Laterna Magica von Night_Baroness ================================================================================ Prolog: -------- Ich war nie der Meinung, dass es für alles im Leben einen Grund geben muss. Klar, manchmal ist es leichter zu glauben, zu hoffen. Wenn du deinen eigenen Vater ermordet auffindest, dann beginnst du dich vollkommen unbewusst nach etwas zu sehnen, das rechtfertigt oder erklärt, so albern das klingen mag. Als ob das überhaupt möglich wäre! Aber nichts ist unerträglicher als etwas, für das es keinen Grund gibt, keine Erklärung, für etwas, das einfach so ist, weil es eben so ist. Menschen hassen das. Die Ungewissheit, die fehlende Wissenschaftlichkeit. Wie soll man in einer Welt, in der alles erklärbar ist noch glauben? Wie soll man ertragen, dass man etwas nicht wissen kann? Vermutlich sollte mir das als Kind leichter erschienen sein, aber eigentlich glaube ich nicht, dass das stimmt. Als Kind mag es einfacher sein, Mysterien zu akzeptieren und zu begreifen, dass es nicht für alles einen Grund geben muss, auch nicht für den Vater, dessen Gesicht in einer Flammenhölle schmilzt, das freundliche Lächeln faulig und schwarz. Das Schlimme ist, selbst, wenn du dich darauf einlässt, das Unbegreifliche als gegeben hinzunehmen, der Schmerz bleibt trotzdem. Es ist ein Irrglauben, das jegliche Akzeptanz den Schmerz versiegen lässt, manchmal macht sie ihn noch viel stechender, tödlicher, als würde man eine Wunde mit einem Dolch verschließen und nicht mit Nähten oder einem Pflaster. Das klaffende Loch ist nicht mehr da, aber ein fremder, eiskalter Teil bleibt und lässt einen nicht wieder los. Ich sage nicht, dass ich niemals wieder fröhlich sein kann, das stimmt nicht. Ich bin fröhlich und ich lache, ich glaube an die Zukunft und ich würde mein Leben um keinen Preis missen wollen, aber der Dolch ist immer noch da. Mitten in meinem Herzen. Seufzend legte sie den Brief zur Seite, wohlwissend, dass sie ihn später verbrennen würde. Er hatte sie nie danach gefragt, was damals passiert war, hatte nie angenommen, dass sie darüber reden wollte. Also warum es erzwingen? Warum ihm eine Wahrheit aufzwingen, die er überhaupt nicht hören wollte? Es waren doch nur Worte, Worte aus Staub, substanzlos wie Schall und Rauch. Obwohl er sie nie dazu gedrängt hatte, ihr nie das Gefühl gegeben hatte, dass diese Leere ihn störte, dieser unaussprechliche Zorn, die weiße, kalte Wut, die ihr manchmal mit eisigen Fingern über den Rücken zu streichen schien, so glaubte sie doch, dass er es wissen wollte. Eine Beziehung sollte nicht auf Geheimnissen beruhen. Natürlich war es albern, davon auszugehen, dass ihre Beziehung wirklich konkret mit den damaligen Ereignissen zusammenhing, denn das tat sie nicht, aber sie glaubte, dass wahre Liebe so etwas nicht kennen durfte. Ganz gleich, wie bedeutungslos es für die Gegenwart, für sie beide erschien, irgendwann würde es sie einholen, würde seine Eisfinger ausstrecken und sie mit dem flammenzerfressenen, zahnlosen Grinsen ihres toten Vaters anstarren. Wie ein Dolch mitten im Herzen. Kann ein verwundetes Herz wirklich etwas empfinden? Kann ein totes Herz…? Vermutlich war es auch verfrüht von wahrer Liebe zu sprechen. Man ließ sich nur zu gerne von einer funktionierenden Beziehung dazu verleiten, die Dinge durch die sprichwörtliche rosarote Brille zu betrachten. Man sah sich allzu schnell in einem weißen Kleid oder alt und glücklich auf einer hölzernen Veranda sitzen, bereit, in seinen Tagträumen sämtliche Klischees abzudecken. Aber obwohl sie selbst es albern fand und es vermutlich niemals zugeben würde, sie hatte dieses Gefühl. Vielleicht sah ihre Zukunft weniger friedlich, weniger normal aus, vielleicht würde sich nicht einer dieser spießigen Gedankengänge erfüllen und sie würden nicht von der Veranda aus ihren Enkeln beim Spielen zusehen. Aber das machte nichts, denn sie würden zusammen sein. Das wusste sie tief in ihrem Herzen. Kann es denn lieben? Natürlich schickte sie ihn nicht ab. Etwas unglücklich beobachtete sie, wie die schmutzig-weißen Ecken Feuer fingen und sich tiefschwarz verfärbten. Krampfhaft versuchte sie, ihre Gedanken nicht zu jener Nacht wandern zu lassen, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Manchmal machte ihr das Feuer immer noch Angst. Musste sie ihm überhaupt alles sofort erzählen? Wäre es nicht besser, es ihm persönlich zu sagen? Würde es ihr möglich sein, diese Worte zu finden, wenn die sie ihm gegenüberstand und seine grünen Augen in ihre blauen blickten? Wohl kaum. Wie sollte man auch so etwas aussprechen? Niemand konnte sich vorstellen, wie sie empfand. Selbstverständlich bemitleideten die meisten Leute einen, die es erfuhren, aber doch auch nur, um den gesellschaftlichen Konvektionen nicht zu widersprechen. Niemand konnte es wirklich nachempfinden, konnte es wirklich begreifen. Ob er es könnte? Wenn sie so darüber nachdachte, wusste sie überhaupt nichts über seine Vergangenheit. Er war immer ein verschwiegener Typ gewesen, zwar hatte er seine offenen, ja lustigen Momente, diese Augenblicke, für die sie ihn liebte, aber woher er gekommen war, konnte sie immer noch nicht sagen. Das kam ihr auf einmal merkwürdig vor, so, als hätte sie sich in eine Maske verliebt und nicht in einen Mann, in einen Schauspieler, einen Clown, der grinsend das faulige Zahnfleisch und die blutverkrusteten Zähne hinter dem falschen Lächeln entblößte. Eilig versuchte sie dieses Gefühl abzuschütteln. Das war doch albern! Shuichi war nichts dergleichen. Er war immer ehrlich zu ihr, aufrichtig und er würde sie niemals hintergehen, dessen war sie sich sicher. Sie griff erneut in die Schublade vor ihr und holte einen Bogen unbefleckten Briefpapiers heraus. Sie würde einen neuen Brief schreiben, einen vollkommen anderen. Und der Dolch… Kapitel 1: Schreiben und Verbrennen ----------------------------------- „Da bist du ja.“ Er erwiderte ihr Lächeln so wie er es immer tat, vielleicht schüchtern, vielleicht geheimnisvoll, es gab kein Wort, um diesen Ausdruck zu beschreiben. Dieser Mann an sich war ja ein Mysterium für sie. Nicht nur, weil er fremd wirkte und mit seinen markanten Gesichtszügen und dem langen Haar irgendwie exotisch aussah, sondern weil er etwas an sich hatte, etwas, das sie niemals benennen können würde, ganz gleich, wie sehr sie es versuchte. Vielleicht ist das das Wundervollste an der Liebe, sie lässt uns Dinge sehen, die jedem anderen verborgen bleiben. „Darf ich reinkommen?“ „Nein, hast du das „Wir müssen draußen bleiben“-Schild mit deinem Bild darauf nicht gesehen?“ scherzte sie und nahm ihm seinen Mantel ab. „Geh doch schon mal ins Wohnzimmer.“ Obwohl es nicht ihr erstes Date war, war sie aufgeregt. Ein bisschen ärgerte sie sich darüber, so euphorisch und gleichzeitig schrecklich nervös zu sein. Sie kam sich vor wie ein Teenager, der seinen ersten Freund nach Hause mitbrachte und ihn gleich den Eltern vorstellen wollte, aber das war sie nicht, sie war bereits Mitte 20 und FBI-Agentin. Reiß dich verdammt nochmal zusammen Jodie! Eilig schenkte sie zwei Weingläser ein und folgte ihm, wohlbedacht, keinen Tropfen zu verschütten. Bei ihrem weißen Flurteppich hätte das Resultat wohl auch ziemlich sicher einen mittelschweren Nervenzusammenbruch verursacht. „Nett hast du es hier.“ Erleichtert, die Katastrophe erfolgreich abgewendet zu haben, stellte sie die Weingläser auf einen Beistelltisch und ließ sich neben ihn auf das Sofa fallen. „Du warst doch schon einmal hier.“ „Ja.“, schmunzelte er, aber ich hatte leider keine Zeit, die Einrichtung zu bewundern. Ihr Gesicht begann purpurrot anzulaufen. „Oh… Und sonst warst du noch nicht hier? Naja, dann willkommen in meiner Wohnung.“ Er zwinkerte ihr zu. „Danke. Der Wein ist übrigens köstlich.“ „Italienisch, glaube ich.“ Sie rückte nervös ihre Brille zurecht, was ihm nicht entging und sein Grinsen noch ein wenig breiter werden ließ. „Aber sag mal…“, fuhr sie schnell fort, um die folgende peinliche Stille zu überbrücken. „Wollest du mir heute auf der Arbeit nicht was Wichtiges erzählen?