Wintersterne von Coronet (Ein Panem Adventskalender) ================================================================================ Kapitel 7: Winterüberraschung ----------------------------- 7. Dezember – Winterüberraschung Darius Lavinia * Feiner Schneeregen trübte die Sicht des jungen Friedenswächters, während er seine täglichen Runden durch den Distrikt zog. Dunkelheit hatte sich über das Land gesenkt und die Bewohner hatten sich wie üblich in ihre kleinen Hütten entlang des Saumes zurückgezogen, befeuerten ihre kleinen Kamine und saßen im warmen Schein der Öllampen beieinander. Fröstelnd zog der Mann den Reisverschluss seiner Uniformjacke höher und schlang die Arme um seinen ausgekühlten Oberkörper. Die ewigen Arbeitsstunden bei Nacht laugten ihn aus und er spürte, wie er müder wurde, während er so seine Runden durch den hohen Schnee machte. Bei dieser Eiseskälte würde ohnehin niemand es wagen, ein Verbrechen zu begehen. Zudem war er bereits jetzt von seinem neuen Chef, der den Distrikt seit kurzer Zeit führte, genervt und wünschte sich die alten, unbeschwerten Zeiten unter Cray zurück. Vielleicht hatte es bei seinem Einstellungsgespräch geheißen, dass in Distrikt zwölf unmenschliche Zustände herrschten und dass eigentlich nur die Schwächsten hierher versetzt worden, doch er hatte sich hier von Anfang an wohl gefühlt, denn wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er auch nichts gegen ein saftiges Eichhörnchen oder eine teuflisch gute Suppe von Greasy Sae einzuwenden. Unglücklich blickte er in die Häuser die links und rechts seinen Weg säumten und seufzte. Wäre alles noch beim alten, dann hätte er jetzt bereits Feierabend. In diesem Moment vernahmen seine Ohren entferntes Gemurmel, dass aus der Richtung des großen Dorfplatzes kam. Irritiert bog er in eine Nebengasse ein, während die Gespräche langsam aber sicher immer mehr ausarteten, zu Schreien wurden. Mit großen Augen bog der junge Friedenswächter um die Ecke.   „Hah…“ Unruhig atmend erwachte Darius in seinem Bett. Die Augen geschlossen verharrte er für einen Moment regungslos im Bett, die Arme weit von sich gestreckt, die Decke, die viel zu dünn war, um einen vor der Winterkälte angemessen zu schützen verrutscht. Schweiß bedeckte seine Haut und er spürte, wie ein Kälteschauer seinen Rücken hinab wanderte. Jeden Tag kehrte wieder dieser Traum zurück und er war froh, sobald dieser nicht noch weiterging. Vorsichtig setzte er sich auf und wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Ein Blick auf den kleinen Wecker zeigte ihm, dass es bereits Morgen war. Seufzend schlug er die Decke zurück und trat auf den eisigen Boden, bemüht, nicht geschockt seine Füße zurück zu ziehen. Stattdessen zwang er sich, aufzustehen, die zwei Schritte zu seinem spärlichen Kleiderschrank zu machen und wie immer nach der roten Kleidung darin zu greifen. Mit ausdruckslosem Blick streifte er sich die vor Kälte steife Kleidung über und kämmte seine Haare durch. Ein erneuter Tag stand dem Avox Darius bevor und da die Bewohner des Kapitols besonders feierlustig waren, würde auch heute noch genug Arbeit zu erledigen sein, um ihn vom Denken abzuhalten. So konnte er wenigstens nicht sein Zuhause vermissen, dass ihm vor allem jetzt, in der Vorweihnachtszeit so bitterlich fehlte. Ohne sich noch einmal umzuschauen verließ er sein enges Kämmerchen, dass er zurzeit bewohnte, um seinen Dienst beim Frühstück anzutreten. Müde, und noch mit Augenringen unter den Augen schlich er durch den langen, in dunklem Holz getäfelten Gang, der zu den Zimmern der Avoxe führte. Am Ende des Flures konnte er eine ebenso wie er rot gekleidete Person stehen sehen, die mit ausladenden Bewegungen gestikulierte. Es war Lavinia, die Avoxin, mit der er gemeinsam Dienst tun musste. Wie immer funkelten ihre blauen Augen unter ihren roten Haaren hervor und verlieh ihr einen energischen Ausdruck, den zu zeigen sie jedoch nur hier, unter Avoxen, wagte. Denn auch derjenige, der gerade Opfer ihres kleinen Ausbruches wurde, war ein Avox, namens Smith, der der dritte innerhalb ihrer