Wahl, sie haben sich mir in den Weg gestellt und das darf niemand, nicht einmal du!“ Als der Konstrukteur das hörte, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Die Erinnerung an diese armen kleinen Wesen, die sie damals unter Einsatz ihres Lebens vor dem sicheren Tod bewahren konnten, waren alle tot? Mary hatte sie einfach umgebracht… „Ich hätte dich damals einfach zurücklassen sollen!“ rief er und stampfte mit dem Fuß auf. „Hätte ich jemals geahnt, dass du so etwas Schreckliches tust, dann hätte ich dich in dieser Todesfalle zurückgelassen.“ Mary sah ihn erschrocken an und ihr kamen die Tränen. Solche Worte aus seinem Mund zu hören, hätte sie nie gedacht und sie verstand nicht, warum er sich so furchtbar aufregte. Langsam stand sie auf und klopfte sich den Dreck von der Kleidung. „Du… du weißt nicht, was du sagst. Das liegt sicher an deinem Gedächtnisverlust, dass du dich so sehr verändert hast. Das bist nicht du, Vincent. Du bist nicht der Mensch, den ich geliebt habe.“

„Das liegt nicht daran“, rief er wütend. „Ich kann mich jetzt wieder an einige Dinge erinnern und ich weiß auch so, dass ich niemals so etwas gewollt habe. Ich wollte, dass ihr alle glücklich werdet und ein neues Leben beginnt. Nur dafür habe ich mein Gedächtnis gelöscht, als ich von den Soldaten gefangen genommen wurde: um zu verhindern, dass sie euch finden! Und du trittst das alles so mit Füßen und zerstörst alles, was Anthony und ich geschaffen haben, nur weil es dir persönlich nicht in den Kram passt. Ich hätte mich schon viel früher erinnern müssen, dann hätte ich dich schon früher aufhalten können.“ Diese Worte waren zu viel für Mary Lane. Etwas in ihrem Kopf setzte komplett aus, sie konnte nicht mehr denken, sondern wurde nur noch von ihrem Drang nach Blutvergießen gesteuert. Sie stürzte sich auf ihn und holte mit dem Messer aus, da warf er den Stein und traf sie direkt an die Stirn. Getroffen taumelte sie benommen nach hinten, der Stein riss eine tiefe Wunde und Blut strömte ihr Gesicht hinunter. „Dafür wirst du bezahlen, du Dreckskerl. Du wirst mir meinen Traum nicht zerstören, hörst du? NIEMAND WIRD DAS!!!!“ Es entstand ein heftiger Kampf zwischen den beiden, in welchem Mary immer wieder versuchte, ihrer einst großen Liebe das Messer in den Körper zu stoßen, während er bemüht war, den Arm abzuwehren und diese wild gewordene Furie von sich zu stoßen. Aber wenn Mary erst einmal in Rage war, hielt nichts und niemand sie auf. Im Verlaufe des Kampfes, in welchem Vincent mit rücklings auf dem Boden lag und Mary direkt über ihn gebeugt war, konnte er ihre beiden Arme festhalten, bekam aber dann eine heftige Kopfnuss, als sie ihm ihre Stirn gegen die seine rammte. Der Schlag war so brutal, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde und er verlor für eine Sekunde seine Kraft. Das nutzte Mary, um sich von ihm loszureißen, um ihm das Messer in den Bauch zu stoßen. Die Klinge drang jedoch nicht ganz in den Körper ein, da packte etwas die wahnsinnig gewordene Konstrukteurin von hinten und zerrte sie von Vincent herunter. „Was zum Teufel soll das? Loslassen! Ihr sollt mich loslassen, verdammt!!!“ Vincent setzte sich unter Schmerzen auf und sah, dass mehrere Dornenranken Mary gepackt hatten und in die Dunkelheit zerrten. Sie wehrte sich nach Leibeskräften und tobte wie eine Wahnsinnige. Zuerst konnte er sein unverschämtes Glück kaum fassen, da kamen noch mehr Ranken herbeigeschlängelt, um auch ihn zu packen. Schnell kam er wieder auf die Beine und ergriff die Flucht. Dabei durchzuckte ein rasender Schmerz seinen Unterleib und als er eine Hand darauf presste, fühlte er warmes Blut. Die Klinge hatte ihn doch etwas tiefer verletzt als erwartet und Blut lief ihm ins Auge. Verdammt, er hätte nicht gedacht, dass Mary so stark war. Wären diese Dornenranken nicht gewesen, wäre er mit großer Sicherheit jetzt tot. Unfassbar, dass sie so geworden war. Anthony hatte von Anfang an Recht gehabt. Aber wenigstens konnte er sich teilweise wieder erinnern. Er erinnerte sich an seine Zeit in dieser dunklen und kahlen Zelle, an Mary, die er so oft getröstet und beruhigt hatte. Und er erinnerte sich an seinen besten Freund Anthony und dessen schwerer Krankheit, die ihm so zu schaffen machte. Zwar war es nicht sehr viel, denn an sich selbst und seinen Namen konnte er sich aus eigener Kraft immer noch nicht erinnern. Aber das war auch nicht so schlimm, der Rest würde mit der Zeit auch wiederkommen. Jedoch war das erst mal nebensächlich. Wichtig war es erst einmal, seine beiden Freunde zu finden und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis der Dream Weaver sich zeigte und versuchen würde, Viola zu verschlingen, sollte sie tatsächlich sein Wirt sein.

Nach einiger Suche und mehreren Konfrontationen mit diesen widerlichen Horrorpuppen, die allesamt mit Rasierklingen oder Skalpellen bewaffnet waren, hatte Vincent die beiden endlich gefunden. Viola und Anthony hatten sich in einer kleinen Seitennische versteckt, um kurz zu rasten. Anthony hatte an mehreren Stellen auf seiner Haut Brandblasen und teilweise waren diese aufgeplatzt und bluteten. Er sah fürchterlich aus. Als das kleine Mädchen Vincent sah, brach sie in Tränen aus und fiel in seine Arme. „Grey, endlich bist du da. Ich hatte solche Angst.“ „Schon gut Viola, ich bin ja jetzt hier.“

„Da war so ein Mädchen, das mich umbringen wollte. Ich konnte vor ihr weglaufen, aber dann… dann waren da diese Puppen und haben mich umzingelt. Anthony hat mich gerettet, aber dann ist er… er ist…“ Die Kleine war so durcheinander, dass sie kaum noch imstande war, ruhig und vernünftig zu reden, sodass er sie erst einmal beruhigen musste. Aus dem Gestammel erfuhr er, dass Anthony sie vor den Puppen gerettet hatte, er selbst aber binnen kürzester Zeit höllische Schmerzen bekam, da der Gang von starkem Licht durchflutet war. Da er sich zu lange diesem intensiven Licht ausgesetzt hatte, bekam seine Haut einen heftigen Ausschlag und schließlich bildeten sich Brandblasen. „Anthony sagte, dass er ein Freund von dir ist. Stimmt das?“

„Ja, wir beide kennen uns schon seit vielen Jahren und wir beide haben zusammen nach dir gesucht.“

„Dann kannst du dich wieder erinnern?“

„Noch nicht an alles, aber zumindest weiß ich schon mal, dass ich Vincent heiße und wer Anthony und diese Mary sind. Das ist doch ein Anfang.“ Als Viola das hörte, ließ sie ihn sofort los und wich vor ihm zurück. In ihren Augen war so etwas wie Angst zu sehen und auch eine Spur von Traurigkeit. Schließlich drehte sich das Mädchen um und wollte weglaufen, aber Vincent hielt sie fest. „Viola, warum läufst du denn vor mir weg? Was hast du?“

„Du willst mich umbringen, richtig? Dieses Mädchen sagte, dass sie und „Vincent“ den Dream Weaver haben wollen und sie mich deshalb töten müssen. Dann stimmt es also, du bist nur hier, weil du mich töten willst!“

„Nein, das ist nicht wahr. Mary hat dich angelogen. Ich hatte niemals vor, dir oder sonst jemanden etwas anzutun. Es stimmt schon, dass ich den Dream Weaver kontrollieren will, aber ohne, dass dabei jemand zu Schaden kommt. Erinnerst du dich an mein Versprechen? Ich hab dir versprochen, dass ich nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert. Und ich breche niemals mein Versprechen!“ Diese Worte überzeugten Viola und so entschloss sie sich dazu, ihm zu vertrauen. Nach einigem Zögern nahm sie seine Hand und fragte „Darf ich trotzdem weiterhin Grey zu dir sagen?“

„Natürlich darfst du das. Aber nun zu dir Anthony, wie geht es dir? Du siehst ja wirklich übel aus.“

„Ach das wird schon. Die paar Brandblasen sind schnell wieder abgeheilt. Nur das Brennen ist ziemlich unangenehm.“

„Aber dass du so mutig sein würdest, deine Phobie zu bekämpfen um Viola zu retten, hätte ich nicht gedacht. Vielen Dank, mein Freund.“ Anthony lächelte schwach und versuchte, sein glühendes Gesicht zu kühlen. Ihm war entsetzlich heiß, besonders sein Innerstes fühlte sich an, als würden seine Knochen schmelzen. Diesen brennenden Schmerz fühlte er immer, wenn er dem Licht ausgesetzt wurde. „Aber du siehst auch ziemlich mitgenommen aus. Hat dich diese Verrückte in die Mangel genommen?“ Vincent nickte und erzählte, was zwischen ihm und Mary vorgefallen war und dass sie versucht hatte, sogar ihn zu töten. Anthony zeigte sich nicht gerade überrascht, nur Viola war entsetzt darüber. „Ich hab es dir vor sechzig Jahren gesagt und ich sag es dir heute noch mal: Mary ist gefährlich und es wird das Beste sein, wenn wir sie umbringen, bevor sie irgendeine Riesendummheit macht. Zuzutrauen wäre ihr alles.“

