Meine Creepypastas von Sky- (Paranormale (Horror) Geschichten) ================================================================================ Cry the Slasher Teil 1: Humiliation ----------------------------------- Das grelle Licht der Neonröhren und der leichte Geruch nach Desinfektionsmitteln ließ Kian unbehaglich fühlen und er spürte diese unangenehme Atmosphäre, die in den Krankenhäusern immer vorzuherrschen schien und die ihm mehr als zuwider war. Kian McKee hasste diesen Geruch und dieses grelle Licht, ebenso wie diese sterilen Flure und diese bedrückende Atmosphäre von Tod und Krankheit. Genau aus diesem Grund mied er Krankenhäuser und war immer froh, wenn er nicht hierhin gehen musste. Doch leider war es dieses Mal unvermeidlich, an diesen Ort zu gehen. Er rieb sich seine Hand, die ihm bandagiert worden war und fühlte den Schmerz in seinem ganzen Körper. Wirklich alles tat ihm weh und er fühlte sich, als wäre er unter die Räder eines LKWs geraten. Ihm war schlecht und am liebsten hätte er sich übergeben, aber er riss sich zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Insbesondere, dass er starke Schmerzen hatte. Vor allem in seiner unteren Körperhälfte. Er wollte nicht darüber reden und auch nicht, dass irgendjemand davon erfuhr. Gerne hätte er auch verhindert, dass sein jüngerer Zwillingsbruder Ryan das gesehen hätte, aber es sollte nicht so sein. Denn er hatte es selbst gesehen und das war für Kian das Schlimmste. Es war einfach erniedrigend und beschämend zugleich, dass sein Bruder ihn in diesem Zustand sehen musste. Was würde dieser nur von ihm denken und vor allem, wie würde er reagieren? Leider war es nicht das erste Mal, dass es passiert war… und wahrscheinlich auch nicht das Letzte Mal. Aber Kian kam inzwischen irgendwie damit klar. Er konnte es ertragen und wegstecken, solange er seinen Bruder hatte. Und diesen hatte es bei weitem schlimmer erwischt, denn dieser hatte durch den Schock und die heftige Aufregung schon wieder einen Anfall erlitten. Ryan litt seit seiner Geburt an einer schwachen Lunge, insbesondere der linke Lungenflügel war eigentlich total kaputt und nachdem die Situation mal wieder eskaliert war, hatte er einen Spontanpneomothorax erlitten, zumindest nannten es die Ärzte so. Ryan hatte keine Luft mehr bekommen, starke Schmerzen gehabt und krampfhaft gehustet, war er ohnmächtig geworden. Er würde erst mal zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben müssen. Wie lange das dauern würde, wusste Kian nicht, aber das würde Ryan ihm sicherlich gleich noch sagen. Seine Hand wanderte zu seiner leicht geschwollenen Wange, die ebenfalls schmerzte. Wäre sein jüngerer Zwillingsbruder nicht so früh von der Schule gekommen, hätte das alles nicht passieren müssen. Wäre er nicht ins Schlafzimmer gekommen und hätte sich eingemischt und sich so furchtbar aufgeregt, dann hätte es nicht so weit kommen müssen. Er konnte von Glück reden, dass sein Anfall nicht ganz so schlimm war, wie es zunächst ausgesehen hatte. Sonst hätte es vielleicht viel schlimmer werden können. Kian hatte alles getan, um seinem Bruder diese Aufregung zu ersparen und ihn zu beschützen, aber er war letzten Endes nicht in der Lage dazu gewesen. Aber es half nichts, sich über so etwas Gedanken zu machen, davon würde es auch nicht besser werden. Aus seiner Hosentasche holte Kian sein kleines Döschen mit den Tabletten, nahm eine heraus und schluckte sie. Diese Medikamente musste er schon seit einigen Jahren nehmen. Wofür sie genau da waren, wusste er selbst nicht genau. Jedenfalls halfen sie ihm, starke emotionale Schwankungen vorzubeugen und seine Symptome zu lindern, die seine Kopfschmerzen mit sich brachten. Er hatte sie schon immer als Kind gehabt, allerdings waren sie eher selten aufgetreten, aber besonders seit dem Tod seiner Mutter waren sie schlimmer geworden und mit ihnen die Symptome. Und seit den ersten Übergriffen von Eddie war es die Hölle… Sein ganzer Körper war inzwischen gezeichnet und er tat sein Bestes, um die Spuren zu verbergen, insbesondere vor seinem Bruder. Natürlich war es hart, diese Schmerzen und diese Schläge zu ertragen, aber allein der Gedanke, dass Ryans nächster Anfall vielleicht sein letzter sein könnte, war zu viel für ihn. Lieber erduldete er diese ganze Tortur alleine, als wenn seinem Bruder etwas zustoßen würde. Nachdem er sich einigermaßen gesammelt hatte, öffnete er die Tür des Krankenzimmers und trat vorsichtig ein. Ryan McKee war das kränkliche Ebenbild seines Bruders. Blond, grauäugig und von etwas zarter Statur, aber um einiges blasser und hagerer. Ja er wirkte schon etwas zu mager und sah besonders jetzt in diesem Zustand alles andere als gesund aus. Um seinen Zustand zu stabilisieren, hatte man ihn zusätzlich noch an eine Sauerstoffzufuhr angeschlossen und er wirkte inzwischen wieder etwas klarer. Ihn so zu sehen schmerzte Kian und er spürte, wie sich seine eigene Brust zusammenschnürte. Insbesondere als er Ryans traurige Augen sah, als würde dieser gleich in Tränen ausbrechen. „Kian“, brachte er mit schwacher Stimme hervor. „Es tut mir so Leid, dass dir das passiert ist. Ich wünschte, ich wäre früher nach Hause gekommen und hätte das verhindern können.“ „So ein Unsinn“, rief Kian und ballte die Hände zu Fäusten. „Du hättest dich nicht einmischen dürfen. Ich komm schon klar, kapiert? Verdammt noch mal, warum hast du das getan? Du weißt doch, dass du dich nicht zu sehr aufregen darfst! Du hättest sterben können, verstehst du? Wir sind zwar Zwillinge, aber ich bin trotzdem dein älterer Bruder und ich pass auf dich auf.