Schokoladendiebe von FreeWolf (Ein Adventskalender (2012)) ================================================================================ Kapitel 19: Es war einmal ein Mann ---------------------------------- Es war einmal ein Mann. Es war einmal ein Mann, welcher auszog, um das Sehnen zu suchen. Es war ein weißes, weites Sehnen, welches in seiner Magengegend lag und ihn über eine unsichtbare Schnur hinweg, welche an seinem Nabel nach draußen führte, mit der Welt verband. Es ließ ihm keine Ruhe, trieb ihn immer weiter und weiter fort – fort von allem, was ihm lieb und teuer war. Zunächst kämpfte er noch dagegen an, konnte sich nicht entscheiden, wen er sah, wenn er seinen Söhnen ins Gesicht sah, und schaffte es nicht, bloß sich selbst in ihnen zu sehen. Vielleicht, weil besonders der Jüngere nach seiner Mutter schlug, und die großen, schokoladenbraunen Augen ihm bei jedem Blick einen Stich versetzten, wenn sie ihn groß und rund und unschuldig und voller Neugierde anblickten. Er gab seinen Kampf bald auf, konnte – wollte – nicht mehr gegen das Sehnen ankämpfen, welches seinen Griff immer fester um ihn schloss und ihn immer weiter für sich einnahm, bis es in seinen Ohren klingelte und in seinem Kopf nichts war als das weiße Rauschen der Reisen und der Ferne. So begann es, anfangs noch mit Tagesausflügen, nicht weit fort. Vielleicht ging er bloß in die nächste Stadt, immer wieder in eine andere, für ein paar Tage. Nur hin und wieder, nichts Besonderes, sagte er sich und dem kleinen Überrest seiner Familie, und bereute gleichzeitig seine Lügen. Er wusste, dass er es nicht lange aushalten können würde. So geschah es – er folgte dem Ruf der Ferne, in immer neue Städte, immer einen Tag länger als beabsichtigt, zwei, drei, vier. Doch die Tage wurden schnell zu Wochen, und Wochen verschwammen in Monaten, schließlich zu Jahren. Er vergaß, die kleinen Postkarten zu schreiben, die er anfangs noch jeden Tag, jede Woche geschrieben hatte, und seine Briefe wurden kürzer und kürzer, bis sie schließlich aufhörten, außer es handelte sich gerade um den achtzehnten Geburtstag seines älteren Sohnes. Die Zeit verflog, und er vergaß, die Orte, an denen er war, auf der Karte, welche er überall mit sich hin nahm, zu vermerken. Die Welt wurde ihm einerlei, war einmal ein Haufen Steine, welchen es auszugraben galt, ein anderes Mal eine Ruine, die noch Mumien beinhaltete. Er war ganz in seinem Element. Über seiner zweiten großen Liebe – der Vergangenheit – vergaß er die Lebenden rund um ihn, und seine Familie verschwamm zu einem fernen Brei aus unbeantworteten Weihnachtsgrüßen und verpassten Telefonanrufen, welche seltener und seltener wurden, schließlich aufhörten. Und dann stolperte der Mann, welcher inzwischen an Bauchumfang wie an grauen Haaren in seinem dunklen Haarschopf zugelegt hatte, an einem ungewöhnlichen Ort über eine Ausgrabungsstätte. Er hatte endlich Gelegenheit, seinen halb ausgepackten Koffer auszupacken und traf dabei auf etwas, was seine Welt veränderte. Das Bild war vergilbt von Sonnenschein und der Reibung verschiedener Gegenstände, weil er es bloß auf den Boden seines Koffers gelegt hatte, doch es erinnerte ihn an die vergessene Familie. Er wollte zum Telefon greifen und anrufen, doch er hielt – die lange, lange Ferngesprächsnummer halb gewählt – inne. Was sollte er sagen? Was konnte er sagen? Er wusste nichts mehr über seine Familie. Es schien als habe die Vergangenheit alles Wissen zur Gegenwart aus seinem Kopf gesaugt. So saß er da. Einen Tag, zwei. Die Ausgrabungen waren wegen des schlechten Wetters vorerst eingestellt. Schließlich raffte er sich auf, nahm seinen Koffer, und trat den längsten aller Wege an. Es war einmal ein Mann, welcher auszog, um das Sehnen zu finden. Es war ein weißes, weites Sehnen, welches am Nabel anknüpfte und ihn durch Zeit und Raum trug, ihn jedoch nicht mit seiner Welt verband. Als der Mann vor den Türen des Dojos stand, vor diesem einstmals kleinen, großäugigen Jungen, welcher seiner Mutter derart ähnelte, starrte der nun nicht mehr ganz so kleine Junge tonlos an, ehe sich ein Strahlen auf sein Gesicht schlich, das er von seiner Mutter haben musste. Es war einmal ein Mann, welcher auszog,um das Sehnen zu finden, und es in den Augen seines Sohnes fand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)