„Beim nächsten Mal denke ich dran, wenn ich sie sehe. Komm, ich helf dir hoch.“ Vincent ergriff Anthonys Hand und zog ihn vorsichtig hoch. Er zog seinen Mantel aus und gab ihn seinem besten Freund mit der Erklärung, dass dieser recht dicht gewebt sei und vielleicht ein besserer Schutz gegen Licht sei. Außerdem habe er eine Kapuze. Kaum hatte er aber den Mantel ausgezogen, da sahen seine beiden Freunde den dunklen Blutfleck an seinem Shirt. Viola war besorgt und fragte, was passiert sei. „Mary hat mich mit dem Messer erwischt. Aber keine Sorge, die Wunde ist nicht ganz so tief. Es sieht schlimmer aus, als es eigentlich ist und bei mir verheilt alles recht schnell.“ Die Verletzung hatte er unterwegs recht notdürftig versorgt, indem er sie mit Klebeband verschlossen hatte. Das war als Notlösung gedacht, aber wenn die Wunde nicht bald verarztet wurde, könnte sie sich noch entzünden und im schlimmsten Fall einen Wundbrand verursachen. Aber darüber wollte er sich noch keine Gedanken machen. Er glaubte sowieso nicht, dass sie noch die Ewigkeit hier in dieser Welt verbringen würden. Irgendwann musste sich der Dream Weaver ja zeigen. Vincent nahm seinen Rucksack ab, holte das Verbandszeug heraus und begann wenigstens schon mal, Anthonys Hände zu verarzten. Viola wartete geduldig und zupfte schließlich an Anthonys Kleidung. „Ich wollte noch danke sagen.“

„Kein großes Ding. Aber von jetzt an passen wir aufeinander auf, um nicht schon wieder getrennt zu werden. Mary ist sicher irgendwo wieder unterwegs, wenn sie sich befreien konnte und sie wird ganz schön sauer sein. Also gut, dann gehen wir mal unsere Ausrüstung durch. Was habt ihr beide mit?“

„Ich habe Haarspray, den Rest von meinem Brot, ein Taschentuch und eine Flasche Wasser bei mir, außerdem das Taschenmesser, das mir Grey gegeben hat. Ach ja und da ist noch mein Glücksbringer, ein kleines Häschen.“

„Und du, Vincent?“

„Mein Feuerzeug, eine Taschenlampe, mein Notizbuch, Verbandszeug und ein Rundführer der Ausstellung. Ach ja, dann hab ich noch eine Uhr, eine Tafel Schokolade und ein Buch, das ich zurzeit lese.“ Leider keine besonders hilfreichen Dinge, die man in solch einer Situation gebrauchen konnte, wie Anthony schnell feststellte, aber zum Glück hatte er sich besser vorbereiten können. Man musste ja auch bedenken, dass Vincent und Viola versehentlich in dieses Labyrinth geraten waren. „Ich habe eine Pistole und Munition, ein Seil, ein Messer und einen Taser für den Fall der Fälle. Gut, machen wir es so: Vincent, du bekommst mein Messer und Viola, du nimmst besser den Taser. Ich zeig dir, wie man ihn benutzt.“ Er holte den Taser heraus und erklärte die Benutzung. Ein solcher Elektroschocker, den man auf kurze Distanz benutzen konnte, war wahrscheinlich effektiver in den Händen eines kleinen Mädchens, als ein Taschenmesser. Insbesondere, weil eventuell die Gefahr bestand, dass Mary ihnen über den Weg laufen könnte. Zwar war diese Verrückte ziemlich schnell und vor allem stark, aber selbst sie war gegen eine ordentliche Ladung Volt wehrlos. Als Anthony dann das Taschenmesser sah, welches Viola fest in der Hand hielt, da musste er schmunzeln. „Ich fasse es nicht, dass du dieses alte Ding immer noch hast, Vincent.“

„Was meinst du?“

„Das Taschenmesser. Ich hab es dir damals gegeben, bevor wir aus dem Institut geflohen sind.“

„So etwas hab ich mir schon gedacht. Ich dachte mir, vielleicht erinnere ich mich ja eines Tages wieder daran, woher ich es habe. Es schien mir sehr wichtig zu sein, dass ich es behalte. Ich hab noch andere Dinge bei mir, die ich von damals habe.“ Als Viola das hörte, holte sie selbst ihren kleinen Glücksbringer aus der Tasche, welches einen Schlüsselanhänger mit einem kleinen Häschen darstellte, wo auch ein kleines Schildchen mit ihrem Vornamen hing. Dieses gab sie ihrem großen Freund. „Falls du wieder dein Gedächtnis verlierst, hast du wenigstens etwas von mir.“ Vincent lachte, streichelte ihr den Kopf und umarmte sie. „Das ist wirklich lieb von dir, Viola. Ich werde auch gut darauf aufpassen.“

Sie machten sich auf den Weg und kamen recht gut vorwärts, jetzt da sie zu dritt waren. Viola jedoch beklagte sich schon bald, dass ihre Füße schmerzten und sie müde war. Daraufhin nahm Vincent sie auf den Rücken und schon bald schlief sie ein. Diese ganze Aufregung war einfach zu viel für ein kleines Mädchen. „Armes Ding“, sagte Anthony schließlich. „Sie musste sicher einiges durchmachen. Und dann auch noch die Tatsache, dass sie vom Dream Weaver verschlungen werden soll.“

„Mich würde ja mal interessieren, warum der Dream Weaver sie töten will und warum er sie in diese Welt gebracht hat. Wozu der ganze Aufwand?“

„Wenn der Dream Weaver sich im Unterbewusstsein seines Wirtes einnistet, verschmilzt er quasi mit ihm. Dadurch kann er sich von dessen Träumen, Gedanken und Fantasien ernähren. Aber er kann sich nicht aus eigener Kraft wieder von ihm lösen. Seine einzige Möglichkeit besteht darin, ihn zu töten und das hier in dieser Traumwelt, weil er sonst verschwinden würde, wenn er sich von seinem Wirt löst.“

„Aber wenn er mit seinem Wirt verschmilzt, dann könnte der Wirt doch theoretisch den Dream Weaver beherrschen und über seine Kräfte verfügen.“

„Nun ja, wenn er es könnte. Leider sind die Opfer des Dream Weavers fast ausschließlich Kinder oder mental schwache Menschen, die sich nicht gegen ihn zur Wehr setzen können und sich deshalb von ihm kontrollieren lassen. Aber du hast Recht. Theoretisch wäre das möglich. Das war auch dein Plan gewesen. Und was hast du jetzt vor?“

„Na was denn wohl? Viola vor diesem Monster beschützen. Besteht eine Möglichkeit, dass wir ihn töten können?“

„So etwas ist mir leider nicht bekannt. Es gibt viele Mythen und Legenden, die besagen, dass der Dream Weaver der Ursprung aller Träume ist und solange es sie gibt, wird er niemals aufhören zu existieren. Das Einzige, was wir vielleicht tun könnten wäre, dass wir Viola helfen, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen. Wenn sie es schafft, ihm ihren Willen aufzuzwingen, könnte er sie nicht verschlingen. Das wäre die einzige Möglichkeit mit Ausnahme der, dass sie stirbt.“ Vincent war fest entschlossen, alles zu tun, um das Leben seiner kleinen Freundin zu retten. Er hatte ihr versprochen, dass ihr nichts passieren würde und er wollte dieses Versprechen unbedingt einhalten. Es konnte doch nicht weitergehen, dass der Dream Weaver ungehindert Kinder ins Verderben lockte, was er sicher schon seit Jahrhunderten so machte. Wer weiß, wie viele Kinder er schon verschlungen hatte. Anthony versuchte Schritt zu halten, doch diese Verbrennungen machten ihm schon zu schaffen, aber er sagte nichts. „Weißt du Vincent, ich hab mich bei meinen Forschungen immer gefragt, was für eine Kreatur der Dream Weaver wohl ist und woher er kommt. Und wie es scheint, gibt es noch mehr Wesen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. In den Unterlagen von Helmstedter hab ich Aufzeichnungen gefunden, die darauf schließen lassen, dass die Nazis wohl sogar versucht haben, Tore zu anderen Welten zu öffnen. Und dabei haben sie versehentlich etwas in diese Welt gebracht, das sie nicht bekämpfen konnten. Wahrscheinlich ist das vor langer Zeit schon einmal passiert und dabei haben sie den Dream Weaver in unsere Welt gebracht.“

„Klingt logisch. Aber was nützt uns dieses Wissen?“

„Wenn alle Stricke reißen und Viola es nicht schafft, die Kontrolle über den Dream Weaver zu erlangen, dann könnten wir zumindest versuchen, ihn in dieser Welt einzusperren. Zwar wäre er immer noch mit Viola verbunden, aber zumindest kann er die Traumwelt nicht mehr verlassen und sie verschlingen.“

„Dann halten wir uns das mal als Option offen. Fragt sich nur, wie wir das anstellen wollen.“

„Daran arbeite ich noch.“ Sie blieben stehen, als sie eine Abzweigung erreichten, wo sie eine Gruppe von Horrorpuppen erwartete. Die hatten Messer, Rasierklingen und Skalpelle in den Händen und ihre Zähne waren raubtierartig. Doch etwas an diesen Puppen war anders. Sie bewegten sich seltsam, beinahe zombieartig und manche von ihnen lagen auf dem Boden und zuckten heftig, als hätten sie einen epileptischen Anfall. Aber eines hatten sie gemeinsam: Sie weinten Blut. Vincent blieb erschrocken stehen, als er das sah. „Was zum Teufel ist mit denen los?“ Aber Anthony antwortete nicht, er kniete sich neben eine der Puppen hin und schaute ihr in die Augen. Dann begann die Puppe zu sprechen, oder zumindest versuchte sie es. Tatsächlich brachte sie nur Lippenbewegungen zustande und ein leises Röcheln. Der lichtscheue Konstrukteur zog angestrengt die Augenbrauen zusammen, während er versuchte zu verstehen, was die Puppe ihm sagen wollte. Schließlich aber schien er zu verstehen und sprach es aus. „Dieser Traum wird nicht mehr lange aufrechterhalten. Schon bald wird sich die Illusion auflösen und der Alptraum wird aus seinem Gefängnis ausbrechen.“

„Was will die Puppe uns damit sagen?“

„Dass es bald soweit sein wird.“ Die Puppe streckte ihre Hand nach ihm aus und sie sah auch nicht mehr aus wie ein Wesen, das Frankensteins Monster nachempfunden wurde. Nein, ihr Blick war verzweifelt und flehend. Er nahm die Hand und die Puppe schaffte es noch, zwei Worte zu sagen, bevor sie in wilde Zuckungen verfiel und die Augen verdrehte: „Tötet uns“. Schaum bildete sich an den Mundwinkeln und ihr ganzer Körper begann sich heftig zu verkrampfen. Als das geschah, nahm Anthony sein Messer und stieß es der Puppe in die Brust, doch statt Blut floss eine pechschwarze Flüssigkeit aus dem Körper. Die Puppe hörte zu zucken auf und dann bewegte sie sich nicht mehr. Der Konstrukteur sah das alles fassungslos und konnte kaum sprechen. Dann aber war es Vincent, der ihn fragte, was das zu bedeuten habe. Sein bester Freund schwieg zuerst, dann schloss er die Augenlider der Puppe. „Das sind gar keine Puppen“, erklärte er mit ruhiger und gefasster Stimme. „Das sind die Kinder, die der Dream Weaver in diese Welt verschleppt hat.“