“ Kian merkte, dass er wieder laut geworden war und sich wieder aufregte. Sofort beruhigte er sich wieder und fuhr sich durchs Haar. „Tut mir Leid, ich wollte mich nicht so aufregen. Aber Ryan, wer weiß, ob du den nächsten Anfall überleben wirst! Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn dir etwas passiert. Ich komm schon klar, okay?“ Doch Ryan sah unglücklich aus und wich dem Blick seines älteren Zwillingsbruders aus. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, sich zusammenzureißen, doch er konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen kamen. Schon immer war er viel sensibler gewesen als sein älterer Bruder und war eine kleine Heulsuse. Tröstend nahm Kian ihn in den Arm. „Warum tun wir uns das eigentlich noch an, hä? Es kann doch nicht ewig so weitergehen, dass er dir so was antut! Das ist doch kein Leben. Kian, dass er dich verprügelt, ist an sich schon schlimm genug und du brauchst nicht zu glauben, ich würde das nicht mitkriegen! Ich sehe doch, dass du dich manchmal vor Schmerzen kaum bewegen kannst. Aber dass er dich…“ Ryan sprach nicht weiter und brachte die nächsten Worte, die ihm schon auf der Zunge lagen, einfach nicht über die Lippen. Auch er schämte sich, seinen großen Bruder darauf anzusprechen. „Aber wo sollen wir denn hin?“ fragte Kian und setzte sich auf einem Stuhl, nachdem er sich von seinem Bruder gelöst hatte. „Mum ist tot und von unserem Dad haben wir auch nie was gehört. Und außer unserem Stiefvater haben wir keine anderen Verwandten. Und auf der Straße zu leben ist keine Alternative. Dich lässt er doch in Ruhe, oder nicht? Also lass das einfach allein meine Sorge sein, okay? Ich werde schauen, dass ich die Schule schnellstmöglich beende und mir einen Job suche. Dann können wir endlich die Fliege machen. Und du siehst zu, dass du wieder gesund wirst, hörst du?“ Ryan gab es für dieses Mal auf und nickte niedergeschlagen. In dieser Situation konnte er Kian einfach nicht überreden, sich an irgendjemanden zu wenden und Hilfe zu suchen. Er schämte sich einfach zu sehr dafür, mit anderen über diese… Sachen… zu reden. Ryan konnte ihn gut verstehen. Er selber würde sich nicht anders fühlen, wenn er in seiner Situation wäre und über diese Übergriffe zu reden war nicht einfach. Und solange Kian noch einen Grund hatte, weiter durchzuhalten, konnte er die Stärke aufbringen, es mit sich alleine auszumachen. Sein jüngerer Bruder gab ihm diese Kraft und deshalb war Ryan wohl oder übel gezwungen, sich zu schonen und schnell wieder gesund zu werden, um Kian beizustehen. Natürlich würde er ihn selber gerne beschützen, wenn er denn nur könnte. Aber wegen seiner kaputten Lunge konnte er einfach nichts tun, als seinem Bruder zu vertrauen, dass dieser sich schon irgendwie durchboxen würde. „Bitte pass auf dich auf, ja? Ich muss heute und morgen leider noch zur Beobachtung da bleiben.“ „Klar doch. Und du siehst zu, dass du schnell wieder fit wirst.“ Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, fuhr Kian zurück nach Hause. Im Haus war es dunkel, wahrscheinlich war Eddie wieder in der Kneipe was trinken. Hoffentlich blieb er so lange wie möglich weg. Als er die Haustür aufschloss, durchfuhr ihn ein brennendes Stechen und sein Kopf begann zu dröhnen. Der Schmerz breitete sich über seine gesamte Schädeldecke aus und ließ für einen kurzen Augenblick seine Sicht verschwimmen. In der letzten Zeit bekam er diese Kopfschmerzen öfter und hatte bereits seine Tablettendosis erhöhen müssen, um sie zu bekämpfen. Doch trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sie immer wieder in unregelmäßigen Intervallen auftraten. Und mit diesen Kopfschmerzen traten manchmal auch Halluzinationen auf, die aber meist harmlos waren und nicht länger als drei Sekunden andauerten. Aber was ihm zu schaffen machte, war das, was diese Kopfschmerzen in seiner Psyche auslösten. Er spürte Wut… Hass… Es war, als würde er eine Stimme in seinem Inneren hören die ihm zuflüsterte Los, mach schon! Beende es!!! Natürlich hätte Kian nicht mal im Traum daran gedacht, Eddie umzubringen, auch wenn er ein widerlicher, versoffener und brutaler Kerl war, der seinen Frust an seinen Stiefsöhnen ausließ. Kian hatte zumindest dafür sorgen können, dass er Ryan nichts antat. Deshalb bekam er auch den Teil ab, den auch Ryan kassiert hätte. Doch das Schlimmste war, dass Eddie seine Angst um Ryan schamlos ausnutzte, um ihn unter Druck zu setzen. Wenn er nicht tat, was sein Stiefvater sagte, würde dieser seinem Bruder etwas antun. Und mit großer Wahrscheinlichkeit würde er ihm „solche“ Dinge antun, an die er sich lieber nicht erinnern wollte. Eine wirklich hoffnungslose Lage, aus der er keinen Ausweg wusste. Wohl oder übel musste er das noch eine ganze Weile mitmachen, bis er eine Gelegenheit fand, mit Ryan von Zuhause abzuhauen und sich irgendwo eine neue Bleibe zu suchen, wenn er einen Job hatte. Aber das würde noch dauern und im Moment fühlte er sich einfach zu erschöpft und zu elend, um sich mit diesen Plänen zu befassen. Ich brauche einfach etwas Ruhe, dachte er und ging die Treppe rauf in sein Zimmer. Einfach ein paar Stunden schlafen und dann war alles wieder in Ordnung. Am nächsten Morgen fühlte sich Kian noch schlechter als gestern. Zwar waren seine Kopfschmerzen gewichen, dafür aber spürte er die Blessuren des Vortages mehr als deutlich und gut geschlafen hatte er auch nicht. Da Eddie sicher wieder irgendwo was Trinken war, gab es auch dementsprechend in der Küche nichts Vernünftiges und die wenigen Lebensmittel im Kühlschrank waren auch schon hoffnungslos verdorben. Aber das kümmerte Kian nicht weiter. Er ernährte sich seit geraumer Zeit sowieso von Fast Food in Form von Pizza, Pasta, Burgern und dem, was er sich beim Chinesen bestellte. Wegen seinem