“ Er seufzte. „Willst du jetzt wirklich über die Arbeit sprechen?“ „Ich bin eben neugierig!“ „Na gut…“ Er stellte sein Glas ab und blickte sie nachdenklich an, als müsste er sich einen Augenblick sammeln, bevor er anfing zu sprechen. Auf einmal wünschte sie sich nichts sehnlicher, als den Mund gehalten zu haben. Das ist ein Date, musstest du das Gespräch ernsthaft auf die Arbeit lenken? Dabei ist das sicher unter den Top 10 der Romantik-Killer… „Ich wurde für ein strenggeheimes Projekt ausgewählt.“ Sie blinzelte irritiert. „Was genau bedeutet das?“ „Dass ich nach Japan gehe. Mir wurde aufgetragen, mich eine Zeit lang als verdeckter Ermittler bei einer Verbrecherorganisation einzuschleusen.“ Aber der Dolch ist immer noch da… „Was? Aber warum du? Du könntest verletzt werden! Du könntest sogar sterben!“ Ich könnte dich verlieren, jetzt, wo sich gerade etwas aus uns entwickeln könnte. Ich könnte dich verlieren! Wie herrlich egoistisch diese Welt doch ist. „Es tut mir leid, Jodie. Außer mir hat keiner Erfahrung mit Japan, allein die sprachliche Barriere würde Probleme aufwerfen, die wir derzeit nicht brauchen. Mal abgesehen davon, dass sich ein Amerikaner womöglich von vornherein verdächtiger machen würde, als ein Einheimischer…“ „Aber du kannst nicht gehen!“ „Warum nicht? Es ist doch nicht für immer und danach…“ „Weil ich dich…!“ …liebe. Auf einmal veränderten sich seine Augen. Nein, nicht nur die, sein ganzes Gesicht schien sich zu verändern, schien zu schmelzen und fremde Züge anzulegen, wie eine zweite Haut, eine teuflische Maske. Nein, dachte sie, nein bitte, bitte nicht! Tu mir das nicht an! Ihr Herz pochte so laut, das sie glaubte, es würde jeden Moment in tausend Stücke zerbersten wie eine Zeitbombe. NEIN! Sie blickte in die blutunterlaufenen, toten Augen ihres Vaters, der sie spöttisch angrinste. „Du LIEBST mich? LIEBST mich? Haha, du kennst mich doch gar nicht! Du weißt doch gar nicht, wer ich bin, du arme, kleine, hilflose Jodie…“ Mit einem lauten Schrei schreckte sie hoch. Schwer atmend, als hätte sie auf einen Schlag jeglichen Sauerstoff aus ihrem Körper gepumpt, richtete sie sich vollständig auf und blickte hektisch um sich. Von ihrem Vater war keine Spur zu sehen, allerdings auch nicht von Shuichi. Sie war ganz allein. Erleichtert stellte sie fest, dass unter ihrem Arm ein Zettel eingeklemmt war, ein Zettel verschmiert von Speichel und halb getrockneter Tinte. Sie musste eingeschlafen sein, während sie den Brief geschrieben hatte und einen extrem merkwürdigen Traum gehabt haben. Merkwürdig, genau. Es ist einfach lächerlich, aberwitzig, absurd,… Trotzdem fühlte sie sich auf einmal unbehaglich, fast so, als wäre der Traum noch nicht vorbei, als würde ein Teil davon noch in ihrem Kopf spuken und die Hand ihres Vaters gleich auf ihrer Schulter liegen. Nicht die warme, liebevolle, die sie kannte, sondern eine tote. Eine Knochenhand. Und du sagst, du liebst mich? Wann warst du das letzte Mal an meinem Grab? Sollen wir die Toten nicht in Ehren halten? „Sei still.“, zischte sie und hätte sich dann am liebsten selbst geohrfeigt. Wie in aller Welt kam sie dazu, mit einem Geist, nein, mit einer Ausgeburt ihrer Fantasie zu sprechen? Es wurde wirklich Zeit, ihr Leben in den Griff zu bekommen - oder eine Zigarette zu rauchen. Für eine spontane Beruhigung war das vermutlich sogar dienlicher. Während sie auf dem Balkon stand und den tanzenden Nebelgestalten dabei zusah, wie sie eng umschlungen in die Finsternis glitten, wanderten ihre Gedanken unweigerlich zum angefangenen Brief zurück. War es nicht albern ihm einen Brief zu schreiben? Immerhin befand er sich vielleicht schon in der Organisation, wurde überwacht und würde durch sie auffliegen. Andererseits musste sie in dem Schreiben ja nichts von seinem Auftrag erwähnen, das wäre ohnehin schrecklich dumm gewesen. Einfach ein paar nette Worte von seiner Freundin, damit er sich nicht so einsam fühlte. Das war doch romantisch, oder nicht? Er würde das sicher zu schätzen wissen. Aber hatte Black ihnen nicht streng verboten, Kontakt zu haben? Konnte sie einfach eine Ausnahme machen? Nein, natürlich nicht. Sie würde den angefangenen Brief genauso verbrennen wie alle anderen, eigentlich wusste sie das bereits, wenn sie ihn begann, immerhin war es bei jedem Brief das gleiche. Schreiben… verbrennen… schreiben… verbrennen… Jeder normale Mensch hätte sie vermutlich für verrückt erklärt, aber irgendwie gab es ihr einen gewissen Halt. Es strukturierte ihre Tage, die ihr leer und unvollständig vorkamen, seit er gegangen war. Es war eine Art Tagebuch, dem sie alles beichten, alles anvertrauen konnte, während sie sein Lächeln vor sich sah und den Gedanken verdrängte, dass die Worte ihn niemals erreichen würden. Niemals konnte sie jemand lesen, denn sie wurden stets zu Asche, bevor sie sich der Welt offenbaren konnten. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Manchmal stimmte sie dieser Gedanke traurig, aber irgendwie hatte er auch etwas Beruhigendes, etwas Beständiges, das ihrem Leben genauso Rahmen und Rhythmus verlieh, wie ihr Beruf es tat. Es war ein Ritual, eine Gewohnheit, etwas, das jedem Menschen eine gewisse Befriedigung verlieh und ihm das Gefühl gab, gebraucht zu werden. Wenn ich jetzt gehe, wer soll ihm dann morgen schreiben? Manchmal war sie wirklich albern. Kapitel 2: Ars magna lucis et umbrae ------------------------------------ As far as it’s possible As far as it can be possible That nothing entirely fades Als sie am nächsten Morgen ihren Arbeitsplatz betrat, war die Hölle los. Nicht nur buchstäblich, wie es schien, denn die vollkommen irrationale herbstliche Hitzewelle erstickte jegliches Bemühen der Klimaanlagen. Die Fernsehmoderatoren und Talkshowgäste stritten sich schon seit Tagen, ob es sich nun um ein Naturphänomen oder nur die viel beredeten Folgen der Klimaerwärmung handelte. Dass alle wie aufgescheuchte Hühner durcheinanderliefen, machte es auch nicht besser. „Was ist denn hier los?“ immer noch sichtlich verblüfft, stellte sie ihren Kaffee auf den nächstbesten Tisch und schnappte sich ihre Kollegin und Freundin Annabell, die gerade mit einem Aktenstapel in der Hand vorbeihetzen wollte und so darauf bedacht war, nicht zu stolpern, dass sie sie komplett übersah. „Ist irgendwas explodiert oder was in aller Welt ist hier los?“ Es würde zumindest die Hitze erklären. Anna strich sich ein paar dunkelbraune Strähnen aus dem gebräunten Gesicht und seufzte. „Tut mir leid, ich weiß, ich hätte dich anrufen sollen. Es ist nur, du wirktest in letzter Zeit so abwesend und gar nicht wie du selbst seit Akai weg ist und James meinte…“ „Anna!“ „Es gibt einen neuen Serienkiller.“ Das geschäftige Huschen der Mitarbeiter schien genauso schlagartig erstarrt zu sein, wie der dauerhafte hektische Lärm verstummt. Nur die Hitze hing bleiern und schwer über ihnen, wie ein düsterer Vorhang, auf den die pralle Sonne unermüdlich vom Himmel knallte. „Bitte was?“ „Ich bin nicht für diesen Fall zuständig, weshalb ich nicht sonderlich viel darüber weiß, aber James meinte, er will dich sprechen deswegen.“ „Okay, ich gehe zu ihm.“ Bevor ihre Freundin etwas erwidern konnte, nahm sie ihr die Akte zum Fall aus der Hand, die sie inzwischen mühsam herausgefriemelt hatte und machte sich auf den Weg zu James Blacks Büro, wo sie von seiner Sekretärin, einer freundlich, aber leicht angespannt dreinblickenden jungen Frau, zum Konferenzraum weitergeleitet wurde. Was war hier nur los? Wie war es möglich, dass in so kurzer Zeit gleich zwei Serienkiller auf den Plan traten, nachdem die USA jahrelang von solchen Tätern verschont geblieben waren? Es passiert, wenn es eben passiert. Für manche Dinge gibt es keine Wissenschaft. Aber wir hassen das. Menschen hassen es, etwas nicht zu wissen. „Ms. Starling, was für eine freudige Überraschung.