„Wie bitte?“

„Du hast richtig gehört. Offenbar hat der Dream Weaver die Kinder zu seinem Vergnügen in diese Puppen verwandelt. Und jetzt, da sie nicht mehr gebraucht werden, bekommen sie diese Anfälle, weil der Dream Weaver ihnen mit Gewalt die Lebenskraft entreißen will. Das ist ein unfassbar qualvoller und furchtbarer Prozess.“ Während Vincent mit Viola auf dem Rücken stehen blieb, beobachtete er, wie Anthony nach und nach diese falschen Puppen tötete, um sie von ihrem Leid zu befreien. Dabei blieb sein Gesicht ausdruckslos, er schien ein klein wenig apathisch zu sein und sagte nichts. Schließlich, als alle Puppen tot waren, ging er weiter und sprach eine Zeit lang kein Wort. Niemand vermochte wirklich zu sagen, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging. Er war so in Gedanken versunken, dass er die plötzliche Bewegung neben ihm nicht wahrnahm und somit nicht rechtzeitig reagieren konnte, als sich plötzlich und wie aus heiterem Himmel Mary Lane auf ihn stürzte. Sie sah ziemlich mitgenommen aus und an ihren Armen, im Gesicht und an den Beinen hatte sie mehrere Kratzer und sie blutete. Wahnsinn und abgrundtiefe Bosheit loderten in ihren Augen und in ihrer Hand hielt sie ihr Messer. „Was zum Teufel treibst du da eigentlich für ein Spiel mit mir? Wie oft soll ich dich denn noch umbringen?“

Anthony schaffte es, seine Angreiferin von sich zu stoßen, holte die Pistole hervor und richtete diese auf Mary. „Ich hatte es für das Beste gehalten, mich zu verstecken und dich mit einem Double zu beschäftigen. Dir kann man ja nicht einen Meter über den Weg trauen!“ Von dem Lärm wachte Viola auf und als sie Mary sah, erschrak sie und klammerte sich ängstlich an Vincent. Mary selbst ließ sich nicht von der Pistole beeindrucken und lachte nur spöttisch. „Solch feige Aktionen passen ja zu dir. Genauso wie damals, als du dich entschlossen hast, mit Helmstedter zu arbeiten, nur um deinen eigenen Arsch zu retten.“

„Warum habe ich das wohl gemacht? Ich habe das allein für euch getan und für Vincent. Indem ich mit diesem Nazi-Doktor zusammengearbeitet habe, konnte ich herausfinden, was er als nächstes vorhatte und euch rechtzeitig warnen, als er die Säuberung einleiten wollte. Aber mit dir zu reden macht ja keinen Sinn. Genauso gut könnte ich mit einer Wand reden.“ „Pass auf was du sagst!“ warnte sie und funkelte ihn giftig an. „Pass bloß auf!“

„Werde mal erwachsen“, gab er kalt zurück und entsicherte die Waffe. „Und eines solltest du nicht vergessen: Ich bin hier der mit der Pistole in der Hand.“ Doch Mary interessierte sich keinen Deut für seine Waffe. Stattdessen lachte sie und ein wahnsinniges Grinsen zog sich über ihr blutverschmiertes Gesicht. „Mit dem kleinen Spielzeug? Ich glaub, ich lach mich gleich tot!!!“ Sie brach in ein manisches Gelächter aus und konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Vincent setzte Viola vorsichtig und langsam ab, dann griff er nach dem Messer, das Anthony ihm gegeben hatte. „Viola, bleib schön hinter mir“, flüsterte er und sofort versteckte sich das kleine Mädchen hinter ihm. Mary schenkte den beiden keine Beachtung, sie konzentrierte sich ganz allein auf Anthony. Mit einem eiskalten Grinsen holte sie eine Taschenlampe hervor und schaltete sie an. Der Strahl traf seine Augen, woraufhin er sie sofort schloss und versuchte, sein Gesicht vor dem Licht zu verstecken. Dies nutzte die Konstrukteurin sofort aus und konnte ihn schnell überwältigen. Sie schlug ihm die Pistole aus der Hand und wollte ihm die Klinge des Messers in die Brust stoßen, da packte Vincent sie von hinten und zerrte sie an den Haaren von ihm runter. Sofort schlug diese mit dem Messer nach ihm und schnitt ihm in den Arm, woraufhin seine Hand losließ. Anthony, der sich von dem gleißenden Strahl der Taschenlampe erholt hatte, tastete nach der Pistole, um Mary endlich den Garaus zu machen. Doch sie war einfach viel zu schnell und zu stark für ihn und Vincent. Noch bevor seine Hand die Pistole ergriff, stieß sie ihm die Klinge knapp unterhalb des Brustkorbes. Im selben Moment bekam Anthony die Pistole zu fassen und schoss seiner Angreiferin in den Kopf. Die Kugel blieb stecken, trotzdem fiel Mary um wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Vincent eilte zu seinem Freund hin und kniete sich neben ihn. Er war so durcheinander, dass er gar nicht wusste, was er machen sollte. Zwar hatte er schon mal kleinere Verletzungen verarztet, aber noch nie eine solche Stichwunde. Was sollte er tun? Den Krankenwagen konnte er ja nicht rufen in dieser Welt. Und wie ging man bei so etwas vor? Er war am Verzweifeln, er fühlte sich völlig hilflos. Schließlich war es Anthony, der ihn beruhigen konnte. „Vincent, bleib ruhig und tu am besten was ich dir sage, okay? Wir… wir müssen erst einmal die Blutung stoppen.“ Viola kramte ihr Taschentuch hervor und begann nun damit, es fest auf die Wunde zu drücken. Sie blieb bei weitem ruhiger als Vincent. Das rührte auch daher, dass Anthony ganz in Ruhe alles erklärte und den Eindruck erweckte, als wäre diese Verletzung nichts Lebensgefährliches. „Vincent, hol bitte das Klebeband aus meiner Tasche. Damit wird die Wunde erst einmal zugeklebt. Und macht euch keine Sorgen. Mein Körper versucht jetzt, die Blutproduktion zu erhöhen und die Wunde zu schließen. Wenn ich mich nicht zu viel bewege, hab ich das schnell überstanden.“

„Aber du brauchst einen Arzt und das schnell.“

„Nun beruhige dich doch. Erinnerst du dich? Wir sind Konstrukteure, wir können bestimmen, wann wir altern. Also können wir auch bestimmen, wie schnell unsere Wunden verheilen. Ich kann keine Wunder bewirken, aber zumindest werde ich die Sache überstehen, weil meine Verletzung viel schneller verheilt. Immerhin funktioniert das bei dir doch ebenso, auch wenn es bei dir unterbewusst von statten geht. Also mach dir keine Sorgen.“ Vincent war sich nicht ganz sicher, ob sein bester Freund die Wahrheit sagte, oder ob er ihn nur aufmuntern wollte. Aber als dann auch Viola sagte „Er schafft das ganz sicher!“, wurde er ein wenig ruhiger. Nachdem er das Klebeband aus der Tasche geholt hatte, begann er damit, Streifen davon abzuschneiden und sie quer über die Wunde zu kleben, während Viola sie zusammendrückte. Anthonys Atem war schwer und er biss sich auf die Unterlippe, während er seine Hand in den Boden krallte. Sie verarzteten die Wunde so gut es ging und überlegten, was sie jetzt machen sollten. Anthony konnte nicht mehr laufen, so viel war sicher. Aber ihn zurückzulassen war auch keine Alternative. „Glaubst du, du schaffst es, wenn ich dich auf dem Rücken trage?“

„Hab ich denn eine Wahl?“ gab der Verletzte scherzhaft zurück und lachte schwach. Vorsichtig half Vincent ihm, sich aufzurichten und nahm ihn auf den Rücken. Viola folgte ihnen und sah ein wenig unruhig zurück, wo immer noch Mary Lane lag.
 

Sie kamen nun viel langsamer als zuvor voran und mussten immer wieder eine Pause einlegen. Anthony hatte starke Schmerzen und langsam ging in der Traumwelt die Sonne auf. Bald würde es hell werden und dann würde es eine Tortur für den Verletzten werden, der eine schreckliche Angst vor dem Tageslicht hatte. Wirklich alles schien gegen sie zu sein. Aber dann erreichten sie wieder einen großen Platz und kaum, dass sie diesen betreten hatten, verschloss sich der Weg hinter ihnen. Anthony, der inzwischen wieder bei Kräften war, ließ sich absetzen und hielt seine Pistole bereit. Inzwischen hatte sich seine Verletzung fast vollständig wieder geschlossen und auch die seines besten Freundes war längst wieder verheilt. Es war ganz still geworden im Labyrinth, selbst der Wind wehte nicht mehr. Eine seltsame Luft herrschte hier, das spürten sie alle. Als ob sich ein Sturm anbahnte. Unruhig schauten sie sich um, erwarteten alles Mögliche und sahen nichts, bis Viola „da!!!“ rief und auf die Mitte des Platzes deutete, wo ein Hase stand. Er hatte den Körperbau eines Menschen und trug die Uniform eines Butlers. Das war die seltsame Hasenstatue, die Vincent gesehen hatte. Die Augen des kleinen Mädchens weiteten sich und sie rief „Sir Bunnyman? Bist du das wirklich?“

„Ja ich bin es, Viola. Ich bin gekommen, um dich zurück nach Hause zu bringen. Ich war in Sorge um dich.“ Viola wollte schon zu ihm hinlaufen, doch Anthony hielt sie zurück. „Das hier stinkt gewaltig nach Ärger“, murmelte er finster und richtete seine Pistole auf ihn. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, wir haben den Dream Weaver gefunden. Oder besser gesagt, er hat uns gefunden.“ Als das kleine Mädchen sah, dass Anthony auf Sir Bunnyman zielte und ganz offensichtlich vorhatte, auf ihn zu schießen, stellte sie sich in den Weg. „Nein, du darfst Sir Bunnyman nichts tun. Er ist doch mein Freund.“

„Das ist nicht dein Freund, du Dummkopf. Das ist der Dream Weaver und er will dich nicht nach Hause bringen, er will dich verschlingen!“