Stoffwechsel konnte er sowieso essen was er wollte und nahm nicht ein Gramm zu. Dumm nur war, dass er dann immer gleich für drei Personen essen konnte. Zuerst aber ging er ins Bad und machte sich fertig. Als er sich so im Spiegel betrachtete, sah er es nun mehr als deutlich. Unter seinem rechten Auge, an der Schulter und wirklich überall an seinem Körper hatte er blaue Flecken. Manche von ihnen verblassten bereits, andere waren neu und auf seinem rechten Arm waren Brandspuren von Zigarettenstummeln zu sehen. Und seine Hände, die er sich manchmal blutig gebissen hatte, um Eddies Übergriffe auszuhalten, waren auch kein schöner Anblick und hatten Narben hinterlassen. Da sie sowieso mal wieder bandagiert waren, würde man das zum Glück nicht sehen und wenn er sich einen langärmeligen Pullover anzog, konnte er die anderen Spuren vor den Augen der anderen verbergen. Das war seine Welt… Nachdem er sich angezogen und seine Tasche gepackt hatte, verließ er das Haus und erwischte noch rechtzeitig den Bus zur Schule. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust dazu, heute zur Schule zu gehen, sondern wäre viel lieber im Bett geblieben. Aber wenn er schwänzte, lief er noch Gefahr, Eddie über den Weg zu laufen und das wollte er lieber verhindern. Auf noch einen Übergriff konnte er verzichten und er wollte auch nicht, dass sein Bruder irgendetwas mitbekam, wenn er wieder zurückkam und seine untere Hälfte tat immer noch furchtbar weh und machte es ihm schwer, sich hinzusetzen. Und wieder musste er an Ryans gestrigen Anfall zurückdenken. Das letzte Mal, als ein Anfall von ihm sogar lebensbedrohlich geworden war, war vor drei Jahren, als ihre Mutter gestorben war. Ein Hirntumor, der zu spät entdeckt und entfernt worden war, hatte sie dahingerafft. Da Ryan am meisten von ihnen beiden an ihr gehangen hatte, hatte ihr Tod ihn besonders getroffen und er hatte einen so heftigen Anfall bekommen, dass er auf der Intensivstation gelandet war. Es war ein Spannungspneumothorax geworden. Durch den Riss in seinem linken Lungenflügel war Luft hineingeströmt und daraufhin war seine Lunge kollabiert, sodass er zu ersticken drohte. Allein schon zu hören, dass sich die Lunge so stark dabei aufblähte, dass sie sogar das Herz verdrängte, war eine absolute Horrorvorstellung für Kian und deshalb war er bereit, alles zu tun, um seinem Bruder einen weiteren Anfall dieser Art zu ersparen. Denn der Arzt hatte ganz deutlich gesagt, dass Ryan es beim nächsten Mal wahrscheinlich nicht überleben könnte. Das durfte Kian nie und nimmer zulassen! „Hey McKee!“ Als Kian aus dem Bus ausstieg, wanderte sein Blick zu Roary Killigan und seiner Gang. Na super, die hatten ihm gerade noch gefehlt. „Hab gehört, dein Alter hat dich mal wieder kräftig verdroschen. Hat er es dir auch schön ordentlich besorgt?“ Kian entschied sich, ihn einfach zu ignorieren und weiterzugehen. Er hatte keine Lust, sich mit irgendjemandem zu streiten, oder Unruhe zu stiften. Auf das Niveau wollte er sich nicht herablassen. „Hey du Stück Scheiße, ich rede mit dir!“ „Kein Interesse“, gab er kühl zurück und ging in Richtung Schuleingang. Doch da hörte er schnelle Schritte hinter sich und als er sich umdrehte, schlug ihm auch schon jemand mit der Faust ins Gesicht und er fiel zu Boden. Roary, ein kräftig gebauter Footballspieler von gut 1,85m Größe baute sich vor ihm auf und trat ihm auf seine bandagierte Hand. Der rasende Schmerz kehrte wieder zurück und Kian schrie auf. „Hör mal zu, du kleine Schlampe! Du solltest endlich mal lernen, wo hier dein Platz ist. Hier weiß doch inzwischen jeder, dass du dich von deinem Alten ficken lässt, also spiel dich hier mal nicht so auf!“ Bevor Kian etwas erwidern konnte, trat Roary ihm gegen die Schläfe und verpasste ihm noch einen zusätzlichen Tritt in die Seite, woraufhin er und der Rest der Clique höhnisch zu lachen begannen und mit ihrem Handys Fotos schossen. „Was für eine Schwuchtel“, rief Billy und lachte. Schließlich gingen sie weiter und ließen Kian auf dem Boden liegen. Alles in ihm tat weh. Sein ganzer Körper schmerzte entsetzlich und am liebsten wäre er einfach regungslos liegen geblieben. Doch das war keine Alternative. Also biss er sich auf die Unterlippe, als er mühsam wieder auf die Beine kam und wankend in Richtung Schuleingang ging. Gleich schon an der Treppe kam ihm Abby entgegen und rannte dabei so schnell, dass sie beinahe wieder über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Gerade noch rechtzeitig konnte Kian sie auffangen, bevor sie hingefallen wäre. „Kian, ist alles in Ordnung mit dir? Haben sie dich schon wieder verprügelt?“ Doch er schüttelte nur den Kopf und lächelte. „Schon gut, ist alles halb so wild. Nur ein paar Kratzer, mach dir darüber keine Sorgen.“ Abby und er kannten sich schon seit dem Kindergarten und waren gute Freunde. Doch seit ihre Eltern ans andere Ende der Stadt gezogen war, sahen sie sich nur noch in der Schule, was für Kian ein herber Schlag gewesen war, denn sie war die Einzige in seinem Umfeld, die er wirklich eine gute Freundin nennen konnte. Die anderen gingen ihm entweder aus dem Weg, oder sie schikanierten ihn. In der Schule war sie neben Ryan der einzige Rettungsanker, den er noch hatte. Aber er hatte ihr nie von den Dingen erzählt, die ihm passierten. Weder von den heftigen Mobbingattacken seiner Mitschüler, noch von den gewalttätigen Übergriffen seines Stiefvaters. Natürlich blieb ihr nicht verborgen, dass er immer mit Verletzungen zur Schule kam, aber auch sie war auf ihre Weise völlig hilflos und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. „So kann das doch nicht weitergehen. Hast du schon mal daran gedacht, es dem Rektor zu melden?