Die Chroniken von Khad-Arza - Die andere Seite des Himmels von Linchan (Drittes Buch) ================================================================================ Kapitel 16: Der Wille meines Vaters ----------------------------------- Die Schwärze war fort. Iana zitterte, während sie am Fenster in der Kammer stand und hinaus sah in das goldene, Hoffnung bringende Licht, das sich über die ganze Unendlichkeit um sie herum ergoss und ihnen Wärme brachte. Was immer das für ein Gebiet war, das sie jetzt durchquerten, es war voller Leben und voller Hoffnung. Ein merkwürdiges Gefühl, das sie schon wieder beinahe vergessen hatte nach allem, was in der letzten Zeit passiert war. „Was habt ihr eigentlich gemacht mit seinem Arm, Himmel und Erde?“ Die Frau schreckte aus ihren Gedanken auf und fuhr herum zu Neisa, die auf der Bettkante bei Karana hockte und wohl damit fertig war, seinen malträtierten Unterarm wieder ganz zu zaubern. Obwohl von seinem Arm kaum noch etwas übrig gewesen war, war Scharans Fluchmal noch – oder wieder – da, als wäre nie etwas passiert; Iana sah zu, wie ihre Schwägerin Karanas Arm verband. Er schlief oder tat so, sie wusste es nicht genau; seit er aufgewacht war, war er in einem eigenartig lethargischen Zustand, er sprach kaum, er wirkte unruhig und wie ein gehetztes Beutetier, das von allen Seiten von Räubern umzingelt war... sie schauderte selbst unwillkürlich bei der Erinnerung an die bizarre Szene, als er aus seinem Koma erwacht war, voller Wahnsinn und voller Schatten... sie hatte sie gespürt, sie hatten nach ihr geangelt und sie hatte Panik gehabt. „Ich weiß nicht.“, sagte sie so nur eisern zu Neisa und die Heilerin schenkte ihr einen stummen Blick. Dann seufzte sie, ließ Karanas Arm los und erhob sich von der Bettkante. „Seine Seele wandelt... im Schatten.“, sagte Neisa und Iana sah sie an, als sich die verschiedenen Augen der Kleineren auf ihr Gesicht hefteten mit einer Intensität, die sie in Neisas Augen noch nie gesehen hatte. Sie spürte, dass irgendetwas in ihr sich rührte, wie eine alte Erinnerung, die wach wurde bei dem durchdringenden Blick, und sie hatte plötzlich das Gefühl, dass ein Teil ihrer Seele Neisas Blick kannte... ihn gut kannte, ihn oft gesehen hatte und ihn vermisst hatte. Keuchend fuhr sie zurück, weil unmittelbar nach diesem Gedanken ein stechender Schmerz durch ihren Kopf fuhr. „Sei vorsichtig... mit Karanas Geist, Iana. Obacht, denn er ist... unberechenbar, wenn der Einfluss des Schattendämons... zu groß für ihn wird.“ Das sagte sie, dann war der seltsame Moment vorbei und Neisas Gesicht entspannte sich; Iana starrte sie an und fragte sich, ob diese Frau jetzt zu einer zweiten Ryanne mutierte. Neisa lächelte etwas verstört. „Wie... wie geht es dir? Ich meine, du bist schwanger, du solltest auch auf dich acht geben... auf das Baby, das unter deinem Herzen wächst. Wenn du irgendetwas brauchst, komm ruhig. Ich... als Heilerin kenne mich von dem Chaotenhaufen hier wohl am besten damit aus... schätze ich.“ Sie ging, aber Iana konnte ihr keine Gedanken mehr schenken, als sie die Hand unwillkürlich auf ihren flachen Bauch legte. Darunter war das Kind... Karanas Kind, und der Gedanke verursachte in ihr zugleich Herzklopfen wie auch Angst. Sie wusste nicht, ob sie bereit war für ein Kind... für ein Leben als Mutter. Der Gedanke war seltsam... sie hatte schon so lange keine Familie mehr gehabt. Sie war zehn gewesen, als ihr Vater gestorben war... das war jetzt einige Jahre her. Und jetzt trug sie selbst ein Kind, dessen Mutter sie sein würde... wenn sie alle überlebten. Sie senkte den Blick auf Kadhúrem, das Kurzschwert ihres Vaters, das an ihrem Gürtel befestigt war. Sie berührte es mit den Fingern und wusste nicht genau, was sie fühlen sollte... das Schwert war mächtig, das hatte sie gemerkt. Es hatte eine Art Macht über sie, über ihren Geist, wenn sie es benutzte... das verwirrte sie und sie wusste nicht, woher es eigentlich kam. Was passierte mit ihr seit neuestem? Es war schon einige Male passiert, dass Kadhúrem für sie gesprochen hatte... für sie gedacht hatte. Irgendetwas war in ihr, das nicht Iana Lynn war, nicht Akada, nicht die Tochter einer Lianerin und eines Magiers aus Kadoh. Irgendetwas Fremdartiges war in ihrem Inneren und der Gedanke macht ihr Panik. Sie drehte Karana den Rücken zu und sah wieder aus dem Fenster in das Hoffnung bringende Licht des seltsamen Gebietes, das sie mit dem Schiff durchflogen auf dem Weg dorthin, wo die Trias lag. Der Anblick beruhigte sie, obwohl sie tief im Inneren aufgewühlt blieb. In ihrem Kopf hallten Karanas Worte wider, die er in seinem Wahn nach dem Aufwachen gezischt hatte. „Ich bin nicht deine Made, Scharan! Ich bin... ich bin Karana und ich... ich werde verdammt noch mal nicht vor dir kriechen! Du wirst fallen und ich... werde es sein, der dich hinein stößt in den Schatten!“ Nimm dich in Acht vor Karanas Schattengeist... er ist unberechenbar unter Manhas Einfluss. Sie schauderte und sah an ihren Armen Gänsehaut entstehen, weil sie das Gefühl hatte, dass sie beobachtet wurde. Als sie sich umdrehte, sah Karana sie direkt an. Er hatte sich aufgesetzt und lehnte jetzt an der Wand, an der die Pritsche stand. Sie fühlte sich dumm, weil sie nicht bemerkt hatte, wann er aufgewacht war, aber ihr Mann sprach, ehe sie hätte weiter denken können. „Ich war die ganze Zeit wach, Iana.“ Sie war gewohnt, dass er ihre Gedanken kannte, deswegen sagte sie lange nichts. „Geht es dir besser?“, fragte sie dann und er zuckte die Achseln. „Ich glaube schon. Mein Arm sieht wieder aus wie ein Arm und nicht wie ein von Hunden abgenagter Fleischrest... das ist ein Fortschritt.“ Dabei grinste er, als er auf seinen linken Unterarm sah, und Iana senkte den Blick. „Ich meine nicht... körperlich besser, Karana.“, sagte sie dumpf, „Geht es dir... auch im Inneren gut? Weißt du wieder... wer du bist?“ Darauf erntete sie einen langen, schweigsamen Blick. Karanas Augen waren grün; er hatte schöne Augen, aber das lag daran, dass er Karana war, denn an ihm war alles schön, bis auf den Schatten in seinem Geist. Sie errötete bei den albernen Gedanken. Karana antwortete nicht auf ihre Frage und sie dachte sich, er würde nichts mehr sagen wollen, also setzte sie sich mit einem nervösen Seufzen zu ihm auf die Pritsche. Er hob den gesunden Arm und strich ihr versonnen durch die schwarzen Haare, über ihren Hals, ihre Schulter, hinab über ihren Rücken. Es waren zärtliche, einfühlsame Berührungen; in nichts ähnelten sie dem, was Karana noch vor kurzer Zeit verkörpert hatte – Hass und Schatten, eine Mischung aus purer Bosheit und einer perversen, obskuren Macht. Er war Karana... wenn sie so neben ihm saß und er sie berührte, spürte sie, dass er Karana war, nicht irgendjemand anderes. „Was... was geschieht mit uns?“, stammelte sie, „Warum sind wir... so, Karana? Wieso ergreifen irgendwelche toten Geister von uns Besitz und warum sind wir nicht... stark genug, uns dagegen zu wehren? Ich... bin nicht ich, wenn ich Kadhúrem benutze. Es spricht... mit mir. Für mich... du hast es erlebt. Das macht mir Angst, ich weiß nicht, warum es das tut... und was... es überhaupt tut.“ Er sagte nichts, er streichelte sie nur, ihren Rücken hinab, dann zurück zu ihrem Arm, und er nahm ihre Hand in seine und hielt sie fest, ehe er doch noch antwortete. Dabei lächelte wehmütig. „Ah... ich weiß, was du meinst. Dann... bist du wie ich... meine Königin.