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Wintersterne

Ein Panem Adventskalender
von

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Winterjagd


 

1. Dezember – Winterjagd
 

Katniss Everdeen
 

Troy Everdeen
 

*

Kalt strich die Luft um Katniss nacktes Bein, das unter der schweren Steppdecke, die aus lauter bunten Flicken zusammen genäht war, hervor hing. Träge baumelte der Fuß über der Bettkante in dem kalten Luftzug und ein paar Mal zuckte er kurz, vielleicht, weil Katniss wild träumte, oder doch einfach nur, weil der Fuß langsam eiskalt wurde und sie die Wärme der Decke vermisste. Mit einem leisen Seufzen rollte das schlafende Mädchen, von dem man nicht mehr sah, als den braunen Haarschopf, sich auf die andere Seite und zog den frierenden Körperteil zurück unter die gemütliche Decke. Einen Moment lang lag sie still dar und versuchte, erneut in ihren Traum zurückzukehren, doch die Realität fing sie sanft auf und entführte sie aus der Welt voll schöner Kleider und Süßigkeiten, so viel sie essen konnte. Müde rieb sie sich mit der Hand über das Gesicht und zog die Decke vorsichtig bis zum Kinn hinunter. Sofort spürte sie die frische Kälte des Morgens auf ihren rosigen Wangen. Kurz überlegte sie, dann öffnete sie schlagartig die großen braunen Augen: Heute war der erste Dezember! Aufgeregt setzte sie sich auf und vergaß völlig ihre Decke, die zu Boden rutschte. Auf den Knien rutschte sie zu dem Fenster über ihrem Bett. Ein großes Lächeln erhellte ihr Gesicht.

Winzige Eisblumen überzogen das Fenster und malten fantasievolle Muster. Dahinter aber war noch mehr weiß, soweit das Auge reichte! Alles war in weiches, friedliches winterweiß gehüllt!

Fasziniert drückte Katniss ihre Nase an die Scheibe und blickte hinaus auf den verschneiten Distrikt zwölft und ein kleiner Freudenjauchzer entwich ihr, denn es kam nicht jedes Jahr vor, dass Distrikt zwölf bereits am ersten Dezembertag verschneit war.

Besorgt blickte sie sich um, aus Angst ihre kleine Schwester geweckt zu haben, doch Primrose schlief noch immer tief und fest, den Daumen im Mund und fest ihr kleines Schnuffeltuch im Arm.

Eifrig kletterte Katniss aus dem Bett und hob sorgfältig die Decke auf, ehe sie sich auf nackten Füßen, und noch immer in ihrem wollenen Nachthemd, in den Flur schlich.

Ein warmer Schein drang unter der Tür zum Wohnraum hindurch, und leise tappte sie auf den Zehenspitzen zur Tür. Wie immer klopfte ihr Herz wie verrückt, denn heute würde sie mit ihrem Vater in den verbotenen Wald gehen. Sanft drückte sie die Klinke herunter und spähte in den Wohnraum.

Im Kamin brannte ein warmes, rot-orangenes Feuer, dass seine heimeligen Schatten in den Raum warf. Der Stuhl davor war besetzt von ihrem Vater, der in ein warmes Flanellhemd gehüllt war und bereits seine dicken, ledernen Stiefel trug. Als hätte er sie die ganze Zeit über gehört drehte er sich um und lächelte.

„Da bist du ja. Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf, meine kleine Schlafmütze!“

Zuerst zog Katniss die Tür hinter sich zu, dann stemmte sie empört die Hände in die Hüften.

„Dad! Ich bin keine Schlafmütze. Es ist nur so… kalt“, beschwerte sie sich. Troy Everdeen lachte nur.

„Dann warte nur, bis wir erst draußen sind“, erklärte er verschmitzt, während er Katniss ihre dicken Wintersachen reichte, die einzigen, die sie hatte. Die Jacke war schon etwas abgenutzt, genauso wie die abgescheuerten Handschuhe, doch sie waren ihr lieb geworden und taten das Nötigste.

Fröhlich schlüpfte sie schließlich in ihre durchgetragenen Stiefel und griff tatenlustig nach ihrem kleinen Beutel, in dem sie ihre Vorräte mit sich nahm. Troy hatte sie ihr einst vom Hob mitgebracht und sie war sehr stolz darauf.

„Lass uns gehen!“, rief sie leise und zupfte an dem Arm ihres Vaters, „komm schon!“

„Nicht so schnell“, gab dieser daraufhin zu bedenken, „du solltest erst noch frühstücken“, sagte er lachend.

„Ich esse unterwegs“, entrüstete die kleine Katniss sich, „so wie jedes Jahr. Du hast es versprochen!“

Für den Moment tat Troy Everdeen so, als müsse er scharf überlegen, nur um sie auf die Probe zu stellen. Amüsiert beobachtete er, wie seine energische Tochter langsam rot vor unterdrückter Aufregung wurde und zwinkerte ihr dann zu.

„Als wenn ich das je vergessen würde.“

Er griff nach der Hand seiner elf Jahre alten Tochter und gemeinsam gingen sie in den ersten, eisig kalten Dezembermorgen hinaus.
 

~
 

Eine weiche, weiße Schneedecke bedeckte alle Straßen und Häuser des Distrikts, sodass es ganz so wirkte, als sei alles mit Puderzucker überstreut worden. Vielleicht war der Distrikt einer der ärmsten in ganz Panem, aber beim Anblick der schiefen weißen Hütten konnte man die unangenehmen Gedanken doch einmal beiseiteschieben – vor allem dann, wenn man zuhause ein kleines, warmes Feuer entzünden konnte.

Aufgeregt tollte Katniss durch den Schnee und hinterließ überall kleine Abdrücke der Schuhgröße 37. Troy Everdeen folgte ihr leise lächelnd in einigem Abstand. Er hatte in seinem Leben schon viele Winter erlebt, doch das Erlebnis, seine Tochter am ersten Wintertag durch den Schnee springen zu sehen war immer wieder aufs Neue schön und ließ ihn den Schnee mit ganz neuen Augen sehen.

Ganz wie jedes Jahr kehrten sie schließlich bei der kleinen Backstube im Zentrum ein, wo sie Brötchen für die ganze Familie kauften, auch wenn diese nicht frisch aufgebacken waren, aber das hätten sie sich nie leisten können.

Während Troy bezahlte bewunderte Katniss derweil die prächtig dekorierten Torten, die sich in der Auslage stapelten. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie davon geträumt hatte, eines Tages eine solche Torte zum Geburtstag zu bekommen. Vielleicht sogar eine mit ihrem Namen drauf?

„Katniss, kommst du?“, rief ihr Vater sie schließlich und sie schob den Gedanken wieder beiseite. Auch ohne Torte konnte man schöne Geburtstage haben.

Erwartungsvoll beobachtete sie, wie ihr Vater die Brötchen in seiner Umhängetasche verstaute.

„Dad, hast du nicht was vergessen?“

„Was, ICH? Niemals.“

Mit einem kleinen Lächeln schüttelte Troy den Kopf, während er aus dem Augenwinkel sah, wie Katniss, wie so oft, ihre Augenbrauen kritisch zusammenzog.

Manchmal liebte er es einfach, sie ein klein wenig zu ärgern. Es war nicht zu übersehen, dass sie manchmal genauso stur wie seine Frau sein konnte.

Um ihre Geduld nicht weiter auf die Probe zu stellen zog er das Plunderteilchen hervor, dass er Katniss wie immer am ersten Dezembertag schenkte. Noch immer leuchteten ihre Augen, als sie das Gebäckstück bekam und stürmisch umarmte sie ihren Vater, nur um ihm immer wieder zu beteuern, dass er der allerbeste sei.

„Wirst du nicht langsam zu alt für sowas?“, neckte er sie freundlich.

Den Mund noch voll schüttelte Katniss den Kopf.

„Niemals“, entgegnete sie.
 

~
 

Wie immer war der Zaun, der den Distrikt umgab auch in diesem Winter ohne Strom. Geübt kletterten Troy und seine Tochter unter dem stacheligen Draht hindurch und liefen schnell in die Baumschonung, um nicht doch von einem aufmerksamen Friedenswächter erspäht zu werden.

Weiß schwebte der Atem vor ihren Mündern und Katniss zog unwillkürlich den Schal höher.

Geübt angelte Troy derweil seinen großen Bogen aus dem Versteck und den kleinen Haselnussstrauchbogen für Katniss. Sanft strich er einmal mit der Fingerkuppe über die gefederten Enden der Pfeile, dann schwang er sich den Köcher über den Rücken.

„Auf geht’s!“

Lächelnd ergriff Katniss ihren Bogen und deutete gen Süden:

„Heute gehen wir dort lang!“, bestimmte sie.

Eine Weile lang gingen sie durch die stummen Wälder, in denen im Winter kaum noch Vögel hausten. Die meisten von ihnen flogen mit dem beginnenden Herbst fort. Früher hatte Katniss sich immer gefragt, warum die Vögel überhaupt zurückkamen. Sie waren frei, sie konnten überall hin, warum also wollten sie ausgerechnet in Panem bleiben, diesem unbarmherzigen Land? Jetzt wusste sie, dass das naiv gewesen war. Dafür fühlte sie sich selber nun frei, wenn sie mit ihrem Vater auf die Jagd ging, sich außerhalb der Grenzen von dem Distrikt bewegte.

In diesem Moment vernahm sie das Geräusch eines brechenden Zweiges. Leise hob sie den Finger, um ihrem Vater zu bedeuten, dass er warten solle. Da, ein paar Schritte weiter ins Unterholz hinein ertönte es erneut!

Angespannt hob ihr Vater den Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne, während sie selber näher heranschlich, immer darauf bedacht, nicht selber auf einen Ast zu treten. Dort war es, noch ganz jung – ein Reh auf der Lichtung.

Der Ehrgeiz befiel Katniss und sie spannte ihren eigenen Bogen, ganz so, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Vorsichtig atmete sie aus, zielte und ließ die Sehne durch ihre Finger schnellen. Aber der Pfeil schoss vorbei und das Reh schreckte auf. Mit gespitzten Ohren horchte es in den Wald hinein.

In diesem Moment hob Troy seinen Bogen und der Pfeil durchbohrte den Hals des nervösen Tieres glatt.

Enttäuscht trat Katniss in das Unterholz und Schnee rieselte in ihre Stiefel, wo er beinahe sofortig schmolz und ihr nasse Socken bescherte.

Doch ihr Vater kam zu ihr und stolze legte er den Arm um ihre Schultern.

„Sei nicht sauer. Ich habe es im Gefühl, dass du eines Tages etwas ganz Besonderes sein wirst“, bemerkte er einfühlsam, „denn schließlich hast du mein Talent geerbt!“

Unwillentlich musste sie grinsen, wofür sie ihm in die Seite boxte. Gespielt empört hielt er sich die  Seite, nur um ihr dann die Zunge hinauszustrecken.

„Na komm, lass uns das hier zu Ende bringen, damit wir deiner Mutter das schöne Reh bringen können.“

Glücklich folgte Katniss schließlich ihrem Vater durch den verschneiten Wald, die Gedanken auf das gemütliche Festmahl am Abend gerichtet.
 

 
 


 

Wintermädchen


 

     2.  Dezember – Wintermädchen

Peeta

 

Eisig kalt wehte der Dezemberwind um die Ecken der verwinkelten Gassen in Distrikt zwölf, während Peeta Mellark, der jüngste Sohn der Bäckerfamilie, mit tief in das Gesicht gezogener Kapuze versuchte, dem Wintersturm zu entgehen, der sich seit einigen Tagen angekündigt hatte und nun zu wahrer Größe fand. Hohe Schneewehen versperrten ihm den Weg und der viele Schnee durchnässte selbst seine dicksten Wintersachen. An und für sich fand Peeta Schnee wunderschön, vor allem, wenn er aus dem Fenster schaute. Im Moment allerdings durchnässte eben diese weiße Pracht seine letzten Wollsocken, die heute Morgen noch im Schrank gelegen hatten. Dennoch würde er die drei Kuchenpakete, die er eng an sich drückte, heute noch zu den Familien, die sie bestellt hatten, bringen. Ihm blieb sowieso keine Wahl, würde seine Mutter sonst furchtbar erbost werden. Sie hing mit vollstem Herzen an der Bäckerei und würde vermutlich alles für ein gutes Geschäft tun. Zwar war sein Vater mit ihrer Härte teils nicht konform, doch er wagte es selten, dies auch einzugestehen. Stattdessen kaufte er lieber hinter ihrem Rücken seine geliebten Eichhörnchen. Wenn Ella Mellark wüsste, dass beinahe jeden Freitag Troy Everdeen auftauchte und seinem Vater für ein paar Münzen einen Teil seiner Jagdbeute überließ, hätte sie wohl einen Herzinfarkt bekommen. Schon der Gedanke daran ließ Peeta lächeln. Er verstand sich einfach so viel besser mit seinem Vater und das lag nicht an ihrer gemeinsamen Vorliebe für Eichhörnchen, wie er ihm erzählte, sondern daran, dass er geduldig jeden Freitag mit seinem Vater wartete, nur um eventuell einmal Everdeens  Tochter Katniss zu sehen.

Fünf Jahre war er alt gewesen, als sie im Singkreis aufgestanden war, um aus voller Kehle den Valleysong zu singen. Er hatte es nie vergessen, wie ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten waren und ihr kariertes Kleid sich im Wind wiegte. Ein warmes Rot schoss in die Wangen des Jungen, während er an diese schöne Zeit dachte.

Jetzt jedoch sollte er sich lieber darum kümmern, seine mittlerweile erkaltete Fracht auszuliefern, sonst würde es wieder Schelte geben.

Vorsichtig erklomm er die gefrorenen Stufen zu dem Haus des Bürgermeisters. Wie immer hing ein kleiner Tannenkranz als einziger Weihnachtsschmuck an der Haustüre. Selbst der Bürgermeister musste in Distrikt zwölf mit der Dekoration geizen.

Energisch klopfte er an und die blondhaarige Tochter des Bürgermeisters, Madge Undersee, öffnete ihm freudig strahlend die Tür.

„Unser Kuchen“, freute das Mädchen sich.

Peeta seinerseits jedoch war nervös, weil er wusste, dass Katniss und Madge so etwas wie Freundinnen waren. Er wollte lieber einen guten Eindruck machen, nur für den eventuellen Fall, dass beide einmal… nun über ihn reden würden.

Der Brief in seiner Manteltasche, den er einst für Katniss geschrieben hatte, fühlte sich plötzlich unglaublich heiß an. Madge könnte ihn nehmen und ihr geben… nein. Wieder einmal traute sich Peeta nicht. Stattdessen gab er Madge höflich den Kuchen, nahm das Geld entgegen und wünschte dem mittlerweile hinzugekommenen Bürgermeister und Madge eine schöne Weihnacht, sowie gute Besserung für ihre Mutter, die immer noch mit schweren Leiden im Bett lag. Winkend ging er schließlich wieder, den brennenden Brief noch immer in der Tasche.

Schwer seufzte der Blondhaarige und angelte in seiner Manteltasche nach der Lieferliste, die seine Mutter ihm gegeben hatte. Die nächsten, denen er einen Kuchen liefern musste, war die Apothekerfamilie. Er versenkte die Liste wieder und ertastete dafür eine Kante des Briefes. Ohne ihn auch nur anzuschauen erinnerte er sich an den Namen darauf, für den er sich so viel Mühe gegeben hatte, mit Kringeln und Schwüngen. Katniss. Der Name war genauso schön wie sie. Auch der Inhalt hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, hatte er ihn doch so oft neu geschrieben, weil er nie zufrieden war. Dennoch würde sie ihn selbst jetzt nie erhalten.

Wie immer lächelnd überreichte er schließlich auch Marian Threelight ihren bestellten Kuchen, nahm das Geld entgegen und wünschte ein frohes Fest. Die letzte Adresse auf seiner Liste erregte jedoch seine Aufmerksamkeit, befand sie sich doch im Saum. Er war noch nie zuvor bei der Familie gewesen, doch er ahnte, warum eine Familie aus dem Saum sich einen Kuchen bei ihnen kaufte. Alle paar Jahre kam dies einmal vor und jedes Mal wieder verspürte Peeta diesen tiefliegenden Ärger. Er war nicht wütend auf diese Familien. Zumeist hatten sie ein äußerst freudiges Jahr gehabt, weil jemand geheiratet hatte oder die Kinder 18 geworden waren, sodass sie sich nie wieder vor der Ernte fürchten mussten. Nein, es war viel ärgerlicher, dass sie dafür all ihr Erspartes zusammenkratzten. Wie sehr wünschte er sich, er könne den Kuchen einfach verschenken, um der Familie wenigstens ein kleines Weihnachtswunder zu ermöglichen. Doch die Furcht vor seiner radikalen Mutter lähmte ihn dann. Natürlich war er sich seiner Schwäche bewusst. Jemand wirklich engagiertes hätte sich von einer Frau wie seiner Mutter wohl kaum einschüchtern lassen.

Der Weg zum Saum war vor allem von einem gekennzeichnet: Verfall. War zumindest der große Platz im Zentrum so gut es ging gekehrt worden, überdeckten hier die hohen Schneewehen die kleinen Hütten fast, aus vielen Schornsteinen kam kein Rauch und die Fenster waren mit Eisblumen aufgrund der schlechten Isolierung übersäht. Alles sprach für die große Armut in Distrikt zwölf. Peeta schätzte sich zwar glücklich, zu den wohlhabenderen Familien zu gehören, aber doch fragte er sich mitunter, wenn er seine Familie beobachtete, ob es nicht glücklichere Familien gab, auch wenn sie ärmer waren.

Kaum, dass er tiefer in den Saum hineinwanderte, fühlte er sich immer unwohler. Abgemagerte Kinder in viel zu dünner Kleidung standen da und beobachteten ihn, ihre Augen dunkel und groß. Er wünschte sich, dass man ihm seine Herkunft nicht ansehen könne, doch das war hoffnungslos.

Kurz vor seinem Ziel stolperte ein kleines Mädchen vor seine Füße, dass nur eine abgenutzte Strickjacke trug. Sie mochte vielleicht zwölf sein und entschuldigte sich immer wieder, aber sie sei gerade auf dem Weg zum Rathaus, um sich ihre Getreideladung abzuholen.

Er wusste sofort, was das bedeutete. Obwohl so klein, hatte sich das Mädchen bereits für Tesserasteine eingetragen. Dennoch lächelte sie und fragte aufgeregt, ob sie einmal die verzierte Torte sehen dürfe. Ohne zu zögern öffnete Peeta die Schachtel ein Stück und ließ sie hineinschauen. Fasziniert weiteten sich ihre Augen, als sie die kunstvollvollen Verzierungen aus Zuckermasse sah, die er erschaffen hatte.

„Wow, die ist wunderschön!“

Obgleich sie keinen Kuchen hatte, freute sie sich über den Anblick bereits. Diesmal zögerte Peeta nicht, sondern wickelte sich den warmen Wollschal vom Hals.

„Hier, nimm ihn. Als Ersatz für den Kuchen“, sagte er zwinkernd.

Erstaunt rief das Mädchen aus: „D-Danke!“

Zufrieden blickte er ihr hinterher, wie sie mit dem viel zu großen Schal um den Hals glücklich davon hüpfte. Es war nicht viel, aber ein Anfang.

Auch seinen letzten Kuchen lieferte er schließlich ab, wobei er am liebsten geflohen wäre.

Die Eltern feierten die Geburt ihrer Enkelin und obwohl alle ausgezehrt waren, freuten sie sich unheimlich und wünschten ihm ebenso euphorisch ein schönes Weihnachtsfest. Wehmütig betrachtete er das kleine Kind und fragte sich, ob und in welchen Hungerspielen es die Hauptrolle spielen würde.

Mit der Zeit hatte es wieder begonnen zu schneien, und dicke Flocken ließen sich auf Peetas Haar nieder. Fröstelnd schlug er den Kragen hoch und vergrub die Hände tief in den Taschen. Er sehnte sich bereits wieder den warmen Kamin herbei und stapfte schnell durch den Schnee, als er sie erspähte. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, eine viel zu große Lederjacke an und die Tasche prall gefüllt kam sie ihm in einiger Entfernung entgegen. Freundlich grüßte sie all die Bewohner der Häuser, an denen sie vorbeikam.

Katniss.

Er hatte nicht erwartet, sie hier zu sehen. Aber er hätte es sich denken können, gehörte sie doch zu den armen Familien des Distrikts. Man konnte es an ihrem Körper ablesen, wie erschöpft sie war, doch sie schien glücklich zu sein, denn sie lächelte ungehemmt einigen Kindern auf der Straße zu.

Sie war sicherlich im Wald jagen gewesen, zumindest versprach ihre gefüllte Tasche das. Freude darüber, dass es ihr anscheinend gut ging, breitete sich in ihm aus, denn nach dem Tode ihres Vaters hatte das ganz anders ausgesehen. Ein Glück war dies bald 4 Jahre vergangen. Jetzt musste sie nur noch die nächsten Ernten überleben, dann wäre sie frei. Vielleicht würde er dann ja den Mut aufbringen, mit ihr zu sprechen, wenn das Schicksal es gut mit ihm meinte und sie vielleicht sogar einmal zusammen brachte. Aber unter den gegebenen Umständen würde es wohl für immer ein Traum bleiben.

Peeta Mellark, der jüngste Sohn der Bäckerfamilie lächelte, als Katniss Everdeen, seine geheime Schwäche, in nur einigen Zentimetern glücklich lächelnd an ihm vorbeiging, nicht ahnend, dass er einen Liebesbrief an sie in der Tasche trug. Denn er würde diesen Traum immer weiter träumen.

In den folgenden Wochen würde sich zu dem Brief in den Tiefen der Manteltasche ein Bild gesellen, das er heimlich malen würde. Und wer weiß, wann er es ihr zeigen könnte, seinem Wintermädchen…

Wintergala


 

3. Dezember – Wintergala
 

Effie Trinket
 

Haymitch Abernathy
 

 
 

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Eisblaue Perücke mit silbernem Schimmer – perfekt!

Silbernes Korsett mit Schneeflöckchen-Stickerei – unglaublich!

Zartblaues Unterkleid mit silbernen Rüschensaum – wundervoll!

Schneeflöckchenschuhe – hinreißend!

Blau-weißes Makeup – einzigartig!

Wintermaniküre – wunderhübsch!

 

Zufrieden drehte Effie Trinket sich vor dem überlebensgroßen Spiegel in ihrem Ankleideraum. Es war einfach absolut effie-einzigartig! Sie lächelt ein unglaublich strahlendes Lächeln, übte noch einmal den hinreißenden Augenaufschlag, formte mit den Lippen einen Kussmund und trippelte dann mit winzigen Schritten, um die schier unglaublich teuren Schuhe nicht zu beschädigen von dem Ankleidepodest mit der eingebauten Beleuchtungsfunktion herab.

Unschlüssig glitt ihre Hand über die verschiedenen Düfte in ihrem eigens eingebauten Parfumschrank, ehe sie sich für die klassische Note entschied, schließlich solle man ja nicht übertreiben, wie sie fand.

Effie Trinket zitterten vor lauter Aufregung schon fast die Hände und sie hatte den ganzen Tag noch keinen einzigen Bissen heruntergebracht, denn heute war IHR Tag gekommen! Wie alle Jahre wieder gab Präsident Snow sein einzigartiges Winterfest in seinem Palast und sie, ja wirklich, sie, Effie Trinket, gehörte zu den ausgewählten Gästen! Andächtig strich sie mit den Fingern über die auf edles Papier gedruckte Einladung und spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Wen sie alles treffen würde – sie könnte singen und tanzen, so sehr frohlockte sie, doch natürlich bewahrte man die Haltung, wenn man zu so einer großen Festivität eingeladen wurde. Niemand wusste das besser, als Effie Trinket. Denn dies war das, worauf sie ihr ganzes, nicht immer so wunderbares Leben, drauf hingearbeitet hatte. Tatsächlich hatte sie es geschafft, aus ihren Tributen nicht nur einen sondern gar unglaubliche zwei Sieger zu machen, etwas, was vorher noch niemand geschafft hatte. Sie konnte nicht anders, sie musste ihre Genialität ein wenig bewundern. Hätte es diesen Sieg nicht gegeben, nun, dann würde Effie Trinket jetzt kein zauberhaftes Winterkleid eines namenhaften Designers tragen.

Während sie bei sich dachte, wie fabelhaft sie doch war, nahm Effie ihre Klemmbrett in die Hand und hakte den vorvorletzten Punkt ihrer Liste ab:

Gigantisches Outfit anziehen!

Blieben nur noch „unglaublich niedliche Ohrstecker in Eisblumenform einsetzen“ und, der eher lästige und leidige Punkt ihrer Liste „In die Limousine mit Haymitch, dem ungezähmten Saufbold einsteigen und die Fahrt lang bis zu Snows Palast unendlich leiden.“

Mit einem Seufzen im Hinblick auf letzteres ergriff sie die winzigen Ohrstecker und schob sie durch ihre Ohrlöcher. Freudig klatschte sie in die Hände, hakte auch diesen Punkt mit einem gezielten (und wenn man das so bemerken darf wunderhübschen) Häkchen ab und griff sich ihre Handtasche. Es war Zeit, den letzten Punkt in Angriff zu nehmen. Doch Effie wäre nicht Effie, hätte sie nicht schon vorgesorgt. So kam es, dass sich in ihrer Handtasche ein edles Seidentuch befand, natürlich farblich auf ihre äußere Erscheinung abgestimmt, um vorgeben zu können, sie sei verschnupft. Dann müsse sie schließlich nicht den widerwärtigen Geruch nach Alkohol ertragen, den Haymitch so gerne ausdünstete.

Eilig fuhr die Betreuerin des zwölften Distriktes mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, nur um dort exakte drei Minuten zu früh zu sein. Kurz genug, um in der Kälte draußen nicht zu frieren. Federnden Schrittes verließ sie das Gebäude, streckte wie immer prüfend ihre Hand aus und stellte erleichtert fest, dass das Kapitol den Kunstschnee heute einmal ausgeschaltet ließ – sicherlich eine Anordnung Snows, damit niemand sich mit zerstörten Frisuren herumärgern musste. Denn glücklicherweise hatte man vor einigen Jahren in den reicheren Gegenden des Kapitols eine automatische Wetterkontrolle eingeführt – ein wahrer Segen. Im Winter regnete es nun nur noch herrlichen, weichen Kunstschnee, der nie in ekligen Pfützen am Ende des Winters über blieb.

Da kam auch schon mit einem Surren die elektrische Limousine um die Ecke gefahren. Im inneren ihres Herzens freute Effie sich jetzt wie ein kleines Kind, doch wie immer strich sie sich schlicht über das Gewand und wandelte ihre Nervosität in ein strahlendes Lächeln.

