Wintersterne von Coronet (Ein Panem Adventskalender) ================================================================================ Kapitel 1: Winterjagd --------------------- 1. Dezember – Winterjagd Katniss Everdeen Troy Everdeen * Kalt strich die Luft um Katniss nacktes Bein, das unter der schweren Steppdecke, die aus lauter bunten Flicken zusammen genäht war, hervor hing. Träge baumelte der Fuß über der Bettkante in dem kalten Luftzug und ein paar Mal zuckte er kurz, vielleicht, weil Katniss wild träumte, oder doch einfach nur, weil der Fuß langsam eiskalt wurde und sie die Wärme der Decke vermisste. Mit einem leisen Seufzen rollte das schlafende Mädchen, von dem man nicht mehr sah, als den braunen Haarschopf, sich auf die andere Seite und zog den frierenden Körperteil zurück unter die gemütliche Decke. Einen Moment lang lag sie still dar und versuchte, erneut in ihren Traum zurückzukehren, doch die Realität fing sie sanft auf und entführte sie aus der Welt voll schöner Kleider und Süßigkeiten, so viel sie essen konnte. Müde rieb sie sich mit der Hand über das Gesicht und zog die Decke vorsichtig bis zum Kinn hinunter. Sofort spürte sie die frische Kälte des Morgens auf ihren rosigen Wangen. Kurz überlegte sie, dann öffnete sie schlagartig die großen braunen Augen: Heute war der erste Dezember! Aufgeregt setzte sie sich auf und vergaß völlig ihre Decke, die zu Boden rutschte. Auf den Knien rutschte sie zu dem Fenster über ihrem Bett. Ein großes Lächeln erhellte ihr Gesicht. Winzige Eisblumen überzogen das Fenster und malten fantasievolle Muster. Dahinter aber war noch mehr weiß, soweit das Auge reichte! Alles war in weiches, friedliches winterweiß gehüllt! Fasziniert drückte Katniss ihre Nase an die Scheibe und blickte hinaus auf den verschneiten Distrikt zwölft und ein kleiner Freudenjauchzer entwich ihr, denn es kam nicht jedes Jahr vor, dass Distrikt zwölf bereits am ersten Dezembertag verschneit war. Besorgt blickte sie sich um, aus Angst ihre kleine Schwester geweckt zu haben, doch Primrose schlief noch immer tief und fest, den Daumen im Mund und fest ihr kleines Schnuffeltuch im Arm. Eifrig kletterte Katniss aus dem Bett und hob sorgfältig die Decke auf, ehe sie sich auf nackten Füßen, und noch immer in ihrem wollenen Nachthemd, in den Flur schlich. Ein warmer Schein drang unter der Tür zum Wohnraum hindurch, und leise tappte sie auf den Zehenspitzen zur Tür. Wie immer klopfte ihr Herz wie verrückt, denn heute würde sie mit ihrem Vater in den verbotenen Wald gehen. Sanft drückte sie die Klinke herunter und spähte in den Wohnraum. Im Kamin brannte ein warmes, rot-orangenes Feuer, dass seine heimeligen Schatten in den Raum warf. Der Stuhl davor war besetzt von ihrem Vater, der in ein warmes Flanellhemd gehüllt war und bereits seine dicken, ledernen Stiefel trug. Als hätte er sie die ganze Zeit über gehört drehte er sich um und lächelte. „Da bist du ja. Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf, meine kleine Schlafmütze!“ Zuerst zog Katniss die Tür hinter sich zu, dann stemmte sie empört die Hände in die Hüften. „Dad! Ich bin keine Schlafmütze. Es ist nur so… kalt“, beschwerte sie sich. Troy Everdeen lachte nur. „Dann warte nur, bis wir erst draußen sind“, erklärte er verschmitzt, während er Katniss ihre dicken Wintersachen reichte, die einzigen, die sie hatte. Die Jacke war schon etwas abgenutzt, genauso wie die abgescheuerten Handschuhe, doch sie waren ihr lieb geworden und taten das Nötigste. Fröhlich schlüpfte sie schließlich in ihre durchgetragenen Stiefel und griff tatenlustig nach ihrem kleinen Beutel, in dem sie ihre Vorräte mit sich nahm. Troy hatte sie ihr einst vom Hob mitgebracht und sie war sehr stolz darauf. „Lass uns gehen!“, rief sie leise und zupfte an dem Arm ihres Vaters, „komm schon!“ „Nicht so schnell“, gab dieser daraufhin zu bedenken, „du solltest erst noch frühstücken“, sagte er lachend. „Ich esse unterwegs“, entrüstete die kleine Katniss sich, „so wie jedes Jahr. Du hast es versprochen!“ Für den Moment tat Troy Everdeen so, als müsse er scharf überlegen, nur um sie auf die Probe zu stellen. Amüsiert beobachtete er, wie seine energische Tochter langsam rot vor unterdrückter Aufregung wurde und zwinkerte ihr dann zu. „Als wenn ich das je vergessen würde.