“ „Wegen so einer Kleinigkeit doch nicht. Das ist alles halb so wild.“ „Ich verstehe dich echt nicht. Allem und jedem hilfst du und du hilfst sogar alten Leuten beim Tragen, aber ein einziges Mal Hilfe anzunehmen ist schon zu viel für dich. Versteh mal einer deinen falschen Stolz.“ „Es kann mir doch eh keiner helfen“, entgegnete er mit kraftloser Stimme und begleitete Abby zu den Schließfächern. „Die Lehrer wissen doch selbst nicht, wie sie das noch in den Griff bekommen sollen und sind selber vollkommen überfordert. Und auf eine andere Schule will ich auch nicht wechseln, weil ich Ryan nicht alleine lassen will. Ich muss doch auf ihn aufpassen, verstehst du? Ich hab echt Angst, dass er an seinem nächsten Anfall sterben wird. Und es dauert doch sowieso nicht mehr lange. Zwei Jahre und ich bin hier eh weg.“ Verständnislos schüttelte Abby den Kopf. Sie gingen ins Klassenzimmer und setzten sich an ihre Plätze. Heute würde ein Test in Algebra geschrieben werden und obwohl Kian genug gelernt hatte, fürchtete er, dass er durchfallen würde. In der letzten Zeit waren seine Noten sowieso immer schlechter geworden, weil er durch seine ganzen Probleme kaum die Zeit zum Lernen hatte. Und wenn er mit schlechten Noten nach Hause kam, setzte es ebenfalls Schläge, weil er ein Versager war, der es zu nichts brachte. Wenn man so darüber nachdachte, war das ein echter Teufelskreis. Im Klassenzimmer herrschte Lärm und Kian schloss die Augen, als er merkte, dass seine Kopfschmerzen langsam wieder zurückkehrten. Inzwischen hatte er sie schon fast täglich und immer, wenn er sie hatte, wurde er so leicht reizbar… Er konnte keine lauten Geräusche ertragen, vor allem nicht das laute Geschrei und Gelächter seiner Mitschüler. Die Tür ging auf und Mr. Parker, der Mathelehrer kam herein. Laut knallte die Tür hinter ihm zu und Kian zuckte unmerklich zusammen. Warum kannst du die Tür nicht zumachen wie jeder normale Mensch, du Arschloch? Unmerklich wurde der Griff um seinen Bleistift stärker und er versuchte, sich wieder zu beruhigen. Laute Geräusche waren ein absolut rotes Tuch für ihn, wenn er Kopfschmerzen hatte. Er war dann wie ausgewechselt und man durfte ihm nicht zu nahe kommen, oder ihn groß in Anspruch nehmen. In den minutenlangen Intervallen, wenn er mal wieder diese Schmerzen hatte, war es am Besten, ihn gar nicht erst anzusprechen, sondern ihn einfach in Ruhe zu lassen. Wirklich alles regte ihn dann auf. Das schrille Gekreische und Gekicher der Mädchen, das Gegröle der Jungs und selbst das Kratzen der Stifte über dem Papier in der Stille machte ihn wahnsinnig. Schnell griff er in seine Tasche und suchte das Döschen mit seinen Tabletten. Zwar halfen sie ihm nicht wirklich, seine Schmerzen zu betäuben, dafür aber konnten sie ihn einigermaßen wieder beruhigen. Er suchte in seiner Tasche, doch er fand sie nicht. Verdammt, wo hatte er seine Tabletten hingetan? Hatte er das Döschen etwa zuhause vergessen? Na super, das war ja mal große Klasse… „Gibt es ein Problem, McKee?“ fragte Mr. Parker als er bemerkte, dass Kian in seiner Tasche kramte, anstatt ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Sofort entschuldigte Kian sich und versuchte, die Sache zu erklären. „Entschuldigen Sie bitte, Mr. Parker. Ich finde meine Medikamente gerade nicht.“ „Hat da jemand die Pille nicht genommen?“ rief Leo und lautes Gelächter ertönte. Seid doch still, dachte Kian und presste eine Hand gegen seine Schläfe, wobei er die Augen schloss. Seid doch nicht so laut… das NERVT!!! „Geht es dir nicht gut?“ fragte der Mathelehrer als er sah, dass Kian deutlich blasser wurde. Doch dieser schüttelte nur den Kopf und murmelte „Es geht schon…“ Tja, er hatte wohl seine Medikamente zuhause vergessen. Das war zwar ärgerlich, aber es würde doch sicher nicht so tragisch werden, wenn er sie erst heute Abend nahm, wenn er wieder zuhause war. Bis dahin war nur zu hoffen, dass die Kopfschmerzen irgendwann wieder nachließen. Doch dann geschah etwas Seltsames. Etwas, das noch nie zuvor passiert war. Ein unangenehmes Kribbeln durchfuhr seinen rechten Arm und seine Hand. Es war nicht schmerzhaft, eher wie ein unangenehmes Ziehen in seinen Muskeln, als wäre irgendetwas in seinem Körper unruhig und als hätte er zu viel Energie. Kian merkte, dass er unruhig wurde und sich nicht konzentrieren konnte. Seine Hand begann unangenehm zu kribbeln und seine Fingerspitzen fühlten sich irgendwie taub an. Das Ziehen in seinem Arm wurde unangenehm und er begann mit dem Daumen gegen den Bleistift zu drücken, den er in der Hand hielt. Gleichzeitig wuchs der Schmerz in seinem Kopf zu einen Dröhnen an und betäubte all seine anderen Schmerzen. Seine Ohren waren überreizt und schienen wirklich alles viel deutlicher und intensiver wahrzunehmen als sonst und das überforderte ihn. Das Kratzen der Stifte über dem Papier, das Rascheln der Blätter, das leise Flüstern… es wurde einfach zu viel für ihn. Er schaffte es nicht, sich vernünftig auf den Test zu konzentrieren. Wieso nur musste das Kratzen und Rascheln nur so furchtbar laut sein? Nur mit Mühe gelang es ihm, die Fragen des Tests zu beantworten und ein paar Formeln aufzustellen. Trotzdem wusste er, dass er absolut auf ganzer Linie versagte. Nach dem Test würde er vielleicht am besten zur Apotheke gehen und ein paar Schmerzkiller kaufen. Irgendetwas Gutes, um die Kopfschmerzen loszuwerden. Und wahrscheinlich musste er sich auch bei seinem Therapeuten melden, um sich stärkere Medikamente verschreiben zu lassen. Denn die Aggressionen in ihm wurden schlimmer und in den letzten Tagen verschwanden sie selbst dann nicht, als er seine Medikamentendosis eigenwillig erhöht hatte, um einen besseren Effekt zu erzielen. Als die Pausenglocke ertönte, hielt sich Kian die Ohren zu und war gleichzeitig erleichtert, endlich diesen blöden Test hinter sich gebracht zu haben. Erleichtert lehnte er sich zurück und atmete tief durch, wobei er den Kopf ein wenig zurücklegte. Doch lange sollte dieser friedliche Moment nicht andauern, denn da stieß ihn jemand unsanft an der Schulter an. Es war Roary. „Hey du Schwanzlutscher, du hast wohl vorhin was vergessen, oder? Ich krieg noch deine Kohle! 