Ein rothaariger Avox in einem eleganten Smoking stieg flugs aus und hielt ihr emotionslos die Tür auf. Vorsichtig ließ sie sich in das Innere auf die zarten Lederpolster gleiten. Vor lauter Staunen gingen ihr fast die Augen über, denn es gab sogar eine Fernsehwand und eine kleine Bar samt dazugehörigem Barkeeper. Fasziniert wie ein kleines Kind ließ sie ihre Hände über die Lederpolster fahren und konnte nicht umhin, als ein kleines „Oh“ von sich zu geben, als sich ihr schlagartig dieser Luxus eröffnete. Hätte sie nun nur noch ein kleines wenig länger damit verbracht, erstaunt zu sein, so hätte sie sicherlich Haymitch Abernathy nicht einmal bemerkt, doch leider war Effie einfach zu sehr darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen und wandte so ihre Aufmerksamkeit dem ungeliebten wie wichtigen Haymitch zu.

„Haymitch“, grüßte sie ihn gedehnt, worauf aus der Sitzecke nur ein unwollendes Grummeln ertönte.

„Wie ich sehe haben sie sich auch dem Anlass entsprechend gekleidet“, fing sie ein Gespräch an, nur um kein unangenehmes Schweigen aufkommen zu lassen.

Sein Outfit war nun wirklich nicht so bemerkenswert, aber was sollte man schon erwarten, dachte sie bei sich. Und überhaupt – weiß stand ihm gar nicht. Wer war nur auf die Idee gekommen, Haymitch in einen komplett weißen Frack zu kleiden? Missbilligend schüttelte sie leicht den Kopf über diese unfassbare Unfähigkeit. Haymitch jedoch stieß nur ein weiteres Grummeln aus und murmelte:

„Habs mir nich ausgesucht… wurd gezwungen. Verdammte Stylisten.“

Jetzt kam doch noch das unangenehme Schweigen auf, das zu vermeiden sie versucht hatte.

„Also, ähm, Haymitch, wie ist das… Wetter daheim?“, fragte sie betont fröhlich nach. „Kalt.“, lautete die einsilbige Antwort.

„Hm-mm.“

„Wie geht es unseren strahlenden Siegern?“

„Wunderbar“, ätzte Haymitch in einem gespielten Kapitolakzent.

„Wenn man ignoriert, dass sie jede Nacht Albträume haben“, führte er weiter aus. Unglücklich rutschte Effie weiter in die Polster, als wolle sie in ihnen verkriechen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Sie musste sich schon krampfhaft anstellen, um noch zu schlucken, denn plötzlich schien all ihr Speichel fortzubleiben.

Haymitch war schließlich der erste, der das Schweigen unterbrach:

„Keine Sorge, Elfchen, wir kriegen das schon hin!“, polterte er, den verhassten Spitznamen für sie verwendend. Säuerlich verzog sie für einen Moment ihr Gesicht, dann beschloss sie, nicht näher darauf einzugehen.

„Freuen sie sich schon auf das Fest?“, gab sie stattdessen unbeteiligt von sich.

„Unheimlich“, spuckte er wiederrum aus.

Es war zum verrückt werden mit diesem Mann! Niemals gab er auch nur mehr als einsilbige oder unwillige Antworten! Er hätte einen Benimmkurs wahrlich nötig. Wenigstens schien er noch nüchtern zu sein, was Effie schon einiges ersparte.

Doch weitere, peinliche Gesprächsversuche waren schon gar nicht mehr nötig, denn nun hielt die Limousine schon mit einem sanften Ruck an und die Tür wurde geöffnet. Mühselig schälte sie sich aus den Polstern, die einen Tick zu weich gewesen waren und begab sich nach draußen in die Kälte.

Beeindruckt legte sie ihren Kopf in den Nacken.

„Snows Palast“, flüsterte sie andächtig. Dies war ein Ort, den sie noch nie besucht hatte, außer in ihren Träumen. Sie musterte den imposanten weißen Hausklotz, der sich maßgeblich von allen andern Häusern unterschied, denn der Palast war gebaut, wie vor vielen hundert Jahren einst die Häuser gebaut worden waren – ohne Stahl und digitale Fensterfronten, ganz klassisch und elegant, genau das war der Reiz daran.

„Haymitch, ich bin ja so aufgeregt!“, flüsterte Effie leise und schlug diesem unbewusst ihre in „Zartem Eiskristallblau mit Schimmerpartikeln“ lackierten Nägel in den Arm. Jaulend versuchte dieser, seinen Arm zu retten, doch Effie hatte ihn bereits in ihrem typischen Zangengriff und schlang ihre Arme um den seinen, als sei sie die Betrunkene und suche verzweifelt Halt.

So stöckelte, beziehungsweise schlurfte das ungleiche Paar auf die Portale des altmodischen Palastes zu. Am Eingang wurden sie bereits erwartet und man wollte ihnen gerade einen Empfangsprosecco überreichen, als eiskalt ihren Arm herum riss und glaubte, plötzlich eine interessante Schulfreundin erspäht zu haben. Den unglücklichen Haymitch schleifte sie derweil wie eine willenlose Puppe hinter sich her. Erst am Büffet, weit genug von den verhängnisvollen Tropfen entfernt wagte Effie es, wieder anzuhalten. Peinlich berührt löste sie sich von Haymitch und errötete unter den Schichten von „Puderweißem Winter Make-Up der höchsten Reinheitsstufe“ sichtbar, als ihr klar wurde, dass sie gerade die Party ihres Lebens im Schlepptau von Haymitch Abernathy, dem größten Trunkenbold der Welt betreten hatte.

„Also Haymitch, heute Abend um Mitternacht fährt unsere Limousine – bis dahin gilt: Kein Alkohol. Wir wollen uns ja nicht blamieren.“, verteilte sie ihre Instruktionen.

Als Antwort bekam sie nur ein schiefes Grinsen, dann schlenderte Haymitch ziellos durch die Menge von dannen.

Effie jedoch war bereit, sich all den Leuten vorzustellen, die sie sonst nur aus der Zeitung kannte. Fröhlich lächelnd fing sie an, ihre Runden durch die wahnsinnig große Empfangshalle zu drehen und versuchte, nicht allzu beeindruckt von den mannshohen Lüstern an der Decke zu sein, was ihr sichtlich schwerfiel. Nach der fünften Runde fiel ihr Blick auf einen großen Schokoladenbrunnen und sie spürte, wie sich ihr Magen bemerkbar machte. Sie hätte mehr Tabletten nehmen müssen, schimpfte sie mit sich selbst, denn sie wolle doch nicht gerade am Essen sein, wenn sich ihr jemand wichtiges vorstellte!

Doch auch eine Effie Trinket wirft nach 20 Runden langsam ihre Bedenken über Bord. Mittlerweile erschien es mehr, als würde ein hungriger Hai um das Büffet kreisen, als eine sich nach Aufmerksamkeit sehnende Effie, doch bisher hatte noch niemand sich um sie geschert.

In der Mitte der 21. Runde hielt sie es nicht mehr aus und sie wagte sich mit Trippelschritten an das Büffet heran. Zaghaft piekte sie eine Weintraube auf und hielt sie geziert, um sich nicht zu beschmutzen, unter den Schokoladenstrahl. Fast hätte sie sich noch über die Lippen geleckt vor lauter Hunger, ehe sie die Frucht in ihren Mund steckte.

Kaum, dass die Weintraube ihren Magen erreicht hatte, explodierte in ihr der Hunger. Leicht frustriert schnappte sie sich einen Teller, den sie sich mit ausgewählten Häppchen volllud. Gerade, als sie sich auf eine der Sitzgelegenheiten niedergelassen hatte, kam Devan Bucketwood, ausgerechnet der Stylist des Kapitols an ihr vorbei. Aufgeregt errötete Effie und spürte, wie ihre Hände wieder anfingen zu zittern. Wenn er wüsste, wie viele Kleider von ihm sie besaß… Gerade wollte sie aufstehen, als Devan Bucketwood sich einfach im Vorbeigehen eines der Häppchen von ihrem Porzellanteller schnappte, der übrigens auch noch passendes Winterdekor am Rande hatte, und einfach nur sagte:

„Danke für das Häppchen.“

Ohne ein weiteres Wort ging er einfach weiter!

Für was hielt er sie?

Sie war Effie Trinket, die erste in der Geschichte Panems…

Wütend wollte sie ihrem Ärger Ausdruck verleihen, doch ihr Hals war ausgetrocknet und sie bekam kein einziges Wort heraus. Unglücklich senkte sie den Blick und hoffte, dass niemand ihre Misere mitbekommen hatte. Der Teller in ihren Händen fing an zu zittern und fast, aber auch nur fast, hätte Effie einige Tränen verdrücken müssen. Doch stattdessen stellte sie einfach nur den Teller neben sich und versuchte, mit so beherrschten Schritten wie möglich, den Zugang zur Terrasse zu erreichen, dem einzigen Ort des Hauses, an dem sich vielleicht keine Gäste finden lassen würden. Leise öffnete sie die großen, verglasten Terrassentüren und schlüpfte hinaus in die Kälte. Sanfte Flöckchen fielen vom Himmel und es machte ihr nicht einmal mehr etwas aus, stattdessen ließ sie es einfach auf ihre Haarpracht schneien. Eine Weile lang starrte sie einfach nur in die nächtliche Schwärze und versuchte, zu verstehen, wann alles so schrecklich schief gelaufen war, doch das war gar nicht so einfach herauszufinden, denn sie hatte doch alles richtig gemacht, verdammt noch mal!

Sie war doch die Königin der Verhaltensregeln und überhaupt!

In diesem Moment riss eine Stimme sie aus den düsteren Gedanken:

„Hey Elfchen, willst du dir die passenden Erfrierungen zum Kleid holen?“

Wortlos blickte sie weiter in die Schwärze, denn sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Haymitch sie gefunden hatte. Ausgerechnet!

Sie erwartete fast schon, dass er wieder gehen würde, wenn sie nur hartnäckig blieb, doch stattdessen fühlte sie, wie sich eine warme Jacke über ihre Schultern senkte.

„Bei aller Liebe, aber das kann ich nicht zulassen“, murmelte Haymitch und stellte sich neben sie.

„Erfrierungen sind eine hässliche Sache. Lass dir lieber Tattoos verpassen.“

Effie verzog ihr Gesicht, bedankte sich aber höflich, wie es sich geziemte.

Dennoch war sie nicht in der Stimmung zu sprechen und da hier draußen niemand war, ließ sie ihre Gepflogenheiten doch noch ein wenig schleifen.

„Tattoos sind zwar auch hässlich, aber wenigstens nicht lebensbedrohlich. In zwölf erfrieren jeden Winter so viele“, fuhr Haymitch ungerührt und ungewohnt leise fort. Überrascht hielt sie die Luft an. Redete er ernsthaft gerade über etwas anderes als Alkohol und wie grässlich ihre Kleider waren?

„Vor allem Kinder. Und nichts kann ich machen, außer wegschauen. Aber vielleicht würd dir sogar ein kleines Tattoo stehen, Elfchen, was meinst du?“

„Das ist furchtbar“, erwiderte sie und zog die Jacke enger um ihre Schultern.

„Wirklich? Wie wäre es mit einer Elfe?“

Effie seufzte gedehnt:

„Die Kinder, Haymitch.“

„Oh. Deswegen sag ich ja, dass du dich wärmer kleiden sollst, damit du nicht so endest wie sie.“

Betreten schaute Effie zu Boden. Sie hatte nie groß über den Winter in Distrikt zwölf nachgedacht.

„Kann man da gar nichts machen? Es gibt doch Tesserasteine!“

Doch Haymitch schüttelte nur den Kopf und tätschelte ihr die Schulter.

„Doch doch, Elfchen. Zerbrich dir mal nicht den Kopf, ich und ein paar Bekannte werden da schon was unternehmen, damit niemand mehr frieren muss.“

Er lächelte beschwichtigend.

„Oh, das ist wunderbar, dass du so etwas tust“, sagte Effie, ehrlich erfreut. Haymitch Mundwinkel zuckten und es sah fast so aus, als müsse er lächeln. Ihr fiel auf, dass sie ihn noch nie hatte lächeln sehen – in all den Jahren nicht.

„Und was bedrückt das Elfchen?“, fragte er locker daher.

Jetzt war es an Effie, unwillig zu grummeln.

„Das Fest… es ist toll, oder?“, stellte sie mit gekünstelter Stimme eine Gegenfrage.

Doch wie Haymitch war schüttelte er den Kopf.

„Es ist grausam.“

Schmerzlich seufzte sie.

„…Schon.“

„Wer war es, dessen unziemliche Umgangsformen dich empört haben?“, scherzte Haymitch locker.

Ein wenig bockig und rachsüchtig spuckte Effie seinen Namen aus:

„Devan Bucketwood. Niemand klaut sich einfach Essen von mir!“

Haymitch lachte nur und legte ihr einen Arm um die Schulter.

„Niemand macht das Elfchen doof an!“, rief er aus und drehte sich wankend mir ihr im Arm um.

„Dem werde ich es zeigen!“

„Haymitch, hast du eigentlich getrunken?“, empörte Effie sich, doch das kleine, winzige unziemliche Grinsen auf ihrem Gesicht konnte sie nicht vollständig unterdrücken, denn sie war keineswegs so perfekt, wie sie sein wollte, aber das störte zumindest einen nicht und das war Haymitch Abernathy, der ganz eindeutig eine Rechnung mit Dean… Daniel… also einem Typen offen hatte.

 

Winterblüten


 

4.      Dezember – Winterblüten
 

Annie Cresta
 

Finnick Odair
 

 
 

*
 

 

Sie war die Einzige, die den ganzen Tag schon dort saß und wartete. Während alle um sie herum in Bewegung waren und kamen und gingen, saß sie da, seit dem frühen Morgen, wie all die Tage zuvor und wartete. Was sonst hätte sie mit ihrer Zeit auch tun sollen? In dem großen leeren Haus kamen nur wieder die Geister der Vergangenheit zu ihr, die nie ganz besiegt waren. Vielleicht eines Tages, doch nicht jetzt. Also wartete sie, egal wie kalt es war, egal wie viel Schnee fiel. Jeden Tag seit er weg war saß Annie Cresta an der kleinen verschneiten Bahnhofsstation, den gleichen weißen Mantel an, weil er ihn ihr geschenkt hatte. Ihre Hände waren rau und gesprungen von der vielen Kälte und doch hielt sie immer noch ihr Geschenk für ihn in den Händen, unermüdlich, Tag für Tag.

Es störte sie nicht, dass sie nie genau wusste, wann er zurückkommen würde, denn das erhöhte die Vorfreude nur, bis er endlich da war – meistens völlig überraschend. Annie sagte sich einfach immer, dass sie wenigstens etwas hatte, für das es sich lohnte zu warten.

Wieder fuhr ein Zug in den Bahnhof ein, eine rot-schwarz glänzende Lok des Kapitols, mit dem unmissverständlichen Siegel der Hauptstadt. Die Anspannung des dunkelhaarigen Mädchens erhöhte sich kaum merklich, erwartungsfreudige Röte glitt in ihre Wangen und sie wartete. Unendlich langsam kam der Zug zum Halt, ein quietschendes Geräusch ertönte und er stand. In Annies Brust schlug ihr Herz immer stärker, denn es war kein Frachtenzug, sondern tatsächlich einer der selteneren Fahrgastzüge, die zumeist Besucher wie Betreuer aus dem Kapitol brachten. Nervös befeuchtete sie ihre Lippen, als sich die Türen öffneten und erhob sich, einfach nur… falls er aussteigen würde. Selbst wenn es närrisch war, das immer und immer wieder zu glauben.

Zuerst stieg ein Kamerateam aus, das umständlich mit den vielen Taschen und Koffern hantierte, die sie zu transportieren hatten. Bestimmt wollten sie wieder die Sieger beim Weihnachtsbankett filmen. Annie schluckte, denn dies war einer der wenigen Tage, an denen ihr wieder mit aller Eindringlichkeit klar wurde, dass sie für immer die Siegerin bleiben würde, die große Mörderin ihrer Spiele. Schon jetzt fürchtete sie sich vor diesem Tag. Unruhig betrachtete sie die Frau mit den rosafarbenen Haaren, die Zuckerstangen als Ohrringe trug. Etwas Geschmacksloseres konnte sich Annie nun wirklich nicht vorstellen. Sie dachte nur daran, dass sie nicht von ihnen entdeckt werden wollte. Bloß kein Aufsehen erregen, das waren ihre Maxime. Wie Elefanten auf dünnem Eis wankten die schrillen Vögel jetzt zum Ausgang des Bahnhofes. Vergnügt kicherte Annie über die Unbeholfenheit der Gruppe. Mitunter konnten einem die hilflosen Wesen schon leidtun.

Ein Ruf durchbrach die weihnachtliche Stille des kleinen Bahnhofes.

„Annie!“

Überrascht wirbelte das zierliche Mädchen herum und da war er: Finnick Odair. Er stürmte aus dem Waggon, rannte auf sie zu, während Schnee sich in seinen Haaren verfing. Noch ehe sie einen Schritt tun konnte, hatte er sie bereits erreicht, seine Taschen fielen einfach zu Boden und den letzten Schritt tat er behutsam an sie heran.

„Annie“, flüsterte er noch einmal und drückte sie atemlos an sich. Ein glückliches Lächeln stahl sich auf ihr rosiges Gesicht. Am Ende würde sie immer Recht behalten, dachte sie bei sich.

„Oh Fin!“, flüsterte sie und drückte ihr Gesicht an seine warme Brust. Wie immer haftete noch ein wenig des flüchtigen Geruches des Kapitols an ihm, doch Annie hatte gelernt, damit umzugehen. Sanft strich er ihr über die Haare und blickte sie dann strahlend an, seine blau-grünen Augen leuchteten förmlich und die wild abstehenden Haare in die weiche Schneeflocken gerieselt waren ließen ihn jünger und unbeschwert wirken. Annie spürte, wie sich ein Glücksgefühl in ihr ausbreitete und sie lächelte, während ihr kleine Tränen in die Augen stiegen – vor Freude. Peinlich berührt errötete sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

„Ich freu mich so“, schniefte sie. Finnick lächelte, sein echtes und warmes Lachen, nicht das, welches er für das Kapitol aufsetzte. Er lächelte sie wirklich glücklich an und nahm sie in die Arme, um sie zu küssen.

Innig umarmten sie sich einen Moment lang und genossen ihre Einsamkeit an dem abgeschiedenen Bahnhof, während weiße Flocken auf sie herab fielen und sie langsam durchnässten.

Schließlich löste er sich zaghaft von ihr und warf ihr seinen Schal über die Schultern.

„Himmel, Annie, du bist völlig ausgekühlt! Ich will gar nicht wissen, wie lange du hier schon wartest…“, bemerkte er besorgt.

„Lange genug, um rechtzeitig da zu sein“, entgegnete Annie verschmitzt und wickelte sich enger in den wunderbar warmen Schal ein, der so vertraut roch.

Ein klein wenig nervös nestelte sie die Schleife an ihrem kleinen Geschenk zu Recht und sagte dann zögernd:

„Ich habe ein Geschenk für dich, Fin.“

Neugierig blickte er sie an, während sie ein wenig schüchtern die Schachtel in ihren Händen zeigte.

„Es ist nichts Besonderes“, hob sie an, doch Finnick legte ihr einen Finger auf den Mund und nahm die Schachtel grinsend an sich.

„Wenn es von dir kommt, dann ist es etwas Besonderes“, sagte er bestimmt und zog vorsichtig die rote Schleife auseinander. Zwischen zartem Seidenpapier eingewickelt lag eine Muschel in rosiger Färbung, die fein gedreht war und allgemein sehr zerbrechlich aussah.

„Du magst diese Art von Muscheln doch so sehr und zuhause sah es so leer aus und ich dachte… du magst vielleicht ein Andenken an den Sommer und das Meer haben“, erklärte sie, den Blick auf den Boden gerichtet.

Vorsichtig hob Finnick die Muschel aus ihrer Schale und drehte sie in den Händen. Sie war wirklich wunderhübsch und recht groß für eine derartige Muschel. Doch die größte Überraschung waren die feinen Daten eines Tages, der beiden für immer in Erinnerung bleiben würde, die in die Innenseite der Muschel geschrieben worden waren, ganz fein, nur die oberste Schicht war beschädigt worden, sodass die Schrift weiß im Gegensatz zu dem rosafarbenen Inneren des Muschelgehäuses war.

Ein Leuchten erhellte seine Augen und er hob zaghaft Annies Kinn an.

„Ich liebe dich.“

Er küsste sie liebevoll.

„Du bist die wunderbarste Frau auf Erden.“

Sie lächelte.

„Es freut mich, wenn sie dir gefällt.“

Mit der einen Hand hob der ehemalige Sieger sein Gepäck hoch, mit dem anderen umarmte er seine geliebte Annie und er flüsterte amüsiert:

„Wie könnte mir etwas von dir nicht gefallen?“

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück in den Distrikt, zu ihren Häusern im Siegerdistrikt, doch heute würden sie zum ersten Mal seit langer Zeit nicht mehr alleine sein, sondern endlich wieder vereint.

Selten nur kam es vor, dass Distrikt vier unter einer Schneedecke versank, doch dieses Jahr war eines dieser Jahre. Alle Häuser im Siegerdistrikt trugen weiße Mützen und Festtagsgirlanden hingen von Haus zu Haus. Ihre Bewohner feierten gerne und nahmen jeden Festtag als willkommenen Anlass, sich von ihrem bisherigen Leben abzulenken und auch Finnick bildete dort keine Ausnahme. Eine einzelne Lichterkette zierte sein Haus, das einzige Eingeständnis an das Kapitol. Jetzt, wo er so in der langsam heraufziehenden Dämmerung mit Annie zu seinem Haus ging, fühlte es sich friedlich an, als wären sie ein Ehepaar, dass von einem langen Ausflug zurückkam in die Geborgenheit des eigenen Heimes, und zumindest für den Moment genoss er die Illusion.

Kaum, dass Finnick die Haustüre aufgeschlossen hatte, überwältigte ihn der Duft frischer Plätzchen und eine unerwartete Wärme schlug ihm entgegen. Mit einem schrillen Maunzen schoss sein Kater Sam in Rekordtempo an ihm vorbei in den Wohnraum.

Mit einem Seufzen zog Finnick die Tür hinter sich und Annie zu. Er war wieder daheim. Agatha, seine Haushaltshilfe hatte vermutlich wieder einmal den armen Sam ausgesperrt, aber dafür warteten dem Geruch nach sicherlich Zimtsterne in der Küche.

Annie grinste, während sie sich aus ihrem Mantel schälte und bemerkte:

„Die gute Agatha wird es nie lernen oder? Sam hat sich bestimmt draußen bei dem ganzen Schnee die Pfoten erfroren!“

„Ach, der ist hart im Nehmen, ein wahrer Odair-Kater“, lachte Finnick.

Hungrig grummelte schließlich sein Magen und der Bronzehaarige schlich sich in die Küche, wo auf der Anrichte bereits ein großer Teller voll von Agathas Köstlichkeiten wartete. Flinke schnappte er sich einen der Zimtsterne und schob ihn sich in den Mund. Himmlisch!

Mit vollem Mund kehrte er so zu Annie zurück, die es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht hatte, den Teller in einer Hand balancierend, mit der anderen verscheuchte er Sam, den ungezogenen Kater, von der Couch.

„Du sollst doch nicht naschen!“, rief Annie empört.

Finnick zog nur eine Augenbraue hoch und nuschelte mit vollem Mund:

„Isch konnt nisch widerstehen.“

Mit diesen Worten drückte er ihr den Teller in die Hand und lief in den Hausflur zurück, wühlte in einer seiner Taschen und kam dann mit einem verschlagenen Grinsen auf dem Gesicht zurück.

„Ich habe auch ein Geschenk für dich.“

Überrascht blickte Annie ihn an.

„Mehr als das, das du zurück bist?“

Er nickte, während er ihr schweigend einen in Blumenpapier eingewickelten Gegenstand überreichte. Verwirrt machte Annie sich daran, dass mysteriöse Geschenk auszuwickeln. Langsam kam zwischen den roten Schichten des teuren Papiers ein dunkler Ast zum Vorschein. Noch verwirrter blickte sie Finnick an.

„Das ist der Zweig eines Kirschbaumes“, erklärte dieser.

Da er bereits das Fragezeichen in Annies Gesicht sehen konnte führte er weiter aus:

„Er ist Teil eines Brauches. Am vierten Tage des Dezembers stellte man sie schon früher in eine Vase mit Wasser, damit sie, so die Erzählungen, am heiligen Abend erblühten, denn dies soll Glück verheißen. Ich weiß, du magst zwar kaum Dinge, die aus dem Kapitol kommen, doch ich dachte, dir könnte dieser Brauch gefallen. Man hat mir versichert, dass er ganz wunderschöne Blüten haben würde.“

Mit großen Augen musterte Annie währenddessen den unscheinbaren Zweig.

„Das ist ein wunderschöner Brauch“, flüsterte sie, „ich gehe kurz eine Vase holen“, fügte sie hinzu.

„Aber es gibt noch etwas!“, rief Finnick ihr hinterher, während sie in Richtung Küche verschwand.

„Alle unverheirateten Mädchen sollten den Namen ihres Geliebten in den Stamm einritzen, und wenn dieser Zweig erblüht, dann wird ihnen eine Heirat gewiss sein!“

Er hörte, wie sie in der Küche leise lachte.

„Ich brauche deinen Namen nicht in den Zweig einritzen, denn schließlich soll er uns beiden Glück bringen. Noch kann man sich selbst nicht heiraten.“, erwiderte sie.

Nun lachte er ebenfalls und machte sich daran, ein Feuer in seinem Kamin anzufachen. Wie Recht sie doch hatte. Alles, was sie brauchten, war ein wenig gemeinsames Glück. Er war sich bewusst, wie aussichtslos es um eine Heirat stand, doch solange sie hier zusammen sein konnten, würden sie glücklich sein.

Draußen rieselte leise der Schnee weiter, während Annie den Zweig in seiner Vase auf das Fensterbrett stellte und ihn mit einem Lächeln begutachtete. Es wäre wunderbar, wenn sie auch im nächsten Jahr wieder an dem Bahnhof sitzen und auf Finnick warten könne.

Dieser schlang von hinten seine Arme um sie und küsste sie zart. Auch er würde sich freuen, wenn er nächstes Jahr wieder in einem Zug daheim sitzen und wissen würde, dass sie ihn erwartete. Vielleicht würden diese Blüten des Winters ihnen ja den Segen geben.