“ Ryannes Zeichnungen waren überall, aber Ryanne war nirgends. Yarek zog in einer Ruhe, die er nicht spürte, an seiner Kippe und betrachtete eine Weile konfus das Wirrwarr aus Strichen, Kringeln und anderen geometrischen Formen, das an der Wand ihm gegenüber war und niemandem weiterhalf. Jede Höhlenmalerei war aufschlussreicher als das komische Gekrakel der Seherin, wenn sie nicht gerade einen detailgetreuen Penis zeichnete, die erkannte man verblüffenderweise immer. Es war egal, wohin er ging, er fand überall irgendwelche Kritzeleien an den Wänden der Tari Randora, auf den Fußböden der stählernen Gänge und manchmal sogar an den Decken. Er wollte nicht wissen, wie Ryanne an die Decke gekommen war, so groß war sie nicht, aber vermutlich konnte sie das per Teleport. Viel beunruhigender als die zahlreichen, irrsinnigen Zeichnungen war, dass die Seherin nirgends war. Yarek war nervös, wenn sie nicht da war, denn wer wusste, was sie für einen Mist baute, wenn sie mal wieder ihr Gedächtnis verlor oder ihre manischen Momente hatte. Diese Frau war echt kompliziert... er hätte sich nie mit ihr einlassen sollen. Manchmal fragte er sich, wie er überhaupt hier gelandet war. Als er klein gewesen war, in Kuyala, wo es nichts gegeben hatte als Sand, Staub und Dreck, hatte er nicht im Traum geglaubt, er würde Kuyala einmal verlassen. Oder gar Tharr. Oder ganz Khad-Arza. Und jetzt stand er hier in einem Raumschiff, starrte auf Ryannes Gekrakel und fragte sich, wo die hirnamputierte Seherin stecken mochte. Der Tabak schmeckte komisch, er war langsam alt. Yarek erinnerte sich noch daran, wie er zum ersten Mal geraucht hatte, er war noch ein dummer Junge gewesen und hatte nackt in Chenoas Bett gelegen, nachdem er zum ersten Mal mit ihr geschlafen hatte. Dann hatte sie eine geraucht und ihm eine angeboten. Die Gedanken an Chenoa waren ernüchternd... Chenoa war ein Mysterium, er hatte sie nie ganz verstanden; obwohl sie ihn sieben Jahre lang alles gelehrt hatte, was er heute wusste (fast), war sie immer zu komplex für ihn gewesen, letzten Endes war er nur ein Mensch... nur ein Nichtmagier. „Meinst du... sie weiß überhaupt selbst, was all ihre Bilder bedeuten?“ Yarek fuhr vor Schreck zusammen, so aus seinen Gedanken gerissen, und ihm fiel seine Kippe aus dem Mund, als er fluchend herum wirbelte und seine heftige Reaktion sofort bereute. Vor ihm stand Eneela, die jetzt schaudernd zurückwich, offenbar zu Tode erschrocken, genau wie er. „Verdammt, Mädel, schleich dich net so an, wat denkst'e dir?!“, murrte er und vergaß dabei, Hochsprache zu sprechen, er sammelte seine Kippe vom Boden auf und schob sie sich wieder zwischen die Lippen. Eneela starrte ihn an und er fragte sich, ob der Dialekt aus Kuyala so schwer für sie war, dass sie ihn nicht verstanden hatte; da sprach sie wieder. „E-es tut mir leid... Yarek. Ich wollte dich nicht erschrecken... ich...“ Sie druckste verlegen herum und er seufzte, nahm die Zigarette aus dem Mund und blies den Rauch in den Korridor. „Schon gut, wir leben noch.“ „Wer weiß, wie lange noch.“, murmelte Eneela erstaunlich finster und er sah sie dumm an. „Dann denkst du, wir gehen unter, weil die Seherin immer von Schatten quasselt? Hör nicht auf sie, sie ist geisteskrank.“ Eneela errötete. „Du schimpfst immer über sie. Aber sie hängt so an dir. Liebst du sie... Yarek?“ Er musste vor Verblüffung über diese Frage lachen. „Was soll das denn jetzt werden? Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Eneela. Du hast ja wohl genug eigene Sorgen.“ Jetzt wurde sie noch röter, aber er hatte langsam kein Mitleid mehr mit ihrer zart besaiteten Persönlichkeit. Es war an der Zeit, dass Eneela erwachsen wurde, weil man nicht alles mit Erröten und Stottern lösen konnte. Ihr das ins Gesicht zu sagen hielt er allerdings für taktlos; es war Simus Aufgabe, Eneela in den Arsch zu treten, nicht seine. Er war lediglich der Beschützer der Sieben. „Wo ist sie?“, stammelte die Lianerin und Yarek zog an seiner Kippe und sah die Zeichnungen an. „Wer, Ryanne? Keine Ahnung, ich suche sie schon. Und was ihre Bilder sollen, weiß ich auch nicht. Manchmal versucht sie, mir eins zu erklären, aber ich bin dafür nicht gemacht. Ich bin kein Seher.“ „Denkst du, sie... sie ist so... komisch, weil nie jemand sie versteht?“, fragte die Lianerin und das ließ ihn stutzen. „Ich meine... ist sie nicht einsam? In ihrem Kopf... sind diese ganzen Dinge, die nur sie versteht und die sie mit niemandem teilen kann...“ Yarek schwieg eine Weile, dann räusperte er sich. „Ich glaube, ihr Kopf ist innen hohl.“ „W-was?!“ „Sie hat keine Erinnerung an ihr eigenes Dasein, zumindest meistens. Was in ihrem Kopf ist, sind nur temporäre Visionen, Dinge, die sie sieht oder so, die sind nicht immer da. Wenn sie weg sind, ist da nichts. Ich sage nicht, dass... das leichter ist. Ich möchte... nicht mit ihr tauschen.“ Darauf schwieg die Lianerin und sagte nichts mehr, bis er es leid war, sie schweigen zu hören, und er verabschiedete sich mit einem Grummeln und setzte seine Suche nach der durchgeknallten Seherin fort. So schwer konnte das doch nicht sein, das Schiff war so groß nun auch wieder nicht... Es war finster. Kyeema sah aus dem Fenster und sah, dass Licht da war, aber es war trotzdem finster. In ihrem Inneren war alles finster, und sie zitterte und wusste nicht warum. Vor Kälte? Vor Zorn? Vor Panik? Vielleicht war es alles zusammen. Sie wusste gar nichts, nur, dass sie am Fenster stand und es finster war, obwohl es Licht gab. Und sie zitterte... in ihrem Kopf waren Stimmen. Garstige Stimmen, die immer da waren seit sie in den Schatten gefallen war, den dieser Bastard Chimalis auf sie gesprochen hatte. Sie wisperten und sie waren garstig... sie sprachen von Tod und Intrigen. „Dein Leben ist eine einzige Lüge. Kennst du deine eigene Mutter? Nein. Es könnte jede Sklavin gewesen sein... und nicht zwingend die, die du dafür gehalten hast, bis sie tot war.“ Kyeema legte sich bebend die Hände auf die Ohren, sie wollte nichts hören. Die Stimmen lachten sie aus und in ihren Augen brannten Tränen, weil es so finster war. Es war so finster... sie hatte Angst im Dunkeln. Sie fragte sich, seit wann; soweit sie sich erinnerte, hatte sie das früher nicht gehabt. Das war eine andere Dunkelheit gewesen. Das hier war Schatten, und er fraß sie auf, obwohl draußen Licht war. Kyeema wimmerte. „Dummes Mädchen... kennst du deinen eigenen Vater? Kennst du deine eigene Schwester? Kennst du irgendwas?“ Sie presste die Hände fester auf die Ohren, aber das machte es nur schlimmer; die Finsternis zerrte an ihr, obwohl draußen Licht war, und die Lianerin japste verzweifelt und wollte sie vertreiben, wollte sie vernichten – sie würde Barak beschwören und sie alle zerfleischen, sie würde sie in Stücke reißen, die Geister, die sie so quälten... „Dein Leben ist eine einzige Lüge. Und du weißt es... wenn du auf das Herz hörst, das du... vielleicht nicht hast.“ Sie fuhr zusammen, als sie plötzlich spürte, dass jemand hinter ihr war. Als sie sich umdrehte, stand vor ihr der Zuyyanertyp. Er war ein gutes Stück größer als sie, sodass sie den Kopf sehr anheben musste, um in sein Gesicht sehen zu können. „Wovor hast du Angst... Kyeema?“, fragte der Mann sie grinsend und sie erbleichte, falls sie das konnte. Es war so finster. Sie presste sich japsend gegen die eiskalte Wand hinter ihr, neben das Fenster, aus dem Licht kam. Licht, obwohl es finster war. Sie hatte Angst... sie zitterte. „Was... willst du?“, brachte sie gepresst heraus, „Lass mich... in... Frieden.“ „Nur nicht zu freundlich.“, sagte Yamuru Mirrhtyi und hob seinen Kopf noch etwas, wie um sie dazu aufzufordern, ihren eigenen noch mehr zu heben, wenn sie weiterhin sein Gesicht ansehen wollte, ihm dabei unfreiwillig die Kehle hinstreckend. „Ich sehe nach dir, weil der Meister keine Zeit hat. Leidest du unter Zoras Derrans Schattenfluch? Ja, ja, Hochmut kommt vor dem Fall.“ „Wenn du... gekommen bist... um... mich zu... demütigen... geh!