20 Mäuse wären das!“ Diese Stimme… diese gottverfluchte laute und grölende Stimme trieb ihn noch zur Weißglut. Warum musste er ihn ausgerechnet jetzt nerven? Ausgerechnet jetzt, wo er diese Kopfschmerzen hatte? Seine Hand umklammerte die Schere, mit der er meist irgendwelche Figuren aus Seiten herausschnitt. Beende es! Beende es! Na los doch! Töte ihn und beende es! „Hey McKee, ich rede mit dir!!!“ In dem Moment, als Roary die Hand auf den Tisch schlug, da wurde es zu viel für ihn. Dieser Lärm brachte ihn zur Raserei, er konnte sich nicht mehr beherrschen und dieser laute Knall war genau der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. In einer Kurzschlussreaktion rammte Kian ihm die Spitze der Schere in die Handfläche und bohrte sie tief ins Fleisch. Roary schrie vor Schmerz und wusste nicht, wie ihm geschah. Kian zog die blutverschmierte Schere heraus, packte ihn und holte schon aus, um ihm die Spitze ins Auge zu rammen, da wurde er von hinten gepackt und gegen einen der Tische geschleudert. Er schlug sich den Hinterkopf und in dem Moment durchzuckte ein infernalischer Schmerz seinen gesamten Schädel. Sein Hirn fühlte sich an, als würde es gleich explodieren und er fürchtete, dass dieser Schmerz ihm noch den Verstand rauben würde. „Du Pisser hast mir eine Schere in die Hand gerammt. Dafür bringe ich dich um!“ „Ich hätte es beenden sollen, dann hätte ich endlich Ruhe…“ Das war zu viel für den cholerischen Rowdy. Er packte den am Boden liegenden Kian und zerrte ihn hoch. „Ich mach dich kalt!!!“ Doch dieses wütende Geschrei hörte sein Opfer nicht mehr. Alles um ihn herum begann zu verschwimmen, vor seinen Augen flackerten kleine Lichter und Farben tanzten wild umher. Das Kribbeln in seiner Hand verstärkte sich und das Dröhnen in seinen Ohren wurde lauter. Alles um ihn herum versank in eine tiefe Schwärze und er verlor das Bewusstsein. Es war eine erholsame und wohltuende Ohnmacht, in der dieser entsetzliche Schmerz endlich wich und er sich gleich viel besser fühlte. Insgesamt wusste Kian nicht, wie lange er ohnmächtig geblieben war. Jedenfalls war es lange genug, dass er im Sanitätsraum zu sich kam und die Schulkrankenschwester gerade dabei war, seinen Puls zu messen. Er setzte sich auf, bereute dies aber auch schon gleich wieder, da ihm gleich wieder schwarz vor Augen wurde und die Schmerzen wieder mehr als präsent waren. „Du solltest noch ein wenig liegen bleiben. Schlimmstenfalls hast du eine Gehirnerschütterung. Und was Roary übrigens angeht, der musste ins Krankenhaus.“ Krankenhaus? Kian versuchte sich zu erinnern, was eigentlich passiert war, aber ihm fehlte jegliche Erinnerung, was nach dem Klingeln der Pausenglocke passiert war. Er hatte einen kompletten Blackout. „Was ist denn eigentlich passiert?“ „Was passiert ist? Du hast ihm deine Schere in die Handfläche gestoßen und wolltest ihm das Auge ausstechen, so wie die anderen gesagt haben. Danach hat es eine heftige Rauferei gegeben und dabei bist du mit dem Kopf gegen einen Tisch geschlagen und hast kurz darauf das Bewusstsein verloren. Was ist nur in dich gefahren, McKee? Sonst bist du doch nicht so. Ich kenne dich doch als einen ruhigen und stillen und netten Jungen, wie ist das bloß passiert?“ Doch Kian wusste keine Antwort darauf. Er konnte sich einfach nicht erinnern. Er wusste nur, dass er diese Kopfschmerzen gehabt hatte. „Ich glaub, es ist einfach zu viel geworden. Der Stress mit meinem Stiefvater, dann Ryans Lungenkollaps. Und seit Wochen habe ich immer diese Kopfschmerzen… Außerdem war ich so blöd und habe meine Medikamente zuhause vergessen.“ Besorgt sah die Schulkrankenschwester Diane ihn an und legte ihm einen kühlen Lappen auf die Stirn. „Du solltest dich besser hinlegen und auch mal zum Arzt gehen. Ich kann schon verstehen, dass das momentan echt hart ist. Vor allem die Schikanen und das mit deinem Bruder. Aber wenn das mit den Kopfschmerzen so häufig auftritt und dann auch noch so stark, solltest du das wirklich untersuchen lassen. Welche Symptome hast du noch?“ Kian versuchte sich zu erinnern, was er im Unterricht gefühlt hatte, aber egal wie sehr er es auch versuchte, das Bild blieb schwarz. Er schüttelte den Kopf und murmelte „Ich weiß es nicht mehr. Irgendwie kann ich mich an rein gar nichts mehr erinnern. Und was die Kopfschmerzen betrifft, sie treten nicht direkt an der Stirn oder an der Schläfe auf, sondern am ganzen Kopf. Es fühlt sich dann an, als würde er von einem Schraubstock eingeklemmt werden und als versuche etwas gewaltsam aus meinem Kopf auszubrechen.“ Diane nickte besorgt und gab ihm ein Glas mit aufgelösten Aspirintabletten. „Ich bin kein Arzt und auch kein Psychologe. Vielleicht sind es ja nur psychosomatische Symptome, die durch Stress entstehen. Aber… wenn die Kopfschmerzen häufiger auftreten und du Symptome wie Übelkeit, Krämpfe oder Taubheitsgefühl hast, musst du sofort zum Arzt gehen, okay?“ „Wollen Sie etwa damit sagen, ich hätte irgendwas am Kopf?