 

Anmerkung:

Den Brauch, der hier beschrieben wird, gibt es wirklich. Am vierten Dezember, dem sogenannten Barbaratag stellte man schon früher Obstzweige in eine Vase, damit diese an Heiligabend blühten um Glück zu bringen. Vor allem in den osteuropäischen Ländern ist dieser Brauch verbreitet, bis hin nach Bayern.

Benannt ist der Tag nach der heiligen Barbara von Nikomedien, die vermutlich im dritten Jahrhundert lebte und auf deren Grabe an Heiligabend der Legende nach Blumen gewachsen sein sollen, daher eventuell der Brauch.

Ich hoffe wie immer, dass euch der OS gefallen hat und entschuldige mich für die späte Uhrzeit, aber mit der Schule und sonstigen Verpflichtungen ist es nicht immer leicht, den OS so früh wie am Wochenende hochzuladen ;)

Liebe Grüße,

eure Coronet

Wintergrau


 

5. Dezember – Wintergrau
 

Fuchsgesicht
 

 
 

*
 

 

„Bis heute Abend, ich bin zur Arbeit!“

Einen Moment lang stand das rothaarige Mädchen regungslos im Hausflur, ehe sie seufzend ihre Handschuhe überstreifte und die Haustür aufzog, um in den grauen Wintermatsch, der draußen vor der Tür auf sie wartete, zu gehen. Sie würde ohnehin nie eine Antwort bekommen, war doch keiner mehr da, der ihr antworten konnte. Dennoch verabschiedete sie sich jeden Tag – von wem wusste sie nicht. Zu gehen ohne etwas zu sagen erschien ihr auch nach einem Jahr immer noch unmöglich.

Den Kragen ihrer abgewetzten Jacke hochgeklappt schlich sich das Mädchen in den unwirtlichen Morgen hinaus, um zu ihrer Arbeit zu gehen, die im Winter erst so richtig anfing.

Nur wenig später kletterte eben dieses Mädchen, dem der Name Finch gehörte, behände eine gefrorene Leiter hinauf. Der Boden blieb weit hinter ihr zurück, doch sie drehte sich nicht um, sondern hielt den Blick weiter fest auf ihr Ziel gerichtet. Eine Hand vor die andere setzend erklomm sie das Dach des Elektrizitätswerkes, das heute ihr Arbeitsplatz sein würde.  Zwar konnte ein falscher Schritt ihr Leben kosten, doch Finch war unerschrocken, wie alle in ihrer Familie es gewesen waren, doch sie war auch klein, wendig und nicht zuletzt intelligent, was für ihre Arbeit unerlässlich war. Nicht jeder konnte auf Dächer klettern, noch dazu im Winter.

Vorsichtig setzte sie jetzt einen Fuß auf das verschneite, graue Schieferdach des Werkes.

Alles in allem war dieser ein ganz normaler Tag in Distrikt fünf, der wie jeden Winter stark von den Schneefällen getroffen worden war. Ganze Werke des Distriktes wären ohne Strom – wenn da nicht Finch wäre. Das kleine, fuchsgesichtige Mädchen war eine herausragende Kletterin und arbeitete im lokalen Reparaturdienst, die sich um die Innstandhaltung und Wartung der Fabriken und Stromerzeugungswerke des Distriktes kümmerten. So kam es, dass sie jetzt, am frühen Morgen, bereits das Dach des Elektrizitätswerkes erklommen hatte, gekleidet in einen Winteroverall und einen Werkzeuggurt um. Eine der Spulen, die die Strom führenden Drahtseile hielten, drohte sich zu lockern aufgrund des Schnees und auch an allen anderen Ecken und Enden drohte das Werk zusammen zu brechen, wie so ziemlich alles in diesem Bereich von Distrikt fünf.

An anderen Stellen arbeiteten bereits weitere ihrer Kollegen, doch für diesen einen speziellen Auftrag war vor allem Finch geeignet, da sie so klein und wendig war – wie ein Fuchs, wie manche Leute amüsiert bemerkten und nachdem sie auch ihren Namen erhalten hatte. Die Arbeit war gefährlich, doch sie kannte bereits alle Gefahren. Geschickt umwanderte sie die Stellen des dünnen Daches, die bei zu großer Belastung einzubrechen drohten und bewegte sich nur über die durch Holzbalken gestützten Teile des Daches fort.

An ihrem Ziel angekommen holte sie ihr Werkzeug aus dem Gurt und kroch vorsichtig unter die Spule. Eiskalt und feucht von dem Schnee war der Boden und fröstelnd biss sie die Zähne zusammen. Winter war die mit Abstand unangenehmste Jahreszeit für sie, da ihr dann die Finger steif vor Kälte wurden und das Eis die Arbeit noch gefährlicher machte.

Grimmig hauchte sie in ihre eiskalten Hände, sodass ihr warmer Atem sie ein wenig aufwärmte und machte sich dann daran, gelockerte Schrauben wieder zu festigen, Schnee von empfindlichen Teilen zu schieben und Ausschau nach weiteren Gefahren zu halten.

Eine gute Zeit lang war sie damit beschäftigt, doch schließlich konnte sie aufatmen und sich zwischen den gefährlichen Stromdrähten hinaus winden. Meist merkte sie erst, wie angespannt sie gewesen war, wenn sie wieder fort von dem Strom konnte, der sie während ihrer gesamten Arbeitszeit über bedrohte. So war es auch jetzt wieder. Entspannt streckte sie ihre Glieder und machte sich an den Abstieg.

Bereits auf dem Weg nach unten drehten sich die Gedanken Finchs darum, was sie auf dem Nachhauseweg zum Abendessen kaufen könne und ob sie bereit wäre, eine Überschicht zu schieben, um die Miete für einen weiteren Monat aufzubringen.

Völlig in Gedanken versunken kam sie am Boden an, wo sich bereits andere Kollegen versammelt hatten, um ihren heutigen Lohn abzuholen. Geschickt schlüpfte sie durch die Menge nach vorne, um als eine der ersten an ihren Lohn zu gelangen. Mit unschuldigem Gesicht schob sie sich zu ihrem Vorgesetzten durch, der ihr mit warmem Lächeln einige Münzen in die Hand drückte.

„Frohes Fest auch dir, meine liebe Finch. Du hast es dir verdient.“

„Ihnen auch“, entgegnete sie und schob das wenige Geld in ihre Jackentasche. Heute Abend würde sie wenigstens nicht hungrig sein. Am besten würde sie einfach so tun, als sei ein gewöhnlicher Abend und nicht ausgerechnet schon das Weihnachtsfest.

„Hey Finch!“, rief da jemand durch die Menge.

Verwundert drehte die Rothaarige sich um, doch in der Masse der gräulich gekleideten Arbeiter konnte sie niemanden ausmachen, der sie gerufen haben könnte. Achselzuckend drehte sie sich wieder um und pustete sich in die hohlen Hände, die sie kaum noch spüren konnte. In diesem Moment tippte sie jemand auf die Schulter.

„Fuchs, bist du taub?“

Direkt hinter ihr stand Nora, eine zwei Jahre ältere Arbeiterin, die so ziemlich das Vorbild des oft ‚Fuchs‘ genannten Mädchens war. Das dunkelhäutige Mädchen mit dem strahlenden Lächeln schaffte Dinge, die Finch vor einiger Zeit verlernt hatte. Sie konnte mit jedem sprechen, war immer höflich und fröhlich, noch nie hatte Finch sie traurig gesehen, dementsprechend beliebt war sie natürlich.

Augenblicklich spürte das eher schüchterne Mädchen, wie ihr Herz anfing zu schlagen. Nora arbeitete schon länger als sie und könnte es sein… nun ja, dass sie etwas falsch gemacht hatte?

Doch Nora lächelte nur weiter.

„Wo gehst du schon hin? Immerhin ist doch Weihnachten.“

Überrascht weitete Finch die Augen.

„Ach, ich brauche noch etwas zu essen und naja, nach Hause halt“, murmelte sie schüchtern, während sie es nicht einmal wagte, Nora anzusehen, aus Angst, diese zu beschämen.  

„Oh“, sagte Nora teilnahmsvoll und ergriff Finchs Hand, „wie wäre es, wenn du mit mir mitkommst?  Wir feiern eine große Weihnachtsfeier und ich denke, je mehr desto besser!“

Begeistert lachte Nora, doch Finch war viel zu perplex, um auch nur zu lachen. Sollte es wirklich stimmen, dass ausgerechnet Nora sie einladen wollte, an einer Weihnachtsfeier teilzunehmen? Sie wollte es nicht glauben und doch… Nora war doch schließlich ein freundlicher Mensch. Aber warum ausgerechnet ihr gegenüber?

Mit zu Boden gerichtetem Blick dachte sie daran, dass sie eigentlich allein zu Hause hatten sitzen und an das vergangene Weihnachtsfest mit ihren Eltern zu denken, dass nun nie wieder zurückkehren würde. Doch jetzt zupfte Nora und redete aufgeregt davon, wie wunderbar es wäre, wenn Finch mit ihr käme. Nora, die ihr Vorbild war, weil sie einfach herzlich war, immer gut, immer lustig, so wie sie es gerne wieder wäre.

Ein kleines Lächeln huschte über Finchs Gesicht und sie nickte zaghaft, während Röte in ihre Wangen schoss.

„Danke für die Einladung“, erwiderte sie. Doch Nora lachte nur.

„Kein Dank nötig, es ist ja nicht meine Weihnachtsfeier“, sagte sie zwinkernd. Unsicher hob Finch die Augenbrauen:

„Ähm, darf ich dann überhaupt dabei sein?“

Mit einer wegwerfenden Handbewegung winkte Nora ab.

„Aber klar doch, mach dir da mal keine Gedanken!“

Langsam setzte sie sich in Bewegung und Finch musste sich beeilen, mit der Älteren Schritt zu halten.

„Also Finch, wir arbeiten jetzt ja schon einige Zeit lang zusammen, aber von dir habe ich immer noch verdammt wenig gesehen und gehört.“

Finch lächelte nur verlegen.

„Über mich weißt du ja schon sicher alles… Ich bin das fröhliche Mädchen mit dem großen Mundwerk“, redete Nora einfach weiter, „es ist ganz schön langweilig, wenn alle Menschen immer schon denken, dass einen kennen.“

Sie lächelte schief und schien einen Moment lang nachzudenken.

„Naja, kennen tue ich dich nicht“, sagte Finch leise, „aber es wäre schön.“

Nora lachte nicht übermütig, wie Finch es erwartet hatte, sondern blickte sie mit großen Augen an.

„Ehrlich? Gott, ich dachte immer, du würdest niemanden von unserer Schicht leiden können!“

Jetzt kam doch noch der glucksende Lacher zum Vorschein.

Überrascht schüttelte das zierliche Mädchen den Kopf.

„Nein… ihr seid alle toll, aber naja…“

„Hast du etwa Angst vor uns? Wir mögen vielleicht älter sein, aber Finch, wenn jemand von uns geschickt ist, dann DU!“

Freundlich drückte sie ihre Schulter.

Bei all der Röte die Finch in das Gesicht schoss vergaß sie fast, wie kalt ihr eigentlich war.  

Nora grinste fröhlich vor sich hin.

„Ach Finch, du bist wirklich zurückhaltend!“

Schweigend gingen sie einen Moment lang durch die grauen Straßen des Distriktes, während der Himmel sich langsam bereits wieder verdunkelte. Flackernde Lichter hinter Fenstern gingen an und warfen warme Lichtscheine auf die Straße. Weiße Flocken trieben in diesen Oasen des Lichtes und trudelten schließlich auf den matschigen, aufgetauten Schnee am Boden.

„Also Finch, dann lass uns einander doch vorstellen“, bemerkte Nora fröhlich und während das Mädchen zaghaft von ihrer Geschichte zu erzählen anfing gingen sie immer weiter die Straße hinunter, während Flocken auf die Erde fielen.

Als sie schließlich bei dem kleinen festtäglich beleuchteten Haus ankamen, war es bereits fast wieder dunkel draußen, obwohl es noch gar nicht so spät war. Die neuerliche Schneedecke gewann mittlerweile an Festigkeit und alles wurde von weißen Hauben bedeckt.

Lachend kam Nora vor dem Haus von Janine Everwheat stehen, die die Weihnachtsfeier veranstaltete.

„Da wären wir, Fuchs“, gab Nora Finch zu verstehen und klopfte an die Tür.

„Und wie gesagt-“

„Hallo! Oh, wie schön, noch mehr Besuch! Willkommen – und keine Angst: Wir beißen nicht!“

Lachend zog Nora Finch in den warmen Hausflur, in dem soeben eine kleine, pummelige Frau erschienen war, deren Haare zu einem wilden Haarknoten am Hinterkopf gebunden waren und die noch immer eine Küchenschürze trug.

„Das hier ist Finch“, stellte Nora sie vor.

Begeistert umarmte die Frau, die Janine sein musste, Finch und hüllte sie dabei in den Geruch nach Weihnachtsgans und allerlei anderen Köstlichkeiten. Mit roten Wangen bedankte diese sich und entschuldigte sich immer wieder, dass sie gar kein Gastgeschenk hätte, doch die Janine wehrte nur ab und sagte, dass sowieso immer zu viel von allem vorhanden wäre.

Nora und sie wurden in den Wohnraum geführt, wo bereits eine große Gruppe anderer, Finch größtenteils unbekannter, Personen wartete. Von allen Seiten hallte es Grüße und das Haus war förmlich von Energien aufgeladen. Kinder saßen vor dem Teppich auf dem Kamin, ältere Menschen hatten die Sofas in Beschlag genommen und einige Mädchen und Jungen im Alter von Finch und Nora deckten den Tisch.

Jeder lachte und als Janine schließlich eine große Weihnachtsgans hereintrug jubelten alle. Vor Staunen gingen Finch fast die Augen über.

Noch nie im Leben hatte sie eine wahre Weihnachtsgans gesehen. Sie kannte niemanden, der so reich wäre und eigentlich machte keiner der hier Anwesenden den Eindruck.

„Wir alle geben einen Teil unseres Lohnes dazu, um uns das leisten zu können. Aber keine Sorge, du bist eingeladen“, liefert Nora auch schon die Erklärung.

Schüchtern setzte Finch sich auf einen Stuhl am Ende des Tisches und beobachte all die glücklichen Gesichter um sie herum.

So viel Glück und Frieden auf einmal hatte sie in Distrikt fünf noch nicht gesehen.

„Auf ein neues, besseres Jahr!“, rief die Menge um sie herum, und von spontaner Freude ergriffen hob auch Finch ihr Glas und  prostete den anderen zu.

Erst spät in der Nacht verließen sie und Nora völlig satt und zufrieden die Feier.

Die Schneedecke war immer dicker geworden und bedeckte nun vollständig das vorherige Wintergrau.

„Danke für die Einladung, es hat wirklich Spaß gemacht!“, erklärte das rothaarige Mädchen.

Nora stand lächelnd im flackernden Laternenlicht, während Schneeflocken sich in ihr beider Haar verfingen und sagte:

„Gute Nacht Finch. Wir sehen uns dann morgen zur Arbeit! Wir wäre es, wenn wir morgen einmal Eislaufen gehen auf dem See?“

Begeistert lächelte Finch und winkte ihr noch einmal zu.

„Wir sehen uns!“

Still betrat sie den Hausflur, ein seliges Lächeln im Gesicht.

Winterfest


 

6. Dezember – Winterfest
 

Primrose Everdeen
 

Katniss Everdeen
 

*
 

 

Leise rieselten die dicken, weißen Schneeflocken dem Boden entgegen und ließen alles Grün unter einer dicken, weichen Decke versinken. Am Horizont dahinter ging langsam die Sonne auf, müde kämpften sich ihre ersten Strahlen durch die Wolkenschichten.

Prim dagegen war keinesfalls noch müde, denn sie wartete bereits seit Stunden auf die Dämmerung. Ihre Steppdecke um die Schultern geschlungen saß sie an ihrem Fenster, beobachtete den Tanz des Schnees und dachte daran, wie schön dieses Jahr alles werden würde. Aufgeregt beobachtete sie jetzt, das Gesicht an die kühle Scheibe gedrückt, wie das Licht langsam auf den frisch gefallenen Schnee fiel und dieser unter dem frischen Licht anfing zu glitzern und strahlen. Mit einem Lächeln ließ Prim sich vom Bett rutschen und schlüpfte in ihre Winterstiefel, die sie bereits vorsorglich vor dem Bett postiert hatte und zog sich ebenso rasch ihre bereitliegende Jacke über.

Ohne sich die Haare zu machen oder sich umzuziehen, nur mit dem Pyjama und in Stiefeln und Jacke lief sie durch das große, stille Haus nach unten, in die im Dunkeln liegende Wohnstube, durch den engen Flur zur Tür.

Einen Moment lang hielt das junge Mädchen mit dem wuscheligen, blonden Haar inne, behielt den Moment der Vorfreude noch ein wenig für sich, dann hielt sie es nicht mehr aus und riss als wohl erste im gesamten Distrikt zwölf die Tür auf. Feinsäuberlich aufgereiht standen dort die Schuhe der Familie Everdeen unter dem Vordach, ein klein wenig von Schnee bedeckt. Lächelnd hüpfte die Jüngste die Treppenstufen zum Haus hinab und beugte sich zu ihren natürlich frisch gewachsten Schuhen hinab.

Nur einen Moment später fing ihr Gesicht an zu leuchten, als sie die Gaben in ihrem prallgefüllten, linken Stiefel entdeckte. Freudig ergriff sie diesen Stiefel und trug ihn ins Innere des Hauses, das sie mit ihrer Mutter und Schwester bewohnte. Energisch schüttelte sie den Inhalt des Stiefels in der Küche auf den Küchentisch. Frische Mandarinen fielen heraus, zwei kleine Äpfel und sogar ein Tütchen mit Lebkuchenstücken und Schokoladenbruch!

Von der winterlichen Weihnachtsvorfreude ergriffen schob Prim sich eines der Schokostücken in den Mund und fühlte sich wie im Himmel, oder zumindest dem Paradies auf Erden. Sie wusste, dass sie all dies nur Katniss zu verdanken hatte – hätte ihre Schwester nicht die Hungerspiele in diesem Jahr gewonnen, dann würde auch Prim jetzt nicht in diesem großen Haus wohnen und sich über Schokolade und Lebkuchen am Nikolaus freuen. Doch jetzt war alles gut, daran glaubte Prim. Dieses Jahr würde fröhlich zu Ende gehen, mit dem ersten richtigen Weihnachtsfest seit Jahren und darauf freute sich die Zwölfjährige wie eine Schneekönigin.

Erst ein verräterisches Knacken der Holztreppe unterbrach Prims seligen Tagtraum.

„Guten Morgen“, gähnte Katniss verwundert, als ihre kleine Schwester sie am frühen Morgen bereits in der Küche erwartete.  

Voller Freude hob Prim ihre Ausbeute in die Höhe:

„Es ist Nikolaustag, Katniss! Wie kannst du das vergessen?“

Lachend schlurfte Katniss an ihr vorbei in die Küche, wo sie ein kleines Feuer auf dem Herd entfachte, um sich und Prim ein warmes Getränk zu machen.

„Natürlich vergesse ich so etwas nicht“, erklärte sie, „ich habe nur nicht gedacht, dass du so früh aus den Federn kommst!“

„Heeey!“, empörte Prim sich, „Du unterschätzt mich!“

Immer noch lächelnd setzte Katniss den Topf mit Wasser auf, während Prim ihre Nikolausüberraschung in eine Schüssel legte und diese auf den Esstisch stellte.

„Willst du nicht gucken, ob du auch etwas in deinem Stiefel hast?“, fragte Prim sie fröhlich.

Mit einem milden Lächeln entgegnete Katniss:

„Ach, ich glaube, dass der Nikolaus eher kleinen Enten wie dir etwas bringt.“

Kritisch zog Prim die Augenbrauen zusammen.

„Katniss, ich weiß, dass es keinen Nikolaus gibt. Außerdem… habe ich da so ein gutes Gefühl!“

„Na, wenn du das sagst, kleine Wahrsagerin“, erwiderte Katniss und hängte einige Teebeutel in das mittlerweile kochende Wasser, „dann muss ich ja mal nachschauen.“

Mit diesen Worten schlüpfte Katniss in ihre dick gefütterten Stiefel und ging hinaus in die eisige Kälte des Morgens. Tatsächlich, als die Siebzehnjährige in ihren Schuh spähte erkannte sie dieselben Überraschung wie in Prims Schuh, sowie einen kleinen Engel aus Nussschalen.

Überrascht nahm sie die selbstgebastelte Winterdekoration in ihre Hände und sah sich dann nach Prim um, die sich in den Türrahmen drückte.

„Ich kann auch Nikolaus sein“, entgegnete diese zufrieden, woraufhin sie von Katniss stürmisch umarmt wurde.

„Ach Prim, vielen Dank“, freute sie sich.

Mit zarter Rötung im Gesicht erklärte Prim, dass sie sich wünsche, dass Katniss ihr Zimmer auch ein wenig weihnachtlicher machen solle.

„Dann lass uns den Engel doch gemeinsam aufhängen gehen!“

Begeistert nickte Prim:

„Ich finde, er würde sich wunderbar an deinem Fenster machen, dann würdest du ihn jeden Morgen sehen, sobald du aufstehst! Vielleicht hättest du dann ja weihnachtlichere Stimmung.“

Einen Moment lang überlegte ihre große Schwester, dann nickte sie und zog sich mit dem Stiefel in der einen, dem Engel in der anderen zurück in das wärmere Haus, um sogleich Prims Nikolausüberraschung aufhängen zu gehen.

Schließlich saßen sie gemeinsam am Esstisch, Mandarinenschnitzchen essend und jeder eine Tasse warmen Apfeltees vor sich stehend.

Vorsichtig am heißen Tee nippend sagte Katniss:

„Ich habe auch noch etwas für dich, Prim.“

Neugierig weiteten sich Prims Augen.

„Was denn?“, fragte die Kleine, doch die Größere schüttelte nur den Kopf und grinste leicht.

„Das erzähle ich dir doch jetzt noch nicht! Zieh die lieber deine Wintersachen an, es geht hinaus.“

So kam es, dass Prim wenig später in kompletter Winterkleidung im Flur stand, bis hin zur großen Pudelmütze auf dem Kopf warm eingepackt.

Katniss dagegen trug dieselben ausgetretenen Stiefel wie immer, nicht die modernen Schuhe des Kapitols, die Cinna ihr hatte schicken lassen.

„Bereit?“, fragte sie ihre kleine Schwester und diese nickte aufgeregt, denn sie fragte sich, was für eine Überraschung ihre Schwester für sie bereithielt. Katniss hatte sicherlich keinen Ausflug zur Bäckerei geplant, um dort eine Weihnachtstorte zu bestellen, auch wenn Prim das schon sehr gefreut hätte.

Gemeinsam wagten sie sich an diesem frühen Morgen des Nikolaustages also hinaus in das weiße Schneewunderland vor ihrer Haustüre.

Mittlerweile fielen nur noch vereinzelte Schneeflocken von dem Himmel und das Morgenrot verblasste immer mehr, der Morgen erweckte langsam zum Leben. Katniss marschierte jedoch immer weiter, vorbei an der großen festlich geschmückten Tanne auf dem Platz vor dem Rathaus, durch das Viertel mit den kleinen Läden, immer weiterhinein in den Saum, ihrem ehemaligen Zuhause entgegen. Es war noch nicht lange her, dass Prim und Katniss hier gelebt hatten, und doch erschien dieser Ort Prim bereits wie ein ganz anderer. Mit großen Augen musterte sie die Häuser der Menschen, die sie eigentlich so gut kannte, wie sie unter der Schneedecke versanken und ihre spärliche Winterdekoration, die größtenteils aus Tannenzweigen bestand, die mit roten Bändern in Kränze geflochten waren. Prim liebte ihr altes Zuhause noch immer, auch wenn das Kapitol ihnen so viele Annehmlichkeiten versprach. Es würde einfach nie dasselbe sein wie ihr Leben vor den Hungerspielen.

Auch an ihrem alten Haus kamen sie vorbei, dass durch die fehlenden Bewohner ganz ausgekühlt war. Nur Katniss kam regelmäßig hierher, um die Winterjacke aus Kapitolstoffen gegen die alte Lederjacke ihres Vaters einzutauschen, die sie so liebte, so wie auch jetzt. Unschlüssig stand Prim derweil in der ehemaligen Küche, die nun leer geräumt war, da alles, was sie hatten nun in dem neuen Haus wartete. Doch das alte Leben, das Leben vor den Hungerspielen, konnte Prim noch immer in dem alten Gemäuer spüren und sie fühlte sich glücklich an die vergangenen Nikolausfeste erinnert, bis zurück zu denen, die sie gemeinsam mit ihrem Vater gefeiert hatten. Doch ihr eigentliches Ziel lag auch nicht hier in ihrem alten Zuhause, sondern noch weiter weg, denn Katniss steuerte auf den Elektrozaun zu, der den Distrikt von der unberührten Winterpracht der Wälder trennte, die sich unendlich in die Ferne erstreckten. Geschickt spähte Katniss aus, ob sich irgendein Friedenswächter so früh des Morgens hierher verirrt hatte, dann überquerte sie vorsichtig mit Prim an der Hand das Feld vor dem Zaun.

„Prim, wie du sicherlich weißt bin ich früher jeden Winter mit unserem Vater in den Wäldern gewesen. Nun wollte ich diese Tradition fortführen… wenn du willst.“

Überrascht blickte das kleine, blondhaarige Mädchen ihre Schwester an.

„Wirklich? Ich darf in die Wälder?“

Katniss lächelte, als sie die angenehme Überraschung Prims sah.

„Ja, aber nur, weil ich gut auf dich aufpassen werde. Die Wälder sind nicht ungefährlich und du musst versprechen, dich nie von mir zu entfernen!“

Sprachlos nickte Prim.

„Also los!“, rief Katniss und hob völlig furchtlos einen lockeren Teil des Zaunes hoch, sodass der Schnee von ihm herab rieselte. Es war tatsächlich so, wie immer beschrieben wurde, der Zaun führte nicht ein bisschen Strom. Eilig krabbelte Prim mit klopfendem Herzen unter dem Zaun durch, Katniss folgte ihr.

Mit traumwandlerischer Sicherheit lief Katniss auf eine Buche zu, griff in ein Astloch und zog wenig später einen Bogen mitsamt Pfeilköcher hervor.

Aufgeregt spürte Prim, wie ihr Herz einen Satz machte. Sie hatte Katniss noch nie in den Wäldern jagen gehen sehen, nur mit dem Pfeil und Bogen in der Arena und dies war doch etwas völlig anderes.