„Nein du lügst, du lügst! Du bist gemein, Anthony!!!“ Mit dem Mädchen war nicht zu reden, sie war der festen Überzeugung, dass ihr geliebter Sir Bunnyman ihr Freund war. Anthony schüttelte den Kopf, dann packte er das Mädchen am Kragen und stieß sie unsanft beiseite, sodass sie zu Boden fiel. „Ich hab genug davon“, sagte er schließlich und trat auf den Hasen zu. „Ich hab nicht diese ganzen Strapazen auf mich genommen, nur um mich von einer Verrückten abstechen, oder vom Dream Weaver fressen zu lassen. Dem Hasen zieh ich das Fell über die Ohren, fertig aus.“ Sir Bunnymans rote Augen leuchteten unheimlich auf und in dem Moment schossen mehrere Dornenranken aus dem Boden und wickelten sich um Anthonys Beine und seinen Arm. Mit eleganten Schritten trat der Hasenbutler näher und klatschte sarkastisch in die Hände. „Wirklich zu köstlich, wirklich amüsant. Was für eine Komödie.“ Die Dornenranken begannen, Anthony die Luft abzuschnüren und er versuchte, sich irgendwie zu befreien, aber leider erfolglos. Viola wandte sich erschrocken zu Sir Bunnyman. „Lass ihn frei, bitte! Du bringst ihn noch um.“

Doch er ließ Anthony nicht frei. „Du hättest auf mich hören sollen, Viola. Diese beiden haben vor, dich zu töten. Ich will dich nur vor ihnen beschützen. Also sei ein braves Kind und komm her.“

„Viola, hör nicht auf ihn. Dieser falsche Hase lügt, wenn er nur den Mund aufmacht! Wenn du ihm zu nahe kommst, wird er dich töten.“ Viola war wie hin und her gerissen. Auf wen sollte sie hören? Auf Sir Bunnyman, der ihr ein treuer Freund gewesen war, oder auf Vincent und Anthony, die vorgehabt hatten, den Dream Weaver unter ihre Kontrolle zu bringen und vielleicht tatsächlich ein falsches Spiel trieben? Aber dann hätte Vincent nicht sein Leben aufs Spiel gesetzt, ebenso wenig wie Anthony, der für sie sogar seine Angst vor Licht überwunden hatte. Viola fühlte sich in die Ecke gedrängt und distanzierte sich mit einem ängstlichen Ausdruck in den Augen von den anderen. Sie wusste einfach nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen, geschweige denn was sie tun sollte. Das alles überforderte sie einfach. Vincent sah dies und versuchte nicht, das arme Kind noch mehr zu bedrängen. Stattdessen ging er zu Anthony und wollte die Ranken durchschneiden, doch da veränderten sich diese. Sie begannen ihre satte grüne Farbe zu verlieren, die Dornen veränderten langsam die Form während die Ranken selbst immer dünner wurden. Es war, als würden sie verdorren, aber dann erkannten sie, dass sich die Dornenranken in Stacheldraht verwandelten. Vincent wich zurück, da er das nicht verstand und sah Anthony verwirrt an. „Was geschieht hier?“

„Der Traum beginnt sich zu verändern“, erklärte dieser und gab es auf, sich befreien zu wollen, da er sich sonst nur verletzt hätte. „Die Puppe hat gesagt, dass die Illusion nicht mehr aufrechterhalten wird. Dieser ganze Irrgarten ist nichts Weiteres als eine Täuschung. Genauso wie der Dream Weaver kein Hase ist.“ Nun aber sah Sir Bunnyman auf und seine blutroten Augen hatten etwas Lauerndes an sich wie bei einem Raubtier. Er lächelte und bemerkte kalt „Es scheint, als hättest du eine ganze Menge in fast 60 Jahren erfahren. Aber als Bruder von Dr. Hinrich Helmstedter ist ja nichts anderes zu erwarten.“ Vincents Augen wanderten zu Anthony, der seinerseits beschämt den Blick senkte und dazu schwieg. „Stimmt das?“ fragte er seinen gefesselten Freund. „Bist du wirklich der Bruder dieses kranken Nazi-Arztes?“

„Sein jüngster Halbbruder“, korrigierte er kleinlaut. „Und glaub mir, ich bin nicht sonderlich stolz darauf.“

„Und wann hattest du vor, mir davon etwas zu sagen?“

„Du hattest es doch damals schon gewusst, dass ich mit diesem Monster verwandt bin und du warst auch der Einzige, dem ich das anvertraut habe. Glaubst du, ich geh damit hausieren, dass meine ganze Familie aus Nazis und KZ-Ärzten bestand, die grausame Experimente an Menschen durchgeführt haben?“ gab Anthony etwas gereizt zurück und warf dem Hasen einen todbringenden Blick zu. „Und ich habe all die Jahre versucht, es auch geheim zu halten.“ Nach und nach begann sich die Landschaft um sie herum immer mehr zu verändern. Der Grasboden wurde kahl und rissig, er trocknete binnen weniger Sekunden aus. Die großen Hecken verdorrten und wurden von etwas überzogen, das wie eine dichte Decke von Spinnweben aussah. Die Rosen nahmen langsam die Form von menschlichen Schädelknochen an, die klein genug waren, dass sie Kindern gehören konnten. Die Sonne ging auf, doch sie wurde von einer dichten Wolkenwand verhüllt und der ganze Himmel wurde in ein unwirkliches Grau gehüllt. Anthony ging es trotzdem schlecht. Obwohl nur ein geringer Teil der Sonnenstrahlen zu ihnen durchdrang, spürte er, wie sein Herz zu rasen begann und ihm schwindelig wurde. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und er hatte nur noch Angst. Sir Bunnyman lachte amüsiert. „Wirklich zu köstlich. Große Töne spucken und dann Angst vor der Sonne zu haben. Was für eine Komödie.“

„Hör auf darüber zu lachen“, rief plötzlich Viola, die aus Sorge um ihren Freund ihre eigene Angst zumindest für einen Augenblick überwunden hatte. „Anthony hat Schmerzen im Licht und ich hätte an seiner Stelle auch Angst. Also hör auf, dich über ihn lustig zu machen!“ „Viola“, warf Vincent warnend ein, doch das Mädchen ließ sich nicht aufhalten und lief zu Anthony, der krampfhaft versuchte, ruhig zu bleiben und nicht in Panik zu geraten. Doch das war leichter gesagt als getan. Er spürte die Sonnenstrahlen auf seiner Haut, die für die meisten Menschen warm und angenehm, für ihn jedoch brennend und schmerzhaft waren. Der Schmerz hielt sich noch in Grenzen, nicht aber seine Angst. Vincent beobachtete besorgt, wie sein bester Freund immer bleicher wurde, bis er aussah wie eine Leiche. Wenn das noch so lange weiterging, würde er seine Angst nicht mehr im Griff haben. Er musste diesen verdammten Hasen ablenken, bevor dieser den Ärmsten noch weiterhin quälte. Also ging der Einäugige auf direkte Konfrontation. „Wozu eigentlich der ganze Aufwand?“ fragte er und trat entschlossen näher an Sir Bunnyman heran. „Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, warum du Viola nicht schon viel früher getötet hast, wenn du die Macht dazu hast. Ich glaube, ich kenne die Antwort schon: Du kannst es nicht, weil du hier gefangen bist, richtig? Während wir durch dieses verdammte Labyrinth geirrt sind, hab ich sehr viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ich habe mich gefragt, aus welchem Grunde diese Traumwelt eigentlich existiert, wenn sie mit einem Traum doch gar nicht so viel gemeinsam hat. Sie ist ein Gefängnis, hab ich Recht?“ Er hob die Pistole auf, richtete sie aber nicht auf Sir Bunnyman, sondern sah ihn fest an. Er wusste, dass er mit seinem einen Auge nur sehr schwer zielen und höchstwahrscheinlich sogar verfehlen würde. Er wollte den bevorstehenden Angriff erwarten, der mit großer Sicherheit folgen würde nach seiner Provokation. „Dem Dream Weaver wird nachgesagt, dass er Traum und Realität ineinander verweben und beides somit kontrollieren kann. Wenn dem so ist, dann hätte er sich sicherlich nicht so zurückgehalten und würde nicht so ein Spiel treiben. Nein ich glaube viel eher, dass er es gar nicht kann! Du kannst nichts tun, weil du hier eingesperrt bist und Viola ist einer der Gründe.“ Sir Bunnyman schwieg, er sah Vincent misstrauisch an und sein Blick als auch seine Körperhaltung ließen darauf schließen, dass er Recht hatte. Anthony sah Vincent verwirrt an. „Seit wann weißt du das?“

„Das hat mir mein Gefühl gesagt. Ich wusste, dass da an der ganzen Sache mit dem Wirt etwas nicht stimmt und wie es scheint, stimmt das auch. Ich glaube, dass der Dream Weaver vor langer Zeit in diese Welt eingesperrt wurde, damit er gar nicht die Chance bekommen konnte, Traum und Realität zu verändern. Das Einzige was er tun konnte war, Besitz von einzelnen Menschen zu ergreifen, sie in seine Welt zu verschleppen und sie dort zu verschlingen. Keine Ahnung warum, vielleicht weil er Kraft sammeln will, um diesem Ort zu entkommen.“ „Wirklich beeindruckend“, bemerkte Sir Bunnyman und klatschte sarkastisch Beifall. „Eine außerordentlich gute Auffassungsgabe hast du jedenfalls. Nur leider ist deine Theorie nur teilweise richtig.“

„Ach ja? Dann erklär es mir.“

„Der Dream Weaver bin gar nicht ich. Streng genommen bin ich ein Traumfresser.“

„Und das heißt?“

„Wenn ich in euren Träumen in euren Verstand eindringe, verschlinge ich alles. Eure Erinnerungen, euren Verstand, Fantasien und Wünsche, Träume und Gefühle, eure Lebenskraft und eure Seele. Geboren aus den schlimmsten Alpträumen bin ich so etwas wie das Gegenstück des Dream Weaver. Aber dann wurde ich tief in die Träume eines kleinen Mädchens gesperrt, verdammt dazu, für immer hier festzusitzen.“