“, zischte sie ihn und es fiel ihr schwer, sich zu artikulieren; sie schämte sich, vor ihm so schwach da zu stehen; sie war das Lieblingskind ihres Vaters. Des Mannes, der sie aufgezogen hatte, denn Ulan Manha war nicht wirklich ihr Vater. Sie war Lianerin und er war Schamane... aber zu ihr war er ein Vater gewesen, seit sie denken konnte. Seit ihre Mutter gestorben war. Sie bebte und es war so finster. Yamurus Gesicht war abartig schön; nicht, weil sie ihn anziehend gefunden hätte, überhaupt nicht, er war nicht ihr Typ. Und das, was er ausstrahlte mit seiner ganzen Existenz, ließ sich ihr die Nackenhaare aufrichten, weil sie spürte, dass er voller Bosheit war. Dass er gefährlich war... in seinem magentafarbenen Auge war eine Boshaftigkeit, die sie schaudern ließ, wenn sie ihn ansah... und das war noch harmlos im Vergleich mit seinem anderen Auge, dem Reikyu-Auge. Yamurus linkes Auge war der pure Tod... sie sah ihn an und wusste, dass sie sterben würde, sobald er es nur wollte. Nur ein Blick... und sie würde in den Schatten fallen und nie mehr zurückkehren. Sie zitterte... weil er sie ansah, auf sie herabsah und sie genau wusste, dass er es genoss, mehr Macht zu haben als sie im Moment. „Arme Kyeema...“, seufzte er und lächelte dabei, „So verzweifelt kämpfst du... um einen Stolz, den du längst verloren hast. Der Schattenzauber ist stark... er wirkt sich auf dein Gemüt aus, nicht? Er macht dich paranoid... du siehst überall Finsternis.“ Sie stockte, aber das Zittern kehrte sofort zurück. „Du willst sie vernichten... Zoras Derran... Karana... Neisa... all diese Wichte. Ist es nicht so?“ Sie zischte. „Was geht... dich... das an?“ „Ich kann... dir helfen.“, flötete er und sie starrte ihn an. Ihr helfen? Den Zauber aufheben? „Wie das? Du... bist... kein Schamane. Zuyyaner können nicht... Schamanenmagie aufheben.“ „Ich kann viel mehr, als du weißt.“, sagte er zu ihr, dann beugte er sich zu ihr herunter und sie drückte sich japsend mit wachsender Panik gegen die eisige Wand, als sie seinem abartig schönen Gesicht plötzlich direkt gegenüber war, Auge in Auge. Die Luft gefror, sie konnte es spüren, und sie wusste, dass er es war, der das Element Eis so manipulierte, dass es den Raum kalt machte. Sie schauderte und der Schatten in ihrem Inneren pochte. „Ich kann ihn verschließen... den Schatten. Und dir die Macht geben, sie alle zu zerfetzen... für deinen Vati, den du so... liebst. Ist das nicht was? Bin ich nicht gütig, Kyeema?“ Das war zu nett, um wahr zu sein, hatte sie das Gefühl. In ihrem Inneren brodelte es. „Du lügst.“, sagte sie, und Yamuru grinste sie an. „Willst du die Macht oder nicht? Willst du gefangen sein in deiner Paranoia, Kyeema? Oder willst du die Stärke finden, Vati stolz zu machen... kleines Püppchen?“ Er strich ihr durch die weißblonden Haare. Sie schlug seine Hand unsicher weg und errötete, als sie zischend das Gesicht abwandte. Die Finsternis pochte... die Stimmen kehrten zurück und lachten sie aus. „Dummes Mädchen... eine einzige Lüge. Dein Leben... so wertlos.“ „Ich bin... nicht... wertlos!“, japste sie und der Zuyyaner lächelte sie von oben herab an. „Soll ich ihn aufheben? Den Zauber... ich kann das machen. Du musst es wollen.“ Das junge Mädchen ballte ergrimmt die Fäuste. „W-was... verlangst du?“ Er antwortete nicht gleich, sodass sie hoch sah in sein Gesicht; der Blick, den er ihr schenkte, übertraf alle Maßlosigkeit an Bosheit, die sie kannte, und er ließ sie straucheln, weil das Reikyu-Auge gefährlich blitzte. „Küss mir die Füße.“ Sie erinnerte sich nicht an den Moment, in dem ihre Knie wie auf Kommando nachgaben. Sie erinnerte sich nur, wie sie plötzlich am Boden auf allen Vieren stand, den Kopf über seinen Fuß gebeugt, ohne den geringsten Widerstand, und der Schatten war verschwunden. In ihrem Kopf war das Licht... und es war grün wie die Farbe der Reikyu, die Yamuru mit seiner Hand beschworen hatte in dem Moment, in dem sie das Gesicht senkte und ihm die Füße küsste, wie er verlangt hatte. Yamuru hatte kein ernsthaftes Interesse jeglicher Art an Kyeema, Scharans Lieblingswerkzeug. Aber sie hatte keine starke Seele. Sie zu brechen war irrsinnig einfach, erst recht dank Zoras Derrans nettem Schattenzauber, der das Mädchen paranoid gemacht hatte; wie leicht war es gewesen, sie dazu zu bringen, sich freiwillig zu seiner Sklavin zu degradieren? Yamuru war zwar Großmeister des Eises, aber nicht Großmeister darin, Menschen mit der Reikyu zu manipulieren; eine Art von Magie, die Zuyyaner oft beherrschten und die viel grausamer und effektiver war als physische Elementarmagie. Daran, dass er ohne auch nur den geringsten Aufwand Kyeemas Seele und ihr Unterbewusstsein in die Hand nehmen und drehen konnte, wie er es haben wollte, merkte er, wie schwach sie war... er hatte noch nie jemanden so einfach manipulieren können, das war fast schon zu einfach. Aber es war egal... es war immer von Vorteil, ein As im Ärmel zu haben, wenn es hart auf hart kam. Und Manha misstraute ihm zu sehr... der sollte sich hüten. Wenn Manha seine Schamanenbande gegen ihn intrigieren ließ, würde er Kyeema nehmen... so einfach war das. Die Gedanken an Ulan Manha stimmten den jungen Mann nachdenklich, als er die paranoide Lianerin zurückgelassen hatte und etwas desorientiert auf dem Korridor stand, nicht genau wissend, was er als nächstes tun sollte. Sie hatten den Morgennebel erreicht... es war nicht mehr weit bis zum Yirana-Nebel, dem letzten Ort, oder mehr Unort, den sie passieren müssten, ehe sie die Trias fänden. Laut Thiras Karte zumindest. Und die Zeit lief... aber Scharan hatte genug Muße, sich über Karanas Frau aufzuregen; und wie er das tat. Plötzlich war Neisa, Karanas Schwester, die er doch so dringend gewollt hatte, unwichtig, viel schlimmer war plötzlich die Halblianerin, die Karanas Frau war... er fragte sich, warum Manha Angst vor ihr hatte. Er war unaufmerksam gewesen, stellte er fest, als er nach rechts sah und sich fast darüber erschrocken hätte, dass dort jemand stand. Yatli, der Angsthase, Manhas kleines Wutventil. Er sah geschlaucht aus; Yatli war an sich schon eher klein für einen Mann, klein und schmächtig, aber jetzt wirkte er schlimmer als das. Yamuru wollte nicht wissen, was Manha mit ihm alles gemacht hatte in seinem Zorn, seit er Henac Emo nicht mehr für seine perversen Fetische hatte, der ihm zwanghaft zu Gehorsam verpflichtet gewesen war. Yatli war das nicht... Yatli hatte nur nicht die Macht, Scharan zu trotzen. Würde er es wagen, würde er sterben, und Manha war gut darin, Leuten ins Gehirn zu blasen, dass er ihr alleiniger Retter und Helfer war. So musste er es mit all diesen Schamanen getan haben, die ihm folgten und sich von ihm befehligen ließen... keiner von denen trug das Schmerzmal, das sie unter Scharans Befehle zwang. Sie folgten ihm freiwillig... aus irgendwelchen Gründen. Das sagte genug über ihre Charaktere aus, irgendwie verdiente doch keiner von denen das Leben. Nicht mal Turo, der ein Gehirn hatte – wenn er es an so ein Himmelfahrtskommando wie das hier verschwendete. „Was suchst du denn bei Kyeema, Zuyyaner?“, wollte das Wutventil wissen und Yamuru war zu sehr Zuyyaner, um sein Erstaunen über die plötzliche Anwesenheit dieses Kerls irgendwie preiszugeben. Er lächelte unerschütterlich falsch. „Nicht deine Angelegenheit, nicht wahr, Yatli?“ „Alles klar, mach keine Schweinereien mit Manhas Tochter. Ich meine, ist sie das etwa nicht? Hat Turo das nicht selber gesagt?“ „Hat er. Und wenn es das ist, was dich besorgt, sei beruhigt, Yatli... Zuyyaner und Tharraner sind nicht ernsthaft kompatibel.“ Der Kleinere runzelte dumm die Stirn und schien das nicht zu begreifen, so schenkte Yamuru ihm einen mitleidigen Blick. „Wenn du Zuyyaner und Tharraner kreuzt, kriegst du sowas wie die Ekalas. Dann kriegst du Schreckgespenster wie Salihah Lyra oder Ryanne der Yalla.“ Oder man bekam Simu Ayjtana, der sich dafür, dass er der Sohn einer tharranischen Dorfnutte war, echt gemausert hatte. Yamuru erinnerte sich nicht wirklich an Nodin Ayjtana, den obersten General des Imperators; als er hingerichtet worden war, war Yamuru selbst kaum vier Sommer alt gewesen. Seine Schwester hatte ihn aber geschätzt und gut von ihm gesprochen, Chenoa hatte das auch. Dinge, in denen Chenoa und Ngnhana einer Meinung gewesen waren, waren selten, das war bedeutungsvoll. Der Zuyyaner musterte Yatli einen Moment, ehe ihm ein Gedanke kam, der ihm vielleicht Fragen beantworten würde. „Sag... kennst du die Geschichte von Iana Lynn, Karanas Frau, Yatli?