„Wenn du willst kann ich dir eines Tages einmal beibringen, wie man einen Bogen herstellt“, erklärte Katniss, während sie den Bogen in ihren Händen drehte, „man weiß nie, wann man es gebrauchen kann.“

Prim blickte zu Boden.

„Du weißt doch, dass ich so etwas nicht kann…“

Katniss jedoch lachte nur.

„Du weißt es nur noch nicht, kleine Ente“, entgegnete sie und nahm Prim an die Hand.

„Jeden Dezember bin ich mit Vater dem Pfad der Rentiere gefolgt. Sie ziehen durch die Wälder und wann immer wir eines getroffen haben, hatten wir großes Glück. Es sind äußerst scheue Tiere und man darf nicht allzu viel Lärm machen. Vielleicht haben wir ja heute Glück.“

Leise nickte Prim und fasste die Hand ihrer Schwester fester. Es war ganz schon dunkel hier im Wald, aber auch schön. Alles war von unberührtem Schnee bedeckt und sie fühlte sich, als sei sie von lauter Weihnachtsbäumen umgeben.

Eine Weile lang liefen sie stumm nebeneinander durch die stillen Wälder, ohne auch nur einem einzigen Tier zu begegnen. Dennoch war jede Minute aufregend für Prim, denn sie dachte immer daran, was alles passieren könne. Jeder Ast der unter ihren Schuhen brach erschien ihr, als würde er sie verraten.

„Psst“, flüsterte Katniss in diesem Moment und stoppte abrupt ab.

„Da vorne!“

Angestrengt kniff Prim die Augen zusammen und tatsächlich, da zwischen den Bäumen stand ein Rehkitz, seinen Kopf in die kalte Luft erhoben, die Witterung aufnehmend. Mit eleganten Schritten ging es durch den Wald, immer wachsam. Bewundernd schaute Prim dem Tier zu.

„Bitte töte es nicht, Katniss“, bat sie weinerlich, denn sie hatte Angst, dass ihre Schwester das Tier erlegen wolle, doch diese schüttelte nur den Kopf.

„Natürlich nicht. Ich wollte es dir nur zeigen. Pfeil und Bogen brauche ich zur Verteidigung.“

Glücklich lächelte Prim.

„Danke, das ist wunderschön.“

Mit großen Augen beobachtete sie, wie das Reh mit großen Sprüngen zwischen den Bäumen verschwand.

„Komm mit, einen letzten Ort gibt es noch“, erklärte Katniss und führte sie auf eine Lichtung.

„Hier haben Vater und ich immer Rast gemacht.“

Mit diesen Worten wischte sie Schnee von einem großen Steinbock und ließ sich auf die kühle Oberfläche gleitend, einladend neben sich klopfend, also ließ Prim sich neben sie fallen.

Katniss reichte ihr eine Flasche mit noch lauwarmen Tee und ein Stück Lebkuchen aus der Vorratskammer.

„Mit dem Unterschied, dass wir keinen warmen Tee hatten“, murmelte Katniss.

„Ich möchte, dass du verstehst, dass wir nicht alles vom Kapitol nehmen sollten“, erläuterte sie.

„Wir können auch für uns selber sorgen, okay?“

Prim nickte und lächelte.

„Ja.“

Schweigend blickten sie auf die weiße Wunderlandschaft, die sie umgab.

„Das hier ist besser als das Kapitol.“

Katniss lächelte schweigend und kramte in ihrer großen Tasche herum, ehe sie ein kleines Päckchen hervorzauberte.

„Alles Frohe zum Nikolaustag“, scherzte sie.

Prim drückte glücklich das Päckchen an die Brust und gab ihrer Schwester ein Küsschen auf die Wange.

Winterüberraschung


 

7. Dezember – Winterüberraschung
 


 

Darius
 


 

Lavinia
 


 

*
 

Feiner Schneeregen trübte die Sicht des jungen Friedenswächters, während er seine täglichen Runden durch den Distrikt zog. Dunkelheit hatte sich über das Land gesenkt und die Bewohner hatten sich wie üblich in ihre kleinen Hütten entlang des Saumes zurückgezogen, befeuerten ihre kleinen Kamine und saßen im warmen Schein der Öllampen beieinander. Fröstelnd zog der Mann den Reisverschluss seiner Uniformjacke höher und schlang die Arme um seinen ausgekühlten Oberkörper. Die ewigen Arbeitsstunden bei Nacht laugten ihn aus und er spürte, wie er müder wurde, während er so seine Runden durch den hohen Schnee machte. Bei dieser Eiseskälte würde ohnehin niemand es wagen, ein Verbrechen zu begehen. Zudem war er bereits jetzt von seinem neuen Chef, der den Distrikt seit kurzer Zeit führte, genervt und wünschte sich die alten, unbeschwerten Zeiten unter Cray zurück. Vielleicht hatte es bei seinem Einstellungsgespräch geheißen, dass in Distrikt zwölf unmenschliche Zustände herrschten und dass eigentlich nur die Schwächsten hierher versetzt worden, doch er hatte sich hier von Anfang an wohl gefühlt, denn wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er auch nichts gegen ein saftiges Eichhörnchen oder eine teuflisch gute Suppe von Greasy Sae einzuwenden. Unglücklich blickte er in die Häuser die links und rechts seinen Weg säumten und seufzte. Wäre alles noch beim alten, dann hätte er jetzt bereits Feierabend.

In diesem Moment vernahmen seine Ohren entferntes Gemurmel, dass aus der Richtung des großen Dorfplatzes kam. Irritiert bog er in eine Nebengasse ein, während die Gespräche langsam aber sicher immer mehr ausarteten, zu Schreien wurden. Mit großen Augen bog der junge Friedenswächter um die Ecke.

 

„Hah…“

Unruhig atmend erwachte Darius in seinem Bett. Die Augen geschlossen verharrte er für einen Moment regungslos im Bett, die Arme weit von sich gestreckt, die Decke, die viel zu dünn war, um einen vor der Winterkälte angemessen zu schützen verrutscht. Schweiß bedeckte seine Haut und er spürte, wie ein Kälteschauer seinen Rücken hinab wanderte. Jeden Tag kehrte wieder dieser Traum zurück und er war froh, sobald dieser nicht noch weiterging.

Vorsichtig setzte er sich auf und wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Ein Blick auf den kleinen Wecker zeigte ihm, dass es bereits Morgen war. Seufzend schlug er die Decke zurück und trat auf den eisigen Boden, bemüht, nicht geschockt seine Füße zurück zu ziehen. Stattdessen zwang er sich, aufzustehen, die zwei Schritte zu seinem spärlichen Kleiderschrank zu machen und wie immer nach der roten Kleidung darin zu greifen.

Mit ausdruckslosem Blick streifte er sich die vor Kälte steife Kleidung über und kämmte seine Haare durch. Ein erneuter Tag stand dem Avox Darius bevor und da die Bewohner des Kapitols besonders feierlustig waren, würde auch heute noch genug Arbeit zu erledigen sein, um ihn vom Denken abzuhalten. So konnte er wenigstens nicht sein Zuhause vermissen, dass ihm vor allem jetzt, in der Vorweihnachtszeit so bitterlich fehlte.

Ohne sich noch einmal umzuschauen verließ er sein enges Kämmerchen, dass er zurzeit bewohnte, um seinen Dienst beim Frühstück anzutreten. Müde, und noch mit Augenringen unter den Augen schlich er durch den langen, in dunklem Holz getäfelten Gang, der zu den Zimmern der Avoxe führte. Am Ende des Flures konnte er eine ebenso wie er rot gekleidete Person stehen sehen, die mit ausladenden Bewegungen gestikulierte. Es war Lavinia, die Avoxin, mit der er gemeinsam Dienst tun musste. Wie immer funkelten ihre blauen Augen unter ihren roten Haaren hervor und verlieh ihr einen energischen Ausdruck, den zu zeigen sie jedoch nur hier, unter Avoxen, wagte. Denn auch derjenige, der gerade Opfer ihres kleinen Ausbruches wurde, war ein Avox, namens Smith, der der dritte innerhalb ihrer kleinen Schicht war. Genau wie Lavinia machte auch er sich mit einer umständlichen Zeichensprache verständlich, doch Darius, dem das Dasein als der Zunge beraubter Avox noch immer neu war, verstand diese Art der Verständigung nicht und hatte demzufolge auch keinerlei Ahnung, dass es sich bei dem Gespräch der Beiden um einen ausgeklüngelten Plan handelte, wie die Avoxe das Kapitol bei der heutigen Weihnachtsfeier um ein paar „milde Gaben“ erleichtern könnten. Statt den Avoxen also einen Blick zu schenken und sich an ihrem ausdrucksstarken Gespräch zu beteiligen, griff er unbeteiligt nach der ihm gehörenden Weihnachtsmütze, die wie immer an ihrem Haken auf ihn wartete und seiner Meinung nach so ziemlich den Tiefpunkt seines Lebens markierte, setzte sie sich auf und wollte gerade weiter seines Weges gehen, als ihm von hinten jemand auf die Schulter tippte. Verdutzt drehte er sich um und sah Lavinia, die ihm lächelnd zu wank, ein einfaches ‚Guten Morgen‘ ersetzend. Aufgeregt zeigte sie zuerst auf sich, dann auf Smith und danach folgten eine ganze Reihe anderer Gesten, die Darius nicht nur aufgrund ihrer Schnelligkeit, sondern auch besonders wegen ihrer mangelnden Eindeutigkeit nicht sonderlich viel sagten. Irritiert legte der rothaarige Avox den Kopf schief und musterte sein Gegenüber verzweifelt.

In diesen Momenten fühlte es sich an, als sei der ehemalige Friedenswächter in seinem Köper eingesperrt, so teilnahmslos musste er die Welt nun hinter seinen Augen stumm betrachten, doch er hatte das Gefühl, dass er es nie schaffen würde, genug Ausdruck hinter seine Augen zu legen. Resigniert sanken seine Schultern herab und er schüttelte langsam den Kopf. Doch statt aufzugeben und ihre Bemühungen nicht weiter an ihn zu verschwenden wiederholte Lavinia ihre Gesten, dieses Mal jedoch langsamer und mit mehr Deutlichkeit.

Zuerst formte sie mit den Händen einen Tannenbaum, zumindest glaubte Darius, dies zu erkennen. Dann tat sie pantomimisch so, als würde sie ein Tablett tragen und mimte die unterwürfige Dienerin. Konzentriert beobachtete Darius nun, wie sie daraufhin äußerst erfindungsreich darstellte, dass sich Essen auf ihrem imaginären Tablett befand. Mit einem verschlagenen Grinsen tat sie schließlich so, als wäre sie eine Diebin und schlug dann begeistert in die Hände, während sie seine Reaktion beobachtete, während Darius jedoch noch eins und eins zusammenzählte. Wollten die zwei Avoxe tatsächlich das Kapitol bestehlen?

Erschrocken schüttelte Darius seinen Kopf und hob abwehrend die Hände. Nicht genug, dass sein Leben in Distrikt zwölf für immer vorbei war, nein, jetzt wollten auch die Avoxe ihn noch mit ins Verderben ziehen, doch nicht mit ihm!

Entschlossen drehte er sich um und ging von dannen, ohne zu sehen, wie Lavinia empört die Hände in die Hüften stemmte und nachdenklich die Augenbrauen zusammen zog. Denn Lavinia war ganz und gar nicht zufrieden mit dem Ausgang ihres kleinen Gespräches. Sie kannte Darius noch nicht lange, denn er war erst vor einigen Tagen zitternd bei ihnen aufgetaucht, seiner Zunge beraubt und voller Angst. Selber kannte jeder das Gefühl von ihnen, doch Darius hatte sich in all der Zeit noch nicht wirklich einem von ihnen geöffnet. Stattdessen schien er ihnen aus dem Weg zu gehen und die meiste Zeit lang tat er lediglich gewissenhaft seine Arbeit. Natürlich konnte es sein, dass er schlimme Dinge erlebt hatte, doch Lavinia wollte ihm eigentlich nur helfen, denn sie selbst war es schon länger Leid, tagein, tagaus ihren Dienst im Kapitol zu schieben und sich von allen umher schubsen zu lassen. Nicht zuletzt die Begegnung mit Katniss Everdeen, der Siegerin aus Distrikt zwölf, deren Dienerin sie im letzten Jahr gewesen war und der sie auch in ihrem früheren Leben begegnet war, wenn auch unter unglücklicheren Umständen, hatte etwas in ihr ausgelöst, was sie insgeheim in ihren stummen Gedanken als den Funken der Rebellion bezeichnete. Seitdem hatte sich eine Allianz der Avoxe geformt, die bei den verschiedenen Festivitäten das Jahr über immer wieder kleinere ‚Raubzüge‘ unternommen hatte und sich ungeachtet des Kapitols an so manchen Dingen bedient hatte.

So sollte es auch dieses Mal sein, denn sie wollten bei der Weihnachtsfeier einige der übrigen Essensreste ‚entführen‘ um ihre ganz eigene Weihnachtsfeier der Avoxe zu feiern und daran konnte sie sicherlich niemand hindern. Doch Lavinia wünschte sich, dass Darius dabei wäre, denn sie hoffte, dass er sich dann auch vielleicht besser bei ihnen integrieren würde. Außerdem hatte sie gehört, dass er einst ein Friedenswächter gewesen sein sollte, was zuerst Bestürzung bei ihr ausgelöst hatte, denn sie verabscheute die braven, gesetzestreuen Hündchen des Kapitols, doch Darius erschien ihr weniger wie ein solcher. Stattdessen stand er Pause für Pause auf der kalten Terrasse, ließ Schnee auf sein rotes Haupt rieseln und starrte mit großen Augen in die Dunkelheit. Sein Anblick ließ Lavinia melancholisch werden und somit war ihr Entschluss gefasst gewesen, den jungen Avox bei der Ausführung ihres Planes dabei zu haben.

Energisch nahm nun auch Lavinia ihre Mütze vom Haken, schob sie über ihre ebenfalls rote Haarpracht und folgte dem anderen Avox. Sobald sie den Essenssaal betrat nahm sie eine unterwürfige Haltung ein, wie sie einer Avoxin, und damit einer Sklavin, gebührte. Nach jahrelanger Übung gelang ihr dies bereits wie im Schlaf und sie konnte Darius im Auge behalten, der artig das Salatbüffet bewachte. Ein zaghaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, dann nahm auch sie ihren Dienst auf.

Einige Stunden und viel Essen später standen beide Avoxe schließlich auf besagter Terrasse, den eisigen Wind im Gesicht und mit einigen strahlend weißen Flocken bedeckt. Lächelnd ergriff Lavinia Darius Hand, doch dieser blickte sie kaum an. Er fragte sich stattdessen, warum sie so hartnäckig war und blickte sie nur kurz aus dem Augenwinkel an. Doch die junge Frau, die fast noch ein Mädchen war, ließ nicht locker, sondern lächelte ihn weiter nett an. Mit einem Kopfnicken wies sie auf den schneebedeckten Boden, dann ging sie in die Hocke. Irritiert starrte Darius sie einen Moment lang an, während er sich fragte, ob sie nun vollständig verrückt geworden war. Doch dann kam ihm ein Gedanke – ein abwegiger Gedanke. Konnte es sein…? Neugierig bückte er sich zu ihr herab und blickte sie an. Tatsächlich, mit einem zufriedenen Lächeln fing sie an zarte Kringel in den Schnee zu malen, wie kleine Bilder.

Lieber Darius – dann eben auf diesem Wege:

Du solltest keine Angst vor uns haben, wir alle sind eine Gemeinschaft.

Es würde uns freuen, wenn auch du heute Abend dabei bist –

 

Überrascht blickte Darius Lavinia an, als diese die ersten Zeilen mit einer Handbewegung fortwischte und dann fortfuhr, höchstkonzentriert ihre zarten Zeichen zu malen.

Wieso war sie so freundlich zu ihm?

 

Wir lassen uns nicht fremdbestimmen.

Auch Avoxe haben eine Weihnachtsfeier verdient, nicht wahr?

 

Fragend blickte Lavinia ihn an. Zögernd blickte Darius die in den Schnee geschriebenen Worte an, dann wieder sie. Schließlich streckte er seinen Finger aus und berührte selber den kühlen Schnee.

 

Danke, Lavinia… aber es ist gefährlich.

Sie könnten –

 

Behutsam nahm Lavinia jedoch seine Hand beiseite und schrieb ihrerseits weiter.

 

Das haben wir bedacht.

Doch wir möchten selber etwas erreichen – Katniss hat uns das gezeigt.

 

Bei der Erwähnung des Namens zuckte Darius zusammen, was auch Lavinia nicht verborgen blieb, doch sie schrieb ruhig weiter.

 

Selbst wenn alles schief läuft – ich würde für dich lügen.

 

Mit einem einfachen Kringel fügte sie dem ganzen einen Smiley hinzu, dann stand sie auf und streckte Darius einladend die Hand hin. Misstrauisch beäugte Darius sie, dann wischte er den Text beiläufig fort, ehe er ihre Hand ergriff und nickte. Er wusste, dass es nicht mehr viel gab, was er verlieren könnte, außer einem Leben in Gefangenschaft. Eine Revolution da draußen war im Gange und da sollte er nicht noch einmal Weihnachten feiern?

Grimmig lächelte der rothaarige Avox und folgte Lavinia in das Innere, zurück zu ihrer Schicht auf der Weihnachtsfeier.

Eine gute Zeit lang waren die Avoxe mit allen Händen beschäftigt, die gierigen Wünsche der Kapitolbewohner zu erfüllen, doch immer wieder konnte Darius sehen, wie sie einzelne Sachen beiseite schafften, in eine Abstellkammer, die sie zu ihrem Versteck erkoren hatten, da sie sich ziemlich sicher waren, dass kein Bewohner des Kapitols Wert auf Videoüberwachung einer Abstellkammer legen würde, zudem war die Gefahr, dass jemand Ausversehen dort hinein gelangte fast null.

Darius selber jedoch wagte es nicht, etwas von dem Essen zu nehmen, denn er war sich seiner Sache noch nicht ganz sicher. Stattdessen servierte er geduldig und Stunde um Stunde Häppchen in Form von Schneeflocken auf einem Tablett, entfernte abgestellte Gläser aus der Dekoration und lauschte dem hysterischen Gelächter, vermischt mit eigentlich kitschiger Weihnachtsmusik, die ihn jedoch auf schmerzhafte Weise an sein ursprüngliches Heim in Distrikt zwei denken ließ, wo er mit solchen Liedern aufgewachsen war.

Deshalb war der Avox mehr als nur glücklich, als die Lichter gedimmt wurden und langsamere Musik einsetzte. Die meisten der Gäste machten sich beschwipst und laut lachend auf den Heimweg oder auch nur auf den Weg zu einer weiteren Feier. Übrig blieben nur noch Avoxe und einige der Hartgesottenen, die jedoch vollkommen betrunken waren und in einem der Nebenzimmer saßen.

Von diesen Gästen unbeobachtet zogen sich die Avoxe langsam zurück, ließen ihre Tabletts zurück und verschwanden einer nach dem anderen unauffällig. Darius blieb solange an die Wand gedrückt stehen, bis Lavinia ankam und ihm einen Knuff in die Seite verpasste.

Grinsend deutete sie auf die Tür zu der Abstellkammer und mit klopfendem Herzen stellte dieser sein Tablett auf dem Sockel einer im Laufe des Abends verschwundenen Büste Präsident Snows ab.

In der Kammer, die typischerweise für das Kapitol viel größer war, als der Begriff vermuten ließ, saßen bereits alle anderen Avoxe der gemeinsamen Schicht um einen provisorischen Tisch aus Kisten versammelt, auf dem sich das Festtagsessen nur so stapelte.

Alle strahlten glücklich und auch Darius war ein wenig ergriffen von der stummen Herzlichkeit, mit der die Avoxe untereinander waren. Und auch wenn sie sich nicht mit Worten verständigen konnten, so kam es Darius ganz anders vor, als er sich auf seinen Platz an dem Tisch sinken ließ und zögernd die anderen beobachtete, die lachten und mit Punsch in langstieligen Gläsern anstoßen.

Lavinia drängelte sich schließlich neben ihn, ebenfalls zwei Punschgläser in der Hand und reichte ihm lächelnd eines.

Darius fühlte sich an die Zeit erinnert, als er noch daheim bei seinen Eltern gelebt hatte, an die geselligen Abende im Winter, mit lautem Gelächter und angeregten Gesprächen, aber auch an die Abende im Hob, bei Hühnersuppe von Graesy Sae. Auch hier war es nicht anders, abgesehen davon, dass die Gespräche nach außen hin nicht hörbar waren, sondern einzig und allein in den Köpfen der Avoxe stattfanden.

Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte auch Darius angesichts der fröhlichen Atmosphäre um ihn herum und dann stieß er sein Glas klingend an das von Lavinia.

Diese schob ihm lächelnd unter dem Tisch einen Zettel zu, den sie augenscheinlich von einem Notizblock abgerissen hatte.

Mit ihren Händen formte sie ein Päckchen, das aussah, wie ein Geschenk. Zuletzt stellte sie die Schleife dar, dann deutete sie auf das Zettelchen. Überrascht faltete Darius den Zettel auseinander und erkannte Lavinias malerische Schrift.

 

Lieber Darius,

dies ist mein Weihnachtsgeschenk für dich.

Ich möchte alles versuchen, dir unsere Sprache zu lehren.

Deine Lavinia.

 

Stumm blickte Darius auf den Zettel, las ihn ein zweites Mal, ehe er verstand. Lavinia wollte ihm die Zeichensprache der Avoxe beibringen!

Dankbar sah er sie an, doch sie lächelte nur und wank ab, doch in Darius Herz hatte sich der kleine Hoffnungsfunken Lavinias bereits übertragen, unbeirrbar und von innen wärmend erstrahlte dieser an diesem Abend in seinem Herzen.

Winterbeeren


 

8. Dezember – Winterbeeren
 

Madge Undersee
 

Gale Hawthorne
 

*
 

Geduldig saß Madge Undersee, Tochter des Bürgermeisters von Distrikt zwölf in ihrem Zimmer und blickte in das wilde Schneegestöber vor ihrem Fenster. Wie immer war sie adrett zu Recht gemacht, trug ein zartblaues Kleid und hatte ihre blonden, lockigen Haare mit einer lockeren Schleife am Hinterkopf zusammen gebunden. Ihre fein geschnittenen Gesichtszüge waren mit wenig Make-Up bedeckt, was ihre Haut heller erscheinen ließ. So saß sie da, vor dem großen Fenster, den Blick auf den verschneiten zwölften Distrikt gerichtet. Seit Tagen herrschte draußen ein wildes Schneegestöber und selbst in dem großen Haus des Bürgermeisters, in dem es vermutlich mehr Heizungen als im gesamten Distrikt gab, wurde es zuweilen bitterkalt.

Nicht, dass Madge das gestört hätte. Sie saß einfach da, vor dem Fenster, mitunter in eine dicke Decke gehüllt und beobachtete das Treiben vor ihrem Fenster. Sie wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass sie hier sitzen konnte, doch gerade diese Tatsache war es, die sie mitunter lähmte. Direkt vor ihr litten die Leute und sie musste sich vornehm kleiden und sich vor Besuchern des Kapitols verneigen, als würde sie gerne von ihnen sein wollen – was nicht der Tatsache entsprach. Durch ihre kranke Mutter kannte sie die Leiden der gewöhnlichen Bevölkerung, das Unglück, hervor gerufen durch den alljährlichen Erntetag.

Doch an diesem Tag, an dem Distrikt zwölf unter mehreren Zentimetern Schnee versinken würde, da dachte sie nicht an die Ernte oder das Kapitol, nein, ihre Gedanken waren bei etwas gänzlich anderem, oder eher jemand anderem. Normalerweise freute Madge sich über jeden Freitag, denn dann kamen Katniss und Gale und brachten ihrem Vater verschiedene Dinge von ihrer Jagd mit, um sie an ihn zu verkaufen. Madge hatte sich immer über diese kurzen Besuche gefreut, vor allem, wenn die beiden ein paar der wildwachsenden Erdbeeren gefunden hatten. Es war diese Kleinigkeit, die sie einmal in der Woche aus dem normalen Alltag erweckte – oder besser erweckt hatte.

Als Katniss in diesem Jahr für die Hungerspiele ausgewählt worden war, hatte sich alles geändert, denn zum ersten Mal blieb die Klingel am Freitag stumm. Nur gelegentlich war Gale in den vergangenen Monaten erschienen, doch er hatte gehetzt gewirkt und auch Erdbeeren hatte es seitdem keine mehr gegeben.

Madge wusste, dass sie diese Tatsache nie für selbstverständlich hätte nehmen dürfen, schließlich war das, was die beiden taten, sogar illegal.

Erst vor einigen Wochen war er wiedergekommen, um ihnen ein Reh zu verkaufen. Ihr Vater war nicht zuhause gewesen, und so hatte Madge das erste Mal in ihrem Leben mit Gale überhaupt geredet. Sie konnte nicht sagen, dass er freundlich gewesen war, obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, es ihm gegenüber zu sein. Aber er war wiedergekehrt, wenn auch nicht mit solcher Regelmäßigkeit.

Dennoch wartete sie an diesem Tag, einem Freitag, wieder an ihrem Fenster, in der stillen Hoffnung, dass sie ihn wieder sehen möge. Es war zwar nicht so, dass er besonders nett zu ihr gewesen wäre, doch Madge wünschte sich, dass es so wäre. Vielleicht, wenn sie sich ganz besonders anstrengen würde, so dachte sie, dann würde er auch netter zu ihr werden.

Sie wusste, oder besser hatte gehört, dass Gale einer der freundlichsten Menschen in Distrikt zwölf sein sollte, vor allem, weil er ganz alleine seine Familie durchbrachte und trotzdem noch Zeit gefunden hatte, sich um Mrs. Everdeen und ihre kleine Tochter zu kümmern. Wenn sie ihm wenigstens ein wenig hätte zeigen können, wie sehr sie es wertschätzte, dass er das für ihre wohl einzige Freundin im Distrikt getan hatte.

Also wartete sie auf ihn, um ihm wenigstens angemessen viel Geld für seine Beute zu geben, denn das war alles, wozu sie im Stande war, es zu tun.

Mitunter wünschte sie, dass sie mutiger wäre, sich mehr trauen würde, doch ihre Erziehung ließ es nicht zu, dass sie auch nur einmal mit dem Gedanken daran spielte, etwas Waghalsiges zu tun.

Warten war auch gut, dachte sie sich. Vielleicht könnte sie ihm, wenn er denn kommen würde, ein Paar ihrer alten Handschuhe geben, für seine Schwestern.

Langsam zogen graue Wolken vor den Himmel und es fing an, immer heftiger draußen zu schneien.