„Der Dream Weaver hat dich hier eingesperrt?“ Der Traumfresser nickte und fuhr fort. „Er ist ein äußerst mächtiges Wesen, dessen Träume sich irgendwann mit der Realität verwebten. Da blieb es nicht aus, dass die Träume des Dream Weavers irgendwann Einfluss auf die reale Welt haben würden. Seine Träume können Realität werden und die Realität zu seinen Träumen, das ist seine Macht. Die meisten seiner Träume sind eher harmlos, aber es kommt auch vor, dass auch Alpträume entstehen. Diese Alpträume manifestieren sich dann als Traumfresser. Aus einem solchen Alptraum bin auch ich entstanden und seitdem versucht der Dream Weaver, mich loszuwerden, bis er mich hier eingesperrt hat, weil er nicht stark genug war, mich endgültig zu töten.“ Vincent begann weiterzudenken. Wenn der Traumfresser tatsächlich die Wahrheit sagte, dann würde das bedeuten, dass dies hier alles eine Traumwelt war, welche der Dream Weaver aus Violas Träumen geschaffen hatte, um dieses Monster einzusperren. Und dass dieser falsche Hase nun versuchte, Viola zu töten oder sie zu manipulieren, konnte nur bedeuten, dass er frei kommen würde, wenn das Mädchen starb. „Ich verstehe. Und da du die Kleine so massiv manipuliert und von dir abhängig gemacht hast, konnte sie ihre eigenen Träume und Handlungen nicht mehr kontrollieren. Und jetzt hast du sie hierher gebracht, um sie zu töten.“ Sir Bunnyman sagte nichts dazu, aber Vincent wusste, dass er Recht hatte. Aber er schien ein wenig nervös zu werden, als er dieses überlegene Grinsen im Gesicht des Einäugigen sah. „Leider hast du eines vergessen“, erklärte der Konstrukteur mit einem unheilvollen Ton. „Ich bin ein Konstrukteur. Und meine persönliche Spezialität ist das Auslöschen von Erinnerungen und Träumen. Seien es meine eigenen, oder andere.“ Als er das sagte, begann sich der Stacheldraht, der sich um Anthonys Körper gewickelt hatte, aufzulösen und zu Staub zu zerfallen. Und auch das Labyrinth um sie herum begann zu zerfallen. Der Traumfresser sah ihn hasserfüllt an und grinste. „Glaubst du wirklich, das wird reichen, um mich aufzuhalten? Denn einen entscheidenden Unterschied gibt es nämlich: Ich bin viel schneller.“ Mit einem teuflischen Funkeln lächelte der falsche Hase und ein leises Rasseln ertönte. Anthony, der besser sehen konnte als Vincent, sah als Erstes, was vor sich ging. Ein Gewirr aus Stacheldraht bewegte sich langsam auf Viola zu und richtete sich auf wie eine Schlange. „Viola!“ rief er und rannte zu ihr, Vincent folgte ihm. „Viola, lauf weg!!!“ doch das Mädchen bemerkte gar nicht, was sich hinter ihr abspielte, bis sie sich umdrehte und die drohende Gefahr sah. Entsetzt schrie sie auf und rannte, so schnell sie ihre kleinen Beine trugen. Schließlich erreichte der lichtscheue Konstrukteur sie und warf sich auf sie, um sie zu schützen. Sie beide wurden von Vincent weggestoßen und fielen unsanft zu Boden. Anthony lag auf Viola, hielt sie fest an sich gedrückt und verharrte einen Augenblick so, bis er merkte, dass der Stacheldraht ihn nicht angriff. Langsam richtete er sich wieder auf und drehte sich um. Blut spritzte ihm ins Gesicht, als mehrere Stacheldrähte Vincents Brust durchbohrten und wie dünne Schlangen heraustraten. Violas Augen weiteten sich vor Entsetzen und sie schrie laut auf. „Grey!!!“ rief sie und befreite sich von Anthony. „Grey, warum hast du das getan? Warum?“

Vincent würgte einen Schwall Blut hervor und rang nach Luft. Die Drähte bohrten sich immer tiefer und rissen Fleischfetzen heraus. Er keuchte, das Gesicht war vor Schmerz verzerrt und er rang nach Luft. Und doch schaffte er es mit einiger Mühe, sich ein Lächeln aufzuzwingen. „Ich… ich hab dir doch versprochen, dass ich nicht zulasse, dass dir etwas passiert. Und ich… ich… halte meine Versprechen.“

„Das ist ja wirklich rührend“, bemerkte der falsche Hase sarkastisch und schnippte mit der Hand. Daraufhin verdrehten sich mehrere Drähte zu einer Art dickem Seil und spießten Vincent auf. Ein blutiger Regen tropfte auf Anthony und Viola, die das alles hilflos mit ansehen mussten und nichts dagegen tun konnten. Das kleine Mädchen schrie und weinte verzweifelt, sie war völlig aufgelöst und vergrub ihr Gesicht in Anthonys Shirt, der seinerseits vor Schock völlig teilnahmslos war. Er reagierte auf gar nichts, starrte benommen ins Leere und war nicht fähig, in Trauer auszubrechen oder in Wut zu geraten. Diese Szene… diese schreckliche Szene rief Erinnerungen wach an ihre Flucht aus dem Institut. Er erinnerte sich an die Schreie der Kinder, die im Kugelhagel starben, ihre toten blutigen Leiber auf dem Boden und wie seinem besten Freund auf der Flucht in den Rücken geschossen wurde und wie man ihn daraufhin ins Institut zurückbrachte. All das spielte sich vor seinen Augen ab, als wäre es erst kürzlich geschehen. Er hatte gehofft, ihm würde das nie wieder passieren und dass er nie wieder so einen Alptraum durchleben musste. Und doch war es wieder passiert. Nur dieses Mal war es viel schlimmer: Sein bester Freund starb direkt vor seinen Augen und er hatte es nicht verhindern können. In dem Moment, als er das realisierte, brach für ihn eine Welt zusammen. All seine Hoffnung war fort… Er nahm alles nur noch wie aus weiter Ferne wahr. Selbst Violas herzzerreißendes Wehklagen klang wie durch Watte gefiltert. Auch als sie plötzlich aufschrie und ihn am Arm zerrte, nahm er es nicht wahr. Nur eine seltsame Veränderung am Rande seines Blickwinkels. Der Hase… er legte den Kopf in den Nacken und riss sein Maul weit auf und dann plötzlich schossen mehrere riesige Insektenbeine heraus. Eine Spinne… eine riesige Monsterspinne kam zum Vorschein. Anthony war nicht fähig, sich zu bewegen, er konnte nicht einmal sprechen. Wie gelähmt kniete er neben dem Leichnam seines Freundes und beobachtete vollkommen apathisch die Verwandlung. Viola rannte davon und rief immer wieder Anthonys Namen. Aber dieser lief nicht davon. Er wollte es. Ja er wollte weglaufen, aber er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper.

Unfähig, irgendetwas dagegen zu tun, packte die riesige Spinne ihn und Anthony sah in ihre acht abstoßend hässlichen Augen. Er wusste, was kommen würde. Wenn er nichts tat, dann fraß ihn dieses Vieh bei lebendigem Leibe. Aber sein Körper gehorchte ihm einfach nicht mehr, egal was er tat. So ist das also, dachte er während er von den Füßen gerissen wurde. Dieses Mistvieh hat mein Unterbewusstsein infiltriert, als ich durch Vincents Tod abgelenkt war. Alles, was er noch zustande bringen konnte, war ein ungläubiges Lächeln, als die Spinne ihr Maul öffnete und er hinunterfiel. Was für eine verrückte Ironie, das war sein letzter Gedanke, bevor sie ihn verschlang.
 

Viola rief so laut sie konnte Anthonys Namen. Sie schrie sich die Seele förmlich aus dem Leib in der Hoffnung, er würde endlich zu sich kommen und versuchen, sich zu befreien. Aber stattdessen musste sie mit ansehen, wie diese riesige Spinne nun auch ihn tötete. Sie fraß ihn bei lebendigem Leib…. Geschockt und völlig traumatisiert von dem Anblick sank sie in die Knie und zitterte am ganzen Körper. Warum nur? Warum nur passierte das alles? Wieso starb denn jeder, den sie liebte? War es ihre Schuld? Ihre Eltern… ihre unzähligen Pflege- und Adoptivfamilien… und nun auch ihre Freunde. Sie waren alle tot. Sie wollte das alles nicht mehr, sie wollte endlich aus diesem Alptraum aufwachen. Vielleicht schlief sie ja noch tief und fest auf der Bank im echten Rosenlabyrinth. Jeden Moment würde sie aufwachen und sowohl Vincent als auch Anthony würde es gut gehen. Aber je mehr sie darüber nachdachte, desto schmerzlicher wurde ihr bewusst, dass dies kein Traum war, sondern die Realität. Heftig schluchzend schloss sie die Augen, gleichgültig darüber, ob die Spinne sie nun auch fraß oder nicht. Und doch brachte sie unter unzähligen Schluchzern leise hervor „bitte… hilf mir doch irgendjemand.“ Viola hörte den lauten Aufschrei der Spinne, der klang wie das Kreischen einer Kreissäge. Aber dann plötzlich verstummte es und sie verlor den Boden unter den Füßen. Es war, als würde sie für einen Moment in einen tiefen Abgrund hinabsinken. Als sie die Augen wieder öffnete, war es um sie herum vollkommen dunkel. Das war’s, dachte sie. Ich bin tatsächlich tot. Doch plötzlich hörte sie eine Stimme direkt hinter sich und jemand nahm ihre Hand. „Keine Angst Viola, du bist nicht gestorben.“

„Wo bin ich?“

„An einen Ort, wo du fürs Erste sicher bist und wo wir ungestört miteinander reden können. Ich wollte dich schon länger kennen lernen.“

„Und wer bist du?“

„Eine Freundin. Weißt du, wir beide verfolgen eigentlich das gleiche Ziel: Den Traumfresser zu töten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.“

„Wieso?“

„Der Traumfresser verschlingt seit langer Zeit die Lebenskraft und Seelen von Kindern, welche bis heute noch in der Traumwelt gefangen sind. Solange er lebt, können sie nicht weg. Ich will ihnen helfen, aber leider kann ich das nicht alleine. Dazu brauche ich deine Hilfe.“