“ Der Dunkelhaarige starrte ihn an und schwieg eine lange Zeit. Dann verengte er mürrisch die gehässigen Augen zu Schlitzen. „Die Schattenkönigin, die Kadhúrem trägt?“, knurrte er dann, „Hör bloß mit ihr auf. Ihretwegen kann ich den Rest der Reise nicht mehr sitzen, der Kerl bringt mich um.“ Yamuru verkniff sich einen Kommentar. „Dann kennst du sie also. Verrate sie mir. Was genau hat es mit ihrer Familie auf sich, dass Scharan solchen Schiss vor ihr hat?“ Yatli zischte. „Warum sollte ich ausgerechnet dir das sagen, wenn der Meister es nicht selbst tut?“ Ohne seine Mimik zu ändern zog Yamuru die Hand hoch, um seine grüne Reikyu heraufzubeschwören, die im fahlen Licht des Korridors matt leuchtete. Yatli fuhr automatisch zurück. „Nun, weil ich... da weitermachen kann, wo dein Peiniger gerade aufgehört hat... damit du niemals wieder sitzen kannst.“ Sein Gegenüber schauderte. „Das... meinst du ernst? Ich wusste gar nicht, dass du so gepolt bist.“ „Oh, nicht doch. Natürlich tu ich dir den Gefallen nicht persönlich, sagen wir, eine gute Illusion in deinem Unterbewusstsein löst das Problem, ohne dass ich dich auch nur anrühren muss...“ Er sah zufrieden, wie der Kleinere erbleichte, dann unruhig nach links sah, zu Boden, wieder nach oben in sein Gesicht. Er bebte, als er sprach. „Ich weiß nicht viel. Emo hat Dinge rausgefunden in irgendwelchen Annalen auf Tharr. Über ihren Vater. Er war... aus Kadoh, er war Schamane oder Halbschamane, Schwarzmagier. Seine Mutter stammte aus Dokahsan, sie kam als Kind nach Kadoh und ihr Sohn, Ianas Vater, wurde dort geboren. Sie hieß nicht Lynn, sie hieß irgendwie anders, keine Ahnung, aber der Clan, aus dem die Mutter, Ianas Großmutter, stammte, beherrschte wohl eine seltene Technik, die es... ihnen ermöglicht, mit Gegenständen, die sie Gegnern abnehmen, auch deren Mächte zu übernehmen, wenn sie die Gegner töten. Oder so. Eigentlich ist das alles, was ich weiß. Offenbar kann die Tusse das, ohne dass sie es weiß, und das macht ihn wütend.“ Yamuru runzelte die Stirn; es war gut gewesen, zu fragen, jetzt machte wirklich vieles mehr Sinn. Durch abgenommene Gegenstände die Techniken eines Gegners zu übernehmen war ziemlich gerissen für die Tharraner. „Dann ist es Kadhúrem... dessen Techniken sie beherrscht.“, sagte er dumpf, „Die Frage ist nur... wessen Techniken das sind.“ Wem das Schattenschwert Kadhúrem einst gehört hatte, war zwar kein Geheimnis; das Problem war nur, dass es Ulan Manha gewesen war, der Nalani Lyra getötet hatte, und nicht Ianas Vater... und zu dem Zeitpunkt, zu dem die Schamanenkönigin, Puran Lyras Mutter, gestorben war, war Kadhúrem nicht mehr bei ihr gewesen. Manchmal erinnerte sie sich. Es waren nur brüchige Momente, sie waren so empfindlich wie der Flügel einer Libelle, und wenn man sie zu doll berührte, brachen sie. Wenn sie sich dann nur ein klein wenig erlaubte, die Konzentration auf den Moment zu lockern, war es vorbei... so viel Konzentration konnte sie aber nie aufbringen. Es war zu schnell, zu spröde, immer wieder. Immer, wenn sie glaubte, sie hätte einen Fitzel ihrer Erinnerungen in den Händen, glitt er ihr wie ein schlüpfriger, wabbeliger Fisch durch die Finger. Ryanne hasste Fische. Sie verabscheute Wesen aus dem Wasser, sie waren widernatürlich für jemanden, der in der Wüste geboren und aufgewachsen war. Fische waren für sie tote Tiere, die gar nicht lebten, die taten nur so... es gab kein grässlicheres, unheimlicheres Tier als den Fisch. Und sie verabscheute die Momente, in denen die Erinnerungen wie Fische an ihr vorbei schwammen und dann doch nicht greifbar waren... sie konnte kaum jemals begreifen, dass es eine Erinnerung war, die gerade kam, da war sie auch schon wieder weg und zurück blieb eine gähnende Leere in ihrem Inneren. Die Köpfe von Menschen waren voll mit Erinnerungen, je älter sie wurden, desto mehr wurden es, desto voller wurden ihre Köpfe. Ryannes Kopf war immer gleich. Einerseits war da nichts, was Menschen hatten, andererseits waren da Dinge, die die Sterblichen nicht besaßen. Sie hatte gleichzeitig gar nichts und doch viel zu viel auf der Welt gesehen, sie fühlte sich gleichzeitig wie ein kleines Kind, das nichts wusste, und doch wie eine alte Witwe, die tausend Zeitalter überdauert hatte und die der Leere überdrüssig wurde. „Der Abgrund der Schatten... ist nahe. Versteckst du dich vor der Finsternis, der du nicht ausweichen kannst?“, wisperten die Fische in ihrem Kopf, die nicht greifbar waren, und sie starrte durch die Leere in ihrem Inneren in die Zukunft; die Zukunft, die alles war, was sie hatte, weil sie keine Vergangenheit hatte. Manchmal wachte sie auf und wusste nicht mehr, wie sie hieß. Sie hatte zu viele Namen getragen... sie hatte zu viele Weltenenden gesehen. „Ich habe keine Angst.“, sagte sie zu den Stimmen. „Wenn man tausend Zeitalter existiert, ist man über Angst hinweg.“ Dann verstummten die Stimmen und Ryanne hockte auf ihren Fußballen am Boden, irgendwo, allein mit sich und der Leere, die sie einschnürte und drohte, ihr den Körper zu zerquetschen. Woran hatte sie gerade gedacht? Warum saß sie hier? Sie dachte an Fann und die Wüste, in der sie aufgewachsen war, und wunderte sich im nächsten Moment, woher sie eigentlich wissen wollte, dass sie dort wirklich aufgewachsen war. Fann... das war ein Wort. Ein Name... und sie wusste plötzlich nicht mehr, woher sie es kannte. Was es bedeutete. Oder warum sie überhaupt existierte. Keuchend riss sie den Kopf herum, als sie spürte, dass sie dem Schatten näher kamen... dem letzten, tiefsten Abgrund der Finsternis, an dem alles zu Ende war. Die Zuyyaner nannten es einen Unort und die Schamanen würden sagen, es sei der Himmelsdonner, der Ort, an dem Vater Himmels ewiger Zorn herrschte, der Ort, an dem Seelen zerschmettert wurden, die nichts anderes verdient hatten. Ryanne kannte alle Legenden und Sagen, in ihrem Kopf war aber eine eigene. Wenn das ein Ort war, an dem alles enden würde, vielleicht fand sie dort ihre Erinnerungen. Vielleicht fand sie dort einen Grund, aus dem sie existierte... den sie nicht wieder vergessen würde. Der Gedanke ließ sie euphorisch werden und sie lächelte; dann kicherte sie und schließlich lachte sie, weil die Vorstellung, sich an irgendetwas erinnern zu können, sie berauschte. Die Stimmen tadelten sie. „Die Erinnerungen einer Sterblichen machen dich kaputt. Danach zu suchen ist vergeudete Zeit...“ Sie nannten sie beim Namen. Falls es ihr Name war, Ryanne wusste nicht mehr, was ihr wahrer Name war. Wie sie geboren worden war. War sie das überhaupt? Nein... genau genommen war sie da gewesen. Schon immer. Das Schattenmädchen kam zu ihr. Sie sah es mit den inneren Augen, da die violetten Iriden des sterblichen Körpers, in dem sie wohnte, sie nicht sehen würden, ehe sie um die Ecke gekommen wäre; sie wusste lange, bevor Iana Lynn, Akada, in ihre Richtung blickte, dass sie zu ihr kommen würde. Sie wusste es, bevor Iana es selbst wusste, und als die Schwarzhaarige vor ihr stand und auf sie herunter sah, hob die Seherin mit einem apathischen Grinsen den Kopf. „Verwirrt bist du... hast du vergessen, wer du bist? Geht mir oft so.“ Iana verengte ihre blauen Augen darauf und Ryanne kicherte. Schwarze Haare und blaue Augen, die Ähnlichkeit war verblüffend. „Was zum Geier tust du hier, Ryanne?“ Ryanne. War das ihr Name? Es schien beinahe so... ihr vorübergehender, sterblicher Name. Die Blonde kicherte, ehe sie den Kopf senkte und begann, mit dem Finger auf den Stahlboden des Korridors zu malen. Sie hatte keine Farbe, aber sie selbst konnte sehen, was sie malte, obwohl sie nichts anderes tat als mit dem Finger über den Boden zu wischen. „Wir sind bald da.