Dicke große Flocken schlugen gegen das Fenster und verwischten die Sicht. Angesichts dieses heftigen Schneetreibens würde er heute wohl nicht mehr kommen, dachte Madge resigniert. Niemand würde bei diesem Wetter hinausgehen – es wäre verrückt.

In diesem Moment hörte sie ihren Vater rufen. Seufzend stand die Blondhaarige auf und ließ die Felldecke von ihren Schultern gleiten und schlüpfte in ihre Hausschuhe.

„Ja?“

„Madge, kommst du mal bitte?“

Die Gedanken immer noch bei Gale, schlüpfte Madge aus ihrem Zimmer und ging vorsichtig hinunter in den Essensbereich, in dem ihr Vater bereits wartete, wie so oft in einen Anzug gekleidet und besonders vornehm zurecht gemacht.

„Madge“, fing er an, wie immer eine bedeutungsvolle Pause einlegend, „würdest du bitte nach deiner Mutter sehen, so lange ich Besuch habe? Es ist wichtig.“

Seufzend drehte sie sich sodann auf dem Absatz wieder um und nickte.

„Ja…“, gab sie müde wieder, „natürlich.“

Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, zu wiedersprechen, auch wenn sie von den Besuchern ihres Vaters genug hatte. Geschniegelte Leute aus dem Kapitol, die sie doch eh nur ausnutzten, denn eines war klar: Sie würden niemals zu dem Kapitol gehören, auch wenn ihr Vater sich wünschte, dass es so wäre.

Niedergeschlagen schlich das junge Mädchen die Treppe wieder hoch und zu dem Zimmer ihrer Mutter. Es war ein wenig kaltherzig von ihr, aber sie hasste es, wenn sie ihre Mutter in Tagen wie diesen besuchen musste. Gezwungenermaßen trat sie leise ein und blickte auf ihre Mutter, die wie immer schneeweiß zwischen den Laken lag. Der Winter machte alles nur noch komplizierter und sie war über jeden Tag dankbar, den die Medizin aus dem Kapitol wirkte. Sanft trat Madge an die Bettkante und musterte die Frau darin, die sie, so ausgemergelt wie sie war, nur noch wenig an ihre Mutter aus Kindheitstagen erinnerte. Ihre Augen waren geschlossen und die langen Wimpern warfen Schatten auf die eingefallenen Wangen.

Sachte zog sie die Decke über dem Bett wieder zu Recht und legte einige Holzscheite im Ofen nach. Augenscheinlich schlief ihre Mutter und nun blieb ihr nichts anderes übrig, als hier zu warten. Nicht, dass sie ihre Mutter nicht geliebt hätte, nein, das tat sie wirklich, doch sie konnte ihren Zustand kaum ertragen. Sie wünschte sich, dass sie zu Weihnachten wenigstens einmal wieder dabei sein könnte, doch das war sehr unwahrscheinlich, stattdessen würde sie wohl immer noch in ihrem Zimmer liegen, gefangen in ihrer eigenen Welt.

Die Augen traurig gesenkt griff Madge nach ihrer Hand und drückte sie vorsichtig.

„Ach Mama“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst, als zu der schlafenden Mutter, „wenn du nur sehen könntest, wie schön es draußen schneit!“

Sie blickte aus dem beschlagenen Fenster den tanzenden Flocken nach.

„Es würde dir bestimmt gefallen. Ich mochte den Schnee ja auch schon immer, das kann ich nur von dir haben.“

Schwermütig legte Madge den Kopf neben ihrer Mutter auf das weiche Bett.

„Wenn jetzt nur Gale vorbeikommen würde – weißt du, er ist so was wie der Lichtblick jeden Freitags. Manchmal wünschte ich, dass ich mehr wie er wäre, du weißt schon, mutiger, stärker… freier.“

Seufzend stützte sie ihr Kinn wieder in die Hände und überlegte, was ihre Mutter wohl sagen würde. Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit ihr, als sie noch kleiner war und sich beschwert hatte, dass die anderen Kinder in der Schule nicht mit ihr redeten.

„Manchmal musst du auch stärker sein, Madge.“

Stärker sein, dachte sie. Ich wüsste gerne, wie das gehen soll.

Einen kurzen Moment lang kam ihr ein verrückter Gedanke, als sie so in das Schneegewühl blickte. Sie könnte ja eigentlich… Nein. Als Tochter des Bürgermeisters ging man nicht im wildesten Blizzard nach draußen, um einem armen, illegalen Jäger einen Besuch abzustatten. Den Kopf schüttelnd tat Madge diesen Gedanken ab. Zwar könnte sie wirklich diesen Schal und Handschuhe für seine kleinen Schwestern vorbeibringen…

Ein paar Sekunden verstrichen, während sie still am Bett ihrer Mutter saß, dann, urplötzlich, stand Madge auf und schob den Stuhl fort. Energisch verließ sie den Raum und ging zurück in ihr eigenes Zimmer, wo sie die Türen des Kleiderschrankes aufriss und ihre alten Wintersachen suchte. Es dauerte nicht lang, da hatte sie alte Schals und Handschuhe gefunden. Mit vor Aufregung zittrigen Händen packte sie all die Sachen zusammen zu einem kleinen Bündel und schlang sich dann ihrerseits einen Schal um den Hals.

In Wintersachen eingepackt schlich sie sich hinunter, in den kalten Flur des Hauses, um sich ihre Stiefel anzuziehen. Aus dem beheizten Wohnraum drang leises Gemurmel und schrilles Gelächter. Das Gesicht verzogen schlüpfte Madge in ihre dicksten Stiefel und zog den kleinen Haustürschlüssel aus dem Schloss. Unbeobachtet von ihrem Vater verließ sie das Haus in Richtung Saum.

Da sie noch nie an diesem Ort gewesen war, fragte Madge sich einfach durch, denn sie nahm an, dass fast jeder hier Gale Hawthorne kannte und tatsächlich, es war nicht sonderlich schwer, jemanden zu finden, der sie kannte, doch die meisten waren eher misstrauisch und wollten nicht recht herausrücken mit ihren Informationen. Erst als sie das Geldklimpern aus Madges Jackentaschen hörten besannen sich manche, denen ihr eigenes Überleben mehr wert war.

So stand sie schließlich mit vor Aufregung pochendem Herzen vor der kleinen Hütte am Rande des Saumes, deren Dach sich unter der Schneelast durchbog und aus deren Schornstein nicht einmal Rauch aufstieg. Eisblumen überzogen die Fenster und alles wirkte so viel unwirtlicher als dort, wo Madge herkam. Noch einmal schluckte sie trocken, dann fasste sie sich ein Herz und klopfte etwas unsicher an die Tür. Rufen und Rumoren ertönte von innen, dann öffnete jemand die Tür.

Verwirrt blickte Madge einen Moment lang in den leeren Türrahmen, ehe sie ihren Blick senkte. Tatsächlich, zu ihren Füßen stand ein kleines Mädchen, mit braunem Lockenkopf, dass sie mit großen Augen anblickte.

„Bist du die Weihnachtsfrau?“, fragte es.

Madge blickte ihrerseits ebenfalls mit großen Augen zurück, ehe sie leise lachte und amüsiert erwiderte:

„Vielleicht? Bist du denn brav?“

Das kleine Mädchen bejahte dies, während sie kräftig nickte.

„Posy? Wer ist da?“, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund, offenbar ihre Mutter.

Posy drückte sich in den Türrahmen und starrte Madge an.

„Wie heißt du?“

Sanftmütig erwiderte diese:

„Madge.“

Hinter Posy war jetzt eine etwas ältere Frau aufgetaucht, die ebenso dunkelbraunes, wie lockiges Haar hatte und dieses zu einem dicken Zopf gebunden trug. Wachsam musterte sie Madge, als sei sie unsicher, was sie von ihr halten solle.

„Ähm, Mrs. Hawthorne?“, fragte diese, um das Schweigen zu brechen.

„Madge, Madge Undersee?“

Schüchtern nickte Madge.

„Ja…“

„Warum bist du hier?“, fragte die Frau und Angst schwang in ihrer Stimme mit, während sie mit einer Hand ihre Tochter an sich drückte.

„Ich wollte eigentlich nur, ähm, etwas vorbeibringen.“

Mit beiden Händen streckte Madge das Kleiderpaket aus.

Überrascht blickte Mrs. Hawthorne sie an, dann öffnete sie die Tür weiter und sagte, nun etwas herzlicher:

„Komm doch herein, draußen ist es ja bitterkalt.“

Wenig später stand Madge in dem Wohnbereich der kleinen Hütte, die trotz mangelnden Kamins erhitzt war von den vielen Menschen. Ein großer Waschzuber stand in der Ecke und zwei jüngere Jungen turnten um ihn herum.

„Vick, Rory, hört auf damit!“, rief Mrs. Hawthorne energisch.

Interessiert blickte Madge sich um. Der Raum war eng, aber belebt, Kinderzeichnungen auf altem Papier hingen an den Wänden, neben lehmigen Hand und Fußabdrücken, die jeweils mit Namen und Datum beschriftet waren. Fasziniert beobachtete Madge einen kleinen Handabdruck von Gale, der über zehn Jahre zurück lag, als dieser den Raum betrat und fast zurückschreckte, als er sie erkannte.

„Madge?“, fragte er ungläubig.

Das Herzklopfen kehrte in ihre Brust zurück, als sie Gale zaghaft anlächelte und ein krächzendes „Hallo“ hervorbrachte.

„Äh, ich wollte nur kurz etwas vorbeibringen“, erklärte sie hastig und zeigte erneut das Kleiderbündel hervor.

Doch Gales Miene verfinsterte sich eher, als dass er sich freute.

„Wir brauchen keine Almosen.“

Es klang ein wenig vorwurfsvoll, als einer der Jungen in genau diesem Moment niesen musste.

Unglücklich drückte Madge das Päckchen an ihre Brust und biss sich auf die Unterlippe. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, als sie mutig losgezogen war, um etwas Unvorstellbares zu tun.

„Es ist die Bezahlung für… Erdbeeren“, sagte sie trotzig und ohne groß nachzudenken.

„Ich hab kein Geld mehr, aber ich möchte Erdbeeren. Bring mir welche und ich bezahle dich. Das ist alles.“

„Bitte was?“

„Du hast richtig gehört, Gale Hawthorne. Ich, Madge Undersee, bezahle dich mit Kleidung für deine Erdbeeren.“

Prustend fing Gale an zu lachen, was Madge irritierte und gleichzeitig wütend machte.

„Es ist Winter“, sagte Gale bedeutungsvoll, „es gibt keine Erdbeeren.“

„Oh“, murmelte Madge, den Blick errötend auf den Boden gerichtet. Wahrscheinlich hatte sie sich völlig umsonst vor allen Anwesenden komisch gemacht und sie wünschte sich, dass sich ein Loch im Boden auftäte. Doch stattdessen hörte sie Gales kratziges Gelächter.

„Vielleicht magst du ja Schlehbeeren? Die wachsen im Winter.“

Überrascht blickte Madge auf.

„Ehrlich?“

Gale nickte.

„Wir haben noch Saft davon, falls dir das recht ist.“

Noch ein wenig unsicher nickte Madge, doch Mrs. Hawthorne kam freundlich lächelnd auf sie zu und nahm ihr das Kleidungspaket ab.

„Danke“, flüsterte sie lächelnd, „Gale ist manchmal ein Sturkopf, aber so lange er nichts geschenkt bekommt…“, sie lächelte augenrollend.

Madge lächelte zurück.

„Ich wollte mich nur revanchieren, weil er doch so oft bei uns vorbeikommt.“

Zufrieden beobachtete sie, wie Gales Mutter das Päckchen auseinander nahm und mit einem glücklichen Gesicht die weißen Handschuhe mit den kleinen Schleifen an die kleine Posy weiter reichte, mit denen diese fort zu ihrem Bruder rannte und aufgeregt auf die kleinen Schleifen wies.

Unbeobachtet von allen zog Madge sich zu Gale zurück, der in der Küche verschwand und lehnte sich vorsichtig gegen den wuchtigen Küchentisch, der den größten Teil des kleinen Raumes einnahm.

„Ein schönes Zuhause hast du.“

„Hm. Ist wohl nichts gegen ein beheiztes Bürgermeisterhaus.“

Ein wenig beleidigt zog Madge die Augenbrauen zusammen.

„Ich meine das ernst. Euer Haus wirkt so gemütlich… mit viel Leben.“

Sie zuckte mit den Schultern.

 „Unser Haus ist nicht so, nur weil es eine Heizung hat.“

Entschuldigend blickte Gale auf das Saftglas in seiner Hand, dann reichte er es ihr.

„So meinte ich das auch nicht“, entgegnete er ausweichend.

„Danke, dass du die Kleinen so glücklich machst“, sagte er stattdessen.

Madge glaubte fast, ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen.

„Es ist fast Weihnachten, also… Frohes Fest.“

Mit einem kleinen Grinsen im Gesicht trat sie vor und umarmte Gale zaghaft.

Das würde das letzte verrückte Ding sein, das sie für heute tun würde, das schwor sie sich. Sie wurde ja schon fast übermütig.

„Vielen Dank für die Winterbeeren, Gale.“

Gale jedoch musterte nur voller Verblüffung die feine Tochter des Bürgermeisters, die so urplötzlich in seinem Haus aufgetaucht war und ihn einfach so umarmt hatte. Draußen tobte der Wintersturm, während er sich zu ihr an den Tisch setzte um Beerensaft zu trinken, die Kinder sich um den Tisch jagten und alles entspannter wurde, sodass er sogar für den Moment vergaß, wie sehr er ohne Feuerholz gefroren hatte und Madge – Madge war einfach glücklich, dass sie einmal auf ihre Mutter gehört hatte.

Winterkälte


 

9. Dezember – Winterkälte
 

Delly Cartwright
 

Beetee
 

Alma Coin
 

*
 

„Oh, bitte, bitte!“

Laut hallte Delly Cartwrights Stimme durch die unterirdischen Höhlen von Distrikt dreizehn. Einige der Soldaten, die gerade durch den Verbindungstunnel zwischen den Waffenkammern liefen blickten sich verwundert um.

„Bitte, bitte!“

Seufzend lehnte Beete, seines Zeichens Erfinder, sich in seinem Bürostuhl zurück und musterte Delly Cartwright, die lautstarke Bittstellerin, welche mit überkreuzten Beinen auf einem der Arbeitstische hockte und ihn fast schon flehend ansah, ihre blonden Haare zwischen den Fingern zwirbelnd.

„Bitte, Beetee!“, versuchte sie es noch ein weiteres Mal, doch der etwas betagtere Erfinder schüttelte nur stumm den Kopf.

„Delly, nein, dafür werde ich nicht meinen Kopf hinhalten.“

Vorsichtig nahm er einen der Bohrer in die Hand und befestigte die letzten Schrauben an seiner neuesten Erfindung, während Delly ihm mit einer Flunsch zuschaute.

„Bin ich denn die einzige, der etwas daran liegt?“

Neuerlich seufzend legte der Erfinder sein Werkzeug wieder bei Seite und drehte seinen Stuhl in Richtung des blondhaarigen Mädchens, das jetzt gelangweilt ihre Zopfspitze zwischen den Fingern drehte.

„Delly, wie ich bereits sagte“, hob Beetee an, doch er konnte den Satz nicht mehr vollenden, denn das junge Mädchen hob bereits abwehrend die Hände und rief aus:

„Dann nicht Beetee. Geh ich jemand anderen fragen.“

Mit diesen Worten rutschte sie von der Arbeitsfläche und schnitt ihm eine Grimasse. Angestrengt fuhr Beetee sich mit den Fingern über die Stirn.

„Ich glaube du unterschätzt sie einfach…“

Empört stemmte Delly die Hände in die Hüften.

„Hast du etwa Angst vor ihr?“

Ein etwas höhnisches Lachen erklang aus ihrem Mund.

„Sie ist doch eine von uns“, fuhr sie fort, „also warum? Du hast mal die Spiele gewonnen!“

Unglücklich stützte Beetee seinen Kopf auf den Arm, ehe er sanfter entgegnete:

„Delly, sie ist die Anführerin.“

Wie ein kleines Mädchen schob Delly die Unterlippe vor, dann kehrte das Funkeln in ihre Augen zurück, das der Rebell bereits so gut kannte. Er schätzte Delly deswegen sogar sehr – sie hatte keine Angst und war experimentierfreudig, neben Gale genau die Richtige als Assistentin für sein neues Labor, doch in genau diesem Moment war sie kurz davor, ihm die Nerven zu rauben. Alles nur wegen diesem einen Fest. Wenn Delly nicht gewesen wäre, dann würde sich wohl kaum einer auch nur erinnern.

„Es ist Weihnachten, Beetee! Wir können doch nicht immer nur so weiter machen. Wenn wir eine Hochzeit feiern können, dann können wir auch Weihnachten feiern.“

Entschlossen nickte sie und stellte sich vor ihn.

„Also, kann ich auf deine Unterstützung zählen?“

Den Kopf schüttelnd gab Beetee schließlich doch noch klein bei und sagte:

„Worauf lasse ich mich da nur ein?“

Doch Delly lächelte nur gewinnend und setzte sich zurück auf die Arbeitsfläche, während der Erfinder ihr Gehör schenkte.

„Ich habe gedacht, wir könnten sie stimmungsmäßig ein wenig darauf vorbereiten… du weißt schon! Hier einen Tannenzweig hinstellen, ein paar Kugeln…“

Zufrieden lächelte das etwas pummelige Mädchen, welches fast schon eine Frau war, doch aufgrund ihrer kindlichen Begeisterung mitunter weniger wie eine solche vorkam.

Mit glänzenden Augen blickte sie gen Decke, während sie etwas von weihnachtlicher Dekoration faselte, die sie in Distrikt dreizehn zu verbreiten plante. Es war tatsächlich schon wieder Winter und der Schnee fiel über das ganze Land, auch das Kapitol blieb nicht von den unmenschlichen Schneemassen verschont. Allerdings merkte man hier, unter der Erde, kaum etwas von diesen Launen des Wetters. Doch seit Delly bei ihrem wöchentlichen Freigang all den Schnee gesehen hatte, war sie kaum mehr aufzuhalten. Sie hatte sich bereits dadurch auffällig gemacht, gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder singend durch den Distrikt zu ziehen.

Träumerisch legte sie ihren Kopf in den Nacken und stellte sich vor, wie es wäre, wenn der gesamte Distrikt schön geschmückt wäre. Zuhause war es um die Weihnachtszeit immer so heimelig gewesen, mit einem Adventskranz und Tannenbaum… Sie vermisste all dies bitterlich, vor allem, weil man hier unten nicht einmal den Schnee sehen konnte, der doch eigentlich das Schönste am Winter war. Vielleicht wäre sie selbst noch damit klargekommen, doch sie merkte, wie sehr ihr kleiner Bruder Ryan das alles vermisste. Er war noch kleiner und konnte sich nicht einmal richtig vorstellen, dass es jetzt nur noch Delly und ihn gab.

Bei dem Gedanken an ihren Bruder musste Delly seufzend, dann jedoch schüttelte sie den Gedanken ab und lehnte sich wieder zu Beetee.

„Wie wäre es, wenn wir in jeden Durchgang ein paar Tannenzweige hängen, vielleicht ein oder zwei Kugeln und eventuell einen Mistelzweig? Dann würden wir uns alle sicher wohler fühlen… Man könnte an Weihnachten auch ein großes Weihnachtsessen in der Kantine machen!“

Begeistert röteten sich Dellys Wangen bei dem Gedanken daran. Beetee lächelte sie amüsiert an und erklärte:

„Ich werde mit Coin sprechen, aber ich werde dir nichts versprechen, okay?“

„Kann ich nicht einfach mitkommen?“, maulte sie ein wenig, doch er schüttelte nur den Kopf.

„Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee wäre“, murmelte er vor sich hin.
 

~
 

Nur wenig später war es so weit und die nächste Versammlung in Alma Coins Hauptquartier wurde einberufen. Beetee hatte sich vorgenommen, dass er Dellys Bitte erst  zu allerletzt vortragen würde, denn er hatte es schon fast im Gefühl, dass Coin dieser Plan nicht zu sagen würde. Es war nicht, dass er es Delly nicht gönnen würde, doch Coin war hart wie Eisen und zudem wollte Beetee es nicht vor der versammelten Mannschaft äußern.

So saß er also fast die gesamte Versammlung über still in seinem Sitz und sichtete das neueste Material für einen von Katniss Propos. Überall im Hintergrund wirbelte Schnee umher und doch strahlte alles eine düstere Atmosphäre aus. Wehmütig musterte Beetee die Aufzeichnungen des wirbelnden Schnees. Wiress hatte Schnee gemocht, genauso wie Weihnachten. Wenn es doch nur einen Nutzen für Coin gäbe, dann wäre nicht viel gegen das Fest einzuwenden.

Stumm wartete er, bis die Versammlung aufgelöst wurde und die meisten der Rebellen wieder ihrer Wege gingen, ehe er an die ältere Anführerin herantrat, deren kurze, kinnlange Haare eisig grau waren und die in militärischer Uniform steckte, selbst jetzt, während vorübergehende Stille zwischen Kapitol und Rebellen herrschte.

„Coin?“, wagte er es vorsichtig, sie anzusprechen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen wand sie sich ihm zu.

„Ja, Beetee? Nennenswerte Neuerungen?“

Er schluckte. Wie immer wollte sie etwas von Fortschritt hören, doch heute musste er sie enttäuschen.

„Das auch, wie immer, aber ich habe ein anderes Anliegen. Einer der Bürger dieses Distriktes ist mit einem Wunsch an mich herangetreten… dem gegenüber ich nicht abgeneigt bin“, gestand er sich ein.

Falls das möglich war, so zog Coin ihre Augenbrauen noch höher.

„Ist das so?“

„Es geht darum, dass bald Weihnachten ist. Einige unter uns vermissen das Fest und würden sich freuen, wenn wir für einen Moment uns ein wenig besinnen könnten.“

Unverwandt blickte Coin ihn einige Sekunden lang an, dann schüttelte sie den Kopf.

„Wir haben keine Zeit für Rührseligkeiten! Beetee, mein Lieber, dies ist ein Krieg!“, zischte sie, „ein Krieg der gewonnen werden will!“

Einen letzten Versuch jedoch wagte der Erfinder noch:

„Nun, wir müssen es ja nicht direkt feiern, aber gegen einige geringe Dekorationen sollte doch nichts einzuwenden sein?“
 

~
 

Es war noch nicht einmal eine ganze Woche vergangen, als Delly bereits wieder in Beetees Büro erschien, im Arm einen großen Karton, dessen Inhalt dem Erfinder unbekannt war.

Ächzend stellte das Mädchen ihn auf einem der Tische ab und trat an seine Seite, neugierig den Dreizack auf seinem Tisch musternd.

„Wow, ganz schön heftiges Teil“, sagte sie anerkennend.

„Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin! Also, was sagt Coin?“

Neugierig blickte sie ihn an, schon wieder diesen Glanz in den Augen. Abwehrend hob Beete die Hände ehe er entgegnete:

„Delly, freu dich nicht zu früh. Es wird kein Weihnachtsfest geben und es wird auch niemanden geben, der den Distrikt schmückt.“

Die großen, braunen Augen ihres Funkelns beraubt, blickte Delly ihn an, dann ließ sie sich niedergeschlagen auf einen Stuhl sinken.

„Wieso?“, fragte sie leise, „ich würde sogar alles selber machen…“

Ungelenk umarmte Beetee das Mädchen und strich ihr über den Rücken.

„Du kennst doch Coin. Sie sieht es nicht ein, Arbeiter zu Dekorationszwecken abzustellen.“

Delly in seinen Armen versteifte sich plötzlich.

„Sie hat nicht gesagt, dass sie gegen Dekoration an sich ist?“

Zögerlich ließ Beetee seine Arme sinken und schüttelte den Kopf.

Energisch packte Delly den Karton, hob den Deckel ab und zeigte ihm all die bunten, selbstgebastelten Papiersterne und Kugeln, die sie augenscheinlich selbst gebastelt haben musste.

„Ich kann den Distrikt auch alleine schmücken!“

Das Funkeln war bereits in ihre Augen zurückgekehrt, als sie fragte:

„Beetee, magst du mir vielleicht helfen? Ich brauche noch jemanden, der Lichterketten baut… Falls du das machen könntest…“

Fast ein wenig schüchtern lächelte Delly ihn an.

Wieder einmal seufzend lehnte Beetee, seines Zeichens Erfinder, sich in seinem Stuhl zurück.
 

~
 

„Komm endlich, Ryan! Wir verpassen sonst die anderen!“, hallte Delly Cartwrights Stimme am Weihnachtsabend durch die unterirdischen Gänge von Distrikt dreizehn. Der normalen, gräulichen Einheitskleidung des Distrikts entledigt stand sie im Gang vor ihrem Wohnraum, ein altes Kleid von Cinna, Katniss Stylisten am Leibe, das ihr doch etwas zu eng war und wartete auf ihren kleinen Bruder, der sich ihrer Meinung nach viel zu viel Zeit ließ.

Glücklich lächelte sie vor sich hin, während im Hintergrund rote und goldene Kugeln im Dämmerlicht einer schlichten Lichterkette glänzten und frische Tannenzweige aus dem Wald dem ganzen einen Rahmen gaben.

Jeder hatte mitgeholfen, den Distrikt ein wenig zu verschönern, ein jeder auf seine Art, und das alles war Dellys Werk, da hatte sie es sich nur verdient, zu einem Weihnachtsessen zu gehen, dass ebenfalls alle Rebellen gemeinsam aufgebaut hatten.

Delly hatte es im Gefühl, dass heute ein ganz friedlicher Abend werden würde.

Alma Coin dagegen, die strenge Anführerin des Distrikts, ahnte noch gar nichts von der sich anbahnenden Festivität, denn sie stand draußen in der Kälte, Schnee in den Haaren und schaute in Richtung des nicht allzu weit entfernten Kapitols.

Nur heute gestand sie es sich zu, ein wenig sentimental zu werden und all jene zu denken, die heute nicht dabei sein konnten.

„Mrs. Coin?“

Ein pflichtbewusster Soldat war hinter ihr erschienen und mit einem Seufzen folgte die ältere Dame ihrer Leibgarde wieder hinunter, zurück nach Distrikt dreizehn.

Doch anstelle in einem fast leeren Essenssaal anzukommen öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und gaben den Blick frei auf eine unglaubliche Ansammlung an Menschen, die unter dem Schein eines großen Weihnachtsbaumes beieinander saßen.

„Wir haben nur auf sie gewartet, Mrs. Coin“, begrüßte einer der Soldaten sie, „dass hier ist unsere Weihnachtsfeier, die wir für alle hier organisiert haben, weil…“

„Weil sie den Zusammenhalt stärken wollten“, beendete Coin seinen Satz, wohl wissend, dass er keinen vernünftigen, strategisch wichtigen Grund vorzubringen gehabt hatte.