“ Diane haderte noch damit, eine klare Antwort zu nennen, denn sie kannte sich nicht genug aus und ohne klare Untersuchung konnte sie auch keine Diagnose erstellen. Aber sie hatte da so eine leise Befürchtung. „Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht ist es auch nur eine harmlose Geschichte, aber du solltest wirklich besser auf deine eigene Gesundheit achten. Du willst doch nicht, dass Ryan sich deinetwegen noch mehr Sorgen macht. Wenn er mal zu mir kommt, weil er wieder Atemschwierigkeiten bekommt, erzählt er immer wieder davon, dass er sich Sorgen um dich macht. Und die Spuren an deinen Armen…“ Sie schob seinen Ärmel hoch und entblößte damit seinen Arm, wo die Brandnarben der ausgedrückten Zigaretten zu sehen waren. Instinktiv zog Kian seinen Arm zurück und verbarg diesen wieder unter seinen Ärmel. „Sagen Sie niemandem etwas davon, okay?“ „Wer hat das getan? Roary oder dein Stiefvater? Hey, wenn du Hilfe brauchst, du kannst dich an die Polizei wenden, okay?“ Kian wandte den Blick von ihr ab und fühlte wieder die Scham als er daran zurückdachte, was passiert war… in seinem Haus… im Schlafzimmer… Er wollte nicht darüber reden, mit niemandem. Wenn er diese Gerüchte bestätigte, würde es eine niemals enden wollende Hölle werden. Dann würde alles nur noch schlimmer werden. Natürlich hatte er daran gedacht, sich an die Polizei oder an das Jugendamt zu wenden und ihnen zu sagen, was Eddie ihm eigentlich antat. Aber er hatte Angst vor der Reaktion. Seine Mitschüler würden ihm und Ryan das Leben erst recht zur Hölle machen und sie würden entweder ins Heim, oder in eine Pflegefamilie kommen. Was, wenn Eddie seine Drohung wahr machte und Ryan etwas antat? Und Kians größte Angst war, dass er und sein Bruder getrennt werden könnten. Was, wenn Ryan wieder einen Anfall bekam und er nicht da war um ihm zu helfen? Wer würde ihn denn beschützen, um so etwas zu verhindern? Nein, er würde niemals zur Polizei oder zum Jugendamt gehen! Nicht wenn er und sein Bruder auf diese Weise getrennt werden würden, oder wenn dadurch Ryan etwas passieren könnte. Er musste das irgendwie alleine schaffen. „Danke Diane, aber ich glaube, ich werde jetzt nach Hause gehen.“ Kian stand auf und merkte, dass sich seine Kopfschmerzen in dem Moment etwas besserten. Aber auch nur ein wenig. Er wollte das Gespräch an dieser Stelle einfach beenden und nach Hause gehen. Besorgt sah ihm die Schulkrankenschwester nach. „Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du Probleme hast.“ „Danke, aber ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können.“ Damit schnappte er sich seine Jacke und seine Tasche, dann verließ er das Zimmer. Da noch Unterricht war, herrschte angenehme Stille auf den Gängen und er musste niemandem über den Weg laufen. Wenigstens eine gute Nachricht für diesen beschissenen Tag. Nachdem Kian noch ein paar Sachen aus seinem Schließfach geholt hatte, ging er ins Büro des Rektors, um den Vorfall zu klären und sich für heute abzumelden. Dieser war mehr als sauer und fragte ihn, was er sich dabei gedacht habe, einem Mitschüler eine spitze Schere in den Handrücken zu rammen. Kian saß mit gesenktem Kopf da und zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich kann mich an rein gar nichts erinnern.“ „Das ist ja wohl die faulste Ausrede, die ich bis jetzt gehört habe!“ brüllte der Rektor wütend, stand auf und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. Durch den Lärm verstärkten sich die Kopfschmerzen wieder und Kian zuckte unmerklich zusammen. „Du kannst dich nicht erinnern? Verdammt, das war Körperverletzung, was du dir da geleistet hast. Ist dir klar, dass ich dir einen Schulverweis erteilen kann?“ Das laute Geschrei des Rektors machte Kian aggressiv. Sein ganzer Körper spannte sich an und während er eine Hand gegen seine Schläfe drückte, krallte sich seine andere in die Armlehne. Warum nur muss er so laut schreien und stellt mich als den Schuldigen hin? Roary war doch selbst Schuld, oder nicht? Sicherlich hatte er ihn mal wieder total provoziert und er hatte diese Abreibung mehr als verdient. Los doch, beende es! Ramm dem Kerl den Brieföffner in die Kehle, damit er endlich Ruhe gibt! „McKee, ich rede mit dir!!!“ Kian blinzelte und wachte aus seiner kurzzeitigen Apathie auf und bemerkte, dass er gerade vollkommen weggedriftet war. „Entschuldigen Sie, mir geht es nicht gut. Ich hab Kopfschmerzen, schon seit Wochen und momentan ist es ziemlich stressig bei mir zuhause. Und mein Bruder musste gestern wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das ist gerade alles etwas viel für mich.“ Da der Rektor wohl sah, dass es ihm tatsächlich nicht gut ging, wurde er ein wenig ruhiger und setzte sich wieder in seinen schwarzen Ledersessel. „Ich sehe dieses Mal vom Schulverweis ab, McKee. Das mit deinem Bruder tut mir Leid und ich weiß, dass Roary Killigan kein Unschuldslamm ist und einiges verbrochen hat. Aber dennoch bleibt mir nichts anderes übrig, als dich den Rest der Woche vom Unterricht zu suspendieren. Auf Killigan wird auch noch einiges zukommen.“ Noch mal mit einem blauen Auge davongekommen, aber so ganz konnte sich Kian nicht darüber freuen. Sein Blick wanderte zu dem Brieföffner, der in greifbarer Nähe vor ihm lag. Was hatte er gerade noch gedacht gehabt? Irgendetwas war doch mit dem Brieföffner gewesen… Doch er konnte sich nicht erinnern und schob es deshalb auf seine Kopfschmerzen. „Entschuldigen Sie den ganzen Ärger, ich wollte das wirklich nicht.