kleinen Schicht war. Genau wie Lavinia machte auch er sich mit einer umständlichen Zeichensprache verständlich, doch Darius, dem das Dasein als der Zunge beraubter Avox noch immer neu war, verstand diese Art der Verständigung nicht und hatte demzufolge auch keinerlei Ahnung, dass es sich bei dem Gespräch der Beiden um einen ausgeklüngelten Plan handelte, wie die Avoxe das Kapitol bei der heutigen Weihnachtsfeier um ein paar „milde Gaben“ erleichtern könnten. Statt den Avoxen also einen Blick zu schenken und sich an ihrem ausdrucksstarken Gespräch zu beteiligen, griff er unbeteiligt nach der ihm gehörenden Weihnachtsmütze, die wie immer an ihrem Haken auf ihn wartete und seiner Meinung nach so ziemlich den Tiefpunkt seines Lebens markierte, setzte sie sich auf und wollte gerade weiter seines Weges gehen, als ihm von hinten jemand auf die Schulter tippte. Verdutzt drehte er sich um und sah Lavinia, die ihm lächelnd zu wank, ein einfaches ‚Guten Morgen‘ ersetzend. Aufgeregt zeigte sie zuerst auf sich, dann auf Smith und danach folgten eine ganze Reihe anderer Gesten, die Darius nicht nur aufgrund ihrer Schnelligkeit, sondern auch besonders wegen ihrer mangelnden Eindeutigkeit nicht sonderlich viel sagten. Irritiert legte der rothaarige Avox den Kopf schief und musterte sein Gegenüber verzweifelt. In diesen Momenten fühlte es sich an, als sei der ehemalige Friedenswächter in seinem Köper eingesperrt, so teilnahmslos musste er die Welt nun hinter seinen Augen stumm betrachten, doch er hatte das Gefühl, dass er es nie schaffen würde, genug Ausdruck hinter seine Augen zu legen. Resigniert sanken seine Schultern herab und er schüttelte langsam den Kopf. Doch statt aufzugeben und ihre Bemühungen nicht weiter an ihn zu verschwenden wiederholte Lavinia ihre Gesten, dieses Mal jedoch langsamer und mit mehr Deutlichkeit. Zuerst formte sie mit den Händen einen Tannenbaum, zumindest glaubte Darius, dies zu erkennen. Dann tat sie pantomimisch so, als würde sie ein Tablett tragen und mimte die unterwürfige Dienerin. Konzentriert beobachtete Darius nun, wie sie daraufhin äußerst erfindungsreich darstellte, dass sich Essen auf ihrem imaginären Tablett befand. Mit einem verschlagenen Grinsen tat sie schließlich so, als wäre sie eine Diebin und schlug dann begeistert in die Hände, während sie seine Reaktion beobachtete, während Darius jedoch noch eins und eins zusammenzählte. Wollten die zwei Avoxe tatsächlich das Kapitol bestehlen? Erschrocken schüttelte Darius seinen Kopf und hob abwehrend die Hände. Nicht genug, dass sein Leben in Distrikt zwölf für immer vorbei war, nein, jetzt wollten auch die Avoxe ihn noch mit ins Verderben ziehen, doch nicht mit ihm! Entschlossen drehte er sich um und ging von dannen, ohne zu sehen, wie Lavinia empört die Hände in die Hüften stemmte und nachdenklich die Augenbrauen zusammen zog. Denn Lavinia war ganz und gar nicht zufrieden mit dem Ausgang ihres kleinen Gespräches. Sie kannte Darius noch nicht lange, denn er war erst vor einigen Tagen zitternd bei ihnen aufgetaucht, seiner Zunge beraubt und voller Angst. Selber kannte jeder das Gefühl von ihnen, doch Darius hatte sich in all der Zeit noch nicht wirklich einem von ihnen geöffnet. Stattdessen schien er ihnen aus dem Weg zu gehen und die meiste Zeit lang tat er lediglich gewissenhaft seine Arbeit. Natürlich konnte es sein, dass er schlimme Dinge erlebt hatte, doch Lavinia wollte ihm eigentlich nur helfen, denn sie selbst war es schon länger Leid, tagein, tagaus ihren Dienst im Kapitol zu schieben und sich von allen umher schubsen zu lassen. Nicht zuletzt die Begegnung mit Katniss Everdeen, der Siegerin aus Distrikt zwölf, deren Dienerin sie im letzten Jahr gewesen war und der sie auch in ihrem früheren Leben begegnet war, wenn auch unter unglücklicheren Umständen, hatte etwas in ihr ausgelöst, was sie insgeheim in ihren stummen Gedanken als den Funken der Rebellion bezeichnete. Seitdem hatte sich eine Allianz der Avoxe geformt, die bei den verschiedenen Festivitäten das Jahr über immer wieder kleinere ‚Raubzüge‘ unternommen hatte und sich ungeachtet des Kapitols an so manchen Dingen bedient hatte. So sollte es auch dieses Mal sein, denn sie wollten bei der Weihnachtsfeier einige der übrigen Essensreste ‚entführen‘ um ihre ganz eigene Weihnachtsfeier der Avoxe zu feiern und daran konnte sie sicherlich niemand hindern. Doch Lavinia wünschte sich, dass Darius dabei wäre, denn sie hoffte, dass er sich dann auch vielleicht besser bei ihnen integrieren würde. Außerdem hatte sie gehört, dass er einst ein Friedenswächter gewesen sein sollte, was zuerst Bestürzung bei ihr ausgelöst hatte, denn sie verabscheute die braven, gesetzestreuen Hündchen des Kapitols, doch Darius erschien ihr weniger wie ein solcher. Stattdessen stand er Pause für Pause auf der kalten Terrasse, ließ Schnee auf sein rotes Haupt rieseln und starrte mit großen Augen in die Dunkelheit. Sein Anblick ließ Lavinia melancholisch werden und somit war ihr Entschluss gefasst gewesen, den jungen Avox bei der Ausführung ihres Planes dabei zu haben. Energisch nahm nun auch Lavinia ihre Mütze vom Haken, schob sie über ihre ebenfalls rote Haarpracht und folgte dem anderen Avox. Sobald sie den Essenssaal betrat nahm sie eine unterwürfige Haltung ein, wie sie einer Avoxin, und damit einer Sklavin, gebührte. Nach jahrelanger Übung gelang ihr dies bereits wie im Schlaf und sie konnte Darius im Auge behalten, der artig das Salatbüffet bewachte. Ein zaghaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, dann nahm auch sie ihren Dienst auf. Einige Stunden und viel Essen später standen beide Avoxe schließlich auf besagter Terrasse, den eisigen Wind im Gesicht und mit einigen strahlend weißen Flocken bedeckt. Lächelnd ergriff Lavinia Darius Hand, doch dieser blickte sie kaum an. Er fragte sich stattdessen, warum sie so hartnäckig war und blickte sie nur kurz aus dem Augenwinkel an. Doch die junge Frau, die fast noch ein Mädchen war, ließ nicht locker, sondern lächelte ihn weiter nett an. Mit einem Kopfnicken wies sie auf den schneebedeckten Boden, dann ging sie in die Hocke. Irritiert starrte Darius sie einen Moment lang an, während er sich fragte, ob sie nun vollständig verrückt geworden war. Doch dann kam ihm ein Gedanke – ein abwegiger Gedanke. Konnte es sein…? Neugierig bückte er sich zu ihr herab und blickte sie an. Tatsächlich, mit einem zufriedenen Lächeln fing sie an zarte Kringel in den Schnee zu malen, wie kleine Bilder. Lieber Darius – dann eben auf diesem Wege: Du solltest keine Angst vor uns haben, wir alle sind eine Gemeinschaft. Es würde uns freuen, wenn auch du heute Abend dabei bist –   Überrascht blickte Darius Lavinia an, als diese die ersten Zeilen mit einer Handbewegung fortwischte und dann fortfuhr, höchstkonzentriert ihre zarten Zeichen zu malen. Wieso war sie so freundlich zu ihm?   Wir lassen uns nicht fremdbestimmen. Auch Avoxe haben eine Weihnachtsfeier verdient, nicht wahr?   Fragend blickte Lavinia ihn an. Zögernd blickte Darius die in den Schnee geschriebenen Worte an, dann wieder sie. Schließlich streckte er seinen Finger aus und berührte selber den kühlen Schnee.   Danke, Lavinia… aber es ist gefährlich. Sie könnten –   Behutsam nahm Lavinia jedoch seine Hand beiseite und schrieb ihrerseits weiter.   Das haben wir bedacht. Doch wir möchten selber etwas erreichen – Katniss hat uns das gezeigt.   Bei der Erwähnung des Namens zuckte Darius zusammen, was auch Lavinia nicht verborgen blieb, doch sie schrieb ruhig weiter.   Selbst wenn alles schief läuft – ich würde für dich lügen.   