“, orakelte sie dabei grinsend, ohne Iana anzusehen. „Am Ort, an dem ich meine Erinnerungen finden werde. Da, wo alles endet...“ Sie erntete Schweigen. „Denkst du, wir... werden die Trias finden? Denkst du, wir... werden Manha töten und... es schaffen, was wir tun sollen?“ „Nö.“, flötete die Seherin und sie hörte das Schattenmädchen zischen. „Keine Ahnung. Ich sage, alles endet. Aber ich definiere nicht, was alles endet.“ Sie malte einen schönen, großen Fisch. Nein, Fische waren niemals schön, sie waren hässlich; sie waren Tiere des Todes. Tiere des Endes... ein würdiges Totemtier für den Ort des Endes von allem. Als sie sich gerade liebevoll den Schuppen des Totemtieres widmete, sprach Iana Lynn, Akada, das Himmelskind. „Was... was siehst du... in der Zukunft, Ryanne? Siehst du überhaupt irgendwas oder veräppelst du uns nur?“ Darauf musste die Frau grinsen. „Ich sehe... Tod und Schatten.“ „Was... siehst du in meiner Zukunft?“ Die Frage überraschte Ryanne nicht wirklich. Sie musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass Iana nervös und unzufrieden mit allem war. „Du trägst ein Baby im Bauch.“, stellte sie sachlich fest. „Oh, Karana ist gut im Babys machen, so scheint es.“ Iana verstand das nicht. Natürlich nicht, sie wusste nicht, dass sie nicht die erste Frau war, die Karanas Baby erwartete. Karana wusste es ja nicht mal selber. „Sorge dich nicht um dein Baby. Sorge dich gar nicht. Nicht um andere, denn das macht uns abhängig. Ein Gotteskind darf nicht abhängig sein... sonst fällt es... Akada.“ Ryanne sah sie jetzt wieder an und Iana erstarrte. Sie zitterte, als sie sprach. „Du kennst... den Namen, den mir mein Vater gab. Akada. Weißt du... was er bedeutet?“ „Er bedeutet Himmelskind.“, sagte die Seherin und widmete sich wieder ihrem Fisch, um ihm eine schöne, große Schwanzflosse zu malen. Nein, sie war hässlich. Sie sagte nichts mehr, denn Iana würde die Frage selbst stellen. „Was... für einen Bezug habe ich zu Kadhúrem, das mir... mein Vater schenkte? Es... ist so seltsam, ich weiß, dass du das wissen musst. Wissen musst, wieso... ich diese Dinge tue. Wieso ich mit Wasser zaubere und wieso eine... andere Seele in mir lebt, manchmal, ohne dass ich Einfluss darauf habe. Es liegt an Kadhúrem... w-was... macht es?“ Ryanne hob den Kopf mit einer Geduld, die Gewohnheit war, um der anderen Frau in das bleiche Gesicht zu sehen. „Schattenklinge... überträgt ihren Geist auf dich.“, sagte sie monoton. „Es ist dein Name. Der Name ist der Lebensgeist, oder? Wie ist dein Name, Akada?“ Iana schenkte ihr einen komischen Blick. „Iana Lyra.“ „Dein Mädchenname. Dein Name war der Wille deines Vaters... Akada. Die Buchstaben waren der Wille deines Vaters, denn die Buchstaben sind die Tür... die ihr Geist nur zu durchwandern braucht, um dich zu führen... wie eine Puppe.“ Der Blick, den Iana ihr schenkte, war köstlich. Ryanne schenkte ihr keine Beachtung mehr und freute sich auf den Abgrund. Auf den Moment, in dem sie vielleicht ein Ende dieser Seelenlosigkeit finden würde. In dem sie vielleicht Erinnerungen bekommen könnte... eine Vergangenheit, die sie nicht hatte. Karana fand keinen Schlaf. Er wusste nicht genau, wie lange er weg gewesen war, aber es war auch kein Schlaf gewesen. In seinem Kopf waren die Schatten seiner Träume und in seinem Herzen die Panik, dass er irgendetwas tun musste... aber er konnte nicht sagen, was es war. Irgendetwas übersehe ich. Irgendetwas entfällt mir... die ganze Zeit. In seinem Inneren bebte alles, wenn er an Iana dachte... oder an das Kind, das er ihr gemacht hatte. Oder an Neisa und Simu, seine Geschwister. An seinen Freund Tayson und an all die anderen. „Wenn du davon läufst, werden sie sterben... du weißt es, Karana. Wenn du die Macht nicht beherrschen lernst... wirst du sie töten, wie du deine Eltern getötet hast.“ „Nein!“, brüllte er und hielt sich keuchend die Ohren zu, wovon Scharans abstruses, kehliges Lachen aber nicht wegging. Der Fluch auf seinem linken Unterarm pochte und der Schmerz jagte durch Karanas Körper, sodass er japsend nach vorne kippte und sich bebend an der Pritsche abstützte, auf der er saß, heftig nach Luft schnappend auf die Decken starrend. Schatten... er sah ihn überall, er hörte überall Ulan Manhas Lachen – das Lachen seines Urgroßvaters. Er hörte die Worte, die er gesagt hatte, wieder und wieder, und sie machten ihn wahnsinnig. „Komm zu mir... wir sind eins, du und ich, Karana. Wir sind dazu bestimmt... weil du einen Teil von Kelars Geist trägst. Hast du es nie gespürt... diese Macht in dir? Das Verlangen in dir... sie alle kriechen zu lassen?“ Selbst deinen Vater... das rundherum perfekte, allmächtige Genie Puran Lyra. Warst du es nicht, der sich gewünscht hat, er würde... fallen, Karana? Er würde vor dir kriechen... statt dich immer zu bemängeln? Karana zischte und raufte sich stöhnend die braunen Haare, krallte seine Finger so brutal in seine Kopfhaut, dass er blutete; es war ihm egal, denn die Gedanken machten ihn verrückt. „Du hast sie umgebracht... mit deiner bloßen Willenskraft. Dank des Fluchmals... ist das nicht großartig?“ „Nein!“, schrie er auf, „D-das ist eine Lüge, Manha! Ich habe... i-ich habe das nicht getan!“ „Und was sagen die Visionen? Lügen sie?“ Karana wusste es nicht. Sein Vater sagte immer, Visionen logen niemals. Er fing an zu schreien, als er die Augen zukniff in der Hoffnung, die brutalen Bilder von all dem Gemetzel würden aus seinem Hirn verschwinden; vergebliche Hoffnungen. Naivität. Er wollte die Geister fragen... er wollte Vater Himmel fragen, ob Manha die Wahrheit sagte. Er wollte wirklich... aber er konnte nicht, denn in seinem Geist war keine Kraft für eine Beschwörung der Mächte der Schöpfung. Da war nur Schatten... da war nur Manhas Lachen. „Angst...“, schnarrte der Mann in seinem Kopf, „Angst macht uns sterblich. Sie macht uns schwach. Angst... um andere. Angst davor... die Wahrheit zu sehen, die man längst im Herzen gesehen hat. Fürchtest du um Iana? Um deinen Sohn, der in ihrem Bauch wächst? Fürchte dich, Karana... und du wirst scheitern.“ „Halt die Klappe...“, keuchte Karana und in seinem Inneren wütete der Schattendämon, riss an ihm, beschwor in ihm eine Wut, die sich anfühlte, als wäre sein Blut zu flüssigem Feuer geworden. Er wollte ihn zerreißen... den Bastard, der es wagte, ihn so zu unterwerfen. Den Hurensohn, der seiner Frau und seinem ungeborenen Kind schaden wollte... seiner geliebten Schwester, seinem Bruder, seinen Freunden. Seinem Vater... dem Mann, den Karana von allen Männern der Welt für immer am meisten verehren würde. „Ja... spüre deine Wut, Karana.“, lachte Manha in seinem Kopf, „Spüre deinen Hass, beherrsche ihn, wie er dich auch beherrscht. Die Macht... des Fluchs ist da, du fühlst es, nicht wahr? Du bist vom Blute Kelar Lyras... genau wie ich. Du hast die Zähne... die Fänge des Dämons. Genau wie ich. Hast du Angst... Karana?“ „Halt die Klappe!“, brüllte er lauter, und er riss den Arm zur Seite und schleuderte seine angestaute, geballte Wut mit einem Schrei auf die Wand der Kammer, wo sie sich in Form einer Katura entlud und eine kopfgroße Delle hinterließ, ehe der Windzauber sich mit einem Krachen auflöste und Karana bebend auf die Beine sprang. Manhas Stimme verstummte, aber das Mal auf seinem frisch bandagierten Arm flammte auf vor Schmerz, sodass er zischend nach der ewigen Wunde griff, sich zwingend, sie nicht schon wieder zu zerfetzen... es würde nichts bringen. Das Mal würde da bleiben, solange Manha lebte. Und wenn er nicht lernte, es zu beherrschen, würde es ihn um den Verstand bringen... und er würde in den Schatten fallen. Fall, Karana... hinab in die Finsternis, die du selbst dir gebaut hast. Wenn du dich fürchtest... wirst du scheitern. Weil du schwach bist... mit nur einer halben Seele. „Wir sind eins... und du weißt es, Karana.