„Warum kannst du das nicht?“

„Weil die Traumwelt anders ist, als die reale Welt. Was dort stirbt, geht nicht ins Jenseits über, sondern bleibt dort. Darum wurden all diese armen gequälten Seelen zu Puppen. Verdammt dazu, niemals ihren Frieden zu finden. Alleine kann ich nicht in diese Welt vordringen und den Traumfresser bekämpfen. Genauso wenig kannst du es in deiner momentanen Lage allein gegen ihn aufnehmen.“ Langsam kam die Gestalt hinter Viola hervor, war aber von dunklen Schatten umgeben, sodass man sie kaum erkennen konnte. Was Viola aber sah, war, dass ihr Gegenüber sehr klein war, gerade mal so groß wie ein Kind und etwas größer als sie selbst. Es schien sich um ein Mädchen zu handeln. Sie hatte außerdem langes schwarzes Haar und leuchtend rote Augen. Sie hielt Violas Hand immer noch fest. „Viola, du musst versuchen, deine Angst zu bekämpfen, nur so kannst du deine Freunde retten und dem Traumfresser die Stirn bieten. Solange du dich von deiner Angst beherrschen lässt, hat er noch die Kontrolle über dich und deine Träume.“

„Aber wie soll ich das schaffen? Hast du nicht gesehen, was das für ein Monster ist? Eine mindestens zehn Meter große Spinne. Ich kann das nicht, ich schaffe das niemals.“

„Das kannst du erst beurteilen, wenn du es versucht hast.“

„Nein, ich kann das nicht. Niemals.“

„Willst du etwa Anthony und Grey im Stich lassen?“ fragte das Mädchen mit den roten Augen scharf und Viola zuckte erschrocken zusammen. „Die beiden haben sich für dich geopfert und haben ihre Angst überwunden, um dich zu beschützen.“

„Aber sie sind beide tot. Und ich bin ganz alleine.“

„Nein, das bist du nicht. Noch ist nichts vorbei. Ich bin bei dir und ich werde dir helfen. Doch dazu musst du bereit sein, dich deinen schlimmsten Ängsten zu stellen und sie zu überwinden. Nur so können wir den Alptraum beenden und Anthony und Vincent retten.“

„Das sagst du so einfach. Aber ich hab nun mal Angst…“

„Jeder hat Angst und daran ist nichts falsch. Die Angst ist es, die uns vor Gefahren bewahrt, aber wir dürfen uns nicht von ihr beherrschen lassen. Auch ich habe sehr oft Angst, trotzdem versuche ich, stark zu sein für die Menschen, die mir am Herzen liegen. Wenn du Angst hast, dann denk einfach immer daran, dass Anthony und Grey immer für dich da sein werden. Und auch ich werde bei dir sein. Du hast es in der Hand, Viola. Das ist dein Traum und du allein bestimmst den weiteren Verlauf. Lass nicht zu, dass du dich von Ängsten und Alpträumen beherrschen und zerfressen lässt.“ Viola schluchzte und senkte den Kopf. Sie fühlte sich so alleine und schwach. Was sollte sie schon gegen so ein riesiges Monster ausrichten? Sie als ein kleines Kind. Das Mädchen mit den roten Augen nahm sie tröstend in den Arm und streichelte ihr sanft den Kopf. „Es wird alles gut werden. Du musst nur anfangen, an dich selbst zu glauben. Ich weiß, dass es schwer ist. Wir beide haben sehr viel durchmachen und mit ansehen müssen. Egal was auch passieren mag, auch wenn du ganz alleine bist, bin ich immer bei dir so wie jetzt hier.“
 

Viola riss die Augen auf und fand sich plötzlich im Irrgarten des Traumfressers wieder. Das riesige Spinnenmonster hatte ihr den Rücken gekehrt und schien sie zu suchen. Offenbar bin ich gerade tatsächlich in einer anderen Welt gewesen, dachte sie und stand auf. Sie spürte direkt, dass etwas anders war als vorher. Die Puppen, die bis gerade eben noch auf dem Boden gelegen hatten, waren aufgestanden und hielten Messer, Rasierklingen und Skalpelle in ihren Händen und bewegten sich, als würden sie an Fäden gezogen werden. Doch sie bewegten sich nicht auf Viola, sondern auf die Spinne zu und stellten sich bereit zum Angriff auf. „Denk daran“, flüsterte die Stimme des rotäugigen Mädchens in ihrem Kopf. „es ist dein Traum. Du allein hast es in der Hand.“ Viola atmete tief durch und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was wichtig war. Sie durfte nicht an die riesige Spinne denken, die die schlimmsten Alpträume verkörperte, die sie jemals erleben musste. Diese Spinne war nichts Weiteres als eine Illusion. Es war nur eine Gestalt, die der Traumfresser annahm, genauso wie Sir Bunnyman nicht echt war. Grey und Anthony hatten es so gesagt gehabt. Die beiden hatten so viel auf sich genommen, nur um sie zu beschützen, deswegen durfte sie jetzt auch nicht aufgeben. Aus diesen Gedanken schaffte sie es, neuen Mut zu schöpfen und nicht mehr ihre schlimmsten Ängste zu sehen, sondern sich darauf zu konzentrieren, diesen Traum wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie konnte es schaffen, wenn sie nur wollte. Sie musste jetzt stark sein. Für sich selbst, Grey und Anthony und die vielen Kinder, die der Traumfresser auf dem Gewissen hatte. Nun lag es an ihr, in die Offensive zu gehen und sich etwas einfallen zu lassen, um diesen Alptraum zu bekämpfen. Und dann hatte sie eine Idee. Sie wandte sich den Puppen zu und sprach zu ihnen „Ihr müsst ihn beschäftigen!“ Die Puppen starrten sie an, dann nickten sie und eine sprach mit heiserer und zugleich schrecklich hoher Stimme „Du kannst es schaffen.“ Die Puppen schossen nach vorne, stürzten sich auf die riesige Spinne und Viola selbst rannte zu Vincents Tasche, in der sie sein Feuerzeug fand. Damit ging sie zu den verdorrten Sträuchern und begann sie anzuzünden. Zwar war das ganze Labyrinth von Schädeln und Stacheldraht überzogen, doch das Fundament war verdorrtes Grün, welches so ausgetrocknet war, dass es hervorragend brannte. Lass alles brennen. Lass alles in Flammen aufgehen und dieses Ungeheuer gleich mit zu Asche verkohlen. Der schreckliche Stacheldraht, die Schädelknochen der Kinder, die ganze Alptraumwelt sollte im Feuer untergehen. Dieser Gedanke machte Viola stark. Sie war fest entschlossen, alles hier zu zerstören und den Alptraum zu vernichten. Und tatsächlich… binnen kürzester Zeit begann alles um sie herum zu brennen. Die Flammen tanzten, fauchten und spieen Funken. Ihre brennenden Klauen griffen nach dem Traumfresser, der seinerseits genug mit den Puppen zu kämpfen hatte. Eine von ihnen hatte es fertig gebracht, ihm ein Auge auszustechen, wurde dann aber gepackt und in Stücke gerissen. Anderen ereilte ein ähnliches Schicksal. „Viola…“, krächzte das Ding. „Dafür wirst du mir büßen…“

„Schmor in der Hölle, du Mistvieh!“ gab sie zurück und ergriff die Pistole. Sie wusste nicht, wie man eine Pistole benutzte und als sie es schaffte, einen Schuss abzufeuern, ging dieser völlig daneben und die Wucht riss sie von den Füßen. Sogleich schoss sie erneut und traf die Spinne am Hinterleib. Dicker schwarzer Schleim quoll heraus und wieder gab die Spinne ein markerschütterndes Schreien von sich, das einer kreischenden Kreissäge erschreckend ähnlich war. Dieser Schrei trieb Viola eine Gänsehaut über den Körper und für einen Moment verfiel sie wieder in Angst. Doch zugleich fasste sie wieder neuen Mut und schoss wieder, dieses Mal traf sie eines der Augen. Nun wurde die Spinne richtig wütend und kam auf das kleine Mädchen zu. Ihre Bewegungen waren noch schlimmer als der bloße Anblick ihres Körpers und Viola rannte davon. Die Spinne von einer gewissen Entfernung aus zu bekämpfen war ja noch gut gegangen, aber jetzt war sie direkt hinter ihr. „Pass auf“, rief die Stimme in ihrem Kopf und Viola sprang beiseite, in dem Moment schoss ein Spinnenfaden neben ihr vorbei. Kaum berührte er den Boden, traten giftige Dämpfe aus, die dem Mädchen in den Augen brannte. Verdammt, dieses Biest spuckte Säurefäden. „Viola, du musst die Spinne in Brand setzen!“

„Ja aber wie soll ich das tun?“

„Überlege dir, was brennbar ist!“ Brennbar… was war denn brennbar von den Dingen, die sie dabei hatte? Ja richtig, das Haarspray! Viola bremste ab, drehte sich um und spurtete zurück, direkt unter die Spinne hindurch. Sie schaffte es gerade so, dem riesigen Stachel auszuweichen, fiel dabei aber zu Boden und scheuerte sich das Knie auf. Sie biss sich die Zähne zusammen und rannte weiter. Nur noch ein kleines Stückchen… gleich hatte sie es geschafft. Ein Stein jedoch, der auf dem Boden lag, brachte sie zum Stolpern und sie fiel der Länge nach hin. Sie schrie, als sie einen rasenden Schmerz in ihrem Bein spürte und es nur unter Qualen bewegen konnte. Verdammt, sie musste sich was verstaucht, oder sogar gebrochen haben. Ihre Tasche war zum Greifen nahe. Sie bekam gerade so den Gurt zu fassen, da wurde sie von den Vorderbeinen der Spinne gepackt und in die Höhe gerissen. Hastig kramte sie herum, bekam das Haarspray zu fassen und drückte den Druckknopf hinunter, während sie das brennende Feuerzeug davor hielt. Eine Feuerkugel bildete sich und verbrannte ihren Handrücken. Dem Traumfresser erging es schlechter. Die Augen, die ihm noch geblieben waren, wurden geblendet und laut schreiend vor Schmerz ließ er Viola fallen. Sie stürzte mehrere Meter hinunter und wurde von den Puppen aufgefangen. Aber noch war es nicht vorbei. Sie musste es zu Ende bringen, bevor der Traumfresser sich davon erholte. Wieder nahm sie die Pistole zur Hand und mit den letzten Schüssen, die ihr verblieben, zielte sie auf den Oberkörper und der letzte Schuss traf den Traumfresser direkt in den Schlund. Die Schüsse waren ohrenbetäubend laut. Die Wucht war wie ein plötzlicher Orkanwirbel für Viola und sie fiel erneut durch den Rückstoß nach hinten, sodass sie gezwungen war, auf dem Boden hockend zu schießen. Schwarzer Schleim spritzte aus den Wunden, das Ungeheuer taumelte laut kreischend umher und wand sich in Qualen, während es aus mehreren Löchern blutete und an immer größer werdenden Stellen brannte. Der Kampf schien sich ewig hinzuziehen, dann aber ging es zu Ende. Kraftlos brach der Traumfresser zusammen und stürzte zu Boden. Der Aufprall ließ den Erdboden erzittern und Viola geriet ins Taumeln, konnte sich aber fangen. Ihre Ohren waren immer noch fast taub von den Schüssen und ein lautes Pfeifen war hörbar. Sie sah, dass der Traumfresser immer noch lebte, seine Augen aber vergeblich versuchten, sie zu erkennen. Seine Beine bewegten sich immer langsamer und er schaffte es nicht, sich wieder aufzurichten. Plötzlich aber begann sich um ihn herum ein dunkler Nebel zu bilden. Er verdichtete sich und in diesem Nebel glaubte Viola so etwas wie eine Silhouette zu sehen. Ja, da war jemand in dem Nebel, nämlich das Mädchen mit den roten Augen. Sie ging auf den Traumfresser zu, mit Anthonys Messer in der Hand, dann schlitzte sie ihm den Rumpf auf. Alles Schreien und Zappeln half nichts, das Mädchen begann langsam seinen Körper zu öffnen und zog etwas heraus. Es sah aus wie eine Hand…