Mit einem einfachen Kringel fügte sie dem ganzen einen Smiley hinzu, dann stand sie auf und streckte Darius einladend die Hand hin. Misstrauisch beäugte Darius sie, dann wischte er den Text beiläufig fort, ehe er ihre Hand ergriff und nickte. Er wusste, dass es nicht mehr viel gab, was er verlieren könnte, außer einem Leben in Gefangenschaft. Eine Revolution da draußen war im Gange und da sollte er nicht noch einmal Weihnachten feiern? Grimmig lächelte der rothaarige Avox und folgte Lavinia in das Innere, zurück zu ihrer Schicht auf der Weihnachtsfeier. Eine gute Zeit lang waren die Avoxe mit allen Händen beschäftigt, die gierigen Wünsche der Kapitolbewohner zu erfüllen, doch immer wieder konnte Darius sehen, wie sie einzelne Sachen beiseite schafften, in eine Abstellkammer, die sie zu ihrem Versteck erkoren hatten, da sie sich ziemlich sicher waren, dass kein Bewohner des Kapitols Wert auf Videoüberwachung einer Abstellkammer legen würde, zudem war die Gefahr, dass jemand Ausversehen dort hinein gelangte fast null. Darius selber jedoch wagte es nicht, etwas von dem Essen zu nehmen, denn er war sich seiner Sache noch nicht ganz sicher. Stattdessen servierte er geduldig und Stunde um Stunde Häppchen in Form von Schneeflocken auf einem Tablett, entfernte abgestellte Gläser aus der Dekoration und lauschte dem hysterischen Gelächter, vermischt mit eigentlich kitschiger Weihnachtsmusik, die ihn jedoch auf schmerzhafte Weise an sein ursprüngliches Heim in Distrikt zwei denken ließ, wo er mit solchen Liedern aufgewachsen war. Deshalb war der Avox mehr als nur glücklich, als die Lichter gedimmt wurden und langsamere Musik einsetzte. Die meisten der Gäste machten sich beschwipst und laut lachend auf den Heimweg oder auch nur auf den Weg zu einer weiteren Feier. Übrig blieben nur noch Avoxe und einige der Hartgesottenen, die jedoch vollkommen betrunken waren und in einem der Nebenzimmer saßen. Von diesen Gästen unbeobachtet zogen sich die Avoxe langsam zurück, ließen ihre Tabletts zurück und verschwanden einer nach dem anderen unauffällig. Darius blieb solange an die Wand gedrückt stehen, bis Lavinia ankam und ihm einen Knuff in die Seite verpasste. Grinsend deutete sie auf die Tür zu der Abstellkammer und mit klopfendem Herzen stellte dieser sein Tablett auf dem Sockel einer im Laufe des Abends verschwundenen Büste Präsident Snows ab. In der Kammer, die typischerweise für das Kapitol viel größer war, als der Begriff vermuten ließ, saßen bereits alle anderen Avoxe der gemeinsamen Schicht um einen provisorischen Tisch aus Kisten versammelt, auf dem sich das Festtagsessen nur so stapelte. Alle strahlten glücklich und auch Darius war ein wenig ergriffen von der stummen Herzlichkeit, mit der die Avoxe untereinander waren. Und auch wenn sie sich nicht mit Worten verständigen konnten, so kam es Darius ganz anders vor, als er sich auf seinen Platz an dem Tisch sinken ließ und zögernd die anderen beobachtete, die lachten und mit Punsch in langstieligen Gläsern anstoßen. Lavinia drängelte sich schließlich neben ihn, ebenfalls zwei Punschgläser in der Hand und reichte ihm lächelnd eines. Darius fühlte sich an die Zeit erinnert, als er noch daheim bei seinen Eltern gelebt hatte, an die geselligen Abende im Winter, mit lautem Gelächter und angeregten Gesprächen, aber auch an die Abende im Hob, bei Hühnersuppe von Graesy Sae. Auch hier war es nicht anders, abgesehen davon, dass die Gespräche nach außen hin nicht hörbar waren, sondern einzig und allein in den Köpfen der Avoxe stattfanden. Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte auch Darius angesichts der fröhlichen Atmosphäre um ihn herum und dann stieß er sein Glas klingend an das von Lavinia. Diese schob ihm lächelnd unter dem Tisch einen Zettel zu, den sie augenscheinlich von einem Notizblock abgerissen hatte. Mit ihren Händen formte sie ein Päckchen, das aussah, wie ein Geschenk. Zuletzt stellte sie die Schleife dar, dann deutete sie auf das Zettelchen. Überrascht faltete Darius den Zettel auseinander und erkannte Lavinias malerische Schrift.   Lieber Darius, dies ist mein Weihnachtsgeschenk für dich. Ich möchte alles versuchen, dir unsere Sprache zu lehren. Deine Lavinia.   Stumm blickte Darius auf den Zettel, las ihn ein zweites Mal, ehe er verstand. Lavinia wollte ihm die Zeichensprache der Avoxe beibringen! Dankbar sah er sie an, doch sie lächelte nur und wank ab, doch in Darius Herz hatte sich der kleine Hoffnungsfunken Lavinias bereits übertragen, unbeirrbar und von innen wärmend erstrahlte dieser an diesem Abend in seinem Herzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)