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Wintersterne

Ein Panem Adventskalender
von

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Wintergrau


 

5. Dezember – Wintergrau
 

Fuchsgesicht
 

 
 

*
 

 

„Bis heute Abend, ich bin zur Arbeit!“

Einen Moment lang stand das rothaarige Mädchen regungslos im Hausflur, ehe sie seufzend ihre Handschuhe überstreifte und die Haustür aufzog, um in den grauen Wintermatsch, der draußen vor der Tür auf sie wartete, zu gehen. Sie würde ohnehin nie eine Antwort bekommen, war doch keiner mehr da, der ihr antworten konnte. Dennoch verabschiedete sie sich jeden Tag – von wem wusste sie nicht. Zu gehen ohne etwas zu sagen erschien ihr auch nach einem Jahr immer noch unmöglich.

Den Kragen ihrer abgewetzten Jacke hochgeklappt schlich sich das Mädchen in den unwirtlichen Morgen hinaus, um zu ihrer Arbeit zu gehen, die im Winter erst so richtig anfing.

Nur wenig später kletterte eben dieses Mädchen, dem der Name Finch gehörte, behände eine gefrorene Leiter hinauf. Der Boden blieb weit hinter ihr zurück, doch sie drehte sich nicht um, sondern hielt den Blick weiter fest auf ihr Ziel gerichtet. Eine Hand vor die andere setzend erklomm sie das Dach des Elektrizitätswerkes, das heute ihr Arbeitsplatz sein würde.  Zwar konnte ein falscher Schritt ihr Leben kosten, doch Finch war unerschrocken, wie alle in ihrer Familie es gewesen waren, doch sie war auch klein, wendig und nicht zuletzt intelligent, was für ihre Arbeit unerlässlich war. Nicht jeder konnte auf Dächer klettern, noch dazu im Winter.

Vorsichtig setzte sie jetzt einen Fuß auf das verschneite, graue Schieferdach des Werkes.

Alles in allem war dieser ein ganz normaler Tag in Distrikt fünf, der wie jeden Winter stark von den Schneefällen getroffen worden war. Ganze Werke des Distriktes wären ohne Strom – wenn da nicht Finch wäre. Das kleine, fuchsgesichtige Mädchen war eine herausragende Kletterin und arbeitete im lokalen Reparaturdienst, die sich um die Innstandhaltung und Wartung der Fabriken und Stromerzeugungswerke des Distriktes kümmerten. So kam es, dass sie jetzt, am frühen Morgen, bereits das Dach des Elektrizitätswerkes erklommen hatte, gekleidet in einen Winteroverall und einen Werkzeuggurt um. Eine der Spulen, die die Strom führenden Drahtseile hielten, drohte sich zu lockern aufgrund des Schnees und auch an allen anderen Ecken und Enden drohte das Werk zusammen zu brechen, wie so ziemlich alles in diesem Bereich von Distrikt fünf.

An anderen Stellen arbeiteten bereits weitere ihrer Kollegen, doch für diesen einen speziellen Auftrag war vor allem Finch geeignet, da sie so klein und wendig war – wie ein Fuchs, wie manche Leute amüsiert bemerkten und nachdem sie auch ihren Namen erhalten hatte. Die Arbeit war gefährlich, doch sie kannte bereits alle Gefahren. Geschickt umwanderte sie die Stellen des dünnen Daches, die bei zu großer Belastung einzubrechen drohten und bewegte sich nur über die durch Holzbalken gestützten Teile des Daches fort.

An ihrem Ziel angekommen holte sie ihr Werkzeug aus dem Gurt und kroch vorsichtig unter die Spule. Eiskalt und feucht von dem Schnee war der Boden und fröstelnd biss sie die Zähne zusammen. Winter war die mit Abstand unangenehmste Jahreszeit für sie, da ihr dann die Finger steif vor Kälte wurden und das Eis die Arbeit noch gefährlicher machte.

Grimmig hauchte sie in ihre eiskalten Hände, sodass ihr warmer Atem sie ein wenig aufwärmte und machte sich dann daran, gelockerte Schrauben wieder zu festigen, Schnee von empfindlichen Teilen zu schieben und Ausschau nach weiteren Gefahren zu halten.

Eine gute Zeit lang war sie damit beschäftigt, doch schließlich konnte sie aufatmen und sich zwischen den gefährlichen Stromdrähten hinaus winden. Meist merkte sie erst, wie angespannt sie gewesen war, wenn sie wieder fort von dem Strom konnte, der sie während ihrer gesamten Arbeitszeit über bedrohte. So war es auch jetzt wieder. Entspannt streckte sie ihre Glieder und machte sich an den Abstieg.

Bereits auf dem Weg nach unten drehten sich die Gedanken Finchs darum, was sie auf dem Nachhauseweg zum Abendessen kaufen könne und ob sie bereit wäre, eine Überschicht zu schieben, um die Miete für einen weiteren Monat aufzubringen.