“ Das war ehrlich gemeint. Kian konnte ja selbst nicht glauben, dass er dermaßen ausrasten und Roary tatsächlich die Schere in den Handrücken rammen würde. Das sah ihm doch gar nicht ähnlich. Selbst wenn er wieder diese Schmerzen hatte, so hatte er noch nie die Beherrschung verloren, sondern hatte sich stets allein innerlich aufgeregt. Wahrscheinlich war es wirklich nur eine Kurzschlussreaktion gewesen, weil so viel auf einmal passiert war. Das konnte jedem mal passieren. Aber wenigstens flog er nicht von der Schule. Nun gut, ein großer Trost war das ja auch nicht gerade, aber zumindest hatte Eddie keinen allzu großen Anlass, um wieder auszurasten. Mit einer etwas niedergeschlagenen Stimmung verließ Kian das Büro des Rektors und machte sich auf dem Weg nach Hause. Die kühle Brise war eine Wohltat und er spürte, wie das Dröhnen in seinem Kopf ein klein wenig nachließ. Wahrscheinlich ist es wirklich nur der Stress, dachte er sich und ging zur Bushaltestelle. Aber was hatte er da noch mal mit dem Brieföffner im Büro des Rektors machen wollen? Irgendetwas war da doch gewesen? Doch egal wie viel er auch nachdachte, es wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen und noch immer konnte er sich nicht an den Vorfall mit Roary erinnern. Es war so, als wäre er kurz vor der Pausenglocke bewusstlos geworden und dann im Krankenzimmer aufgewacht. Ob Gedächtnisstörungen auch bei Stress auftreten konnten, oder lag es an dem Schlag gegen die Tischkante? Nun, womöglich war das ja tatsächlich so. Als der Bus kam, setzte sich Kian gleich an einen der Fensterplätze und lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe, wobei er die Augen schloss. In diesem Augenblick fühlte er sich so müde und erschöpft wie schon seit Tagen nicht mehr. Dabei schlief er immer ausreichend und an Bewegung mangelte es ihm auch nicht. Er war der beste Sportler in seiner Klasse und der schnellste Läufer an der ganzen Schule. Und im Parcoursrennen machte ihm auch niemand Konkurrenz. Diese Müdigkeit und die Kopfschmerzen mussten von der Aufregung kommen! Kian musste sich unfreiwillig an gestern erinnern und ihm wurde schlecht. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und er spürte wieder den brennenden Schmerz in seiner unteren Hälfte. Sofort versuchte er diese Bilder wieder zu verdrängen, doch da sah er auch schon das Bild direkt und ganz deutlich vor sich, wie Ryan nach Luft schnappte, sich an die Brust fasste und krampfhaft zu husten begann, bevor er zusammenbrach. Selten hatte Kian solche Ängste ausgestanden, als er ihn so gesehen hatte. Er war sich für einen Moment vollkommen sicher gewesen, dass Ryan einen Spannungspneumothorax hätte und sterben würde. Zum Glück war es nicht so weit gekommen… Als der Bus nach einer Weile an der Haltestelle hielt, stieg Kian aus und lief die restlichen Meter zu Fuß weiter. Inzwischen begann sich der Himmel zu verdüstern und es sah so aus, als würde es nachher ein wenig regnen. Gleich schon als er die Haustür aufschloss, hörte er lautes Hundegebell von nebenan. Es war der Rottweiler des Nachbarn. Dieser elende Köter kläffte den ganzen Tag am Stück, ohne auch nur ein Mal aufzuhören. Sowohl tags als auch nachts. Kurzerhand zog Kian den Schlüssel wieder aus dem Schloss und ging stattdessen nach nebenan und klopfte an die Tür. Wenig später öffnete ihm ein übergewichtiger bulldoggengesichtiger Glatzkopf in einem weißen fleckigen Unterhemd und einer Bierdose in der Hand. „Entschuldigen Sie“, begann Kian und versuchte dabei seine Kopfschmerzen zu ignorieren. „Wären Sie vielleicht so freundlich und könnten Ihren Hund ins Haus holen? Mir geht es leider momentan nicht gut und ich wollte mich ein bisschen hinlegen. Wäre das für Sie in Ordnung?“ Kian bemühte sich wirklich, höflich und freundlich zu sein, doch leider war sein Nachbar einer jener Zeitgenossen, die offenbar auf Krawall gebürstet waren und nichts anderes konnten, als zu pöbeln. Und es war kein Geheimnis, dass er Schwarze hasste wie die Pest und sie am liebsten zurück auf die Baumwollplantagen gejagt hätte. Wenn nötig, sogar mit dem Gewehr. „Jetzt hör mir mal zu, du Scheißer!“ rief er und stieß Kian von sich. Dieser geriet auf der Treppe ins Stolpern und stürzte zu Boden. Mit schwerfälligen Tritten kam sein Nachbar näher und packte ihn am Kragen. „Auf meinem Grund und Boden mache ich allein das, was ich will und dabei lass ich mir von Punks wie dir nicht auf der Nase herumtanzen. Also verpiss dich mal schnell wieder, oder ich werde richtig ungemütlich.“ Damit stieß er ihn wieder zurück und Kian glaubte für einen Moment, ihm würde der Schädel explodieren. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen und Lichter und Farben begannen zu flackern. Er wollte etwas sagen, doch irgendwie schaffte er es nicht, ein vernünftiges Wort hervorzubringen. Wankend kam er wieder auf die Beine und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Irgendetwas lief hier gerade schief, so viel stand fest. Das laute Geschrei seines Nachbarn hallte in seinen Ohren wieder, Konturen begannen sich zu verzerren und er spürte ein seltsames Kribbeln in seinem Kopf. Nicht etwa in seinen Haaren oder auf seiner Haut, sondern in seinem Kopf drin, als würde sich da irgendetwas bewegen. Und auch in seinem rechten Auge begann es seltsam zu jucken. Es fühlte sich an, als würde sich etwas darin winden und sich bewegen. Um diesen Juckreiz loszuwerden, begann er sich das Auge zu reiben. Doch dieses Gefühl blieb, als würde sich in seinem Kopf etwas Lebendiges bewegen. Und es begann sich in seinem ganzen Körper auszubreiten. Was war nur mit ihm los? War das… war das eigentlich normal? Beende es… Wie mechanisch ging Kian zu seinem Haus, ohne weiter auf die Worte seines Nachbarn zu reagieren. Er ging die Treppe hoch in sein Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen und versuchte zu schlafen. Aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, weil der gottverfluchte Hund nicht aufhörte zu bellen. Um sich ein wenig abzulenken, schaltete Kian seine Lieblingsmusik ein und drehte sie auf eine Lautstärke, die für ihn in seiner jetzigen Kondition noch erträglich war. Trotzdem hörte er immer noch das Gebell dieses elenden Köters. Es war ein so nervendes Geräusch und es machte ihn rasend. Seine Hand verkrallte sich in das Bettlaken und die Kopfschmerzen wurden zu einem infernalischen Dröhnen und der Schmerz begann zu pulsieren. Beende es… Sein Blick wanderte zu seinem Wecker neben dem Bett. Seit zwei Stunden bellte der Hund bereits. Wieso um alles in der Welt bellt er die ganze Zeit eigentlich? Der müsste doch irgendwann mal heiser werden oder so. Gab es überhaupt Hunde, die ununterbrochen nur am Bellen waren, ohne einen ersichtlichen Grund zu haben? Kian setzte sich auf, da die Kopfschmerzen noch schlimmer wurden, wenn er sich hinlegte. Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm das kleine Döschen mit seinen Medikamenten und nahm zwei heraus. Zusammen mit einer Ibuprofentablette schluckte er sie und trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche in der Hoffnung, dass es ihm gleich besser gehen würde. Doch das Bellen des Hundes war für ihn einfach nicht mehr zu ertragen. Beende es… Na los! Beende es endlich! Kian hörte unten die Haustür. Es war sein Stiefvater Eddie, der offenbar von seiner Kneipentour zurückkam. Sicher war der erst mal stockbesoffen genug, um sich hinzulegen und einfach einzuschlafen. Soll der Kerl doch an Leberversagen verrecken… Wenigstens kam er nicht hoch, um ihn auch noch zu nerven. Es reichte schon, wenn der Hund ihm keine Ruhe ließ. Mein Gott, wieso bellt der Hund eigentlich die ganze Zeit? Es gab doch überhaupt keinen Grund dazu, immerhin war es draußen ruhig und es näherte sich auch niemand dem Haus. Müsste er nicht langsam mal von dem ganzen Gebell müde werden? Worauf wartest du? BEENDE ES ENDLICH!!! Als Kian wieder die Augen öffnete und auf die Uhr schaute, war es bereits kurz nach ein Uhr nachts. Wirklich geschlafen hatte er nicht, er war allerhöchstens bloß für zwei Stunden weggedöst. Seine Kopfschmerzen waren nicht mehr zu ertragen und ihm war furchtbar schlecht. Nur mit Mühe konnte er einen Brechreiz unterdrücken und setzte sich aufrecht hin, woraufhin sich eine kleine Besserung bemerkbar machte. Er schloss die Augen kurz und versuchte sich zu sammeln, doch da hörte er es wieder: den bellenden Nachbarshund. Wieso nur konnte der Hund nicht endlich Ruhe geben und damit aufhören, ihn so zu quälen? Dieses ganze Gebell war ja nicht zum Aushalten! Er musste etwas unternehmen, damit das endlich aufhörte. Er musste es… beenden. Wenn der Nachbar schon nicht aktiv wurde und sich wie das letzte Arschloch aufführte, dann hatte Kian keine andere Wahl. Wenn er endlich zu Ruhe kommen wollte, musste er diesem Terror selbst ein Ende machen. Langsam ging er in Richtung Zimmertür, zog seine Schuhe und seine schwarzen Handschuhe an. Im Haus war es still, offenbar war Eddie wirklich schon am Schlafen. Doch Kian kümmerte sich nicht darum und ging ins Wohnzimmer zur Terrassentür, von wo er aus in den Garten gelangte. In der Laube, wo seine Mutter all die Gartengeräte untergebracht hatte, fand er auch schon das, was er suchte. Ein japanisches Hackbeil, ein so genanntes Jigata Nata, welches sie mal für die Gartenarbeit genutzt hatte. Es lag gut in der Hand, sehr gut sogar und auch das Gewicht war ideal. Kian starrte die 25cm lange Klinge an und wirkte ein wenig neben der Spur, oder als wäre er nicht ganz bei Sinnen. Das Bellen des Hundes hatte kurz aufgehört, aber er wusste nur zu gut, dass der Köter gleich wieder anfangen würde, wenn er dem nicht ein Ende bereiten würde. Und solange fand er keine Ruhe und auch die Kopfschmerzen würden nicht aufhören. Mit Leichtigkeit kletterte Kian über den Zaun und landete im Nachbarsgarten. Der Hund, aufgeschreckt durch den plötzlichen Eindringling im Garten, kam zu ihm gerannt und begann in einer unerträglichen Lautstärke zu bellen und zu knurren. Er war sauer und sah aus, als wollte er gleich angreifen. Doch in dem Moment, als der Vierbeiner sich auf den 16-jährigen stürzte, schlug dieser mit dem Hackbeil und traf ihn in den Kopf. Ein leises, kurzes Winseln war das Einzige, was das Tier von sich gab, bevor ein weiterer Schlag ihn endgültig tötete. Kian hielt kurz inne und sah sich um, ob er vielleicht jemanden geweckt hatte. Aber die Fenster der Nachbarn blieben allesamt dunkel. Niemand hatte etwas gemerkt… Am nächsten Morgen wachte Kian ohne Erinnerungen an die gestrige Nacht in seinem Bett auf und fühlte sich vollkommen erholt. Selbst seine Kopfschmerzen waren weg und er war gut gelaunt, voller Tatendrang und freute sich auf die Entlassung seines Bruders aus dem Krankenhaus. Nur eines verwunderte ihn doch schon: Seine Handschuhe waren tropfnass von Wasser, an seinen Schuhen klebte Dreck und unter seinem Bett lag das Hackbeil aus der Gartenlaube. Und der Hund des Nachbarn blieb ruhig. Ob dem Tier wohl irgendetwas passiert war? Vielleicht war er auch ausgebüxt… bei dem Nachbarn würde er gut verstehen. Aber wieso um alles in der Welt hatte er das Hackbeil seiner Mutter unter dem Bett liegen? Er nahm es in die Hand und sah es sich an. Außer ein paar Kratzern durch die jahrelange Abnutzung sah es ganz gewöhnlich und normal aus. Und er konnte sich auch nicht erinnern, es irgendwann mal dort hingelegt zu haben. Also stand er auf und nachdem er sich angezogen hatte, brachte er das Hackbeil in die Gartenlaube zurück. Er hatte auch keine Lust, sich Gedanken zu machen, wie das Ding denn unter sein Bett gelangt war und wieso seine Handschuhe tropfnass waren. Heute würde Ryan aus dem Krankenhaus entlassen werden und das musste erst einmal gefeiert werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)