„Genießen sie das Fest“, sagte sie zu ihrer Leibgarde und beobachtete das Treiben um sie herum. Mitunter schafften es die vielfältigen Leute hier es doch wieder, sie zu überraschen, und das auch noch angenehm. Es konnte nur ein Schatten sein, doch für einen Moment sah es so aus, als würde Alma Coin lächeln.

Winterglanz


 

10. Dezember – Winterglanz
 

Glimmer
 

Marvel
 

*
 

Es ist alles andere als leicht, immer zu glänzen. Das jedoch war Glimmer, Tochter aus wohlhabendem Hause, nicht bekannt. Das einzige Kind eines Edelsteinminenbesitzers war des festen Ansinnens, dass sie jeden einzelnen Tag noch besser als den vorherigen meistern musste, denn ein Tag, der nicht perfekt war, war kein Tag, so zumindest die Meinung Glimmers. Natürlich war es da keine Frage, dass besonders Tage wie Weihnachten einen hohen Stellenwert bei ihr hatten, denn dies war doch die beste Gelegenheit, perfekt zu sein. In neuen Kleidern und Schuhen zur Kirche zu schreiten gehörte zu den größten Freuden an Weihnachten – bis jetzt, denn nun gehörten elegante Kleider und besinnliche Abende am Christbaum der Vergangenheit an. Zwar war Glimmer selber daran schuld, dass es nun damit vorbei war, doch das brachte sie nicht davon ab, sich lautstark bei ihren Eltern über ihre unglückliche Lage zu beschweren. Seit diesem Jahr ging Glimmer in das örtliche Trainingscamp, wo sie von einigen Größen des ersten Distriktes unterrichtet wurde, vor allem im Schwertkampf, einer Disziplin, die Glimmer, zu ihrem Leidwesen, wohl nie richtig beherrschen würde. Am besten gefielen ihr Pfeil und Bogen, auch wenn sie, wie man mancherorts munkelte, eher weniger talentiert war.

Doch Glimmer war sich dessen nicht bewusst, stattdessen trainierte sie, um eines Tages, oder besser bereits im nächsten Jahr, ihren Distrikt stolz zu machen, indem sie die alljährlichen Hungerspiele gewinnen würde.

Dafür jedoch musste sie zuvor nun erst einmal die Enttäuschung überleben, nicht wie gewohnt Weihnachten feiern zu können, denn Cashmere, ihre Trainerin, hatte für diese bitterkalten Tage andere Pläne. Obwohl es der 24. war, sollte Glimmer gemeinsam mit den anderen angehenden Tributen an einer Schnitzeljagd durch den dunklen Wald teilnehmen.

Um wenigstens ein klein wenig zu glänzen hatte sie sich extra herausgeputzt, was bedeutete, dass sie eine neue Lammfelljacke trug, sowie elegante Schnürstiefel und sich besonders mit ihren lockigen Haaren Mühe gegeben hatte, denn diese hatte sie zu einem kunstvollen Zopf geflochten.

So stand sie, die Arme verschränkt, am Waldrand, gemeinsam mit schätzungsweise 20 anderen angehenden Tributen, die allesamt an der Schnitzeljagd teilnehmen würden.

„Also, ihr werdet jetzt alle jeweils in Zweiergruppen aufgeteilt, damit ihr auch gleichzeitig ein wenig Teamwork macht, schließlich seid ihr in der Arena immer mehrere Karrieretribute!“

Nach außen hin gelangweilt beobachtete Glimmer das Treiben, doch innerlich hoffte sie, dass man sie mit Miles, dem Coolen und Beliebten paaren würde, doch natürlich war dem nicht so. Stattdessen musste sie hören, dass man sie ausgerechnet mit Marvel zusammen gesteckt hatte, der, wie Glimmer abfällig dachte, ein wirklicher Trottel war. Groß und ungelenk, das war Marvel. Missmutig stapfte Clove zu ihm hinüber, die Hände in den Taschen versenkt und grimmig drein schauend. Marvel jedoch lächelte sie auch noch breit an und ließ es sich nicht nehmen, sie mit einem fröhlichen „Hey Glimmer“, zu  begrüßen.

„Im Wald hängen an verschiedenen Stellen Zettel aus, auf denen ein Hinweis steht, der euch zu dem nächsten Ort führt. Am Ende wartet ein Gegenstand, den ihr mitbringen müsst. Wenn ihr so weit seid, dann holt euch ein Übungsschwert hier vorne ab, denn ab dann sind die anderen Paare eure Gegner!

Augenrollend folgte Glimmer Marvel zu Cashmere, die ihnen beiden ein hölzernes Übungsschwert reichte.

„Viel Erfolg“, wünschte die Trainerin ihnen, dann ging es auch schon auf in den Wald. Das Schwert in eine Hand pendelnd, schob Glimmer Marvel beiseite und trat an den Baum mit dem ersten Hinweisschild heran.

Dort, wo Wege sich kreuzen wird der Weg euch gewiesen.

„Irgendeine Ahnung?“, wandte sie sich an ihren Partner, von dem sie hoffte, dass er wenigstens hiervon Ahnung hatte, denn sie wollte gerne recht schnell hiermit durch sein, denn im Anschluss stand der Jahresabschlussball des Trainingscenters an, den sie garantiert nicht verpassen wollen würde.

Marvel, der bis zu diesem Punkt noch recht stumm gewesen war, warf sein Schwert von einer Hand in die andere und musterte den Zettel.

„Damit dürfte die Weggabelung im Osten gemeint sein“, erklärte er, „lass uns einfach da lang gehen!“

Mit dem Schwert wies er wage in eine Richtung, wo das Unterholz nur noch dichter wurde und der Schnee sich zentimeterhoch auf dem Boden auftürmte. Seufzend wandten sie sich der Richtung zu und Glimmer wünschte sich, dass die Arena ihrer Hungerspiele keine Eiswüste sein würde. Sie mochte keine Kälte.

Eine Weile lang kämpfte das ungleiche Paar sich stumm durch den Wald, jeder sein Schwert im Anschlag, doch sie begegneten niemand anderem. Die ersten paar Hinweisschilder ließen sich ohne größere Probleme finden, denn Marvel bewies zum ersten Mal vor Glimmer sein können und so kamen sie zügig durch. Erst das sechste Schild, auf dem geschrieben stand Dort wo die Nacht funkelt, wird euer Weg aufgezeigt werden bereitete ihnen größere Probleme, als gedacht. Glimmer war der Meinung, dass es eine Lichtung sein müsse, da man nur von dort nachts die Sterne sehen könne, während Marvel, der Trottel, keinerlei Ahnung hatte.

So liefen sie durch den mittlerweile immer dunkler werdenden Wald, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Fluchend krabbelte Glimmer über einige niedrige Brombeerhecken, während Marvel ihr stumm folgte.

„Bist du dir sicher, dass du keinerlei Ahnung hast?“, fragte sie, bestimmt nicht zum ersten Mal.

Beleidigt erwiderte Marvel:

„Herrgott, nein, habe ich nicht!“

Verzweifelt stoppte sie und sah sich um.

„Ich weiß nicht einmal, wo wir uns befinden, verdammt!“

„Herzlichen Glückwunsch, da bist du nicht alleine“, ätzte er zurück, mit dem Fuß im Schnee scharrend.

Mit der Zeit hatte es angefangen, wieder leicht zu schneien und die Flocken fielen auf sie, nur um direkt auf Haut und Haaren zu schmelzen und sie somit zu durchnässen. Hätte Glimmer jetzt im warmen gesessen, dann hätte sie sicherlich gedacht, dass die Welt draußen ein Winterwunderland war, doch so verwünschte sie den Schnee lediglich, der sich sogar in ihren Wimpern verfing. Es war Weihnachten und sie musste undankbarer Weise mit Marvel, dem Trottel, durch den Schnee kriechen, auf der Suche nach einem bei Nacht glitzerndem Platz. Frustriert klemmte sie sich das Schwert unter den Arm und lief wieder los, ohne Rücksicht auf Marvel zu nehmen, der ihr protestierend folgte.

„Glimmer, warte doch mal! Vielleicht sollten wir einfach mal überlegen, anstelle planlos durch die Gegend zu laufen?“

Zornig blieb sie stehen.

„Nerv nicht, Marvel! Du hast doch auch keine Ahnung!“

Vor Kälte, als auch Wut zitternd, bahnte sie sich weiter ihren Weg durch das Unterholz und dem Knacken der Äste zur Folge tat auch Marvel das.

„Glimmer?“, erscholl es da auch schon fragend von hinten.

Doch sie drehte sich nicht um, sondern brummte nur:

„Hm?“

„Ich habe überlegt. Eine Lichtung ist unwahrscheinlich. Ich war schon öfter im Wald und vielleicht ist damit der alte Steinbruch gemeint? Schließlich sind wir ja in Distrikt eins und…“

Überrascht drehte Glimmer sich um.

„Der alte Steinbruch? Glaubst du? Was sollte daran denn glitzern?“

Dennoch hörte sie ihm zu, als er weiter redete.

„Sie haben ihn doch stellenweise abgetragen und dort sind immer noch schimmernde Spuren der Edelsteine zu sehen.“

Glimmers Augen weiteten sich, als die Hoffnung sie ergriff.

„Das wäre wunderbar“, murmelte sie und drehte sich wieder um.

„Wo ist der Steinbruch?“

Auch Marvel fände es in der Tat wunderbar, wenn sie wieder aus dem Wald hinaus könnten, denn so langsam wurde auch ihm kalt, und das nicht nur, weil Glimmer ihm eben diese Schulter zeigte. Er hatte sich daran gewöhnt, dass die reiche kleine Glimmer nicht viel von ihm hielt. Schließlich konnte nicht jeder Glück im Leben haben. Er lebte zwar in Distrikt eins, aber nicht gerade als einer der reichsten. Deshalb war es sein bescheidener Plan, die Spiele zu gewinnen, um auch zu Anerkennung zu gelangen – einmal wollte auch er glänzen.

Nur darum zeigte er Glimmer jetzt den Weg durch den Wald. Auch wenn er sich eigentlich ein wenig mehr Zuwendung von ihr erhofft hätte, und nicht als Trottel abgestempelt im Wald geendet wäre.

Schließlich erreichten sie nach einigem Fußmarsch doch noch die alte Miene, die Marvel gemeint hatte und tatsächlich: Ein Hinweisschild hing am Eingang. Erleichtert seufzte Glimmer neben ihm.

„Endlich, ich dachte schon, wir finden das nie!“

„Warten wir lieber, was die letzte Aufgabe ist…“, entgegnete Marvel und beugte sich vor, um zu lesen.

Euer Ziel wird sein, ein Ort der Eingang und Ende markiert.

„Na toll“, stöhnte Glimmer, „das läuft ja wunderbar. Wir sind beim letzten Hinweis und der ist noch dämlicher als alle anderen!“

Ermattet ließ Marvel sich einfach auf einen Stein fallen, während er Glimmers Ausführungen nur halbherzig lauschte. Er wollte es nicht zugeben, aber er war müde und Glimmer, die wieder einmal die Beste in allem sein wollte, strengte ihn noch zusätzlich an.

„Glimmer, hör auf damit dich so verrückt zu machen“, murmelte er, während er den Kopf in die Hände stützte, wofür er nur einen verständnislosen Blick erntete.

„Ich gehe gleich!“, rief Glimmer ihm zu, doch statt dass Marvel sich ihr unterwarf und ihr weiter folgte, wank dieser nur mit einer Hand ab. Auch Glimmer war ermüdet und hatte keine Lust mehr, durch diesen Wald zu laufen, während das Schneetreiben immer dichter wurde, doch dazu mussten sie zuerst fertig werden. Angespannt umfasste sie ihren Schwertgriff fester, während sie Marvel musterte, wie er entspannt auf dem Stein saß.

„Komm schon, Glimmer, stell dich nicht so an. Das hier ist nicht die Arena und wir sind keine Tribute. Es ist einfach nur Weihnachten im Wald.“

Er lachte leise. Wie konnte er das jetzt tun? Fassungslos blickte Glimmer ihn an. In diesem Moment ertönten aus dem Wald Stimmen und kurz darauf brach Miles mit seiner Partnerin durch das Unterholz.

„Miles“, rief Glimmer überrascht, doch dieser beachtete sie nicht einmal, sondern zog lediglich das hölzerne Übungsschwert und ging in Angriffsstellung.

Nun stand auch Marvel wieder auf und hob das Schwert, während er Glimmer unsanft beiseiteschob. Wenig später gingen die beiden mit erhobenen Schwertern auf einander los, Schnee stob auf und Glimmer stürzte sich ihrerseits lieber auf Miles Partnerin, ein bleiches Mädchen, dass sie mit einigen halbherzigen Schlägen beschäftigte. Die Jungen dagegen wälzten sich förmlich durch den Schnee. Doch schon nach wenigen Minuten lösten sie sich voneinander, Marvel mit einem leicht blutigen Kratzer über der Wange und Miles augenscheinlich unverletzt, der geschickt um Marvel rumlief, den Zettel einfach abriss und dann, ohne Rücksicht auf seine Partnerin, in den Wald flüchtete, woraufhin diese ihm ebenso schnell folgte.

„Na super“, sagte Glimmer und musterte Marvel, der auf seinem Hosenboden mitten hier im Wald saß, die Wangen vom Holzschwert zerkratzt und Schnee in seinen braunen Haaren, die wild vom Kopf abstanden, noch mehr als vorhin schon. Auf seine Art sah er lustig aus, so in diesem Moment.

„Schwächlinge werden ja eigentlich in der Arena gegrillt“, meinte sie, leicht amüsiert und richtete spielerisch ihr Schwert auf ihn, doch er grinste nur.

„Dann habe ich ja unheimliches Glück“, scherzte er, doch blieb sitzen.

„Na komm schon, steh auf, wir müssen es vor den beiden schaffen“, forderte sie, doch noch immer blieb er sitzen und blickte sie provozierend an. Frech fragte er:

„Wieso?“

Aber Glimmer nahm bereits Schnee in die Hand, formte einen harten Ball und warf ihn nach Marvel, während sie rief:

„Weil du ein Trottel bist und wir es ihnen zeigen müssen!“

Mit gespielt weinerlicher Stimme antwortete er:

„Nicht, ich bin doch nur ein armer, dummer Trottel.“

Nun lachte auch Glimmer ein wenig, als sie erwiderte:

„Das stimmt, aber wir sind trotzdem besser.“

Marvel wischte sich den Schnee aus dem Gesicht, wo ihr Ball ihn getroffen hatte und musterte sie wieder ernster.

„Wir können nicht immer mit unseren Leistungen glänzen. Ich bin auch nur so ein Trottel, weil ich nicht immer erster werde. Aber das macht nichts. Überhaupt nichts.“

Doch Glimmer wandte sich bereits wieder von ihm ab und lachte leise auf.

„Dann lass uns tolle zweite werden.“

Gemeinsam gingen sie durch den Wald, da sie sich überlegt hatte, dass der Teil des Waldes, der an den großen Zaun grenzte, der den Distrikt von der gefährlichen Umwelt trennte, gemeint sein könnte, da dort ein Ausgang aus dem Wald war und gleichzeitig ein Eingang – je nachdem, auf welcher Seite man stand.

Tatsächlich hörten sie kurz vor ihrem Ziel bereits einige Stimmen, Stimmen von anderen angehenden Tributen.

„Sieht so aus, als würden wir auch nicht mehr zweite werden“, attestierte Glimmer, doch Marvel lächelte nur. Völlig überraschend legte er die Arme um sie und flüsterte in ihr Ohr:

„Wir können ja nicht immer glänzen.“

Dann zog er seine Arme wieder zurück und grinste sie an.

„Außerdem siehst du entzückend aus, so eingeschneit. Wie eine Eisprinzessin.“

Mit diesen Worten lief er lachend zum Zielpunkt und ließ sie einfach alleine stehen.

Trottel, dachte Glimmer.
 

~
 

Später war es so weit, die Festlichkeiten zum Jahresabschluss standen an. Zufrieden drehte Glimmer sich vor dem Spiegel um ihr zartrosafarbenes Kleid zu begutachten, dass sie extra für diesen Anlass erhalten hatte. Ganz wunderbar flog der Saum um ihre Knöchel und sie lächelte, während sie alles noch einmal zu Recht zupfte und schließlich ihr Zimmer verließ. Ihre Eltern und Verwandten warteten bereits und sobald sie am Ende der Treppe erschien, hörte sie, wie sie begeistert klatschten.

„Unsere schöne Glimmer!“, riefen ihre Eltern freudig und ein klein wenig errötete sie. Heute Abend würde sie glänzen!

Mit diesem Gedanken betrat sie auch den Ballsaal, der sich im Rathaus des ersten Distriktes befand. Alle drehten sich um, als sie erschien und endlich fühlte sie sich wieder in ihrem Element, denn das war ihr Weihnachten, auch wenn es anders als geplant begonnen hatte.

Auch Marvel war da, jetzt in einem Anzug. Er prostete ihr aus einer Ecke zu und seine Mundwinkel hoben sich leicht. Für einen Moment blickte sie ihn an und dachte an seine Worte aus dem Wald. Dass sie nicht immer glänzen könne. Sie biss sich in die Wange, doch dann lächelte sie zaghaft zurück. Heute war Weihnachten und deshalb würden sie alle ein wenig glänzen, dachte sie sich.

Winterflocken


 

11. Dezember – Winterflocken
 

Sieger
 

 

Ein Sieger zu sein war nicht einfach, aber vor allem dann nicht, wenn es Winter war. Denn im Winter stand der jährliche Besuch der Sieger aller vergangenen Hungerspiele im Kapitol an. Natürlich war dies keine gewöhnliche Veranstaltung, sondern wurde groß gefeiert, um all den Bürgern des Kapitols noch einmal etwas Großartiges zu präsentieren, bevor das Weihnachtsfest gefeiert wurde. All diejenigen, die nicht reich oder bekannt genug waren um von Präsident Snow eingeladen zu werden, standen an diesem Tag an der Straße und jubelten ihren alten Helden zu, die wie bei den Hungerspielen in einer Parade auf der großen Hauptverkehrsstraße in weißen Wagen mit winterlicher Dekoration vorbeifuhren, ein jeder in einem elegant auf die kalte Jahreszeit abgestimmten Outfit, für das wieder einmal nur die fähigsten Designer engagiert worden waren.

Auch in diesem Jahr war es wieder soweit und in der großen Halle unter dem Vorbereitungscenter wurde der letzte Feinschliff an den ehemaligen Tributen vorgenommen. Eifrige Stylisten liefen mit Glitzerspray und Plastikzuckerstangen bewaffnet durch die Gegend und von draußen hörte man bereits das Jubeln des wartenden Publikums.

Gehetzt lief Marcoh Mask, Teil des Vorbereitungsteams von Distrikt sieben, mit einer silbrig glänzenden Krone durch die Gegend, an schneeweißen Schimmeln vorbei, um die Krone noch rechtzeitig abzuliefern. Bestimmt war sie für Johanna Mason, die launische und ebenso unberechenbare Siegerin. Diese wartete bereits auf Marcoh, in ein schlichtes, kurzes weißes Kleid gehüllt, dass Dank der darauf angebrachten Steinchen ebenso glitzerte. Seufzend hielt sie den Kopf hin, als sie Marcoh mit dem silbrigen Ungetüm erspähte. Sie hatte die Tage, in denen sie gegen diese lächerlichen Styling-Maßnahmen rebelliert hatte hinter sich, denn egal wie sehr man sich auch dagegen stemmte, am Ende schafften sie es immer, dass man etwas völlig lächerliches trug. Also ließ sie mit stoischer Miene das Prozedere über sich ergehen. Es war ohnehin mehr als klar, dass sie am Ende wohl wieder in irgendeiner verqueren Art und Weise ein Baum sein würde, denn Distrikt sieben war immer ein Baum. Die wenigen anderen Sieger aus ihrem Distrikt sahen nicht anders aus als sie und die junge Rebellin seufzte erneut.

In anderen Distrikten wurde wenigstens Wert darauf gelegt, dass nicht alle Sieger gleich aussahen. Neidisch sah sie zu den Tributen von Distrikt vier herüber, einer eingeschworenen Familie, von denen jeder ein anderes Outfit trug. Natürlich betonten sie wieder einmal Finnicks Körper, sodass der Arme fast völlig ohne Kleidung da stand. Mit einem diabolischen Grinsen dachte Johanna, dass er nun frieren müsse. Wenigstens konnten sie sich somit herrlich über einander amüsieren, wenn sie sich schon dem Kapitol zur Schau stellen mussten.

Auch den anderen Siegern ging es nicht anders als Johanna, sie alle waren unwillentlich hier und in Gedanken waren die meisten bereits wieder bei ihren Familien und dem, was sie zuhause noch alles machen wollten, bevor Weihnachten kam.

Manche waren in eher weniger prächtige Kleider gehüllt, die verzweifelt bemüht waren, wie bei der normalen Parade etwas darzustellen, doch in den Distrikten, die etwas besser dran waren, wurden schlichte Kleider und Anzüge getragen. Manche Kleider waren mit Stickereien von Eisblumen übersäht, während andere gar selbst eine gigantische Schneeflocke waren. Alle stellten sich auf die Wagen des jeweiligen Distrikts, die sie sich gemeinsam teilten, da ertönte auch schon der Gong, der bisher noch jede Wagenparade eingeläutet hatte.

Die Türen öffneten sich schließlich und gaben den Blick frei auf die von Menschen gesäumte Straße. Die letzten Hauptpersonen der winterlichen Parade stiegen auf ihre Schneeflöckchenwagen und die Pferde setzten sich langsam in Bewegung.

Draußen fielen sanfte Flocken, doch sobald sie die Sieger berührten, verdampften sie einfach in der Luft, ohne sich niederzuschlagen auf ihrer Kleidung oder in ihren Haaren. Lediglich am Wegesrand blieb der Schnee liegen, wie zu Dekorationszwecken. Mehr war er auch eigentlich nicht, denn der Schnee wurde extra vom Kapitol zu diesem Zwecke künstlich hergestellt und sollte nur für winterlichen Anklang sorgen.

Johanna jedoch kamen diese Flocken wie ein Gespött vor, den in Distrikt sieben, dort waren die Winter lang und hart. Sie war in den dunklen Tannenwäldern aufgewachsen und es wurde fast nie sonderlich warm in diesen Bereichen Panems. Dafür schneite es im Winter fast ununterbrochen und schon bald bildete sich eine meterdicke Schneeschicht. Niemand in sieben versteckte sich vor dem Schnee. Sobald der erste Schnee des Winters gefallen war, wurden allerorts die Türen aufgerissen und Kinder wie Erwachsene stürzten sich hinaus in den Schnee, um Schneeengel zu machen, oder auch Schneemänner zu bauen.

Geistesabwesend winkte Johanna der jubelnden Masse zu, während sie von Schneemassen träumte, die echt und kalt waren, anstelle in der Luft zu verdampfen. Cashmere und Gloss jedoch, die überaus erfolgreichen Tribute des ersten Distriktes hielten diesen Schnee für eine wahre Wohltat. Denn wenn es in ihrem Distrikt schneite, dann blieb der Schnee meist nicht lange liegen, da viele Autos in eins fuhren und schon bald war der Schnee verdreckt und zu einer unansehnlichen Pampe geworden, noch ehe man ihn richtig genießen konnte. Das, was sie am Winter wirklich mochten und worauf sich beide Tribute immer wieder freuten, war der glamouröse Winterabschlussball der Trainingsschule, an der sie neue Tribute ausbildeten. In eleganten Kleidern auftreten, das war ihr Element. Nur in diesen Momenten konnten sie sich fühlen, als wären sie Teil des Kapitols, nicht als wären sie bloß die ehemaligen Sieger, wie hier, wo sie als Schneeflocken gekleidet auf einem Wagen standen und der Masse zuwanken.

Annie Cresta dagegen wank gar nicht, denn der jungen Siegerin, die erst vor drei Jahren gewonnen hatte, war immer noch schlecht, sowohl vor Aufregung, als auch von dem leichten Schlingern des Wagens, auf dem sie stand. Sie nahm noch nicht einmal wahr, dass dort am Straßenrand all die jubelnden Menschen standen und begeistert waren, denn vor ihrem Auge sah sie nichts mehr, als ein buntes Meer aus Federn, Fell und Stoffen.

Ein paar der Flocken wirbelten ihrem Gesicht entgegen und fasziniert beobachtete sie die kleinen Flöckchen, wie sie verdampften. Es schneite nicht oft in Distrikt vier, doch sie liebte Schnee. Die ganze Welt sah dann immer so wundervoll aus, wenn alles weiß eingedeckt war und das allerschönste war, dass immer, wenn es geschneit hatte, den ganzen Tag lang niemand hatte arbeiten müssen! Früher war ihr Vater dann immer zuhause geblieben, sie hatten Stockbrot im Kamin gemacht um anschließend hinaus zu gehen und eine Schneeballschlacht zu veranstalten. Jeder Tag mit Schnee war ein Fest gewesen. Auch jetzt noch war es wunderbar, wenn es schneite, denn auch Finnick durfte dann bleiben und niemand bemerkte es, wenn sie zu zweit durch den Distrikt wanderten, an die Bucht gingen und auf das ebenso eisgraue wie auch kalte Meer hinausblickten. Ein sanftes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als die junge Siegerin daran dachte, wie sie eine Schneeballschlacht mit all den Siegern zuhause veranstalten könnten. Es wäre ganz bestimmt wie früher.  

Auch andere Sieger dachten an vergangene Weihnachten und Winterbräuche, selbst Enobaria, der man es von außen vielleicht nicht ansehen mochte, mit ihren geschliffenen Zähnen und den wachsamen Augen sah sie mehr kriegerisch aus, als jemand, der gerne Weihnachten feierte, doch auch sie hatte früher einmal mit ihrer Familie gefeiert, mit all den vielen Geschwistern, die sie hatte.

Gelächter unter einem großen Tannenbaum, festliche Dekoration und selbstgebackene Lebkuchen waren für sie selbstverständlich. All der modische Chic des Kapitols war der kriegerischen Frau unheimlich, selbst wenn ihr das heutige Kleid in eisigem Grau, dass einzig durch kristallene Schulterplatten dem kämpferischen in Distrikt zwei zollte, wirklich bewundernswert aussah. Als der künstliche Schnee um sie herum fiel, da waren ihre Gedanken bei ihrer Familie, der es endlich wieder wirklich gut ging, seit sie diese Spiele gewonnen hatte. Sie war nicht hier, weil ihr die Kleider so gut gefielen, sondern weil sie ihre Familie beschützen wollte, ihnen jedes Jahr wieder ein Weihnachtsfest bereiten wollte.