Völlig in Gedanken versunken kam sie am Boden an, wo sich bereits andere Kollegen versammelt hatten, um ihren heutigen Lohn abzuholen. Geschickt schlüpfte sie durch die Menge nach vorne, um als eine der ersten an ihren Lohn zu gelangen. Mit unschuldigem Gesicht schob sie sich zu ihrem Vorgesetzten durch, der ihr mit warmem Lächeln einige Münzen in die Hand drückte.

„Frohes Fest auch dir, meine liebe Finch. Du hast es dir verdient.“

„Ihnen auch“, entgegnete sie und schob das wenige Geld in ihre Jackentasche. Heute Abend würde sie wenigstens nicht hungrig sein. Am besten würde sie einfach so tun, als sei ein gewöhnlicher Abend und nicht ausgerechnet schon das Weihnachtsfest.

„Hey Finch!“, rief da jemand durch die Menge.

Verwundert drehte die Rothaarige sich um, doch in der Masse der gräulich gekleideten Arbeiter konnte sie niemanden ausmachen, der sie gerufen haben könnte. Achselzuckend drehte sie sich wieder um und pustete sich in die hohlen Hände, die sie kaum noch spüren konnte. In diesem Moment tippte sie jemand auf die Schulter.

„Fuchs, bist du taub?“

Direkt hinter ihr stand Nora, eine zwei Jahre ältere Arbeiterin, die so ziemlich das Vorbild des oft ‚Fuchs‘ genannten Mädchens war. Das dunkelhäutige Mädchen mit dem strahlenden Lächeln schaffte Dinge, die Finch vor einiger Zeit verlernt hatte. Sie konnte mit jedem sprechen, war immer höflich und fröhlich, noch nie hatte Finch sie traurig gesehen, dementsprechend beliebt war sie natürlich.

Augenblicklich spürte das eher schüchterne Mädchen, wie ihr Herz anfing zu schlagen. Nora arbeitete schon länger als sie und könnte es sein… nun ja, dass sie etwas falsch gemacht hatte?

Doch Nora lächelte nur weiter.

„Wo gehst du schon hin? Immerhin ist doch Weihnachten.“

Überrascht weitete Finch die Augen.

„Ach, ich brauche noch etwas zu essen und naja, nach Hause halt“, murmelte sie schüchtern, während sie es nicht einmal wagte, Nora anzusehen, aus Angst, diese zu beschämen.  

„Oh“, sagte Nora teilnahmsvoll und ergriff Finchs Hand, „wie wäre es, wenn du mit mir mitkommst?  Wir feiern eine große Weihnachtsfeier und ich denke, je mehr desto besser!“

Begeistert lachte Nora, doch Finch war viel zu perplex, um auch nur zu lachen. Sollte es wirklich stimmen, dass ausgerechnet Nora sie einladen wollte, an einer Weihnachtsfeier teilzunehmen? Sie wollte es nicht glauben und doch… Nora war doch schließlich ein freundlicher Mensch. Aber warum ausgerechnet ihr gegenüber?

Mit zu Boden gerichtetem Blick dachte sie daran, dass sie eigentlich allein zu Hause hatten sitzen und an das vergangene Weihnachtsfest mit ihren Eltern zu denken, dass nun nie wieder zurückkehren würde. Doch jetzt zupfte Nora und redete aufgeregt davon, wie wunderbar es wäre, wenn Finch mit ihr käme. Nora, die ihr Vorbild war, weil sie einfach herzlich war, immer gut, immer lustig, so wie sie es gerne wieder wäre.

Ein kleines Lächeln huschte über Finchs Gesicht und sie nickte zaghaft, während Röte in ihre Wangen schoss.

„Danke für die Einladung“, erwiderte sie. Doch Nora lachte nur.

„Kein Dank nötig, es ist ja nicht meine Weihnachtsfeier“, sagte sie zwinkernd. Unsicher hob Finch die Augenbrauen:

„Ähm, darf ich dann überhaupt dabei sein?“

Mit einer wegwerfenden Handbewegung winkte Nora ab.

„Aber klar doch, mach dir da mal keine Gedanken!“

Langsam setzte sie sich in Bewegung und Finch musste sich beeilen, mit der Älteren Schritt zu halten.

„Also Finch, wir arbeiten jetzt ja schon einige Zeit lang zusammen, aber von dir habe ich immer noch verdammt wenig gesehen und gehört.“

Finch lächelte nur verlegen.

„Über mich weißt du ja schon sicher alles… Ich bin das fröhliche Mädchen mit dem großen Mundwerk“, redete Nora einfach weiter, „es ist ganz schön langweilig, wenn alle Menschen immer schon denken, dass einen kennen.“

Sie lächelte schief und schien einen Moment lang nachzudenken.

„Naja, kennen tue ich dich nicht“, sagte Finch leise, „aber es wäre schön.“

Nora lachte nicht übermütig, wie Finch es erwartet hatte, sondern blickte sie mit großen Augen an.