“ In der Finsternis in seinem schmerzenden Schädel tauchte die Seherin auf. Sie tanzte mit ihren anmutigen, erotischen Bewegungen durch seine Schattenwelt und Karana keuchte, als er sie in seinem Kopf kichern hörte. „Letzten Endes ist es egal... ob du scheiterst, weißt du?“, flötete sie, „Ihr alle seid nicht mehr als Spielfiguren der Götter... und sie bestimmen den Weg, den ihr gehen werdet. Deiner ist schon längst bestimmt... der Zweck, für den du geboren wurdest... liegt in der Finsternis.“ Sie kam in seiner Vision auf ihn zu und grinste ihn in einer bizarren, surrealen Mischung aus Boshaftigkeit und Verlangen an, streckte die Hand nach seinem Gesicht aus – berührte ihn aber nie, weil sich alles von ihr, das ihm zu nahe kam, in schwarzen Rauch auflöste. „Armer Karana... hast du deine Seele verloren? Husch, geh sie suchen... flink, flink.“ Sie verschwand vor Karanas Augen mit einem unweltlichen Grinsen, und die Vision ergoss sich über seinen vernebelten Geist in Bildern von Iana, Saidah, Neisa, Bildern von Zoras Derran, der ihm den Tod schickte, Bildern von Thira und ihrem Cousin Yamuru, die ihm Hand in Hand den Rücken kehrten, Bildern von Ulan Manha, in dessen Hand eine Knochenspirale tanzte. „Dreh dich, Schattenpüppchen.“, schnarrte Scharan mit der Stimme seines Urgroßvaters Kelar, „Dreh dich, bis ich sage Stopp... und dann falle, wenn ich es sage... wie sie alle gefallen sind. Wie Kohdars gefallen sind, Saidah Chimalis... und selbst Nalani, die stolze Königin der Kandayas. So... wie du fallen wirst... Karana, Schattenpüppchen.“ Ich kann dir helfen, deine Frau zu retten... oder ich kann sie für dich töten. Ganz wie du willst... es liegt an dir, Karana. Als die Vision vorbei war, saß Karana am Boden, die Beine angezogen und den Kopf zwischen den Armen vergraben, die Hände in seine Haare gekrallt. Plötzlich war es still in seinem Kopf... bis auf das stete Pochen des Schmerzmals. Yarek hatte die Suche nach der Seherin gerade aufgegeben, da fand er sie doch noch, als er auf dem Rückweg vom hintersten Winkel des Hecks der Tari Randora war. Manche Dinge lösten sich von selbst, wenn man aufhörte, nach ihnen zu suchen, so hieß es doch. „Ah.“, sagte der Söldner und blieb in gehorsamem Abstand zur Seherin stehen, die mitten in irgendeinem der kahlen Korridore an der Wand am Boden kauerte und mit dem Finger hirnlose Kringel auf den Boden malte, „Da bist du ja.“ „Hast du mich vermisst?“, flötete Ryanne und Yarek brummte, eine Kippe aus der Tasche ziehend. „Was siehst du... Ryanne?“, fragte er zurück und ließ ihre dumme Frage unbeantwortet, in seiner Tasche nach seinen Streichhölzern suchend. Verflixt, vorhin hatte er sie doch noch gehabt... Er unterbrach seine Suche unfreiwillig, weil Ryanne plötzlich direkt vor seinem Gesicht aufgetaucht war und ihn mit einem einzigen, apathischen Blick zwang, sie anzusehen. Sie lächelte bizarr, als sie die Hand hob und mit Vaira seine Kippe anzündete, ohne ein Wort zu sagen; die andere Hand legte sie dabei in ihrer üblichen Art auf seiner Brust ab und schob ihn rückwärts gegen die stählerne Wand, den Blick nie von seinem Gesicht abwendend. „Ich sehe... dich.“, raunte sie und er schauderte, weil er kein Zuyyaner war; er war nicht emotionslos. Wenn eine fast nicht angezogene Frau ihn so berührte und so einen Ton aufsetzte, fühlte er nun mal etwas. Ryanne wusste das und er hasste sie irgendwie dafür... oder sich selbst, weil er einen Hang dazu hatte, sich mit Frauen einzulassen, die irgendwie über ihm standen. „Den Söldner... der geboren wurde, um die Sieben zu schützen. Hast du dich nie gefragt, wieso... die Götter dich ausgewählt haben? Einen Nichtmagier, einen kleinen... Dorftrottel aus Kuyala mit null Fähigkeiten...?“ Sie lächelte anzüglich, als sie ihre Hand langsam über seine Brust hinab in Richtung seiner Hose fahren ließ, während er an seiner Zigarette zog, ohne Ryanne aus den Augen zu lassen. Ihre Hand war kalt, als sie unter sein Hemd glitt und seine Haut berührte, aber trotzdem war sie heiß, und er zischte, als sie sich so offensiv gegen ihn drückte, ihn dabei an die Wand hinter sich pressend. „Das habe ich mich oft gefragt.“, sagte der Mann und sah zu, wie sie mit einer einzigen, fließenden Bewegung die Hand unter seinem Hemd hervor zog und dann in seinen Schritt fuhr. Er zischte. „Nun... bist du nicht die Seherin? Weißt du nicht die Antworten auf alles... was wir uns so fragen?“ Den Blick von ihr abwendend zog er abermals an seiner Kippe und pustete den Rauch aus, als in seinem Inneren das Verlangen wuchs, sie zu packen, umzudrehen und zu nehmen. Es wäre nicht das erste Mal. Irgendwie machte es ihn aggressiv, wenn sie so offensiv war. Aber was ihn eigentlich aggressiver machte war die Tatsache, dass sie einfach so in seine Vergangenheit sah und alles wusste. Kuyala... sein Heimatland. Er hatte es lange nicht gesehen... er würde es nie wieder sehen, weil es mit Tharr explodiert war. Es war egal. Er hatte niemanden mehr dort gehabt. „Gerade... weil du Nichtmagier bist...“, grinste sie ihn an, „Das macht... dich immun.“ „Immun?“, stöhnte er und lehnte den Kopf in den Nacken, als ihre Hand sich gegen seine Hose bewegte und er spürte, wie er hart wurde unter ihren Berührungen. „Immun gegen... den Schatten des Abgrunds.“, grinste sie ihn an – und hörte dann genauso abrupt auf, ihn anzufassen, wie sie angefangen hatte. Er senkte das Gesicht wieder und starrte sie an, und sie zog sich mit einem wissenden, betörenden Lächeln zurück, sich kokett eine blonde Locke hinter das Ohr streichend. Die großen, goldenen Ohrringe an ihren Ohrläppchen klimperten; sie erinnerten ihn an Ela-Ri, weil dort alle mit Gold geschmückt gewesen waren. „Der einzige Vorteil, den Nichtmagier gegenüber Magiern haben... ist der, dass sie keine Magier sind.“, sagte Ryanne zu ihm und er packte sie unsanft an den Armen, riss sie herum und presste jetzt sie gegen die kalte Wand, sich dunkel über sie beugend. Sie verschwand unter dem Schatten seines Körpers, als er das Licht von ihr abschirmte, und im Dunkeln hatten ihre violetten Augen eine Farbe von Wahnsinn, die in ihm einen Schauer auslöste. Ryanne lächelte ihn an und hob die Hände, um sie gegen seine Brust zu pressen, und er spürte das Pochen ihrer unmenschlichen Seele in ihren Fingern. Es war ein Gefühl, das er nicht kannte, er konnte es nicht beschreiben... aber es waren wohl Instinkte, die ihm sagten, es war ihre Seele, die er fühlen konnte, und es fühlte sich grässlich an. Wie etwas längst verdorbenes, längst verfaultes, das nur durch einen irrsinnigen, falschen Zauber am Leben gehalten wurde. „Du... bist nicht sterblich, Ryanne.“, keuchte er und das Lachen der Seherin klang fremd, als sie den Mund aufmachte, ihre Augen sahen nicht mehr nach Ryanne der Yalla aus; das war das, was er in ihren Augen sah, was er in ihren Fingern spürte. Es war nicht lebendig aber auch nicht tot, es war da und es war mächtig... und es ließ ihn erstarren und erfüllte ihn gleichzeitig mit einer solch heftigen sexuellen Erregung, dass er unwillkürlich nach Luft schnappte. „Die Götter...“, raunte sie mit der Stimme, die in seinen Ohren ein fürchterliches Rauschen verursachte, weil sie nicht menschlich klang, „...beneiden euch um eure Sterblichkeit, Yarek Liaron. Ist nicht alles viel schöner... weil es irgendwann endet? Wirst du nicht niemals... berauschter sein, niemals größeres Verlangen nach mir haben als in diesem Moment... weil du eines Tages stirbst? Wir sind... so neidisch.