Nach und nach kam ein Mensch zum Vorschein und Viola erkannte, dass es ihr großer Freund Grey war, den der Traumfresser bei ihrer Flucht in die dunkle Welt wohl ebenfalls verschlungen hatte. Kaum hatte sie ihn herausgezogen, folgte auch Anthony, der sich an die Hand seines Freundes klammerte. Kaum war dieser auch draußen, bäumte sich der Traumfresser ein letztes Mal auf, dann brach er endgültig zusammen und sein Körper zerplatzte regelrecht. Eine pechschwarze Sintflut kam wie eine riesige Tsunamiwelle auf Viola zu. Sie versuchte noch davonzulaufen, da wurde sie fortgerissen und in der Strömung herumgewirbelt und nach unten gezogen. Alles um sie herum wurde schwarz und das kleine Mädchen versuchte, irgendwie an die Oberfläche zu kommen, doch ihr war, als ob nach und nach ihre Kräfte wichen. Sie versank immer tiefer in der Dunkelheit und konnte nicht mehr weiterkämpfen. Ihr Körper war wie gelähmt und mit ihrer Kraft schwand auch ihr Bewusstsein. Alles schien in der Dunkelheit zu versinken… Sie drohte zu ertrinken. Zwar schmerzten ihre Lungen nicht und sie spürte auch keinen Drang nach Luft, aber sie spürte trotzdem, dass sie langsam ertrank. Ihre Augen wurden schwer und sie war nicht mehr in der Lage, auch nur einen einzigen Gedanken zu fassen. Seltsam, wie müde sie wurde und dass sie plötzlich gar nichts mehr spürte. Nicht einmal ihren eigenen Herzschlag. Aber dann, als Violas Bewusstsein schon fast vollständig gewichen war, hörte sie aus der Ferne irgendwo eine Stimme. Jemand rief ihren Namen. Es kostete sie eine ungeheure Kraftanstrengung, ihre Augen zu öffnen und sie sah sie wieder: Das Mädchen mit den roten Augen. Ja, sie rief ihr zu und streckte die Hand nach ihr aus.

„Viola, du musst atmen! Du darfst nicht in der Dunkelheit versinken. Nimm meine Hand, los!“ Sie versuchte es, aber Viola war nicht imstande, sich zu bewegen. Es fühlte sich so angenehm an, diese Schwerelosigkeit. So warm und wunderbar. Das Mädchen mit den roten Augen kämpfte sich vorwärts, war aber immer noch zu weit von ihr entfernt. „Viola, du darfst nicht aufgeben. Ich lasse dich nicht gehen! Nimm meine Hand!!“

Aufgeben? Weiterkämpfen? Warum sollte sie denn weiterkämpfen? Es gab doch sowieso nichts mehr, wofür es sich weiterzuleben lohnte. Ihre Eltern, Adoptiv- und Pflegefamilien waren tot. Anthony und Grey lebten nicht mehr. Sie war ganz alleine. „Nein, du bist niemals alleine. Egal was auch passiert, ich bin bei dir und ich werde dich nicht gehen lassen.“ Warum, warum tust du das? Das war der einzige Gedanke, den Viola zu fassen vermochte. Das Mädchen hatte sie fast erreicht. „Wir beide sind uns sehr ähnlich. Wir beide haben Menschen verloren, die wir sehr geliebt haben und ich habe sehr schlimme Fehler begangen… unverzeihliche Fehler. Deshalb soll es dir nicht so ergehen wie mir. Ich will dir eine Chance geben, dass du ein besseres Leben hast als ich. Deswegen lasse ich nicht zu, dass du stirbst. Nicht jetzt…“ Viola spürte, wie das Mädchen ihre Hand ergriff und sie zu sich heranzog. Und dann wurde sie fest in die Arme geschlossen. Es fühlte sich so wunderbar an… sie konnte den Herzschlag des Mädchens spüren und auch ihren eigenen. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit. Es fühlte sich an, als würde ein gleißendes Licht sie von innen vollkommen durchfluten und die Dunkelheit verdrängen. Und für einen Moment glaubte Viola, dass es kein Mädchen war, das sie in den Armen hielt, sondern ein Engel mit pechschwarzen Schwingen. Ihre Augen fielen zu, sie spürte nur noch, wie das schwarze Meer erneut zu tosen begann und sie beide von starken Strömungen erfasst wurden. Nein, sie wurden nicht erfasst, die reißenden Strömungen gingen von ihnen aus. Mit einer ungeahnten Kraft wurde die erdrückende Masse zurückgeschleudert und dann verlor Viola endgültig das Bewusstsein. Sie versank endgültig in der Dunkelheit, doch sie spürte, wie es kalt wurde und wie etwas gegen ihren Brustkorb drückte. Sie bekam keine Luft, sie konnte nicht atmen. Wieder drückte etwas gegen ihre Brust und sie glaubte schon fast, ihr würden gleich die Rippen brechen. Es tat weh… ihre Lungen schmerzten, insbesondere ihre Brust. Hör auf, schrie eine Stimme in ihr. Hör auf, du brichst mir noch alle Knochen. Bitte, ich kann sonst nicht atmen. Aber etwas in ihr wusste, dass gerade dieser Druck auf ihre Brust ausgeübt wurde, weil sie es selbst nicht schaffte, zu atmen. Für einen Moment schwand der Druck und ein plötzlicher Luftstoß drang tief in ihre Lunge. Ein zweiter erfolgte, dann wieder Druck. Irgendwo in der Ferne hörte sie wieder diese Stimme, die ihr zurief „Du musst atmen!!!“ Ja richtig, sie atmete nicht. Als Viola das erkannte, wurde ihr klar, was das bedeutete. Oh Gott, ich werde sterben, wenn ich nicht schnell anfange zu atmen. Ich werde sterben. Viola nahm all ihre Kräfte zusammen und zwang sich Luft zu holen. Sie riss den Mund auf und als sie einen befreienden Atemzug tat, spürte sie, wie sich ihre Lungen mit Sauerstoff füllten. Langsam öffnete sie die Augen und sah Vincent, der sich über sie beugte und sogar Tränen in seinem verbliebenen Auge hatte. Die Angst um sie stand ihm ins Gesicht geschrieben und kaum, dass sie endlich die Augen öffnete, strich er ihr sanft über den Kopf. „Gott sei dank du lebst. Mensch, hast du uns einen Schrecken eingejagt.“ Viola war verwirrt und glaubte zuerst, das hier sei bloß ein Traum. Vincent war doch tot… Und doch war er hier, sogar Anthony. Es war bereits dunkel und das Rosenlabyrinth wurde von Laternen beleuchtet. Für einen Moment war sie sich nicht sicher, ob sie sich immer noch in der Traumwelt, oder im echten Labyrinth befand, wo sie eingeschlafen war. „Sag mal Kleine, was machst du denn hier so spät? Was ist denn passiert?“ Viola verwirrte die Frage, die Vincent ihr stellte. Warum nannte er sie „Kleine“? Konnten sie sich etwa an nichts mehr erinnern, was in der Traumwelt passier war? Sie schwieg und sah zu Anthony, der etwas abseits stand und sie mit einem etwas seltsamen Blick musterte. Offenbar haben die beiden alles vergessen und erinnern sich gar nicht mehr an mich, dachte sie und begann zu schluchzen. Dabei wollte ich doch so gerne…

Sie führte den Gedanken nicht weiter, sondern fing an zu weinen. Vincent, der gar nicht einschätzen konnte, was mit ihr los war, zögerte und sah seinen Freund unsicher an. „Nun wein doch nicht gleich, es ist ja alles gut.“ Seine Hand verschwand in der Manteltasche, wo er ein Taschentuch aufbewahrte, doch da ertastete er etwas, das da vorher noch nicht war. Verwundert holte er es heraus und sah, dass es ein kleiner Schlüsselanhänger mit einem Häschen war. Es kam ihm irgendwie vertraut vor und während er angestrengt versuchte, sich zu erinnern, sagte er unbewusst „Viola, das ist doch deiner.“ Viola? War das der Name dieses Mädchens? Woher kannte er ihn? Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Unzählige Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, von dem nicht enden wollenden Labyrinth mit den mörderischen Puppen, die riesige Monsterspinne, Anthonys Kampf mit Mary und dann erinnerte er sich auch an das kleine Mädchen, das ihn gerettet hatte. Viola, ja es war Viola! Auch Anthony schien sich beim Hören dieses Namens wieder zu erinnern und dann umarmte Vincent sie. „Wie konnte ich das alles nur vergessen? Tut mir Leid Viola, dass ich alles wieder vergessen habe, es tut mir so Leid.“

„Ihr… ihr erinnert euch wieder?“

„Ja und ich bin so froh, dass du lebst. Ich hatte schon Angst, der Traumfresser hätte dich getötet.“

„Nein, dieses Mädchen hat mir geholfen.“

„Mädchen? Was für ein Mädchen?“

„Sie hat rote Augen und ist richtig nett. Sie hat mir geholfen, den Traumfresser zu töten und mich aus der Dunkelheit herausgeholt.“ Anthony und Vincent sahen sich ernst an, denn sie erinnerten sich auch an ihre letzten Momente im Labyrinth als sie vom Traumfresser getötet wurden. „Ich glaube, ich habe auch ein Mädchen mit roten Augen gesehen. Sie hat nach mir gerufen und gesagt, ich solle ihrer Stimme folgen.“

„Bei mir war genau das Gleiche. Ich habe nicht lange überlegt und bin einfach ihrer Stimme gefolgt weil ich das Gefühl hatte, ich müsste das tun. Und dann, als ich hier wieder aufgewacht bin, wusste ich nicht mehr, was passiert war.“ Viola lächelte wissend und umarmte beiden Freunde fest. Und überglücklich lachte sie und schickte ein kleines Dankgebet auf die Reise. „Danke, dass du uns gerettet hast. Das werde ich dir niemals vergessen.“ Und irgendwo, an einen entfernten Ort lächelte das Mädchen mit den roten Augen und war zufrieden, dass die Sache ein so gutes Ende nehmen konnte.
 