„Ehrlich? Gott, ich dachte immer, du würdest niemanden von unserer Schicht leiden können!“

Jetzt kam doch noch der glucksende Lacher zum Vorschein.

Überrascht schüttelte das zierliche Mädchen den Kopf.

„Nein… ihr seid alle toll, aber naja…“

„Hast du etwa Angst vor uns? Wir mögen vielleicht älter sein, aber Finch, wenn jemand von uns geschickt ist, dann DU!“

Freundlich drückte sie ihre Schulter.

Bei all der Röte die Finch in das Gesicht schoss vergaß sie fast, wie kalt ihr eigentlich war.  

Nora grinste fröhlich vor sich hin.

„Ach Finch, du bist wirklich zurückhaltend!“

Schweigend gingen sie einen Moment lang durch die grauen Straßen des Distriktes, während der Himmel sich langsam bereits wieder verdunkelte. Flackernde Lichter hinter Fenstern gingen an und warfen warme Lichtscheine auf die Straße. Weiße Flocken trieben in diesen Oasen des Lichtes und trudelten schließlich auf den matschigen, aufgetauten Schnee am Boden.

„Also Finch, dann lass uns einander doch vorstellen“, bemerkte Nora fröhlich und während das Mädchen zaghaft von ihrer Geschichte zu erzählen anfing gingen sie immer weiter die Straße hinunter, während Flocken auf die Erde fielen.

Als sie schließlich bei dem kleinen festtäglich beleuchteten Haus ankamen, war es bereits fast wieder dunkel draußen, obwohl es noch gar nicht so spät war. Die neuerliche Schneedecke gewann mittlerweile an Festigkeit und alles wurde von weißen Hauben bedeckt.

Lachend kam Nora vor dem Haus von Janine Everwheat stehen, die die Weihnachtsfeier veranstaltete.

„Da wären wir, Fuchs“, gab Nora Finch zu verstehen und klopfte an die Tür.

„Und wie gesagt-“

„Hallo! Oh, wie schön, noch mehr Besuch! Willkommen – und keine Angst: Wir beißen nicht!“

Lachend zog Nora Finch in den warmen Hausflur, in dem soeben eine kleine, pummelige Frau erschienen war, deren Haare zu einem wilden Haarknoten am Hinterkopf gebunden waren und die noch immer eine Küchenschürze trug.

„Das hier ist Finch“, stellte Nora sie vor.

Begeistert umarmte die Frau, die Janine sein musste, Finch und hüllte sie dabei in den Geruch nach Weihnachtsgans und allerlei anderen Köstlichkeiten. Mit roten Wangen bedankte diese sich und entschuldigte sich immer wieder, dass sie gar kein Gastgeschenk hätte, doch die Janine wehrte nur ab und sagte, dass sowieso immer zu viel von allem vorhanden wäre.

Nora und sie wurden in den Wohnraum geführt, wo bereits eine große Gruppe anderer, Finch größtenteils unbekannter, Personen wartete. Von allen Seiten hallte es Grüße und das Haus war förmlich von Energien aufgeladen. Kinder saßen vor dem Teppich auf dem Kamin, ältere Menschen hatten die Sofas in Beschlag genommen und einige Mädchen und Jungen im Alter von Finch und Nora deckten den Tisch.

Jeder lachte und als Janine schließlich eine große Weihnachtsgans hereintrug jubelten alle. Vor Staunen gingen Finch fast die Augen über.

Noch nie im Leben hatte sie eine wahre Weihnachtsgans gesehen. Sie kannte niemanden, der so reich wäre und eigentlich machte keiner der hier Anwesenden den Eindruck.

„Wir alle geben einen Teil unseres Lohnes dazu, um uns das leisten zu können. Aber keine Sorge, du bist eingeladen“, liefert Nora auch schon die Erklärung.

Schüchtern setzte Finch sich auf einen Stuhl am Ende des Tisches und beobachte all die glücklichen Gesichter um sie herum.

So viel Glück und Frieden auf einmal hatte sie in Distrikt fünf noch nicht gesehen.

„Auf ein neues, besseres Jahr!“, rief die Menge um sie herum, und von spontaner Freude ergriffen hob auch Finch ihr Glas und  prostete den anderen zu.

Erst spät in der Nacht verließen sie und Nora völlig satt und zufrieden die Feier.

Die Schneedecke war immer dicker geworden und bedeckte nun vollständig das vorherige Wintergrau.

„Danke für die Einladung, es hat wirklich Spaß gemacht!“, erklärte das rothaarige Mädchen.

Nora stand lächelnd im flackernden Laternenlicht, während Schneeflocken sich in ihr beider Haar verfingen und sagte:

„Gute Nacht Finch. Wir sehen uns dann morgen zur Arbeit! Wir wäre es, wenn wir morgen einmal Eislaufen gehen auf dem See?“

Begeistert lächelte Finch und winkte ihr noch einmal zu.

„Wir sehen uns!“

Still betrat sie den Hausflur, ein seliges Lächeln im Gesicht.



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