“ Ihr Boss klang durchaus freundlich, aber keineswegs restlos begeistert. Eher so, als wäre sie ein Kind, das gerade ein Bild gemalt hatte und er der Vater, der es nur aus Höflichkeit und Zuneigung lobte. „Wie fühlen Sie sich denn?“ „Großartig.“, lächelte sie schief und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Nur etwas verwirrt.“ „Es tut mir leid, ich wollte Sie erst persönlich sprechen, bevor ich Sie über den Fall informiere.“ Peinliche Stille. Wieso habe ich nur das Gefühl, dass mich alle anstarren? Zwar kannte sie alle Anwesenden in diesem Raum nur flüchtig, da viele in anderen Abteilungen tätig waren, aber dennoch hatte sie das Gefühl, dass alle wussten, wovon Black sprach. Dass man es ihr ansah, wie eine ansteckende Hautkrankheit oder eine riesige, eitertriefende Narbe. Sie wusste selbst, dass sie seit Shuichis Abreise viel an Vertrauen verloren hatte, sie wusste, dass sie sich seltsam verhalten hatte, aber es war doch nur eine Ausnahme gewesen! Sie mussten doch verstehen, wie sehr sie litt? Es war ihr so schwer gefallen, wieder Halt im Leben zu finden, sich sicher zu fühlen und glücklich zu sein und das, was ihr diese Gefühl gegeben hatte, war fortgegangen, weggetaut wie nasskalter, matschiger Schnee im Frühling. Nichts, als eine flüchtige Erinnerung an den Winter. Durfte sie denn nicht trauern? Wo ist mein Papa? Ich habe ihm Orangensaft gekauft… „Ist wirklich alles in Ordnung?“ „Natürlich.“ Eilig räusperte sie sich und rückte ihre Brille zurecht. „Es gibt also einen neuen Killer?“, versuchte sie hoffnungsvoll ihre Glaubwürdigkeit mit der einzigen Information zurückzugewinnen, die sie besaß. „So ist es.“ James Black nickte, wobei er sich die Stirn massierte, was immer ein schlechtes Zeichen war. „Wir wissen allerdings noch nichts Genaues, schon gar nicht, ob der Fall ähnliche Ausmaße wie der des Salamanders annimmt.“ Beim Namen „Salamander“ schienen sofort alle geflüsterten Gespräche, ja selbst die Atemgeräusche auf einen Schlag zu verstummen. Eine erdrückende Stille machte sich breit und Jodie musste erneut an eine schwere, tiefschwarze Decke denken, die Licht und Sauerstoff mit Leichtigkeit auszulöschen vermochte. Salamander. Das war der Name eines Serienkillers, der vor einigen Wochen wie aus dem Nichts aufgetaucht war und erbarmungslos Familien hingerichtet hatte, indem er ihre Häuser angezündet und ihre wehrlosen Körper zu Asche verbrannt hatte. Kinder, Mütter und auch Väter. Papa, Papa, ich hab dir Orangensaft mitgebracht! Du siehst so müde aus, so durstig… Alles, was zurückgeblieben war, war ein japanisches Zeichen mit der vielsagenden Bedeutung "Salamander", dem Namen des Mörders. Das und tausend Fragen, tausend schmerzvolle Schreie und die verständnislose Angst einer ganzen Nation, die wie gelähmt den Atem anhielt. „Könnte eine Verbindung zu Salamander bestehen?“, meldete sich eine dunkelhäutige Frau mit einem strengen schwarzen Dutt zu Wort. Sie musste ungefähr 35 sein und hatte ein markantes, aber durchaus hübsches Gesicht. „Kein schlechter Ansatz.“ Er bat sie, in der Akte ein paar Seiten weiterzublättern. „Zwar hat der Fall oberflächlich keinerlei Ähnlichkeit, aber ein paar kleine Details deuten sehr wohl darauf hin, dass es sich um eine Hommage an Salamander handeln könnte.“ Auch Jodie schlug jetzt die Akte auf, wobei ihr Blick erst einmal am ungewöhnlichen Titel der Ermittlungen hängen blieb, der ihr bislang überhaupt nicht aufgefallen war. In großen, schmucklosen Druckbuchstaben stand „LATERNA MAGICA“ auf dem ledernen Einband. Es dauerte fast drei Stunden, bis die Konferenz schließlich zu Ende war. Etwas, was einem bei gefühlten 40 Grad wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Erleichtert, es überstanden zu haben, füllte Jodie einen Pappbecher an einem Wasserspender und trank mit einem Schluck aus. Viele Erkenntnisse hatte es noch nicht gegeben, kein Wunder, immerhin hatten sie den Fall gerade erst aufgenommen. Anscheinend hatte es während der letzten zwei Wochen zwei Morde gegeben. Jeweils an den Wochenenden, einmal am späten Abend und einmal in der Nacht. Beide Male waren die Opfer mit einem Kopfschuss getötet worden, schnell und schmerzlos, eine Spuren von Folter oder Misshandlung. Sie wurden so umgebracht, wie ein Auftragskiller es tun würde, dachte sie schaudernd. Rein geschäftlich. Das einzig auffällige und das, worauf ihre Kollegin angespielt hatte, war ein Apparat, den man neben beiden Opfern gefunden hatte. Zwei Unterschiedliche Apparate, zwei unterschiedliche Opfer, aber die gleiche Signatur. Wie bei Salamander. Dieser Apparat wurde gemeinhin als „Laterna Magica“ bezeichnet, was auch den merkwürdigen Titel schnell erklärt hatte. Hierbei handelte es sich um ein Skioptikon, eine frühe Form eines Filmprojektors, der im 19. Jahrhundert dazu genutzt worden war, um Bilder und sogar erste bewegte Bilder, die in Richtung Kurzfilme gingen, an die Wände zu projizieren. Was muss das für ein Wunder für die Menschen damals gewesen sein? Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zu Mute war. Tief drinnen fühlte sie sich verwirrt, besorgt und ängstlich wie nie zu vor, ja beinahe panisch. Denn das alles war nicht wichtig im Vergleich zu dem, was diese Bilder gezeigt hatten, was der Killer ihnen mitgeteilt hatte. Ars magna lucis et umbrae, die große Kunst von Licht und Schatten. Das hatte in Großbuchstaben auf dem Boden gestanden, geschrieben im Blut der Opfer. Daneben hatte dieser furchtbare und gleichzeitig zauberhafte Apparat gestanden, auf dem unermüdlich die gleiche Bilderfolge ablief, wieder und wieder. Ein Mädchen verlässt ein brennendes Haus und zerfällt dabei langsam zu Staub. Papa, ich hab dir… „Hey!“ Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht loszuschreien. „Müssen Sie sich so an mich ranschleichen?“ „Tut mir leid, ich dachte, Sie sehen mich.“ Die Frau aus dem Konferenzraum zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Sie sehen blass aus.“ Sie musterte sie mit nachdenklicher Besorgnis. „Ja… ich, habe das alles erst heute erfahren, das war einfach viel auf einmal.“ „Sollten Sie das als FBI-Agentin nicht gewohnt sein?“ „Ich hatte noch nicht viel mit großen Fällen zu tun, ich war bislang eher für den Papierkram zuständig.“ Sie lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, ich wollte nicht zu direkt werden, das passiert mir immer wieder.“ Eine gepflegte Hand mit creme-weißen Nägeln streckte sich ihr entgegen. „Ich heiße Melinda Parker, nennen Sie mich einfach Mel.“ „Jodie.“ Sie ergriff sie. „Freut mich. Und das ist also ihr erster großer Fall?“ „Naja, ich helfe ab und zu beim Salamander-Fall, wenn Not am Mann ist, aber offiziell bin ich dort nur Hilfskraft und keine Ermittlerin.“ „Machen Sie sich keinen Kopf, der Fall ist vermutlich auch ein bisschen zu groß für eine Anfängerin.“ Natürlich war er das, daran bestand kein Zweifel. Deshalb versetzte es ihr auch immer einen kleinen Stich, wenn sie daran dachte, wer die Ermittlungen leitete. Sie freute sich für Anna, wie sollte sie auch nicht, sie war ihre beste Freundin. Allerdings beschlich sie manchmal, wenn sie allein war, ein komisches Gefühl. Vielleicht war es Neid, vielleicht Sorge, vielleicht eine seltsame Mischung von allem, eine spitzzüngige Kreatur, die ihr unermüdlich einflüsterte, dass Anna nicht älter war als sie, aber schon so viel erreicht hatte. Wo stehst du jetzt Jodie? Was willst du mit deinem Leben anfangen? Komm, mach dich nützlich und hol deinem Vater etwas Saft! „Da haben Sie Recht.“ Mel blickte auf die Uhr und lächelte dann freundlich. Jodie fiel auf, dass ihre Zähne leicht schief waren, aber keineswegs unattraktiv. Es verlieh ihr eher etwas Jugendliches und nahm dem Gesicht seine Strenge. „Sie sehen aus, als könnten sie einen Eiskaffee oder sonst etwas Kaltes gebrauchen und vielleicht etwas zu essen, damit die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrt. Lust darauf, in ein Café zu gehen? Ich kenne ein nettes ganz in der Nähe und wir haben ja ohnehin Mittagspause.