Nicht anders ging es Beetee und Wiress aus Distrikt drei, die doch auch nur darauf warteten, endlich wieder von hier fortzukommen, um gemeinsam in einem ihrer Häuser feiern zu können.

An Weihnachten konnten sie alles vergessen, dann durften sie alleine sein, weil das Kapitol einmal etwas anderes zu tun hatte, als über seine Schäfchen zu wachen. Für die ehemaligen Tribute und jetzigen Sieger war es die Zeit des Vergessens, in der die Wunden langsam, sehr langsam heilten. Mit jedem Winter verging ein Jahr, dass die Erinnerungen langsam verblassen ließ und dafür wunderbare, neue Momente brachte, die die alten, ungeliebten Gedanken an alte Tage verschwinden ließen. So dachte ein jeder an das, was ihm von Bedeutung war, während ihnen zugejubelt wurde unter dem Fall des künstlichen Schnees.

 

Winterküsse


 

12. Dezember – Winterküsse
 

Clove
 

Cato
 

*
 

Lachend fiel sie in den Schnee, blieb dort liegen und ließ sich die Flocken in das Gesicht wirbeln. Der Himmel über ihr erstrahlte weiß und es war, als würden die zarten Schneeflocken einen merkwürdig choreografierten Tanz ausüben, während sie zur Erde fielen, um sie unter noch mehr weißer Winterpracht zu verbergen. Mit den Armen und Beinen fuhr sie durch den Schnee, der ihre Jacke durchnässte und in die Ärmel und Schuhe gelangte, wo er schmolz, doch das kümmerte sie nicht. Es fiel Schnee!

„Schau, schau, ich habe einen Schneeengel gemacht!“, rief das Mädchen fröhlich, während sie aufstand, die dunklen, fast schwarzen Haare voller Schnee und ein breites Strahlen im Gesicht, als sie ihr Werk betrachtete. Der Junge den sie angesprochen hatte jedoch, blickte ihren Schneeengel nur an und grinste.

„Wetten ich kann einen größeren machen?“, prahlte er, woraufhin sie missbilligend das Gesicht verzog.

„Fordere mich doch heraus!“, pfefferte sie ihm entgegen. Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen und er ließ sich lachend in den Schnee fallen, Arme und Beine weit von sich gestreckt.

„Haha, schau mal, wie viel größer meiner ist!“, rief er lachend.  Da bückte das Mädchen sich und formte mit den Händen einen Schneeball, den sie mit voller Kraft nach ihm warf.

„Cato Ludwig, du bist doof!“, rief sie aus.

Der Ball traf den lachenden, blondhaarigen Jungen namens Cato und fluchend sprang dieser auf, ebenfalls Schnee zu einem Ball formend. Er zielte auf das Mädchen und brüllte:

„Das bekommst du zurück, Clove!“

Flink wie ein Wiesel rannte sie fort, den langen Pferdeschwanz hinter sich herfliegend.

„Mich holst du niemals ein, Cato!“

Johlend jagten die zwei sich um die wenigen Häuser herum, die am Fuße der Canyons standen und den Saum des Distriktes Nummer zwei bildeten.

Es war schon immer so gewesen und es sollte auch immer so sein. Seit frühester Kindheit kannten Clove und Cato einander, sie waren zusammen aufgewachsen, seit mittlerweile zwölf Jahren. Seit all diesen Jahren führten sie diese Rivalität, die sie gerade im Schnee auslebten, in dem sie einander mit Schneebällen bewarfen, sodass das pulvrige Weiß sie bereits völlig bedeckte.

Lachend schüttelte Clove ihre dunklen Haare und Wassertropfen flogen von dannen. Eiskristalle hatten sich in ihren Haaren gebildet und in Catos Blick sah es so aus, als würden ihre Haare funkeln.

Diabolisch lächelte sie ihn an und entblößte dabei die Zahnlücke zwischen ihren Vorderzähnen, an der er Schuld war, doch dies tat ihrer Schönheit keinen Abbruch.

„Fang mich doch!“

Mit diesen Worten streckte sie ihm die Zunge raus und rannte weiter, den feinen Schnee aufwirbelnd, dicht gefolgt von Cato.

„Clove!“, rief es in diesem Moment aus Richtung einer der Hütten.

„Das Mittagessen ist fertig!“

Freudig bremste Clove ab und grinste.

„Revanche gibt es später“, mahnte Cato sie noch, dann umarmte er seine Spielkameradin zum Abschied. Schüchtern drückte er ihr ein kleines Abschiedsküsschen auf die eisige Wange, was Clove bis zum Haaransatz erröten ließ. „Pass lieber auf, dass ich dir nicht vorher den Hals umdrehe, Cato Ludwig!“
 

~
 

Auch Jahre später fiel der Schnee wieder in Distrikt zwei und bedeckte das rötliche Gestein der Canyons.

Nachdenklich saß Clove auf einer Bank am Rande des Canyons, den Blick auf den Rest von Distrikt zwei gerichtet, der im weiß verschneiten Tal zu ihren Füßen lag.

Wieder einmal hatte sich Schnee in ihren Haaren verfangen und bildete einen funkelnden Kontrast zu den dunklen Haaren und Augen. Ihre Lippen waren aufgesprungen von der Kälte und ihr Atem tanzte vor ihr in der Luft. Alles in allem war sie ihrer Meinung nach der Inbegriff eines viel zu gewöhnlichen, ja gar langweiligen Mädchens.

Es nahte wieder einmal Weihnachten und sie musste daran denken, wie es all die Jahre zuvor gewesen war, als sie sich noch mit Cato durch den Schnee gejagt hatte. Mittlerweile waren sie älter geworden, sie zu dem langweiligen Mädchen, Cato zu dem allseits beliebten Schwarm, doch ihre Rivalität hatten sie nie vollständig beigelegt. Angesichts dieser Tatsache fragte sie sich, warum sie überhaupt hier in der Kälte auf ihn wartete. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass sie in ihrer Tasche ein Geschenk für ihn bei sich trug, auch wenn sie Angst hatte, sich seinen Spott dafür anhören zu müssen.

Ihre Mutter war im vergangenen Jahr verstorben und so hatte sie zum ersten Mal selber Weihnachtsplätzchen gebacken – was ihr nicht wirklich lag. Obwohl sie fürchtete, dass Cato lachen würde, so wollte sie ihm diese dennoch schenken, wie in den guten alten Zeiten, als sie immer die Kekse ihrer Mutter gegessen hatten, wenn sie vom Spielen durchnässt und müde heimgekehrt waren.

„Hey Clover“, ertönte da der tiefe Bass Catos hinter ihr.

„Ich habe dir doch gesagt, nenn mich nicht Clover!“

Sie hasste es, wenn er sie so nannte, in Anlehnung an ein Kleeblatt. Seit sie als Kind ein vermeintlich vierblättriges Kleeblatt zu finden geglaubt hatte und Cato ihr hatte zeigen müssen, dass es doch nur dreiblättrig war, nannte er sie scherzhaft Clover – sein dreiblättriges Glückskleeblatt.

Eine Mütze tief in das Gesicht gezogen, stand er da, noch in Arbeitskleidung und blickte sie einen Moment an, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Doch plötzlich spürte Clove, wie ein eiskaltes Etwas an ihre Schulter klatschte und empört schreiend sprang sie auf, um ihm seinen heimlichen Schneeball heimzuzahlen.

Wie in den guten alten Zeiten rannte sie kreischend durch den Schnee, als wäre es nie anders gewesen – was auch nicht wirklich der Fall war, auch wenn die Beiden das von Zeit zu Zeit vergaßen.

Eine Weile später ließen sie sich seufzend in den Schnee fallend, völlig verausgabt. „Wetten, ich kann einen schöneren Schneeengel machen?“, forderte Cato Clove lautstark heraus. Müde lachte diese.

„Das versuchst du jedes Jahr, schaffst es aber nicht!“

Lachend beugte Cato sich über sie.

„Werden wir hochnäsig?“, fragte er spaßig, „Ich glaube, es wird Zeit, dich einmal ordentlich einzuseifen!“

Kreischend versuchte sie zu fliehen, doch Cato warf sich auf sie und sie rangelten miteinander.

„Erbarmen“, keuchte Clove schließlich und Cato ließ von ihr ab. Nur Zentimeter waren ihre Gesichter noch voneinander entfernt und plötzlich verstummt blickten sie einander an.

Cato hatte seine Mütze verloren und Schnee bedeckte seine Haare, ebenso wie Cloves, die schöner aussah, als sie es sich je eingestanden hätte. In Catos Augen jedoch war sie die perfekte Versinnbildlichung einer Eisprinzessin, wie sie da so im Schnee lag und ihr mitunter eisiges Gemüt begünstigte das nur.

„Ich habe übrigens noch ein Geschenk für dich“, presste Clove schließlich peinlich berührt hervor.

Cato lächelte.

„Das ist aber lieb… Nur was mache ich jetzt?“

Gespielt überlegte er, ehe er sich zu ihr beugte, um das zu tun, was er sich vor all den Jahren noch nicht getraut hatte.

Er küsste sie sanft auf die Lippen, mit einem Kuss, der nach Schnee und Winter schmeckte, aber dennoch voller Wärme war.

 

Winterweiß


 

13. Dezember – Winterweiß
 

Rue
 

*
 

In Distrikt elf war es immer warm – 365 Tage im Jahr lang. Der fast schon tropische Distrikt baute Früchte an und da war es kein Wunder, dass er in einer eher extremen Wetterzone lag, damit die Früchte das ganze Jahr über prächtig gedeihen konnten.

So kam es, dass keiner hier Schnee kannte. Seit Jahrzehnten war in diesen Breiten kein Schnee mehr gefallen. Doch auch hier wurde natürlich Weihnachten gefeiert, auch wenn der Schnee für die Bewohner nur auf Fernsehaufnahmen des Kapitols zu bewundern war.

Auch die kleine Rue kannte viele Geschichten von ihrer Mutter, in denen sie von dem magischen Weiß berichtete, das angeblich kühl und weich sein sollte. Prinzessinnen tanzten in den Geschichten und diesen Schnee, küssten ihre Prinzen unter verschneiten Mistelzweigen und es gab prächtige Eispaläste. Dinge, die Rue nur zu gerne wahr gehabt hätte. In all den anderen Geschichten bauten die Kinder Schneemänner und rutschten Berghänge hinunter, nur um am Ende eines Wintertages mit einem warmen Kakao am Feuer zu sitzen.

Deshalb stellte das kleine Mädchen sich vor allem diese Begebenheiten des Nachts immer wieder vor, wie es wäre, wenn Schnee in Elf fallen würde, so richtig, dass er meterhoch liegen bleiben würde.

Der Hang hinter der Plantage, wo die Zehnjährige arbeitete wäre eine ideale Rutschpiste, überlegte sie sich zum Beispiel.

Allerdings würde es hier wohl nie schneien, also begnügte Rue sich damit, davon zu träumen.

In dieser Nacht hatte sie ebenfalls wieder von dem Schnee geträumt. Noch ganz verträumt und mit dem imaginären Gefühl von Kälte auf der Haut stand sie auf, Vogelgezwitscher von draußen vernehmend. Ein gewöhnlicher Tag in Distrikt elf stand an.

Barfuß tapste sie über den warmen Boden und schlüpfte zu ihren Eltern in das Wohnzimmer, möglichst leise um ihre jüngeren Schwestern nicht zu wecken, die noch schliefen. Wie jeden Morgen liefen die Frühnachrichten und nachdem sie ihre Eltern umarmt hatte, setzte sich Rue mit großen Augen vor den Fernseher, ihre Schüssel mit Haferschleim auf dem Schoß und schaute die Bilder der gestrigen Winterparade der Sieger durch das Kapitol an. Neben den traumhaften Prinzessinnenkleidern hatte sie dabei nur Augen für all den wunderbaren Schnee, der durch das Bild flog.

„Na Rue, du liebst den Schnee, oder?“, fragte ihre Mutter sie amüsiert.

Begeistert nickte Rue.

„Er ist so schön“, flüsterte sie andächtig, ohne zu registrieren, wie ihre Eltern einen bedeutungsvollen Blick tauschten.

„Rue, wie fändest du es…“
 

~
 

Nur wenig später saß Rue, in ihre dicksten Kleidungsstücke eingepackt und schwitzend, neben unzähligen Obstkisten in einem düsteren Waggon, der an eine Bahn angehängt war, deren Ziel der weiter entfernte Distrikt sieben war, in dem es um diese Jahreszeit immer heftig schneite, daher die dicke Kleidung.

Da die aktuelle Siegerin aus diesem Distrikt kam, mussten jeden Monat Lieferungen an den Distrikt getätigt werden und dieses Mal hatte das Los Rues Vater getroffen.

Noch immer konnte das Mädchen mit dem braunen Lockenkopf es kaum fassen, dass er sie tatsächlich mitnahm nach Sieben.

Aufregung kribbelte in ihrem Bauch, als sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung setzte und sie dem Schnee entgegenbrachte.
 

~
 

Eisige, ungewohnte Kälte drang durch die Waggontür, als der Zug in Distrikt sieben wieder zum Halt kam.

Nie zuvor hatte Rue eine derartige Kälte vernommen und fröstelnd schlang sie die Arme um sich, während ihr Vater die Türen des Waggons öffnete.

Ein stechender Wind fuhr in den Waggon und blies vereinzelte Flocken herein. Doch Rue hatte nur Augen für die Welt da draußen, die sich so gänzlich von der ihr bekannten unterschied. Den Mund und Augen weit aufgerissen stürmte sie an ihrem Vater vorbei und nach draußen.

So viel weiß! Überall um sie herum lag Schnee und sie versank bei jedem Schritt in dem kühlen und wie sie überrascht feststellte tatsächlich kühlem weiß. Mit einem unangenehmen Kribbeln drang der Schnee in ihre Schuhe und durchnässte ihre Socken, doch über ihre Freude vergaß sie all die Kälte.

Lachend streckte sie ihren Kopf in den Nacken und fing die Flocken auf, während sie sich im Kreis drehte.

So viel weiß!

Fasziniert beobachtete sie, wie die Flocken in ihren Händen schmolzen.

Eine Weile lang tollte sie auf diese Weise durch den Schnee, ließ sich fallen und badete förmlich in dem Schnee. So sehr war sie beschäftigt, dass sie nicht einmal merkte, wie kalt ihr doch wurde, denn eigentlich war sie viel zu dünn angezogen für den harten Winter in Distrikt sieben. Doch die Freude besiegte alle Körpergefühle.

Erst als ihr Vater kam, der sie amüsiert beobachtete, bereit, wieder nach Hause zu fahren, bemerkte sie, wie kalt es doch war, denn der Schnee war überall durch ihre Kleidung gedrungen und hatte sie völlig durchnässt. Lippen und Hände waren fast blau vor Kälte und bibbernd drückte sich die steif gefrorene Rue an ihren Vater.

Der weiße Schnee war wunderschön, aber Rue fragte sich, wie die Bewohner dieses Distriktes diese dauerhafte Kälte nur aushielten konnten.

Zwar fand sie den Schnee immer noch wunderschön, doch auch sehr kalt – zu kalt. Vielleicht musste sie nicht unbedingt noch einen Hügel hinunterrutschen, denn in Distrikt elf war es doch eigentlich auch ganz schön.

So war Rue doch sehr froh, als ihr Vater sie liebevoll an sich drückte, um sie zu wärmen.

Wintergelächter


 

14. Dezember - Wintergelächter
 

Hob
 

Reglosigkeit lag über Distrikt zwölf, der unter tiefen Schneemassen versunken war. Keine Menschenseele war zu sehen, lediglich aus manchen Häusern fiel ein warmer Lichtschein auf die vereisten Straßen. Außer dem Rauschen in den Baumkronen war nichts zu hören, der Schnee schluckte jegliche Geräusche.

Doch da, am Waldrand, war zartes Gemurmel zu vernehmen. Dunkle Gestalten liefen durch den Schnee, hin zu einem dunklen Gebäude, vor dessen Fenster Bretter geschlagen waren. Insgesamt wirkte das Haus eher bedrohlich und nicht wie ein Ort, an dem man einen der Adventstage verbringen wollte. Aber es schien, als würden diese dunklen Gestalten tatsächlich hier einkehren wollen. Sie schüttelten den Schnee ab und betraten das dunkle Haus.

Sobald die Tür aufging fiel jedoch für einen kurzen Moment ein Rechteck aus Licht in den Schnee, doch kurz darauf war es verschwunden als die Tür sich wieder schloss, ebenso wie die Personen.

Der unheimliche Ort war eine Scheune am Rande des zwölften Distriktes, in der sich nun der Schwarzmarkt befand. Nur der mutige Teil der Bevölkerung wagte sich hierher, doch das waren nicht gerade wenige. Alle wichtigen Waren für den täglichen Bedarf wurden hier unter der Hand gehandelt und es fand sich des Öfteren auch einmal ein wahres Kleinod an. Selbst die lokalen Friedenswächter kamen hier her, um selber Waren oder auch Nachrichten aus dem Kapitol zu tauschen.

An diesem Tage im Dezember war es nicht anders. Eine Menge Leute tummelte sich in der ländlichen Scheune, in der es nach Stroh und Suppe roch. Große Strohballen türmten sich an den Wänden und sorgten so für Schutz vor der Kälte. Trotz des undichten Daches war es also angenehm warm, nicht zuletzt aufgrund der vielen Menschen, die die Luft aufheizten.

Zwischen den einfach zusammengebauten Tischen drängten sich die Menschen zusammen. Fast jeder von ihnen hielt einen Teller von Greasy Saes berühmter Suppe in der Hand, die an diesem Tag mit Kaninchenfleisch gekocht worden war. Von den dicken Deckenbalken hing ein großer Reif aus Tannenzweigen, auf den notdürftig die unterschiedlichsten Kerzen gepinnt waren. Zwei von ihnen waren bereits angezündet, eine kleine blaue aus Wachsresten und eine rote, dicke Kerze, und flackerten leicht im Zug des Windes. Sie dienten als Adventskranz, den die Bewohner bis dato nur aus dem Fernsehen gekannt hatten, denn von ihnen hatte niemand genug Geld für so einen Kranz. Also hatten sie alle zusammengelegt, um diesen Kranz zusammen zustellen. Jeder, der konnte, hatte Kerzenwachse mitgebracht und so waren die Kerzen am Hob selber hergestellt worden, ebenso wie der aus Tanne geflochtene Kranz. Sicherlich war er nicht perfekt und hing auch recht gefährlich, doch denjenigen, die mitgeholfen hatten, bedeutete er einiges.

Der Raum verströmte eine rustikale Atmosphäre, aber für die Bürger des Distriktes versprach dieser Ort Heimeligkeit. Meist war es hier sogar wärmer, als in ihren eigenen Häusern und im Falle Greasy Saes wurde hier sogar der gesamte Lebensunterhalt bestritten.

Wie immer wurde an den einzelnen Ständen gefeilscht und so kleine Gegenstände wie Knöpfe gegen Kartoffeln oder ähnliches getauscht. Für jeden Gebrauch war etwas dabei, wer immer hier auch herkam, der konnte sich sicher sein, dass es zumindest eine warme, reichhaltige Suppe für ihn gab.

Mit der Zeit war der Hob für die Bewohner des Distriktes zu einer Art zweitem Marktplatz geworden, auf dem die strengen Regeln des Kapitols außer Kraft gesetzt waren und wo aus den Friedenswächtern normale Menschen wurden, die hier ihr Geld ausgaben oder tauschten.

Man kannte einander und es waren rege Gespräche zu belauschen, über die Kinder, die Arbeit und natürlich den massiven Schneefall diesen Winter. Nur ein einziges Gesprächsthema musste draußen bleiben und das waren Gespräche über das Kapitol oder die Hungerspiele. In dieser Atmosphäre, an diesem Ort, da wollte sich niemand an das allgegenwärtige erinnern lassen. Sobald man durch die Tür trat, da war man unter Freunden, alles war einfach. Es gab niemanden, der das in Frage gestellt hätte.

„Suppe, heiße Suppe!“

Fröhlich rief Greasy Sae durch die Scheune und füllte den Leuten die sich an ihren Stand drängten etwas von ihrer Suppe auf.

Sie war völlig zufrieden mit ihrem Geschäft, auch wenn sie sich dauerhaft vor dem Gesetz verstecken musste. All die Jahre machte sie dies nun und es würde ihr nie langweilig werden, denn es waren die Menschen, die ihren Beruf bereicherten. Die jungen Jäger, die vom Fortlaufen träumten und bei einer guten Suppe über ihre Pläne plauderten, die Friedenswächter, die sich fragten, warum sie diesen Beruf ergriffen hatten und die Verliebten, denen sie Ratschläge gab, all das gehörte zu ihrem Leben. Hatte sie auch keine Blutsverwandten mehr, so war das hier ihre Familie, genauso wie Ripper, die bei einem Minenunglück alles verloren hatte, nur ihre Würde nicht. Jetzt verdiente sie ihr Geld mit selbstgebranntem Schnaps, was in Distrikt zwölf besonders bei den Friedenswächtern und Haymitch Abernathy funktionierte.

Heute hatten jedoch alle sich aus einem besonderen Grunde hier versammelt, nicht nur, um Waren zu tauschen und Suppe zu essen. Feierlich würden sie die dritte Kerze entzünden, um den dritten Advent einzuläuten. Bei den ersten beiden Kerzen hatte dies bereits wunderbar funktioniert und so würde es auch heute wieder ein Adventsfest der Sonderklasse geben.

Seit dem frühen Morgen hatten sie bereits kleine Loszettel mit Namen gesammelt, um schließlich denjenigen auszulosen, der die Ehre bekam, die dritte Kerze zu entzünden. Wie schon beim letzten Mal hatten sie Katniss, ihrer einzigen weiblichen Siegerin die Aufgabe übertragen, diese Person auszulosen.

Zufrieden schüttelte Greasy Sae die kleine verbeulte Schachtel mit den Losen, bereit sie Katniss zu überreichen, sobald diese fertig mit ihrer Suppe wäre.

„Alle mal herhören!“, rief Ripper auf Greasys Zeichen hin und läutete die kleine Glocke, die sie extra zu diesem Zwecke angeschafft hatten.

„Wir ziehen gleich denjenigen, der die dritte Kerze entzünden wird!“

Freude machte sich unter den Leuten breit, die ihren Namen in die Losschüssel gegeben hatten und alle drängelten sich um Greasys Stand.

Milde lächelnd stellte Katniss ihre Schüssel voller Suppe fort und ließ sich die Schüssel reichen.

Mit einer gelungenen Imitation von Effie am Erntetag, über die man hier glücklicherweise lachen konnte, zog sie einen klein gefalteten Zettel hervor und faltete ihn auseinander, während es auf dem Hob mucksmäuschenstill wurde, dass man meinen konnte, man würde den Schnee fallen hören.

„Valeria Rabelwood!“, rief sie schließlich laut aus.

Ein jüngeres Mädchen aus der Menge quiekte erfreut auf und wurde von den älteren nach vorne geschoben. Sie war recht klein und hatte rote, lockige Haare. Vor Begeisterung waren ihre Wangen gerötet und mit zittrigen Händen nahm sie die Schachtel mit Streichhölzern entgegen, die ihr Ripper überreichte, zusammen mit einem freudigen Lächeln. Denn auch wenn ihre äußere Erscheinung furchteinflößend sein konnte, so besaß die Brauerin doch ein gutes und großes Herz, welches sie auch veranlasst hatte, gemeinsam mit der alten Greasy diese Adventsfeste ins Leben zu rufen.

Unter dem Jubel des Distriktes stieg Valeria jetzt auf die hölzerne Treppe, die Darius und eine Friedenswächterin, heute sogar einmal in ziviler Kleidung, herbei getragen hatten und erklomm vorsichtig die rauen Stufen. Oben angekommen verharrte sie für einen Moment, nestelte mit den Streichhölzern herum und gerade, als sie ihres entzünden wollte, entglitt dieses ihrem Griff. Freundliches und amüsiertes Gelächter ertönte aus der Menschenmenge, aber es war keineswegs bösartig, denn hier war man eine Gemeinschaft.

 Nervös holte sie ein neues hervor und schließlich gelang es ihr doch noch, es zu entzünden. Einen Moment lang blickte sie andächtig die Flamme an, deren zuckender Tanz sich in ihren großen Augen spiegelte, dann lehnte sie sich zu dem Kranz und der darauf befindlichen Bienenwachskerze vor und sagte mit überraschend lauter Stimme:

„Wir danken für all die guten Gaben.“

Auch am Boden sprachen alle den rituellen Spruch mit, bei dem jede Kerze entzündet worden war und beobachteten, wie Valeria die Flamme an die Kerze hielt. Flackernd sprangen die Funken über und auch die Kerze brannte nun hell. Alle Anwesenden applaudierten lautstark und die immer noch errötete Valeria stieg zum Boden hinab.

Wieder einmal war Weihnachten näher gerückt und damit das von vielen am meisten herbeigesehnte Fest des Jahres. Alleine das war Anlass genug, dass am Hob aus vollster Kehle gesungen wurde, all die Weihnachtslieder, die von Mund zu Mund, von Generation zu Generation in dem zwölften Distrikte Panems überliefert wurden. Man würde bis tief in die Nacht zusammen sitzen, reden und lachen. Es war eine Feier, dass man am Leben war, ein Dankesfest für das Glück und es würde immer, jedes Jahr gefeiert werden, bei dem Schein von Kerzen und einfacher Suppe, während draußen die Flocken fielen.

 

Winterseide


 

15. Dezember – Winterseide
 

Cinna
 

*
 

Schillernde Flocken fielen auf das Haupt des jungen Mannes, der gerade eilig die Stufen zu dem hohen Glasgebäude erklomm, das sich vor ihm in die Höhe reckte.

Game Quarters Inc. – wünscht Ihnen – eine frohe – Weihnachtszeit, blinkte immer wieder in einem laufenden Schriftband an der Fassade auf. Game Quarters Inc., das war auch das Ziel des Mannes mit dem schlichten blauen Anorak und der Pudelmütze. Von dem Äußeren konnte man nicht darauf schließen, dass hier gerade einer der Topstylisten des Kapitols kam, denn für die Verhältnisse des Kapitols war der Mann, dessen ebenso schlichter Name Cinna war, nicht der Inbegriff eines topmodischen Stylisten.

Kurzum, Cinna war ein Purist, der lieber mit wenigen Mitteln große Effekte kreierte, wie er eindrucksvoll als Stylist des zwölften Distriktes bewiesen hatte. Nun ging es weiter mit dem Designen von Kleidern und das erneut für Katniss, seine siegreiche Tributin. Eine Mappe mit Entwürfen von verschiedenen Kleidern trug er unter dem Arm. Es waren nicht nur Kleider für die bevorstehende Tour der Sieger, sondern auch schneeweiße Kleider – Brautkleider.