“ Er küsste sie auf die Lippen. Er wusste nicht genau, warum er es tat, aber plötzlich war in ihm der Wunsch da gewesen, sie zu küssen. Nicht, weil er scharf auf sie war – das war er trotzdem, aber das war nicht der Grund. In dem Moment, in dem er sie innig küsste und sie mit einem leisen Stöhnen den Mund öffnete, um seinen Kuss zu erwidern, war der Augenblick ihrer Unmenschlichkeit vorbei. Yarek war froh darum, weil das ungute Gefühl von ihm abließ, das ihn überkommen hatte bei der Berührung ihrer Finger auf seiner Brust, direkt über seinem Herzen. Als der gruselige Moment vorbei war, war sie wieder Ryanne – das machte sie greifbarer für ihn, realer. Und er stellte zum ersten Mal fest, dass er an ihr hing... nicht, weil er Sex wollte. Nicht, weil sie halb nackt vor ihm an dieser Wand hing, weil sie den Schenkel anhob und um seinen Rumpf legte, während sie ihre wenigen Kleider zur Seite zog und seine Hose öffnete. Nicht, weil sie seinen Namen stöhnte, als er sie an der Wand nahm und sie die Arme keuchend um seinen Hals schlang, ihren so weiblichen, heißen und doch kalten Körper an ihn pressend. Er mochte sie, weil sie Ryanne war... Vielleicht war es genauso Wille der Mächte der Schöpfung, dass er sie mochte, wie es ihr Wille war, dass er die Sieben beschützte. Ihre Vereinigung war wie die anderen, schnell und intensiv, aber irgendwie auch anders, weil er dieses Mal nicht zuließ, dass sie über ihm war in irgendeiner Weise – nicht mal geistig. Als sie fertig waren, lehnte Ryanne sich keuchend und mit einem zufriedenen Grinsen gegen die Wand, während er seine Hose wieder zuknöpfte und die nächste Kippe aus der Tasche zog. Er sah sie an und sie hatte nichts von der exzentrischen Seherin, die so abgehoben und unmenschlich war. Sie war eine Frau... und nicht mehr als das, sie war einfach nur da. Als sie sprach, wunderte er sich kaum über die Frage. „Öh, das war jetzt echt umwerfend, aber wer zum Geier bist du eigentlich?“ Yarek musste gegen seinen Willen lächeln... er begann zu verstehen, mit Hilfe von Neisas Erzählungen über Götter und Seelen, was eigentlich mit Ryannes Gedächtnis passierte. Wenn ein Seher die Seele eines Gottes trug, war in einem solchen Körper wohl kein Platz mehr für die Seele der Sterblichen, die Ryanne eigentlich war... es war doch kein Wunder, dass sie sich da an nichts erinnern konnte. „Yarek Liaron.“, stellte er sich ihr so zum sicher hundertsten Mal vor, und er war selber verblüfft darüber, dass es ihn nicht mal nervte, das so oft tun zu müssen. Er lehnte sich ihr gegenüber an die andere Wand des Korridors und blies den Rauch in die Luft. Die blonde Frau rückte ihre wenigen Kleider zurecht und lachte. „Ah, ich kenne dich. Ich hab dich im Traum gesehen, du bist der Mann mit dem Langschwert.“ „Das ist eine Masamune, kein Langschwert. Masamunen sind zuyyanische Schwerter, sie sind härter als das, was man auf Tharr Langschwert genannt hätte.“ „Du bist der Söldner aus Kuyala.“, flötete sie und er fragte sich, welche Teile von Ryannes Gedächtnis tatsächlich da waren und welche die zu große, zu mächtige Seele in ihr gefressen hatte... sie erinnerte sich an nichts von sich selbst, aber offenbar an vieles von ihm. „Eigentlich... bin ich kein echter Söldner.“, seufzte er nur. „Ich bin eigentlich... nur ein Mann. Nichts weiter.“ Er erntete einen konfusen Blick, dann grinste sie ihn wissend an und fuhr sich ein paar Mal mit den Fingern durch die Haare. Sie atmete immer noch heftig und die Haut auf ihren üppigen Brüsten benetzte ein ganz feiner Schweißfilm. „Eigentlich bin ich auch nur eine Frau.“, sagte sie, „Aber die Götter machen mich zu dem, was ich bin. Wäre ich keine Seherin, wäre ich Staub und Luft.“ Yarek schwieg eine Weile, bis sie wieder sprach; sie setzte sich mit zitternden Beinen auf den Boden im Korridor und pfriemelte an ihrer Kleidung herum. „Erzähl mir von dir.“ „Was? Warum?“ „Weil du eine Vergangenheit hast...“, murmelte sie, „Ich habe keine. Vielleicht teilst du... deine mit mir.“ Er sah sie an und sie sah nicht zurück. Plötzlich hatte er Mitleid, obwohl er wusste, dass Mitleid falsch war. Menschen verdienten kein Mitleid, denn Mitleid hieß, ihren Stolz zu begraben. Ryanne hatte Stolz... er wollte sie nicht bemitleiden für das, was sie war. Er wollte stolz darauf sein, dass sie trotzdem lebte. Ohne ein Wort zu sagen rauchte er zu Ende, trat die Kippe dann am Boden aus und schwieg weiter; es dauerte, bis er fortfuhr. Sie drängte ihn nicht und sagte auch nichts, sie sah ihn nicht an, sie malte mit dem Finger Kringel auf den Boden. „Mein Vater starb, da war ich noch ein Säugling. Ich bin bei meiner Mutter und ihrer Schwester in Chawaj aufgewachsen, das war ein kleines Steppenkaff in Kuyala. Es war wirklich ein Kaff, es gab da nichts außer Sand. Aber es war meine Heimat und bis ich anderes kennenlernte, war es für mich der schönste Ort der Welt.“ Ryanne unterbrach ihn mit einem Kichern. „Sand... in Kuyala gibt es viel Sand.“, sagte sie leise. „Gab.“, korrigierte er, „Tharr ist explodiert.“ Die Seherin sagte nichts. Dann folgte nach unangenehmer Stille: „Oh. Ach so. Ich sehe in deiner Zukunft Sand.“ Er fragte sich, ob das gut war. „Als ich... sieben war, kamen die Zuyyaner.“, seufzte er. „Weil Krieg war und so. Sie brannten alles nieder, zuerst die Hauptstadt, Yathé. In unserem Landkreis wurde beschlossen, jeden Mann und Jungen, der fähig war, ein Schwert zu tragen, zum Krieger zu machen, um das Vaterland zu verteidigen. Wir mussten in ein Kriegslager ziehen und sie haben mich drei Jahre lang dort zum Krieger ausgebildet, bis ich zehn war.“ „Habt ihr gewonnen?“, fragte sie lachend und er lachte auch, weil die Frage lächerlich war. „Was glaubst du denn? Dass eine Armee halb verhungerter Wüstenkinder gegen die perfekt trainierten Magier des Imperiums eine Chance gehabt hätte? Die meisten wurden geschlachtet und wer nicht getötet wurde, wurde gefangen. Sie haben mich auch gefangen und nach Zuyya geschleppt. Ich habe keinen Schimmer, wozu der Imperator uns in den Kerker brachte, was er mit uns wollte. Chenoa hat mir das nie gesagt. Vermutlich dienten wir als Testobjekte für was weiß ich, Medizin oder Zauber oder sonst irgendwas Abscheuliches. Ich war im Kerker und eines Tages kam Chenoa und hat mich raus geschmuggelt, hinter dem Rücken des Kaisers.“ Er erinnerte sich daran, als wäre es nur wenige Tage her, dabei war es ewig her... er war verdammte zehn Sommer alt gewesen, ein halbes Kind. Ein Kind, das zur Kampfmaschine gemacht worden war... mehr war er nicht gewesen. Er erinnerte sich an Chenoas bildschönes, eisiges Gesicht... Chenoa war so perfekt und emotionstot wie eine Puppe aus weißem Porzellan, wie reiche Mädchen sie manchmal besaßen. Sie war vieles für ihn gewesen... sie war seine Mutter gewesen, seine Mentorin, seine Beschützerin und Liebhaberin, als er alt genug für Sex gewesen war. In gewisser Weise war sie sogar eine Freundin gewesen... obwohl sie keine Seele hatte, weil sie Zuyyanerin war. Nahezu alles, was er heute beherrschte, hatte er von ihr gelernt; den Umgang mit der Masamune, das Reagieren auf zuyyanische Magie, lesen, schreiben, rechnen, Geschichte, er hatte alles gelernt. Er hatte Sex gelernt, und Chenoa war eine gute Lehrerin gewesen in diesen Dingen. Er erzählte Ryanne nicht von Sex; wenn sie das ernsthaft interessierte, würde sie es sowieso in seinen Gedanken sehen, denn er dachte mitunter daran. Er erzählte ihr von dem, was Chenoa ihn sonst gelehrt hatte und wie sie ihm die Aufgabe gegeben hatte, die Sieben zu beschützen. Er war kein richtiger Söldner, denn er bekam kein Geld für das, was er tat. Er tat es genau genommen nicht für Chenoa... sondern für die Mächte der Schöpfung, oder Geister, oder Götter, oder Katari, wer immer da die Gewalt beherrschen mochte... der war Schuld an allem. „Ich frage mich...“, murmelte er dann, als er seine Erzählung beendete, „Wenn du eine Seherin bist und Chenoa auch eine ist, warum hat sie nicht dieselben Gedächtnislücken wie du?“ Ryanne sah von ihrer Malerei auf; er sah sowieso nichts davon, weil sie bloß mit dem Finger malte. In ihr Gesicht schlich das wissende Lächeln und er spürte, dass sie zurückkehrte... die unsterbliche Seele in ihr, die immer kurzzeitig verschwand und dann wieder auftauchte. „Jeder sterbliche Körper... zerbricht auf andere Weise an der Seele, die zu mächtig ist.