“ „Gerne.“ Sie wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, so sehr hatte sie sich nach ein bisschen Normalität gesehnt, nach etwas, das nicht mit brennenden Häusern oder Leichen zu tun hatte, etwas, das die Stimme in ihrem Kopf, diese gackernde, spottende Stimme endlich verstummen lassen würde. Hast du…? Hast du…? Sie folgte ihr nach draußen, wo sie strahlender Sonnenschein erwartete und vergessen ließ, dass der Monat eigentlich für triste Herbsttage reserviert war. Shuichi Akai starrte gedankenverloren auf den Kaffee vor ihm, der ganz und gar nicht schmecken wollte. Es spielte keine Rolle, dass weder Zucker noch Milch darin waren, auch vielleicht auch nicht so sehr, dass er verdächtig klar und flüssig war, wie schmutziges Flusswasser. Das eigentliche Problem lag zweifellos woanders. Er war nun schon seit zwei Wochen Tokio, ohne die geringste Chance gehabt zu haben, die Organisation zu kontaktieren. Immer wieder geriet er an zwielichtige Typen, die behaupteten, sie könnten ihn weiterleiten, aber am Ende blieb nicht einmal mehr der kleinste Rest an Wahrheit übrig. Manche machten sich einen Spaß, andere waren neugierig, erhofften sich Geld oder anderweitig belohnt zu werden, wenn sie einem Idioten dabei halfen, seine eigene Hinrichtung vorzubereiten. Denn das hatten sie ihm ohne Ausnahme ziemlich klar deutlich gemacht. Wenn sie dir nicht hundertprozentig vertrauen und glauben, dass du für sie durchs Feuer gehen würdest, dann bist du tot. Mausetot und keinen Cent mehr wert. Nicht, dass er das nicht schon vorher gewusst hatte. Während all seiner Ermittlungen hatte er vor allem eines gelernt: Sie brechen alle Brücken ab. Keinem von ihnen wäre eingefallen, eine Spur zu interlassen oder schlampig zu arbeiten, selbst der kleinste Fehler, ein scheinbar bedeutungsloses Malheur konnte den Tod bedeuten und das wussten sie. Deshalb jagten sie wie Nachtmare durch die Köpfe ihrer Gegner, lautlos und tödlich, während ihre schwarzen Mäntel zumindest vor der Justiz weiß wie Schnee waren. Aber er würde einen Weg finden, das wusste er. Er würde es irgendwie schaffen, sie zu überlisten oder sich ihr Vertrauen erschleichen, er, Shuichi Akai, dem noch niemals eine Mission missglückt war. Ohne es zu wollen, ließ ihn dieser Gedanke lächeln. Nein, nicht mit mir. Als er aufstand und die matschbraune Brühe zahlte, ohne sie getrunken zu haben, ahnte er nicht, dass seine Chance, die Organisation zu erreichen, kaum weiter entfernt war, als der Flügelschlag der Krähe, die sich krächzend vom Dach des kleinen Lokals erhob und seinen Blick für einen kurzen Augenblick von seinem Weg ablenkte. Kapitel 3: Januskopf -------------------- In the Valley A few pebbles Rolling over the lakeshore Grains of sand tossed into the air Beginning on the deepest ground To become weightless Light Er sah den Wagen nicht kommen. Die Krähe auf dem Dach, die ihn auf seltsame Weise an die Organisation erinnerte, in deren Fänge er sich freiwillig begeben wollte, wie in die sprichwörtliche Höhle des Löwen, hatte ihn zu sehr abgelenkt. Jede ihrer Bewegungen hatte er verfolgt, die Art, wie sie sich putzte, die Flügel ausbreitete und sich schließlich federleicht in die Lüfte erhob, die starren Augen tödlich und kalt. Und trotzdem hatte er es nicht kommen sehen. „Oh mein Gott, geht es Ihnen gut?“ „…Was?“ Zwei Lichter, wie zwei riesige Augen, ein stechender Schmerz… „Ein Glück, Sie sind wach! Es tut mir leid, ich…“ Die Frauenstimme, die aus der Finsternis zu ihm drang, war den Tränen nahe. …und eine Krähe. Langsam öffnete er die Augen. Er lag immer noch auf der asphaltierten Straße und sein Körper fühlte sich an, als hätte jemand ihn als Sandsack missbraucht. Stöhnend versuchte er sich aufzurichten und sah schon nach wenigen Zentimetern ein, dass es eine schlechte Idee war. Müde ließ er sich zurück auf den schmutzverkrusteten Teer sinken und blickte stattdessen hoch zu der Frau, die sich über ihn gebeugt hatte. „Jodie…?“ Er blinzelte. Nein, das konnte nicht sein. Jodie war in den USA geblieben, sie war sicher immer noch dort, natürlich, sie durfte ihn ja nicht sehen. Es war gegen die Vorschriften. Wann kommst du wieder? Bald… Aber ich vermisse dich! Je länger er sie ansah, desto deutlicher veränderte sich ihr Aussehen. Das schulterlange, ständig zerzauste blonde Haar, durch das er so gerne mit seinen Händen fuhr, fiel ihr nun lang und in seidigem Schwarz über die schmalen Schultern. Ihre Augen waren immer noch blau, aber wirkten runder, kindlicher und die Brille, die sie ständig vergaß und anschließend verzweifelt suchte, war verschwunden. „Nein, ich… mein Name ist Akemi. Es tut mir leid, wirklich, ich… mein Auto…“ Da waren sie, die Tränen. Unermüdlich begannen sie wie kleine Bäche aus den Kulleraugen zu fließen und tropften herab auf sein Gesicht. „Es ist schon gut, ich…“ Bevor er diesen Satz beenden konnte, merkte er, wie die Schwärze zurückkehrte und sich erneut über ihn legte, als wären es keine Tränen, die auf ihn hinabregneten, sondern pechschwarze Federn. Wo ist die Krähe? Wo ist sie? Zuerst nur ein bedrohlicher Schatten in seinen Augenwinkeln, breitete sich die Dunkelheit mit rasender Geschwindigkeit aus und ließ ihn erneut die Besinnung verlieren, noch bevor er diesen absurden Gedanken vollständig begriffen hatte. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vieles in meinem Leben kommt mir durcheinander vor, so schrecklich durcheinander und ich habe Angst, dass es nie wieder in Ordnung kommt. Was, wenn dieses Chaos einfach bleibt? Was, wenn es sich einnistet wie Ungeziefer und alles, was ich liebe, langsam auffrisst? Ich habe Angst. Seit du nach Japan gegangen bist, ist viel passiert. Ich weiß nicht, was du dort tust und das ist irgendwie ein komisches Gefühl, da ich doch auch sonst wenig über dich weiß. Ich kenne dein Lieblingsessen, aber ich weiß nicht, wo du geboren wurdest. Ich weiß, dass du gut schießt, aber ich habe keine Ahnung, wer es dir beigebracht hat. Wer bist du, Shuichi Akai? Woher kommst du? Würdest du mir diese Fragen beantworten? Vermutlich fragst du dich, warum ich gerade jetzt mit der Vergangenheit anfange. Sollten wir sie nicht besser ruhen lassen? Wenn du wüsstest, was hier geschieht, würdest du es verstehen. Dieses Chaos, das ich zu Beginn des Briefs angesprochen habe, hat eine Omnipräsenz, die mich erschreckt. Es gleicht einer tiefschwarzen, bitterbösen Kreatur, die mit tausend Armen nach uns greift und uns um jeden Preis verwirren will. Ich habe das Gefühl, dass dieses Wesen mir schon öfter begegnet ist, ja vielleicht sogar, dass es immer da war. Ein stummer Begleiter, ein dunkler Gefährte, der uns in ein Schicksal führt, das wir nicht kontrollieren können, vielleicht auch in unser Verhängnis, aber das können wir momentan noch nicht einmal erahnen. Ein neuer Killer ist aufgetaucht. Wir wissen nicht, wer er ist, oder woher er kommt. Nicht einmal, was seine Intention ist. Ist er genauso wie Salamander? Ist er wie Pantomime? Oder ist er vollkommen anders? All diese Namen haben Schrecken über uns gebracht und unendlich viele Schmerzen. Wie wird sein Name lauten? Alles, was wir wissen, ist, dass er diese Apparate liebt, die „LATERNA MAGICA“. Black meint, er spielt mit ihnen, er will uns etwas mitteilen, ja vielleicht sogar eine Art Kunstwerk erschaffen – oder er will Kontakt zu Salamander aufnehmen. Ich weiß nicht, welcher Gedanke unheimlicher ist. Aber das ist bei Weitem nicht das Erschreckendste. Da ist noch etwas anderes. Etwas, das mich fast den Verstand verlieren lässt und mir das Gefühl gibt, ich könnte keinen weiteren Atemzug tun, wenn du nicht zu mir zurückkehrst. Ich glaube, der Mörder kennt mich. „Solltest du nicht arbeiten?“ „Uwahh…!“ Hastig ließ sie den Brief unter einem Blätterstapel verschwinden und blickte sich vorwurfsvoll um. „Ehrlich mal, du kannst dich nicht immer so anschleichen, das ist unheimlich!