Erst vor wenigen Tagen hatte er Nachricht aus dem Distrikt dreizehn erhalten: Alles liefe nach Plan, nun könne die nächste Phase eingeleitet werden. Man wollte, dass Peeta, der zweite Sieger des Distriktes zwölf, um Katniss Hand anhielte, daher hatte sich der Stylist bereits Gedanken um die Kleiderwahl gemacht.

Zuerst jedoch musste er nun seine Entwürfe für die Siegertour absegnen lassen und das bei Game Quarters Inc., deren Lobby er gerade betrat. Die Firma war dafür zuständig, all die Spielemacher einzustellen, Arenen zu bauen und die gesamten Events zu organisieren, welche die Hungerspiele betrafen – wie die Siegertour. Natürlich war die Firma riesig und unterstand zudem noch der Führung durch Präsident Snow – ein wohl organisierter Apparat also.

Ein charmantes Lächeln aufgesetzt trat Cinna nun an den Empfangstresen und strahlte die dahinter sitzende Frau an, deren Haare sich in einem der Zuckerwatte ähnlichen Gebilde auf ihrem Kopf türmten – eine grausame Geschmacksverirrung, zumindest Cinnas Meinung nach.

„Mr. Rutheboone erwartet sie bereits“, gab sie gelangweilt von sich, ohne auch nur aufzuschauen und betrachtete ihre Fingernägel weiter.

Seufzend wandte der Stylist sich ab und lief auf einen der gläsernen Fahrstühle zu. Quäkende Weihnachtsmusik erklang, sobald die Türen sich geschlossen hatten. Cinna rollte mit den Augen und lehnte sich unter dem Gesang von Liebe unter dem Mistelzweig zurück. Der Weg bis in den zwanzigsten Stock würde ein langer werden.

Als der Fahrstuhl endlich oben ankam war er wirklich dankbar und verließ fluchtartig sein gläsernes Gefängnis, um sich auf den Weg zu Rutheboones Büro zu machen. Er wäre zwar liebend gerne auf dem Absatz umgedreht, doch stattdessen klopfte er an die stahlgraue Bürotür.

„Herein“, rief es mit schnarrender Stimme von drinnen.

Tief Luft holend öffnete Cinna die Tür. Rutheboone, der Vorsitzende der Vereinigung von Stylisten saß wie immer hinter seinem Schreibtisch, die aalglatten schwarzen Haare streng nach hinten gekämmt, ein Ziegenbärtchen am Kinn und musterte ihn erwartungsvoll mit stechend lilafarbenen Augen.

„Endlich, mein lieber Cinna!“

Bemüht freundlich nickte dieser dem Präsidenten zu und betrat den Raum.

„Ich habe die gewünschten Skizzen dabei“, erklärte er, die Mappe hochhaltend.

„Wunderbar, lassen sie sehen!“

Widerwärtig grinsend lehnte Rutheboone sich vor, ganz gierig auf die Entwürfe Cinnas, der diese dem Vorsitzenden nun wie einem Hai im Schwimmbecken zuwarf. Angespannt setzte er sich in den schwarzen Lederstuhl vor dem Tisch und blickte aus dem Panoramafenster hinter dem Schreibtisch, an dem die künstlichen Flocken des Kapitols vorbei segelten, während sein Gegenüber begierig die Entwürfe auseinander fledderte.

„Cinna, Cinna“, murmelte dieser, den Kopf schüttelnd, „was ist nur los mit ihnen? All diese Entwürfe sind so… langweilig!“

Überrascht schaute Cinna auf. Ihm war irgendwie klar gewesen, dass er mit seiner schlichten und eleganten Kollektion den Präsidenten nicht überzeugen konnte.

„Jetzt wo es um die Siegertour geht, da kann es doch gewagter werden! Färben sie dem Mädchen doch einmal die Haare und experimentieren ein wenig!“

Kaum merklich schüttelte der Stylist den Kopf. Es war schon schwer gewesen, den flammenden Anzug durchzuringen, doch von Mal zu Mal sollten die Entwürfe jetzt verrückter werden, doch das konnte und wollte er nicht zulassen.

„Und überhaupt, was ist das?“, fragte der Präsident weiter, eines der Hochzeitskleider in die Höhe haltend.

„Ein Hochzeitskleid“, entgegnete Cinna sachlich, „falls unsere Sieger heiraten, was ich für recht wahrscheinlich halte.“

Rutheboone schnaubte jedoch nur und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Ein so schlichtes Werk? Cinna, enttäuschen sie mich und all die Zuschauer nicht. Es muss doch krachen!“

Mit diesen Worten schlug der Mann auf den Tisch und schob die Unterlagen zurück zu Cinna.

Diesem war klar, dass er Glück hatte, dass der Vorsitzende seiner Vereinigung solch ein Idiot war, da er all die versteckten Zeichen in seinen Entwürfen nicht erkannte, doch er hasste es, wenn er so stolz auf seine Entwürfe war, nur damit Rutheboone ihn am Ende runtermachen konnte.

Mit unterdrückter Wut ergriff der junge Mann seine Mappe wieder und stand auf.

„Guten Tag, Rutheboone“, wünschte er und verließ den Raum.

Hastig verließ er das Gebäude, ohne sich um die Weihnachtslieder im Fahrstuhl zu kümmern und schritt energisch durch den wirbelnden Schnee, während er sein Handy aus der Tasche angelte. Er drückte die Schnellwahltaste und kurz nach dem Tuten des Freizeichens ertönte es:

„Cinna? Wie lief es mit Rutheboone?“

„Gar nicht gut“, gab er zurück.

„Warte, lass uns im Mary-Ann Park treffen, okay?“, entgegnete die weibliche Stimme aus den Lautsprechern. Noch bevor er zustimmen konnte, erklang bereits wieder das Tuten aus der Leitung und er schob das Handy zurück in die Tasche. Dafür hatte er sein Auto erreicht und legte seine Hand auf den eisigen Fingerabdruckscanner. Klickend öffnete sich die Tür seines orangenen Gefährts und er warf die Entwürfe schlecht gelaunt auf den Beifahrersitz.

Beim Mary-Ann Park angekommen hatte sich der Schnee verdichtet und die quietsch bunte Weihnachtsdekoration des Kapitols hatte abgenommen. An den Laternenpfählen hingen lediglich noch kleine Sterne und Lichterkettenbögen überspannten die Straßen.

Sobald Cinna ausgestiegen war, ließen sich Schneeflocken auf seinem Kopf nieder und schmolzen dort. Begeistert legte er seinen Kopf in den Nacken und sog die kalte Luft in seine Lungen. Der Mary-Ann Park lag in einem äußeren Bereich des Kapitols, wo noch echter Schnee fiel, anstelle des künstlich generierten Kapitolschnees. Hier gefiel es ihm schon viel besser, da hier weniger von der künstlichen und bemühten Atmosphäre des Kapitols zu spüren war.

Mit einigen Schritten ging er in den verlassenen Park, in dem auf einer einzigen Bank Portia saß.

Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Stylisten, die für Distrikt zwölf arbeiteten, war unübersehbar:

Beide waren von eher dunklerer Hautfarbe und hatten lockiges, schwarzes Haar. Zudem wiesen beide eine Vorliebe für die Farbe Gold auf:

Cinnas Augen wurden von einem goldenen Eyeliner gerahmt, während Portia falsche Wimpern in dieser Farbe trug.

„Hallo Schwesterherz“, grüßte Cinna sie lächelnd. Er konnte nicht allzu lange so griesgrämig sein und schon gar nicht seiner Schwester gegenüber. Freudig stand Portia auf und drückte ihn an sich.

„Mach dir nichts aus der Meinung des alten Sackes“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Amüsiert lachte Cinna.

„Was habe ich dir über Schimpfwörter gesagt?“, gab er fragend zurück.

Portia zuckte frech mit den Schultern und ließ sich wieder sinken.

„Im Ernst, bald ist Weihnachten. Du solltest deinen Beruf für einen Moment vergessen, Cinna.“

Seufzend reichte er Portia seine Mappe.

„Schau es dir doch an“, schlug er vor.

Interessiert schlug seine Schwester die Mappe auf und musterte all die Entwürfe.

Andächtig sagte sie leise:

„Die sind wunderbar.“

Dankbar lächelte Cinna und fing eine der echten Schneeflocken auf und beobachtete, wie diese in seinen warmen Händen schmolz.

„Hey, Cin… du wirst das schaffen, das weiß ich. Aber nehme dir einmal einen Moment für dich!“

„Das geht nicht, Ports. All das, was ich bin liegt in diesen Kleidern.“

Milde lächelte Portia ihren Bruder an.

„Komm doch morgen zu mir und Ma und Pa. Es ist Advent, das sollten wir feiern.“

Um ihn ein wenig in Stimmung zu bringen, fing sie an, eines der alten Liedr zu summen, dass ihre Mutter sie immer unter dem Weihnachtsbaum hatte singen lassen:

Es ist Weihnacht,

der Schnee fällt weiß,

weich legt sich die Decke,

über uns,

und sollen wir dankbar sein…

In diesem Moment war es, als würde sie nicht mehr alleine singen, sondern würde einen ganzen Chor hinter sich stehen haben. Verblüfft hielt sie inne und Cinna blickte sich um, denn der Gesang ging weiter – oder besser die Melodie. Aus einem Chor von Vögeln erklang Portias Weihnachtslied.

„Spotttölpel“, flüsterte sie und deutete auf einen kahlen Baum in der Nähe.

Tatsächlich saßen auf den unteren Ästen die Vögel und sangen aus voller Kehle die Melodie ihres Liedes.

„Das ist es!“, rief Cinna laut aus, schnappte sich Portia und küsste sie auf die Wange.

Mit leuchtenden Augen rannte er in Richtung Auto und rief noch über die Schulter:

„Sag Ma und Pa, dass ich morgen komme!“

Dann verschwand er und ließ die verdutzte Portia wieder alleine.

Heute würde er das Kleid entwerfen, das hatte er im Blut. Ein wahres Weihnachtswunder würde es sein.

Wintersterne


 

24. Dezember – Wintersterne
 

Katniss
 

Peeta
 

*
 

Der kühle Wind streifte um die Beine der jungen Frau, die unter einer dicken Decke verborgen in einem Bett lag. Nur ihr Fuß ragte unter dem weißen Deckenberg hervor, ebenso wie ihr dunkelbrauner Schopf. Unwillig zuckte ihr Fuß, als wolle sie die Kälte verscheuchen, doch natürlich war dem nicht so. Stattdessen wurde sie langsam aus ihren Träumen entführt und in die Wirklichkeit ihres kalten Schlafzimmers zurückgeholt. Zaghaft zitterten ihre Wimpern und sie öffnete ihre Augen einen Spalt weit. Das erste, was sie erspähte, waren die beschlagenen Fenster, an denen sich Blumen aus Eis gebildet hatten. Unter der warmen Decke lächelte sie ein wenig, ehe sie den Fuß zurückzog, um sich noch einmal fester in die Decke einzuwickeln.

Wohlig seufzend drehte sie sich um, zur anderen Seite, wo ihr Ehemann lag. Noch schlief dieser und für den Moment betrachtete sie seine Silhouette, welche sich unter der Decke abzeichnete. Seine feinen, blonden Haare standen wuschelig in alle Richtungen ab, wie jeden Morgen. Ebenso gleich war es, dass er eine Hand unter das Kopfkissen geschoben hatte und der andere Arm ausgestreckt auf ihrer Betthälfte lag.

Egal wie lange sie verheiratet sein würden, die junge Frau wusste, dass sie es niemals leid sein würde, ihn des Morgens zu beobachten, bevor er erwachte. Während dieser Zeit am frühen Morgen würde er immer so aussehen, wie er es getan hatte, bevor alles passiert war. Doch heute schüttelte sie diesen lästigen Gedanken fort, denn es war kein Tag, um sich den melancholischen Gedanken hinzugeben. Stattdessen würde heute ein Tag der Freude sein, dachte sie, während sie sich vorsichtig aufsetzte, um ihren Mann nicht aus den Träumen zu erwecken und sich streckte. Fast alles war wie immer, sie wachte früh auf, während draußen noch die Sonne gegen die Dunkelheit der Nacht kämpfte und man noch den Ruf der Eulen vernehmen konnte, sie lag in ihrem hölzernen Ehebett, welches sich immer noch in ihrem abgeschiedenen Haus in Distrikt zwölf befand, aber dennoch war etwas anders: Eine dicke, weiße Decke aus Schnee hatte sich über die Landschaft vor ihrem Fenster gesenkt. Alles Grün war mit weißem Pulver bedeckt.

Wie sie so ihre Füße langsam unter ihrer eigenen Decke hervorschob und auf den ausgekühlten Boden stellte, dachte sie an die Zeiten, als sie noch Kind gewesen war, mit welcher Begeisterung sie auf den Schnee gewartet hatte und als er dann endlich gefallen war, wie sie sodann gleich hinausgelaufen war. Nun war sie zwar selber nicht mehr Kind, doch nebenan, nur ein Zimmer weiter, dort schliefen ihre eigenen Kinder seelenruhig. Ihre Freude war es, zu sehen wie diese sich nun über die weiße Pracht freuten. Das vor allem heute, am heiligen Abend.

„Schon wach?“, erklang in diesem Moment eine müde Stimme hinter ihr.

Als sie sich umdrehte erkannte sie einen noch reichlich verschlafenen Peeta, ihren Ehemann, der sich aus dem Bett schälte.

„Offenkundig schon“, erklärte sie grinsend.

„Schau mal, draußen  hat es geschneit“, fuhr sie noch im gleichen Atemzug fort, „das wird den Kindern gefallen.“

Zwei Arme legten sich sanft von hinten um sie, und sie lehnte sich glücklich gegen Peetas Brust. Einen Moment lang schwiegen sie, blickten nur hinaus auf das Winterwunderland, das sich vor ihnen erstreckte. Dann, ganz leise, nur für sie hörbar flüsterte Peeta:

„Alles in Ordnung, Katniss?“

Sie nickte.

„Natürlich. Es wird ein schönes Fest werden, Peeta. Lass uns die Kinder wecken gehen, sonst verschlafen die Schlafmützen die Bescherung noch.“

Peeta lachte kurz auf, dann drehte er sie in seinen Armen. Sie blickten einander in die Augen, er in ihre grauen, die schon so viel gesehen hatten und dennoch immer bestimmt in die Zukunft blickten, und sie in seine blauen, in denen sie immer, egal in welchen Zeiten, einen Funken Liebe ausmachen konnte. Ihr Kuss war zart, doch es mangelte ihm nicht an Leidenschaft und Hingabe.

Einander an den Händen haltend verließen sie ihr Schlafzimmer und öffneten vorsichtig die Tür zu dem Kinderzimmer, allerdings war ihre Mühe vergebens, denn das ältere ihrer beiden Kinder, ein Mädchen, saß bereits kerzengerade im Bett und blickte mit großen Augen aus dem Fenster, welches auch hier mit Eisblumen verziert war. Lediglich ihr kleiner Sohn schlief noch, fest in seine Decke eingewickelt.

„Mama, Papa“, quiekte die siebenjährige erfreut und deutete aufgeregt in den Garten, „es hat geschneit!“

Freudig lachend drückten die Eltern ihre Tochter, und Peeta hob sie lachend hoch, während Katniss sich lächelnd auf die Bettkante ihres Sohnes setzte und ihm ins Ohr flüsterte:

„Aufstehen, du kleine Schlafmütze!“

Vorsichtig öffnete der Junge eines seiner grauen Augen und gähnte verschlafen.

„Hn, Mama, was ist“, nuschelte er, die Augen mit der Hand reibend.

Doch noch bevor eben diese ihm eine Antwort geben konnte, rief seine Schwester bereits:

„Es hat geschneit, Darius, geschneit!“

Noch eben müde, sprang dieser nun ebenfalls aufgeregt aus dem Bett, rannte über den Boden und blickte aus dem großen Fenster.

„Boah“, staunte der dreijährige und drückte sich seine Nase fast platt am Fenster.

Dann schien ihm einzufallen, dass nicht nur Schnee gefallen war, sondern auch das Fest des Jahres stattfand, auf das er wohl am meisten gewartet hatte.

„Es ist Weihnachten“, jubelte er zusammen mit seiner Schwester und sie rannten hinab in die Stube, so schnell, dass ihre Eltern gar nicht mehr hinterher kamen.

Der große Weihnachtsbaum in der Ecke wartete bereits, mit Unmengen an Geschenken, die um ihn herum verteilt lagen, eingepackt in glänzend rotes Papier – dies allerdings nur ausnahmsweise, auch wenn es ein Produkt des Kapitols war. Dafür schmückten selbstgefaltete und gebastelte Sterne den Baum, welchen Katniss und Peeta selber im Wald geschlagen hatten. Ganz oben auf der Spitze saß das feingliedrige Abbild einer Schneeflocke, ein überraschendes Weihnachtsgeschenk von Effie Trinket, die es sich nicht hatte nehmen lassen, ihnen einen Weihnachtsgruß zu überbringen. Auch andere Andenken an die vergangene Zeit zierten den Baum, so gab es feinen Holzschmuck, der, wie hätte es auch anders sein können, aus Distrikt sieben und damit von Johanna, stammte. Auf schlichten, roten Christbaumsternen waren mit serifenreicher Schrift in Gold die Namen jener verewigt, denen das Ehepaar Mellark jedes Fest gedachte, Lebende wie Verblichene, denn in ihren Herzen war ewig Platz für ihre einstigen Gefährten, aber auch Gegner.

Während die Kinder noch in ihren Schlafanzügen über die Geschenke herfielen, machte Katniss sich daran, mit einem Streichholz die vielen weißen Kerzen auf dem Baum zu entzünden, auf die Peeta bestanden hatte. Sie hatte sich Gedanken gemacht, dass so leicht ein Feuer entstehen könne, doch er wollte nicht nachgeben, denn ohne Kerzen würde laut ihm die weihnachtliche Stimmung fehlen, und so leuchtete jetzt Kerze um Kerze im warmen Schein auf.

Auf dem Sofa sitzend beobachteten Peeta und Katniss schließlich, wie glücklich die Gesichter ihrer Kinder im Kerzenschein aufleuchteten und hielten einander immer noch an den Händen.

Es hatte lange gedauert, bis dieser Moment ihnen ermöglicht war, doch nun verlor die Vergangenheit stückweise ihren Schrecken und was ihnen blieb war das Hier und Jetzt. Sicher würden ihnen die guten Erinnerungen bleiben, so würden sie gemeinsam nach dieser Bescherung hinaus in den Schnee gehen, um zuerst die Weihnachtsmesse auf dem Rathausplatz des ehemaligen zwölften Distriktes zu besuchen, und dann stand noch ein Ausflug in die Wälder an, wie es früher in Katniss Kindheit Tradition gewesen war. Zwar würde es nun ohne Pfeil und Bogen sein, doch eines Tages würden auch dies ihre Kinder wissen, doch bis dahin würde es einfach nur ein Spaziergang sein.

„Schau Zinnia, ein Bauernhof!“, rief es begeistert aus Richtung des Weihnachtsbaumes, wo Darius unter all dem Geschenkpapier kaum noch auszumachen war, ebenso wie Zinnia, seine Schwester, die ebenfalls rief:

„Ein Puppenhaus!“

Die Geschenke, die heute unter dem Baum lagen waren allesamt schlicht und stammten aus den Distrikten, aus jedem Distrikt hatte ein Geschenk Platz unter dem Baum gefunden. Das Ehepaar hatte dies bewusst so gewählt, denn sie wollten ihren Kindern zeigen, was für wundervolle Geschenke es geben konnte. Für den Schnickschnack aus dem Kapitol blieb da kein Platz unter ihrem Baum, zudem war es ihre Absicht, denn selbst diese aus Holz gefertigten Puppenhäuser und Bauernhöfe waren mehr, als Beide jemals in ihrer Kindheit gehabt hatten.

Doch als sie sahen, wie selbstvergessen Darius eine hölzerne Kuh durch die Ställe traben ließ, da stieg auch Freude in Katniss und Peeta auf, denn ihnen war es bereits Glück genug, das Strahlen ihrer Kinder zu beobachten.
 

*
 

Nur wenig später jedoch mussten sie die Kinder bereits wieder aus ihrer verträumten Spielerei erwecken, denn die Messe stand an und diese sollte nicht verpasst werden. Zinnia und Darius wurden von Katniss in dicke Schals und Jacken gepackt, mit Handschuhen, die Greasy Sae selbst gestrickt hatte, ebenso wie die Bommelmützen, von denen sogar Peeta eine hatte. So warm eingekleidet wagten sie sich schließlich in die Kälte hinaus. Die Kinder liefen sogleich los, ließen sich fallen und bewarfen einander mit Schneebällen, doch natürlich gaben ihre Eltern ein so viel besseres Ziel ab. So kam es, dass nach kurzer Zeit Peeta und Katniss im Kreuzfeuer der Kleinen standen, die Ball um Ball auf sie feuerten.

Kreischend duckte Katniss sich unter einem besonders großen Geschoss hindurch und klaubte ihrerseits Schnee zusammen, denn sie dann hämisch lachend als Ball auf die freche Zinnia abfeuerte.

Fast den gesamten Weg über bis zum Rathausplatz bekriegte sich die Familie Mellark so, ein jeder war gegen jeden, bis sie nass von dem geschmolzenen Schnee waren und einige eisige Flocken ihren Weg bereits in den Nacken gefunden hatten, was kalte Schauer am Rücken auslöste. Mit roten Gesichtern drängten sie sich auf dem festlich geschmückten Platz zusammen, der von Lichterketten überspannt wurde. Vor ihnen war eine Bühne aufgebaut, auf der sogleich die Feiertagsrede des Bürgermeisters stattfinden würde, während der vermutlich alle nur auf ihr Ende warten würden. Zwar war er kein langweiliger Mann, doch eigentlich warteten alle nur auf den gemeinsamen Gesang, der sich seiner Rede anschloss.

Zu der jungen Familie gesellten sich im Laufe der Zeit noch einige andere, wie Greasy Sae, die komplett in selbstgestricktes eingewickelt war, wie Katniss mit einem Grinsen registrierte. Es fand ein kurzer Austausch über die Geschäfte statt, die wie immer gut liefen. Greasy Sae war die Chefin des Hob, des offiziell ersten Einkaufszentrums in einem der dreizehn Distrikte Panems. Aus dem einstigen Schwarzmarkt war ein Ort geworden, wo jeder etwas für seinen Bedarf fand, aber auch verkaufen konnte. Neben der großen Medizinfabrik, deren weiße Türme sich über die dichtgedrängten Wohnhäuser am Rande des Rathausplatzes erhoben, war dies die größte Einnahmequelle des Distriktes.

In letzter Sekunde lief schließlich auch Mrs. Everdeen herbei, die Mutter von Katniss. Erleichtert, noch rechtzeitig zu sein drückte sie freudig ihre Enkel an sich, ehe sie ihre Tochter stumm in die Arme schloss. Es fiel ihnen beiden immer noch nicht einfach, einander so zu begegnen, doch die Kinder erleichterten es ihnen schon. Der Frau, der sich bereits Falten in das Gesicht gruben, stand jedoch ein Lächeln im Gesicht und sie drückte die Hand von Katniss noch einmal.

„Alles läuft gut“, flüsterte sie ihr zu, während der Bürgermeister die Bühne betrat, „bald ist der Wiederaufbau abgeschlossen.“

Freudig nickte Katniss ihr zu und nun war es an ihr, die Hand ihrer Mutter, welche nun am Wiederaufbau beteiligt war und die in Distrikt zwei zeitweilig lebte, zu drücken.

Den Kopf an Peetas starke Schulter gelehnt verfolgte sie schließlich die Rede, während der langsam der Schneefall wieder einsetzte und dicke Flocken der Erde entgegen trudeln ließ.

Alles war gut.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Albus_Potter
2012-12-14T22:04:22+00:00 14.12.2012 23:04
ich bin kein Cato x Clove fan aber dieser One Shot ist mega süß <3 <3
die idee ist richtig toll und mega kitschig
sowas mag ich sehr

<3
Von: _Delacroix_
2012-12-07T00:24:30+00:00 07.12.2012 01:24
Hallo,

ist ja wirklich noch erschreckend leer hier, dafür, dass du dir solche Mühe gibst. Ich finde es faszinierend, dass du den Kalender wirklich alleine durchziehst. Das ist ja doch eine ganze Menge Arbeit, aber ich finde das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen.

Es macht Spaß die Geschichten zu lesen. Sie sind sehr vielfältig und ich bin sehr gespannt, was da noch kommen mag^^

LG
Von:  Couscous
2012-12-05T16:39:19+00:00 05.12.2012 17:39
Hey ^^
Ich finde es unheimlich schade, dass du noch keine Kommentare bekommen hast, obwohl du dir so viel Mühe gibst und ganz alleine einen Adventskalender schreibst. Wo findest du nur die Zeit dafür? ^^

Ich habe mir grade diese Geschichte ausgesucht, weil ich Peeta einfach liebe und du ihm mehr als gerecht wirst. Dein Stil ist dieses Mal ganz wunderbar vorweihnachtlich (sehr passend ;D) und wie immer wundervoll zu lesen. Ich schmelze dahin wie eine Schneeflocke in der Sonne.

Wie gesagt, hast du Peetas Charakter äußerst überzeugend dargestellt. Sowohl mit dem Liebesbrief als auch die Geschichte mit dem Schal oder seine Angst vor der Mutter.

Dann sind immer wieder Anspielungen auf die Bücher, sodass sich deine Geschichte ganz hervorragend einfügt, so z.B. Madges Mutter oder die allgegenwärtige Gefahr der Hungerspiele.

Ich persönlich habe zwei Lieblingsstellen:
1.Peeta seinerseits jedoch war nervös, weil er wusste, dass Katniss und Madge so etwas wie Freundinnen waren. Er wollte lieber einen guten Eindruck machen, nur für den eventuellen Fall, dass beide einmal… nun über ihn reden würden. Soooooo süß ^^

2.Jetzt musste sie nur noch die nächsten Ernten überleben, dann wäre sie frei. Vielleicht würde er dann ja den Mut aufbringen, mit ihr zu sprechen, wenn das Schicksal es gut mit ihm meinte und sie vielleicht sogar einmal zusammen brachte. Aber unter den gegebenen Umständen würde es wohl für immer ein Traum bleiben. Einfach ganz wunderbar für jeden Fan der Trilogie, eine ganz tolles fore-shadowing

Mal sehen wie's weitergeht
Coco


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