“, sagte sie und er schauderte, weil die Worte, wie abstrus sie auch klangen, ihn irgendwie gruselten. „Es äußert sich auf verschiedene Weise, weil es... verschiedene Körper sind. Vielleicht ist sie auf andere Weise wahnsinnig.“ Yarek brummte. „Vielleicht, sagst du. Siehst du sie nicht in deinen Augen, die alles sehen, Seherin?“ Ryanne lächelte ihn bizarr an und unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. „Nein... sie ist aus meinen Augen verschwunden. Genauso wie... die anderen, die wir zurückgelassen haben. Vielleicht... ist niemand mehr übrig. In meinen Augen... sehe ich Tod und Schatten... und die zerrissene Seele des Dämons, der danach lechzt, sie zu seinen Knechten zu machen.“ Karana begegnete seiner Frau auf dem Korridor unmittelbar vor der Kammer, die sie sich teilten. Iana war verblüfft, ihn auf den Beinen zu seinen, wie es schien. „Du bist auf? Hast du keine Schmerzen oder Träume mehr?“, fragte sie und er sah sie einen Moment an, während in seinem Inneren der Schattendämon vor sich hin grollte. Etwas in ihm zitterte bei Ianas Anblick; nicht vor Angst, sondern vor Zorn. Karana verwirrte das Gefühl, weil er nicht verstand, warum er zornig auf sie sein sollte... stöhnend raufte er sich die Haare. „Geht schon. Ich komme klar und ich kann nicht ewig herumliegen. Mein Arm ist ja wieder heil. Ich suche die Seherin, weil... ich wissen muss, ob mein Vater und die anderen auf Zuyya in Ordnung sind.“ Er wollte an ihr vorbei gehen, aber Iana hielt ihn auf, indem sie mit ihrem rechten Arm seinen festhielt, sobald er neben ihr war. „Was... lässt dich denn annehmen, sie wären nicht in Ordnung?“ Die Frage versetzte ihm einen Stich. Er wusste nicht, ob es sinnvoll war, ihr zu erzählen, was Manha so gesagt hatte... allein daran zu denken, dass das, was die Bilder seiner Visionen zeigten, wahr sein könnte, brachte ihm eine solche Übelkeit, dass er spontan mit sich kämpfte, um nicht zu würgen. Es kann alles Manhas Einfluss sein. Das Mal. Vielleicht ist es gelogen... vielleicht sind sie am Leben. In seinem Kopf lachte die kehlige Stimme ihn aus. „Lauf, Karana... lauf vor deinem Schicksal davon und du wirst scheitern. Dann werden sie sterben... deine Frau und dein Baby. Nicht, weil ich es will... sondern weil du es entschieden hast. So, wie du... über deine Eltern entschieden hast.“ „Halt den Mund!“, zischte er und Iana starrte ihn an, er starrte zurück und sein Gesicht verfinsterte sich, während in seinem Inneren der Hass zu wachsen begann – es war wie in dem Moment, in dem er bei Scharan auf dem Schiff am Boden gelegen hatte und seinen Vater gehasst hatte. Es war sein Recht... es war seine Macht und die anderen sollten sich nicht anmaßen, zu glauben, er würde zulassen, dass auch nur einer von ihnen über ihm stand. Nicht einmal sie... nicht einmal Iana, seine eigene Frau. „Sagst du zu mir, ich soll den Mund halten?“, fragte sie ihn nur konfus und er riss sich aus ihrem Griff los, bebte vor innerem, unterdrücktem Zorn und ballte krampfhaft die Fäuste, als sein Unterarm wieder zu pochen begann. „Ich habe... Träume.“, stöhnte er, „Sie sagen... nichts gutes, Ianachen.“ Er merkte, wie es ihm schwer fiel, seinen Ton zu beherrschen, seinen Zorn zu beherrschen – irgendetwas zu beherrschen, und er verfluchte Ulan Manha und sein Fluchmal an seinem Arm, das flammend zu schmerzen begann, als er in Ianas Gesicht sah. Jetzt spürte er Verlangen nach ihr und er wich einen Schritt rückwärts – er hatte jetzt keine Zeit für sie. „Ich muss... Ryanne finden, Iana. Ich muss wissen, was mit meinen Eltern ist... mit allen anderen. Die Zeichen sind schlecht und die Zeit läuft uns davon. Wenn es Götter gibt... wie ihr gesagt habt... dann lassen sie uns wohl im Stich.“ Er sah sie schaudern, als er ihr einen zögernden Blick zuwarf und der Zorn in seinem Inneren wieder abflaute, als wäre er nur überkochende Milch gewesen und als hätte man jetzt den Topf vom Feuer genommen. Sie war so schön, seine Iana... er sah sie an und in ihm wuchs jetzt nur noch mehr das Verlangen, sie zu küssen und in die Arme zu nehmen, ihr zu sagen, dass er sich freute, dass sie ein Baby bekam. Es war sein Kind... ihr gemeinsames Kind, und der bloße Gedanke daran, bald Vater zu werden, erfüllte ihn plötzlich mit Stolz, Ehrfurcht vor seiner Frau und noch größerer Liebe zu ihr. Irgendwo in seinem Geist pochte das Fluchmal und Scharan kicherte, sodass es ihm schwer fiel, sich auf seine Glücksgefühle zu konzentrieren. Im Inneren herrschte noch immer die Panik um den Verbleib seiner Eltern... „Ich... liebe dich, Iana.“, sagte er dumpf in Ermangelung einer Ahnung, was er jetzt sonst hätte tun sollen. Sie schwieg darauf. „Ich will... dass du das weißt. Egal, was in Zukunft mit mir geschieht... oder mit uns allen. Ich liebe dich für immer... meine Königin.“ Er war so dramatisch. Iana sah ihm nach, als er sie verzerrt angrinste und davon eilte... obwohl seine Worte so dramatisch gewesen waren, rührten sie sie im Inneren. Sie fasste unbewusst nach ihrem Bauch, in dem sein Kind heranwuchs. Der Gedanke machte ihr irgendwie Mut... während Karana sie jedes Mal nur verwirrte oder verunsicherte, wenn sie mit ihm sprach. Er war eigenartig, seit sie Neisa gerettet hatten... seit er Manha begegnet war. Dass es mit dem Mal und Manhas Einfluss auf ihn zusammenhing, stand außer Frage, aber was sollte sie dagegen tun? Konnte sie überhaupt irgendetwas tun? Mitunter schien er seinen eigenen Verstand zurück zu haben, aber es gab auch Momente, wo Iana glaubte, nicht Karana wäre es, der sie da ansah, anfauchte, anfasste, sondern der alte, finstere Dämon seiner Seele, der schon früher von ihm Besitz ergriffen hatte. Sie hätte seinen Vater gerne danach gefragt. Puran als Herr der Geister wusste über solche Dinge besser Bescheid als sie oder irgendjemand anderes hier (Ryanne redete ja auch nur dann, wenn sie Lust dazu hatte)... sie fragte sich, was Karana damit gemeint hatte, irgendetwas könnte mit seinem Vater nicht stimmen. Die Gedanken kamen von Karanas Vater zu ihrem eigenen, der längst tot war, und sie zog unwillkürlich das Kurzschwert aus der Scheide, um es zu betrachten, während sie an Ryannes kryptische Worte dachte. „Dein Name war der Wille deines Vaters... die Buchstaben deines Namens.“ Sie fragte sich, was das bedeuten sollte... dummerweise konnte sie weder lesen noch schreiben; was sie also mit den Buchstaben ihres Namens anfangen sollte, wusste sie nicht. Der Wille meines Vaters... was hat der Name, den ich bekam, mit Kadhúrem zu tun? „Finde den Schatten deines Namens... dein Name ist dein Lebensgeist.“, sagten die Geister zu ihr und sie stutzte bei den so vertrauten und doch beunruhigenden Stimmen. Sie hörte sie seit neuestem öfter... es war die Stimme, die mit ihrem Mund sprach, wenn sie Kadhúrem benutzte. „Und dein Lebensgeist ist dein Band zu Kadhúrem, dem Schwert von Thayeran Kandaya... Iana Lynn, Akada.“ „Sag mir... doch deinen Namen, Geist.“, wisperte sie tonlos und die Geisterstimme in ihrem Kopf sagte lange nichts. „Du kennst ihn schon.“, kam dann die Antwort, und sie spürte, dass die Geisterfrau lächelte. „Du kennst ihn schon, solange du lebst... in deinem Inneren. Hör auf dein Herz... dann findest du deinen Namen.“ _______________________ Woah! Wenn ich selber betalese weiß ich wenigstens wieder was hier vorkam o.o! Ich weiß gerade gar nicht ob noch mal jemand den leichten Irrtum über die Sache mit der technik von Ianas Familie erklärt, es ist nämlich etwas anders; aber irgendwie weiß das keiner. Höchstens Ryanne... hmm. Ich werde mich weiter durchpfriemeln :'D Ich mag Ryanne. xDD Sie ist die Beste ey. uû Man hätte das Kapi auch alternativ "Alle suchen die Seherin" nennen können... irgendwie will hier jeder zu Ryanne. xD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)