“ Melinda lache nur. „Tut mir leid, deine Freundin meinte, du seiest noch im Büro und da hatte ich natürlich erwartet, dass du strebsam vor dich hinarbeitest.“ „Anna?“ „Jup, das Salamander-Mädchen.“ Sie nahm sich einen Apfel von Jodies Schreibtisch und biss genüsslich hinein. „Nenn sie nicht so!“ „Ach je, heute sind wir aber empfindlich.“ Sie seufzte resigniert. „Ich bin einfach etwas angespannt, wegen diesem neuen Fall und der Hitze, ich habe das Gefühl, ich muss in einem Backofen ermitteln.“ Nun lachten sie beide. „Oder in er Hölle. Ich weiß, was du meinst. Deshalb ist es wichtig, dass du dir ab und zu eine Pause gönnst. Lust heute wieder in das gleiche Café zu gehen? Ich bin sicher, wenn wir das öfter machen, kriegen wir irgendwann Stammgast-Rabatte.“ Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Na gut, warum nicht.“ Ich hätte den Brief ja sowieso nicht abgeschickt. Wenig später saßen sie zusammen im „Antonio“, einem kleinen Italiener nicht weit von ihrer FBI-Dienststelle und tranken Kaffee. „Der ist wirklich nicht übel.“ Melinda nahm noch einen großen Schluck und lehnte sich dann entspannt zurück. „Aber nun zu dir.“ „Soll das etwa ein Verhör werden?“, scherzte Jodie etwas unbehaglich und rückte ihre Brille zurecht, die in letzter Zeit immer öfter dazu neigte, zu verrutschen. Sie würde das Gestell wohl bald reparieren lassen müssen. „Nein, nicht direkt zumindest. Ich möchte einfach wissen, wieso dich dieser Fall so mitnimmt. Natürlich ist das alles aufregend für einen Neuling, aber ich habe eher das Gefühl, er ängstigt dich.“ „Klar tut er das, es geht schließlich um einen psychisch gestörten Killer.“ Ein älterer Herr am Nachbartisch blickte neugierig von seiner Zeitung auf. Hastig senkten sie die Stimmen. „Das macht uns allen Sorgen. Aber bei dir habe ich irgendwie das Gefühl, dass es dich anders belastet, fast so, als würde dich das Ganze persönlich betreffen.“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Kanntest du eines der Opfer?“ Vor Schreck hätte sie sich fast verschluckt. „W-was? Nein, wirklich nicht! Ich bin einfach etwas nervös, weil das mein erster großer Fall ist und ich es nicht versauen möchte.“ Beinahe schien es, als würde Mel weiterbohren, doch dann lächelte sie plötzlich wissend. Jodies Gesichtszüge erstarrten in furchtsamer Erwartung augenblicklich zu Eis. „Es ist wegen Anna, nicht wahr?“ Erleichterung. Die Kältestarre fiel langsam von ihr ab und sie brachte sogar ein Nicken zustande. „Das dachte ich mir. Es nagt an dir, dass ihre Karriere pfeilschnell nach oben geht, während du immer noch das Bürohäschen bist, nicht wahr?“ „Naja…“ „Schon gut, jetzt kannst du es ja zugeben. Aber keine Sorge, das kommt noch. „Laterna Magica“ wird dein Fall!“ Sie lächelte. „Danke, Mel.“ „Keine Ursache.“ Nachdem sie gezahlt hatten, schlenderten langsam zum FBI-Gebäude zurück. Gerade, als sie es betreten wollte, ergriff Mel jedoch ihren Ärmel und hielt sie fest. Irritiert drehte Jodie sich um. „Warte.“ „Was ist denn?“ Jodie musterte ihre Kollegin beunruhigt. Irgendwie hatte sie manchmal etwas Seltsames an sich, etwas, das beunruhigend anders war. Vermutlich war dieser Gedanke lächerlich, doch auch jetzt sah sie in Melindas Blick etwas, das sofort Unbehagen bei ihr hervorrief, als wäre sie eine Fliege, die ein beinahe durchsichtiges Netz in der Luft funkeln sah. „Weißt du wer Janus ist?“ Papa, ich hab dir Orangensaft mitgebracht, komm, trink ihn mit mir! „Nein…“ „Schade, dieser Name ist mir gerade so im Kopf rumgespukt, aber ich komm einfach nicht drauf, wer das war.“ Ein breites Lächeln auf den Lippen, zog sie Jodie nach drinnen. Ihre Mittagspause war vorbei. Janus. Römischer Gott des Anfangs und des Endes. Ein Auge steht’s auf die Zukunft gerichtet und das andere… …auf die Vergangenheit. Kapitel 4: Die Kunst des Tötens ------------------------------- For children and old people Dream and truth are one And who will protect Those who love? Atemlos. Ich glaube, dieses Wort beschreibt das Gefühl am besten. Wir alle starren darauf, gelähmt, unfähig uns zu bewegen, fassungslos über das, was Unsresgleichen hervorbringen kann. Ars magna lucis et umbrae. Und das soll Kunst sein? Der Flur ist blutverschmiert, vereinzelte Buchstaben, vielleicht Worte, vielleicht lautlose Schreie sind auf dem Boden verstreut, über ihnen tanzen die grausamen Bilder. Nachtmare, finstere Geister, die nachts auf unserer Brust sitzen und uns die Träume aussaugen. Ich weiß nicht, was die anderen darin sehen. Für sie ist es womöglich ein leerer Schrecken, eine Maske ohne Körper, eine Prophezeiung einer ungewissen Zukunft oder die Rache einer längst vergessenen Vergangenheit. Wie nah das doch der Wahrheit käme... Aber es ist noch viel mehr. Was mir wirklich Angst einflößt, mir den Atem raubt, ist die Botschaft, die sich dahinter versteckt. Eine spöttische, übermächtige Botschaft, die mir zeigt, dass es kein Entrinnen gibt. Ich kann nicht mehr weglaufen. Eher friert die Hölle zu. Dieses Sprichwort, das Jodie gerade in den Sinn kam, beschrieb nur zu gut, was der Killer aus dem FBI-Büro gemacht hatte. Keine Spur mehr vom hitzigen Treiben, der Aufregung, der knisternden Elektrizität. Alles war zu Eis erstarrt. Lediglich die Temperaturen waren gleich geblieben, doch trotz der brühenden Hitze, fröstelte sie plötzlich. Vor ihr wurden auf großen Leinwänden gerade die Bilder der neusten Opfer des Killers vorgeführt. Zwei neue Opfer. Zwei Menschen, die sterben mussten. Wie viele werden es noch sein? Ist es meine Schuld? Es war immer das gleiche Prinzip. Eine sauber geschlachtete Leiche, die regungslos und blutend auf dem Boden ihres trauten Heimes lag, davor in blutigen Lettern die grausige Signatur des Künstlers. Untermauert wurde das tragische Schauspiel durch den tonlosen Singsang der Laterna Magica, deren Bilder wie Geister über die Toten zu wachen schienen. „Beschäftigen wir uns doch mit den Motiven.“ Bitte nicht. „Bei den beiden ersten Opfern fand sich die gleiche Bilderfolge, ein Mädchen, das ein brennendes Haus verlässt. Womöglich könnte es sich hierbei um eine Botschaft an Salamander handeln, vielleicht weiß der Killer etwas über seine oder ihre Vergangenheit.“ „Sie glauben, es könnte das Ereignis sein, das Salamander zu einem Feuerteufel werden ließ?“, fragte Mel scharfsinnig. Black nickte nur. „Es wäre zumindest eine Möglichkeit, allerdings beschäftigen sich damit die Agenten, die ich mit diesem Fall betraut habe. Wir sollten unseren Fokus nur auf unseren kleinen Künstler legen. Warum könnte er Salamander kontaktieren wollen?“ „Vielleicht bewundert er ihn?“, meldete sich ein anderer Agent zu Wort. „Man kann ihn nicht direkt als Nachahmungstäter ansehen, weil er seinen Tatort vollkommen anders aufbaut – viel künstlerischer und inszenierter als Salamander, aber er könnte ihm mit den Bildern etwas sagen wollen.“ „Oder er droht ihm. Wenn er wirklich etwas aus seiner Vergangenheit zeigt, dann könnte das eine Herausforderung sein, eine Botschaft, die sagt „Ich weiß, wer du bist und ich kann mit dir spielen. Ich habe dich in der Hand.“ Jemandem wie Salamander, dem es vor allem darum geht, die Polizei herauszufordern und Schrecken zu verbreiten, dürfte das sicher nicht gefallen.“ Ich weiß, wer du bist… „Kein schlechter Einfall. Was lässt sich über die Technik sagen?“ „Es handelt sich um neue Apparate, die die alten Modelle imitieren. Ich vermute stark, er baut sie sich selbst, da es so etwas nicht mehr zu kaufen gibt. Er muss also technisch sehr versiert sein.“ Black wandte sich an den südländisch wirkenden Agenten, der neben ihm saß. „Überprüfen Sie bitte welche Materialen für die Apparate verwendet wurden und finden Sie heraus, wer in letzter Zeit die benötigten Bauteile vollständig und unter Umständen in größeren Mengen eingekauft hat.