Da Viola kein Zuhause hatte und Vincent lange Zeit ohne Erinnerungen durch die Weltgeschichte gereist war, nahm Anthony die beiden bei sich auf. Die beiden bewohnten jedoch allein die obere Etage, weil sie sonst im Dunkeln leben mussten. Es dauerte aber eine Weile, bis sie sich alle an die neue Situation gewöhnt hatten. Jeder von ihnen war alleine gewesen, jetzt hatten sich zwei Freunde nach fast sechzig Jahren wiedergefunden und Viola hatte wieder eine Familie. Oft saßen sie abends im Salon am Kamin und redeten viel. Vincent erzählte von seiner langen Reise, Viola von ihren Erlebnissen mit Sir Bunnyman. Eines Abends kamen sie wieder auf die Geschehnisse in der Traumwelt zu sprechen. Anthony hatte es sich bei einem Glas Wein im Sessel bequem gemacht, Viola saß vor dem Kamin und betrachtete das prasselnde Feuer, während Vincent auf dem Sofa Platz nahm. „Wenn ich so über die ganze Sache nachdenke, haben wir die ganze Zeit über falsch gelegen. Ich hatte immer gedacht, der Dream Weaver würde sich einen Wirt suchen und ihn irgendwann verschlingen. Dabei war es die ganze Zeit dieser merkwürdige Hase gewesen, der sich hinterher in diese Monsterspinne verwandelte. Der Traumfresser war aus den Alpträumen des Dream Weavers geboren worden und wurde von diesem in Violas Traum eingesperrt, damit der Dream Weaver ihn unter Kontrolle halten konnte. Ich frage mich aber, warum er ausgerechnet Viola ausgesucht hat.“

„Vielleicht, weil Kinder nun mal Kinder sind und sie deshalb auch viel mehr träumen als Erwachsene. Wer weiß, was für Pläne der Dream Weaver verfolgt. Und was hast du nun vor? Willst du den Dream Weaver immer noch suchen und ihn unter deine Kontrolle bringen?“ Vincent lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, das werde ich nicht tun. Vorher hätte ich es vielleicht versucht, aber ich habe erkannt, dass es falsch ist, sich in eine Traumwelt zu verkriechen und sich von der Realität zu lösen. Diese Welt hier ist vielleicht nicht die Beste, aber sie ist doch lebenswert. Und wenn mich dieses verrückte Abenteuer etwas gelehrt hat, dann, dass manche Träume besser Träume bleiben sollten. Aber ich frage mich trotzdem: Woher wissen wir, dass dies hier wirklich die reale Welt ist, oder wir alle immer noch in der Dunkelheit gefangen sind und bloß das alles hier träumen? Wer kann das sagen?“

„Nachts träumen wir, wir seien Schmetterlinge und flattern unbeschwert durch die Luft, ohne zu wissen, wer wir wirklich sind. Und wenn wir erwachen, sind wir wieder wir selbst. Aber woher sollen wir wissen, ob wir Schmetterlinge sind, die träumen, sie seien Menschen oder Menschen, die träumen, Schmetterlinge zu sein? So sagte Zhuangzi. Vielleicht ist der Dream Weaver ähnlich wie der Traumfresser aus unseren Träumen geboren worden. Aber vielleicht sind wir es, die allein in den Träumen des Dream Weaver existieren.“

„Egal wie nun die Wahrheit aussieht“, schloss Vincent schließlich. „Ich bin froh, dass ich endlich wieder weiß, wer ich bin. Ich kann mich zwar noch nicht an alles erinnern, aber wenigstens erkenne ich die Menschen wieder, die mir wichtig sind. Und allein das zählt. Wer weiß: Vielleicht war das Mädchen mit den roten Augen der Dream Weaver, oder vielleicht sogar Gott oder ein Engel. Ich will mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Solange wir zusammen sind und wir leben, ist mir alles recht.“ Damit waren alle einverstanden und das genügte ihnen, um sich nicht weiter mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Viola war glücklich, Vincent war glücklich und Anthony auch. Mehr brauchten sie nicht.
 

In den darauf folgenden Tagen begann Vincent mit Anthonys Hilfe, weitere Fragmente seiner gelöschten Erinnerungen zurückzuholen und sich wieder daran zu erinnern, wie er seine Fähigkeiten einsetzen konnte. Auf den Vorschlag seines Freundes hin begann er nun damit, sich zu einem Hypnosetherapeuten ausbilden zu lassen. Auf diese Weise konnte er seine Gabe zu guten Zwecken einsetzen, ohne dass er dabei aufflog. Zwar würde er in diesem Institut nichts wirklich Hilfreiches lernen, aber somit hätte er wenigstens die Formalitäten erledigt. Anthony selbst versuchte mit Vincents und Violas Hilfe, seine Photophobie zu bekämpfen. Der erste Schritt war, dass sämtliche Fenster im Haus mit einer speziellen Folie beschichtet wurden, die zwar Tageslicht, aber keine UV-Strahlen hindurchließen. Somit wäre es ihm möglich, sich bei Tageslicht im Haus zu bewegen, ohne Ausschlag oder Verbrennungen zu bekommen. Die Fortschritte waren zwar sehr klein, aber schon nach ein paar Wochen war es ihm möglich, bei stark bewölktem Himmel die Vorhänge zu öffnen und das wenige Licht ins Haus zu lassen. Viola hingegen ging bald wieder zur Schule, hatte aber deutlich Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Die meisten Kinder fanden sie etwas seltsam und so blieb sie eher eine Einzelgängerin. Sie hörte nie damit auf, Vincent weiterhin „Grey“ zu nennen, nur Anthony ließ sich partout keinen Spitznamen geben. So etwas sei einfach nur albern und kindisch. Das hielt sie aber nicht davon ab, ihm trotzdem immer wieder neue Spitznamen zu geben, einfach nur um ihn ein bisschen zu ärgern.

Von Mary Lane fehlte seit ihrem Kampf gegen Anthony, bei dem sie durch einen Kopfschuss außer Gefecht gesetzt wurde, jede Spur und sie war auch nicht im echten Labyrinth gewesen. Also musste man davon ausgehen, dass sie dort gestorben und zusammen mit dem Traumfresser verschwunden war. Vincent trauerte nicht, aber man spürte schon, dass es ihm äußerst unangenehm war, über Mary zu sprechen und dass er sehr bedrückt wurde. Anthony schnitt dieses Thema aus Rücksicht auf seinen Freund nie an und äußerte sich selbst auch nicht dazu. Sie schwiegen einfach darüber. Viola selbst war froh, dass diese unheimliche Mary verschwunden war, die sie sogar umbringen wollte. Aber eigentlich war sie ja gar nicht so böse gewesen, denn sie war ja vom Traumfresser manipuliert worden. Still dachte sie darüber nach und kam zu dem Schluss, dass Mary eigentlich bedauernswert war. Sie wollte doch nur eine friedliche Welt erschaffen, für sich und die anderen. Aber ihr eigener Wahnsinn wurde zu ihrem Verhängnis und sie hatte alles zerstört, was sie sich aufbauen wollte. Arme Mary…

Manchmal, wenn Viola draußen im Garten spielte und es ganz still war, glaubte sie, eine Stimme zu hören. Ganz leise und kaum hörbar. Dann dachte sie meistens, es sei nur der Wind, aber dann war sie sich ganz sicher, dass da irgendwo jemand ein Lied sang, das ungefähr so ging:
 

„Mary, Mary quite contrary

How does your garden grow?

With silver bells and cockle shells

And Pretty Maids all in a row

And Pretty Maids all in a row…”


Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Dream Weaver Creepypasta basieren teilweise auf dem Horror-RPG „Ib“, eines meiner Lieblingsspiele. Allerdings war etwas völlig anderes geplant:

Zuerst sollte Anthony wirklich sterben und lediglich seine manifestierten Träume gelangen in das Traumlabyrinth und dort versucht er, Vincent und Viola zu helfen. Dann habe ich mich anders entschieden und einfach ein Double von Anthony sterben lassen, weil er schon im Vorfeld wusste, dass Mary ihn töten würde. Dann hatte ich folgendes Szenario geplant:

Vincent und Anthony werden vom Traumfresser getötet und Viola gelingt als Einzige die Flucht. Als sie aufwacht, denkt sie zuerst, es wäre ein Traum bis sie realisiert, dass alles wirklich passiert war und so kehrt sie wieder in das Traumlabyrinth zurück. Dies sollte damit enden, dass sie es alleine schafft, den Traumfresser zu töten und bleibt für immer in der Traumwelt, wo sie sich Abbilder von Vincent und Anthony erschafft. Auch diese Idee fand ich im Ansatz zwar gut, aber das Ende hat mir nicht gefallen, vor allem weil die Dream Weaver CP so viel Potential hat. So wäre es ja nicht zu meinem Extra Creepypasta Dreiteiler gekommen, wo Viola besonders im zweiten Extra eine sehr wichtige Rolle spielt. Außerdem wollte ich Sally unbedingt wieder zurückholen, weil sie ja inzwischen richtig beliebt ist. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Lyrael_White
2014-02-25T14:50:25+00:00 25.02.2014 15:50
So jetzt habe ich mich endlich auch aufgerafft den Dream Weaver Arc nach zu holen und ich muss sagen, dass er gelungen ist auch wenn ich zwischendrin (Viola: Das Labyrinth) etwas abgeschreckt war weiter zulesen. Im Endeffekt kann ich aber sagen es hat sich gelohnt weiter zu lesen und ich finde es sehr schön, wie du das Ende gestaltet hast. Auch Sallys kleiner Auftritt war sehr willkommen.
Das die Sache mit Mary noch nicht zu Ende ist, lässt auf eine Fortsetzung des Arcs hoffen (Umbra scheint da ja schon ein guter Vorgeschmack zu sein)


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