“ Er griff nach der Hand seiner elf Jahre alten Tochter und gemeinsam gingen sie in den ersten, eisig kalten Dezembermorgen hinaus. ~ Eine weiche, weiße Schneedecke bedeckte alle Straßen und Häuser des Distrikts, sodass es ganz so wirkte, als sei alles mit Puderzucker überstreut worden. Vielleicht war der Distrikt einer der ärmsten in ganz Panem, aber beim Anblick der schiefen weißen Hütten konnte man die unangenehmen Gedanken doch einmal beiseiteschieben – vor allem dann, wenn man zuhause ein kleines, warmes Feuer entzünden konnte. Aufgeregt tollte Katniss durch den Schnee und hinterließ überall kleine Abdrücke der Schuhgröße 37. Troy Everdeen folgte ihr leise lächelnd in einigem Abstand. Er hatte in seinem Leben schon viele Winter erlebt, doch das Erlebnis, seine Tochter am ersten Wintertag durch den Schnee springen zu sehen war immer wieder aufs Neue schön und ließ ihn den Schnee mit ganz neuen Augen sehen. Ganz wie jedes Jahr kehrten sie schließlich bei der kleinen Backstube im Zentrum ein, wo sie Brötchen für die ganze Familie kauften, auch wenn diese nicht frisch aufgebacken waren, aber das hätten sie sich nie leisten können. Während Troy bezahlte bewunderte Katniss derweil die prächtig dekorierten Torten, die sich in der Auslage stapelten. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie davon geträumt hatte, eines Tages eine solche Torte zum Geburtstag zu bekommen. Vielleicht sogar eine mit ihrem Namen drauf? „Katniss, kommst du?“, rief ihr Vater sie schließlich und sie schob den Gedanken wieder beiseite. Auch ohne Torte konnte man schöne Geburtstage haben. Erwartungsvoll beobachtete sie, wie ihr Vater die Brötchen in seiner Umhängetasche verstaute. „Dad, hast du nicht was vergessen?“ „Was, ICH? Niemals.“ Mit einem kleinen Lächeln schüttelte Troy den Kopf, während er aus dem Augenwinkel sah, wie Katniss, wie so oft, ihre Augenbrauen kritisch zusammenzog. Manchmal liebte er es einfach, sie ein klein wenig zu ärgern. Es war nicht zu übersehen, dass sie manchmal genauso stur wie seine Frau sein konnte. Um ihre Geduld nicht weiter auf die Probe zu stellen zog er das Plunderteilchen hervor, dass er Katniss wie immer am ersten Dezembertag schenkte. Noch immer leuchteten ihre Augen, als sie das Gebäckstück bekam und stürmisch umarmte sie ihren Vater, nur um ihm immer wieder zu beteuern, dass er der allerbeste sei. „Wirst du nicht langsam zu alt für sowas?“, neckte er sie freundlich. Den Mund noch voll schüttelte Katniss den Kopf. „Niemals“, entgegnete sie. ~ Wie immer war der Zaun, der den Distrikt umgab auch in diesem Winter ohne Strom. Geübt kletterten Troy und seine Tochter unter dem stacheligen Draht hindurch und liefen schnell in die Baumschonung, um nicht doch von einem aufmerksamen Friedenswächter erspäht zu werden. Weiß schwebte der Atem vor ihren Mündern und Katniss zog unwillkürlich den Schal höher. Geübt angelte Troy derweil seinen großen Bogen aus dem Versteck und den kleinen Haselnussstrauchbogen für Katniss. Sanft strich er einmal mit der Fingerkuppe über die gefederten Enden der Pfeile, dann schwang er sich den Köcher über den Rücken. „Auf geht’s!“ Lächelnd ergriff Katniss ihren Bogen und deutete gen Süden: „Heute gehen wir dort lang!“, bestimmte sie. Eine Weile lang gingen sie durch die stummen Wälder, in denen im Winter kaum noch Vögel hausten. Die meisten von ihnen flogen mit dem beginnenden Herbst fort. Früher hatte Katniss sich immer gefragt, warum die Vögel überhaupt zurückkamen. Sie waren frei, sie konnten überall hin, warum also wollten sie ausgerechnet in Panem bleiben, diesem unbarmherzigen Land? Jetzt wusste sie, dass das naiv gewesen war. Dafür fühlte sie sich selber nun frei, wenn sie mit ihrem Vater auf die Jagd ging, sich außerhalb der Grenzen von dem Distrikt bewegte. In diesem Moment vernahm sie das Geräusch eines brechenden Zweiges. Leise hob sie den Finger, um ihrem Vater zu bedeuten, dass er warten solle. Da, ein paar Schritte weiter ins Unterholz hinein ertönte es erneut! Angespannt hob ihr Vater den Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne, während sie selber näher heranschlich, immer darauf bedacht, nicht selber auf einen Ast zu treten. Dort war es, noch ganz jung – ein Reh auf der Lichtung. Der Ehrgeiz befiel Katniss und sie spannte ihren eigenen Bogen, ganz so, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Vorsichtig atmete sie aus, zielte und ließ die Sehne durch ihre Finger schnellen. Aber der Pfeil schoss vorbei und das Reh schreckte auf. Mit gespitzten Ohren horchte es in den Wald hinein. In diesem Moment hob Troy seinen Bogen und der Pfeil durchbohrte den Hals des nervösen Tieres glatt. Enttäuscht trat Katniss in das Unterholz und Schnee rieselte in ihre Stiefel, wo er beinahe sofortig schmolz und ihr nasse Socken bescherte. Doch ihr Vater kam zu ihr und stolze legte er den Arm um ihre Schultern. „Sei nicht sauer. Ich habe es im Gefühl, dass du eines Tages etwas ganz Besonderes sein wirst“, bemerkte er einfühlsam, „denn schließlich hast du mein Talent geerbt!“ Unwillentlich musste sie grinsen, wofür sie ihm in die Seite boxte. Gespielt empört hielt er sich die  Seite, nur um ihr dann die Zunge hinauszustrecken. „Na komm, lass uns das hier zu Ende bringen, damit wir deiner Mutter das schöne Reh bringen können.“ Glücklich folgte Katniss schließlich ihrem Vater durch den verschneiten Wald, die Gedanken auf das gemütliche Festmahl am Abend gerichtet.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)