“ Der Mann nickte und verließ den Raum, während die Gutachterin fortfuhr. „Er benutzt gemalte Bilder – was auf ein künstlerisches Talent hindeuten könnte und somit auch dazu passt, dass er sich selbst als Künstler sieht – und macht sich bei seiner Projektion das phi-Phänomen zunutze. Das ist eine optische Täuschung, die uns bei vielen aufeinanderfolgenden Standbildern eine Bewegung sehen lässt. Zwei Phasenbilder werden hier wechselseitig mit Masken bedeckt und somit wird bei einer schnellen Folge die Illusion einer vollständigen Bewegung erzeugt.“ „Nun gut, wir wissen also, dass er sich sehr gut mit Technik auskennt und voraussichtlich in letzter Zeit viel Baumaterial eingekauft hat. Deshalb ist er ziemlich sicher auch handwerklich geschickt und künstlerisch begabt, die Art, wie er die Morde inszeniert, zeugt von einer gewissen Eitelkeit, sodass ich sehr stark dazu tendiere, zu glauben, dass er alles selbst macht.“ „Das glaube ich auch.“, bestätigte Mel, die sich bei den Konferenzen generell sehr hervortat. Normalerweise teilte Jodie ihren Ehrgeiz, aber momentan hatte sie das Gefühl, der Boden könnte jeden Augenblick unter ihren Füßen wegbrechen, sodass ihr nichts weiter zu tun blieb, als sich in die Tischplatte zu krallen und zu hoffen, dass das Schwindelgefühl jeden Augenblick nachlassen würde. „Ich denke, er hält sich selbst für eine Art Gott. Einen Künstler, der allen überlegen und in der Lage ist, die Wirklichkeit nach seinen Vorstellungen zu formen. Latein war früher auch eine elitäre Sprache, die dem gemeinen Volk nicht zugänglich war, sodass er sie vermutlich gewählt hat, um seine Erhabenheit noch einmal zu unterstreichen.“ Auch dieser Einwand wurde sofort in der Akte vermerkt, die sich langsam mit allerlei Theorien gefüllt hatte. Und doch war keine befriedigende Antwort dabei. Warum? „Was ist mit den letzten beiden Bildfolgen?“ „Sie sind beide ähnlich wie die erste. Die, die beim dritten Opfer gefunden wurde, zeigt ein brennendes Stück Holz, das zu Boden fällt und ein ganzes Haus in Flammen aufgehen lässt. Hier findet sich also wieder das Feuermotiv.“ „Was ist mit dem letzten Bild?“ „Das lässt uns glauben, dass der Täter eine Art Geschichte erzählen will, die Motive hängen zweifellos irgendwie zusammen. Die letzte Laterna Magica hat ein Mädchen mit ihrem Vater gezeigt…“ Jodies Augen weiteten sich. Anstatt zu verschwinden, schien das Gefühl sich nun in jedem ihrer Glieder auszubreiten und ihr die Sinne zu rauben. Schwarze Flocken schienen ihren Blick zu vernebeln und alle Stimmen klangen dumpf und fern, als würden sie durch einen Tunnel zu ihr sprechen. Als würde Asche auf mich regnen. Als würde sie mich einfach bedecken… …und langsam ersticken. „…am Ende gehen die beiden schließlich in Flammen auf.“ „Gut, das wäre es fürs Erste.“, seufzte Black mit einem Blick auf seine Uhr. „Machen wir mal eine halbe Stunde Pause und entspannen uns etwas, vielleicht können wir dann alle etwas klarer denken.“ Während sie den Raum verließ, warf Jodie noch einen letzten Blick auf den Projektor, der ähnlich wie die Laterna Magica es getan hatte, immer noch die Bilder an die Wand des Konferenzraumes projizierte. Sie wünschte, sie hätte es nicht getan. Am liebsten hätte sie geschrien, doch ihre Kehle war so rau und trocken, das sie fürchtete, sie würde zerbersten wie Glas, wenn sie auch nur einen einzigen Ton von sich gab. Vor ihr, in der Hand des kleinen Mädchens, des kleinen, blonden Mädchens, sah sie deutlich eine Flasche mit einer gelblichen Flüssigkeit. Orangensaft. Das Mädchen war sie. „Jodie? Alles in Ordnung?“ „Ja, mir geht es…“, doch noch bevor sie diesen Satz beenden konnte, wurde ihr schwarz vor Augen. Ich kann nicht mehr weglaufen. „Da bist du ja wieder.“ Er lächelte freundlich. „Ist es nicht ein bisschen seltsam, dass man jemanden, den man angefahren hat, ständig besucht?“ „Ich finde es selbstverständlich.“ Sie stellte einen frischen Blumenstrauß auf seinen Nachtisch und legte den alten, der ebenfalls von ihr stammte, vorsichtig in den Mülleimer. „Außerdem unterhalte ich mich gerne mit dir.“ Er setze sich ein wenig auf, was mittlerweile schon recht gut klappte. Der Großteil seiner Verletzungen war bereits verheilt. „Gute Nachrichten, sie werden mich bald entlassen.“ „Behauptest du das nur wieder oder stimmt das diesmal?“, sie kicherte. „Habe ich jemals gelogen?“ „Natürlich nicht.“ Sie zwinkerte amüsiert und öffnete das Fenster, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen. Aber ich sage dir auch nicht die ganze Wahrheit. Wieso kam ihm auf einmal Jodie in den Sinn? Irgendwie versetze ihm der Gedanke an sie einen leichten Stich, als hätte er sie im Stich gelassen, dadurch, dass er nach Japan gegangen war. Und jetzt betrüge ich sie, dachte er mit einem Blick auf Akemi. Blödsinn. Ich bin geschäftlich hier und das weiß sie. Akemi hat mich angefahren und kümmert sich jetzt aus Pflichtbewusstsein um mich. Aber warum fühle ich mich dann so schuldig…? Hastig verdrängte er den Gedanken und wandte sich ab. „Was hältst du davon?“ „Was?“, erschrocken stellte er fest, dass er überhaupt nicht bemerkt hatte, dass Akemi etwas gesagt hatte. Viel zu sehr war er in seine Überlegungen vertieft gewesen. Sie lachte unsicher. „Ach, schon gut, es war ohnehin albern.“ „Sag’s mir trotzdem. Ich verspreche, ich lache auch nicht.“ „Das ist es nicht, ich…“ Er hob die Augenbrauen und sie errötete ein wenig. Gegen seinen Willen musste er zugeben, dass sie dabei richtig niedlich aussah. Allgemein hatte sie so etwas Kindliches an sich, etwas Unschuldiges, von dem er ungewollt fasziniert war. „Ich dachte, wenn du bald entlassen wirst, könnten wir ja vielleicht einen Kaffee zusammen trinken.“ Er lächelte. „Das ist eine fabelhafte Idee. Aber ich würde sagen, es ist nur fair, wenn du zahlst, sieh es als Schmerzensgeld an.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Okay!“ Warum fühle ich mich dann so schuldig? Kapitel 5: Alte Wunden ---------------------- The sad, the lonely, the insatiable, To these old night shall all her mystery tell; God’s bell has claimed them by the little cry Of their sad hearts, that may not live nor die. Ich wünschte wirklich, du wärst jetzt bei mir. Ich habe das Gefühl, je näher wird dem Mörder kommen, desto weiter entferne ich mich von mir selbst – oder finde ich mich dadurch? Vielleicht einen einsamen, verzweifelten Teil von mir, tief verschlossen im dunkelsten Winkel meines Herzens, den ich längst vergessen habe? Ist es das was er will? Alte Wunden aufreißen, alte Verbrechen anklagen und die Schuldigen ans Licht zerren? Oder macht er sich darüber lustig, dass wir es damals nicht konnten? Dass mein Vater nicht dazu in der Lage war? Alles verschwimmt vor meinen Augen, vermischt sich zu einem Gischt spuckenden Strudel aus Unglauben und Angst, dessen Sog mich in die Tiefe zerrt. Ich habe heute Nacht sogar von ihm geträumt, das glaube ich zumindest. Ich war das kleine Mädchen von damals, ich lachte und war glücklich. „Papa, ich bring dir Orangensaft!“ Doch mein Vater war nicht mehr da. Seine Augen traten aus den Höhlen und liefen in langen, schneeweißen Bahnen an seiner Haut hinab. Doch die gab es nicht mehr – Alles an ihm war schwarz, schwarz von verkohlt, der Bauch aufgerissen, die Adern blutleer, die Gedärme verschrumpelt wie ausgetrocknete Regenwürmer und dennoch war er nicht tot. Er sah mich mit seinen leeren Höhlen an und lächelte, er lächelte und sagte… Ein lauter Knall ließ sie zusammenzucken. Anscheinend hatte sie in der Eile, in der sie das Blatt Papier von sich geschoben hatte, eine Vase vom Tisch gestoßen. Mit immer noch zitternden Fingern begann sie, die Scherben aufzusammeln. Eigentlich hatte sie nicht über den Traum schreiben wollen, zumindest nicht, bevor sie ihn richtig verarbeitet hatte. Als sie heute Morgen aufgewacht war, war ihr Gesicht aschfahl gewesen. Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen, sie hatte es gerade noch so geschafft sich am Bett abzustützen und den sicheren Sturz so zu verhindern. In ihrem Kopf hatte es gewummert wie bei einem starken Kater und der Blick in den Spiegel hatte tiefe Schatten unter den Augen und vollkommen blutleere Lippen offenbart. Was für ein schrecklicher Traum. Aber es war nicht verwunderlich, wenn man bedachte, in welchem Zustand sie gewesen war, nachdem Mel sie nach Hause gebracht hatte. Zunächst hatte sie protestiert, doch natürlich traute niemand dem Urteil einer jungen Frau, die zumindest laut Mel aussah „als wäre sie gerade dem Tod persönlich begegnet“. Somit hatte man sie entgegen ihres halbherzigen Versuchs zu widersprechen, heimgebracht und gebeten, sich zu erholen, bis es ihr besser ging. Sie ärgerte sich über das was passiert war. Immerhin musste es unweigerlich so wirken, als wäre sie noch zu jung und unerfahren für diesen Fall, als käme sie nicht damit klar, sich tagtäglich mit der kranken Psyche eines Mörders zu befassen. Aber das stimmte nicht. Jodie wusste, dass sie bereit für einen solchen Fall war. Sie hatte schon mehrere Mordermittlungen geleitet und ein Serienmörder war zwar etwas Besonderes, aber dennoch gehörte er zu der gleichen Spezies und ließ sich mit den gleichen Mitteln bekämpfen. Was ihr diesen Fall so schwer machte, war etwas anderes. Sie zweifelte nicht mehr daran, dass der Killer irgendeine Verbindung zu ihr hatte, sie vielleicht kannte oder als Kind Kontakt zu ihr gehabt hatte. Aber was wollte er von ihr? Rache? Aber wofür? Sie war doch nur ein Kind gewesen, ein unschuldiges Kind. Sie hatte nichts getan. Deshalb haben sie mich laufen lassen. „Argh…“ Der Schmerz schoss wie ein Pfeil durch ihren Körper. Dort, wo die Scherbe in ihren Finger geschnitten hatte, quoll dunkelrotes Blut hervor und tropfte langsam zu Boden, genauso, wie es die Augen ihres Vaters getan hatten. Panisch wischte sie es weg und stolperte in die Küche, um sich ein Pflaster zu holen. Reiß dich zusammen, Jodie. Das ist nur ein kleiner Schnitt, keine große Sache für eine FBI-Agentin. Doch es fiel ihr schwer sich zu beruhigen, nachdem das Blut sie so deutlich an den Traum erinnert hatte, den sie mit aller Kraft vergessen wollte. In letzter Zeit hatte sie immer häufiger solche Träume, schrecklich reale Augenblicke, die wirkten, als wären sie einem Horrorfilm entsprungen, nicht aber ihrer Gedankenwelt. Diese scheinbar unterdrückte Grausamkeit, die ihr Herz aufwühlte, machte ihr fast noch mehr Angst als der Mörder und seine mysteriöse Verbindung zu ihr. Immerhin hatte sie jetzt einen Anhaltspunkt, was ihn anging. Nachdem sie alle Splitter aufgesammelt und den Boden gewischt hatte, setzte sie sich zurück an den Schreibtisch und fuhr ihren Laptop hoch. Je schneller dieser Irre gefunden war, desto schneller würde auch bei ihr wieder Normalität einkehren, dessen war sie sich sicher. Sie hatte zwar noch keine Gelegenheit gehabt, das FBI einzuweihen und es wäre vermutlich klüger gewesen, das vorher zu tun, damit mehr Leute auf die Spur angesetzt werden konnten, doch sie verdrängte den Gedanken wieder. Zwar war sie sich sicher, dass Mel Unrecht hatte, mit dem, was sie im Restaurant gesagt hatte, doch sie kam nicht umhin, zuzugeben, dass die Idee ihr gefiel, dass ausgerechnet sie, Jodie Starling, das Rätsel um den geheimnisvollen Serienkiller lösen konnte. Falls ich mich irre, ist es ohnehin besser, die anderen nicht lange aufgehalten zu haben, überlegte sie. Sie würde ihnen die Spur erst präsentieren, wenn sie erste Fortschritte gemacht hatte. Auf den, bis auf den Browser leeren, Bildschirm starrend, ging sie in Gedanken noch einmal durch, was sie wusste. Er ist intelligent, ein Künstler, handwerklich begabt. Er ist womöglich größenwahnsinnig, hält sich für etwas Besseres und inszeniert seine Morde als Kunst. Seine Laterna Magica erzählen eine Geschichte, eine Geschichte, die mit mir zu tun hat. Zeigt er das Feuer von damals? Zeigt er den Mord an meinem Vater? Kennt er die Schuldigen? Angestrengt durchforstete sie ihr Gehirn nach Bekanntschaften ihres Vaters, die sie auch kennengelernt hatte. Natürlich wusste sie nicht, wer von ihnen vom FBI gewesen war und wer nicht, aber sie bezweifelte ohnehin, dass der Mörder ein ehemaliger Agent war. Warum wusste sie selbst nicht genau, aber irgendwas ließ sie glauben, dass der Mörder auf der anderen Seite stand, dass er etwas mit ihnen zu tun hatte. Wie sonst soll er von dem Saft wissen? Ihre Augen, die so angestrengt waren, als hätte sie eine vollkommen schlaflose Nacht hinter sich, wanderten hektisch über die Zeilen des Artikels. Man hatte nicht allzu viel über den Tod ihres Vaters verfasst, seine Mörder waren zweifellos gründlich gewesen. Für die Öffentlichkeit war es ein Unfall gewesen, verursacht vielleicht durch eine brennende Kerze, eine Zigarette – wer konnte das schon so genau sagen? Ein Verbrechen hatte man kurzzeitig in Betracht gezogen, doch da keine Hinweise gefunden wurden, musste man von einem Unfall ausgehen, obgleich viele seiner Kollegen sicher anders gedacht hatten. Als Beweis hatte man schließlich gesehen, dass das Kind noch am Leben war, ein Mörder hätte sicher alle Hausbewohner getötet oder sich zumindest vor dem Feuer legen vergewissert, dass alle im Haus waren, um zu verhindern, später von einem Zeugen identifiziert werden zu können. Zwar hatte es immer noch die Möglichkeit gegeben, dass das Kind bereits außer Haus gewesen war und der Mörder es gesucht, aber nicht gefunden hatte, doch da es genug andere Verbrechen gab, die es zu lösen galt, musste man diesen Fall schnell zu den Akten legen und er war bald vergessen. Aber nicht für sie. Gnädigerweise hatten sie sich zwar erbarmt, das Mädchen von damals in ein Zeugenschutzprogramm zu stecken, mit einem neuen Namen und einer neuen Identität, damit das Phantom dieses Mörders, an den niemand so recht glauben wollte, sie nicht finden konnte, doch das war ein schwacher Trost bei all den Opfern, die sie hatte bringen müssen. Es hatte Zweifel gegeben, es hatte Nachforschungen gegeben, aber letztendlich war es umsonst gewesen. Es hatte nichts geändert. Behutsam öffnete sie die Schublade zu ihrer Linken und holte eine altmodische Brille heraus, deren schwarzes Gestell leicht verbogen war. Es fühlte sich sonderbar kalt auf ihrer Haut an, unangenehm, als versuche es, sich gegen die Berührung zu wehren. Doch schon wenige Augenblicke später passte es sich ihrer Körperwärme an und sie hatte das Gefühl, das Gestell würde mit ihr verschmelzen und auch die Anstrengung in ihren Augen ließ deutlich nach. A secret makes a woman woman. Es sind Geheimnisse, die eine Frau begehrenswert machen, nicht wahr? Geheimnisse… Das schrecklichste aller Geheimnisse hast du mir aufgebürdet, dachte sie bitter. Das Wissen, um ein Verbrechen, das ich niemals beweisen können werde. Das Wissen, dass mein Vater ermordet wurde und der Schuldige immer noch frei rumläuft, während er unter der Erde verfault. „Was machst du denn nun genau beruflich?“ Er lächelte sie, wie er glaubte, warmherzig an. Je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto bewusster wurde ihm, wie seltsam steif und angespannt er sich in letzter Zeit gefühlt hatte. Selbst Jodie hatte es nicht ganz geschafft dieses Gefühl, das über ihm hing wie eine düstere Vorahnung, von ihm zu nehmen. Sie errötete leicht, was ihn etwas überraschte und druckste ein wenig herum. Einen Moment lang glaubte er fast, sie würde irgendetwas Anrüchiges sagen, was einen beinahe absurden Kontrast zu ihrem Auftreten gebildet hätte, doch glücklicherweise geschah nichts dergleichen. „Ich bin in einer Bank tätig und erledige dort den Papierkram.“ Ein unsicheres Lächeln erschien auf ihren Lippen. Er überlegte kurz, sie zu fragen, warum sie gezögert hatte, ihm das zu sagen, doch dann entschied er sich dagegen. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt und es war besser, die Dinge langsam anzugehen. Was redest du da? Ist das hier etwa ein Date? Hast du Jodie so schnell abgeschrieben? Für seine so selbstverständlichen Überlegungen hätte er sich am liebsten geohrfeigt. Er hatte doch nur zugesagt, weil das Mädchen sich so rührend um ihn gekümmert hatte und sich dabei streng vorgenommen, ihr klarzumachen, dass er sich mit jemand anderem traf, falls sie versuchte, ihm näher zu kommen. Wie leicht wir unsere Vorsätze doch vergessen… „Und… du?“ „Ich… äh… bin Polizist.“ Fast. Vielleicht wäre es klüger gewesen, eine andere Antwort zu geben, doch er bezweifelte stark, dass er bereits jemandem aufgefallen war, womit das Mädchen durch dieses Wissen auch nicht in Gefahr gebracht wurde. Zu seinem Leidwesen war die Organisation immer noch meilenweit entfernt und nicht mehr als ein Schatten am Horizont, von dem ihn ganze Berge und Täler zu trennen schienen. „Wirklich?“ Ihre Augen hellten sich auf, was ihn überraschte. Natürlich war Polizist ein ehrenhafter Beruf, aber eine so positive Reaktion hatte er nun auch nicht erwartet. „Ich hätte dich also theoretisch für deinen miesen Fahrstil verhaften können.“, scherzte er und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Sie errötete erneut. „Oh…“ „Schon gut, das war nur ein Witz.“ Er zwinkerte ihr amüsiert zu. „Dein Verhalten danach war immerhin mehr als vorbildlich.“ Sie lächelte und nippte ebenfalls an ihrem Getränk. „Dankeschön.“ Eine Zeit lang schwiegen sie, was jedoch nicht unangenehm war. Zwar spürte er deutlich ihre Unsicherheit und dass sie aus irgendeinem Grund furchtbar aufgewühlt war, doch wenn sie ihn ansah, zeigte sie deutlich, dass er nicht die Schuld daran trug. Ihm kam dieser Blick viel zu intensiv, zu mächtig vor für zwei Menschen, die sich gerade erst kennengelernt hatten, sie sah ihn an wie etwas, das sie nicht begreifen konnte, wie ein Mensch in der Wüste Wasser ansehen würde oder ein gläubiger Christ ein gottgegebenes Wunder. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er etwas zu scharf. Er wusste, dass es falsch war so darüber zu denken. Es war falsch, solche Blicke zuzulassen und ihr somit zu vermitteln, dass er Interesse an ihr hatte, das weit über die angemessene Dankbarkeit hinausging. Das durfte er ihr nicht antun, nicht, nachdem er sie allein zurückgelassen hatte. „Ja, natürlich… Es ist nur…“ Auf einmal wirkte sie so besorgt und verletzlich, dass er es bereute so unwirsch auf sie reagiert zu haben. Sie wusste doch nichts von Jodie, wie konnte er sie für seine eigene Untreue bestrafen? „Was ist los?“ Nun war seine Stimme weich, beinahe zärtlich. Ihr schien das nicht zu entgehen, denn sie entspannte sich sichtlich und richtete sich etwas auf, als müsste sie sich zuerst äußerlich ordnen, bevor ihr Inneres nach außen treten konnte. „Meine Schwester…“, sie zögerte. „…Sie hat mit den falschen Leuten zu tun.“ Interessiert musterte er sie. Auf einmal hatte sie seine volle Aufmerksamkeit, alle anderen Gefühle waren von dem Instinkt verdrängt worden, der nun die Führung übernahm, so wie es immer war, wenn er ein Verbrechen witterte und die Puzzleteile langsam damit begannen, sich zusammenzufügen und ein immer klareres Bild auf dieses freigaben. „Sie ist sehr intelligent, musst du wissen, hochintelligent. Deshalb haben sich diese Leute auch für sie interessiert, sie kannten unsere Eltern und wollten, dass meine Schwester etwas für sie tut.“ „Was sollte sie tun?“ Sie schluckte. Offensichtlich bereitete es ihr große Mühe, darüber zu sprechen. „Sie sollte für sie forschen. Ich weiß nicht, worum es ging, aber seit sie dort arbeitet, hat sie sich verändert und jetzt habe ich große Angst um sie. Es ist irgendeine unheimliche Organisation…“ Sofort unterbrach er sie. „Eine Organisation? Ist das wahr?“ „Ja…“ Auf einmal schien es in dem gemütlichen Café einige Grad kälter geworden zu sein. Die Anspannung war nun fast unerträglich, das, was sein Instinkt, sein innerer Spürhund ihm zugeflüstert hatte, schien tatsächlich der Wahrheit zu entsprechen. Vielleicht gab es wirklich eine besondere Kraft, so etwas, wie ein Schicksal, das die Fäden in der Hand hielt und sie wie Marionetten leitete. Eine Kraft, die sie auf mystische Weise verband und die ihn direkt zu ihr geführt hatte. Auf einmal erinnerte er sich deutlich an einen Moment, der ihm schon beinahe entfallen war. Er hatte dieses Mädchen schon einmal gesehen. Damals, an diesem Abend, als er frustriert aus einer Bar gekommen war, in der ihn wieder ein zwielichtiger Kerl hatte abblitzen lassen, mit der Begründung, er wüsste nichts von einer solchen Organisation und wenn, würde er mit Sicherheit nicht dafür sorgen, dass er ihnen auffiel. Gerade hatte er sich auf den Heimweg machen wollen, das hatte er sie gesehen. Sie hatte im Licht einer Straßenlaterne gestanden, die großen blauen Augen vor Schreck geweitet, die langen schwarzen Haare vom Wind gepeitscht. Sie war wunderschön gewesen, aber auch verletzlich und erschrocken, weshalb er sogar überlegt hatte, zu ihr zu gehen und sie zu fragen, ob sie Hilfe bräuchte. Doch dazu war es nicht gekommen, denn bei ihr hatte eine große blonde Frau gestanden, der ihr fassungsloser Blick gegolten hatte. Im Nachhinein war er sich sicher gewesen, sich geirrt zu haben, womöglich aus Frust oder aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse, doch jetzt war er davon überzeugt, dass dem nicht so war. Er kannte die Frau, er hatte sie schon einmal gesehen und jetzt, da er das Mädchen wiedergetroffen hatte, fügten sich alle Puzzleteile zusammen, die Zahnräder rasteten ein und das Bild in seinem Kopf nahm Form und Farbe an, fast so, als wäre es schon immer da gewesen, verborgen unter dunklen, verworrenen Gedanken. Sie ist hier und sie kennt Akemi. Über sie kann ich zu ihr gelangen. „Diese Organisation, was weißt du über sie?“ „Nichts, nur dass sie alle schwarz tragen.“ Zufrieden lehnte er sich zurück. Du bist wirklich der Wink des Schicksals, auf den ich die ganze Zeit gewartet habe. „Na, gut geschlafen?“ Etwas verlegen zog sie sich die Decke über das dünne Nachthemd. „Du bist schon wach?“ Er nickte. „Ich bin Frühaufsteher.“ „Das habe ich mir fast gedacht.“, schmunzelte sie und versuchte hinter seinen Rücken zu blicken. Er drehte sich zunächst so, dass sie es nicht konnte, gab dann jedoch nach und stellte ein kleines Tablett vor ihr aufs Bett, auf dem frischer Orangensaft, Spiegeleier und allerlei Obstsorten thronten. „Du hast mir Frühstück gemacht?“ Verblüfft blickte sie ihn an. „Was bist du für ein Kerl?“ Lachend küsste er sie. „Ich stecke eben voller Überraschungen.“ „Oh ja, das tust du definitiv.“ Für den etwas zweideutigen Kommentar boxte er sie scherzhaft in die Seite, worauf sie quiekend ein Kissen nach ihm warf und gesellte sich dann reumütig zu ihr aufs Bett. Jodie beobachtete ihn und fühlte sich dabei unglaublich fasziniert. Je näher sie diesen Mann kennenlernte, desto rätselhafter wurde er. Sie hatte das Gefühl, ein Haus betreten zu haben, dass nach außen hin klein und schlicht wirkte, innen aber unfassbar verschachtelt war und allerlei Treppen, Zimmerchen und Geheimgänge enthielt, die sich einem nur erschlossen, wenn man mutig und entschlossen genug war, immer weiterzugehen, ganz gleich, wie viele Hindernisse sich einem in den Weg stellten. Was für ein Glück ich doch habe, dachte sie, als er sie neugierig anlächelte. Ganz gleich, was versucht, sich zwischen uns zu stellen, solange ich weiß, dass er es ist, den ich am Ende erreiche, nehme ich jede Anstrengung auf mich. „Woran denkst du gerade?“ Sie lächelte ihn an und nahm sich eine Scheibe Toast. „An gar nichts.“ Und irgendwie an alles. Kapitel 6: Worten sollen Taten folgen ------------------------------------- Where did I go wrong, I lost a friend Somewhere along in the bitterness And I would have stayed up with you all night Had I known how to save a life Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe. Dabei kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Seit du gegangen bist, scheinen Jahre vergangen zu sein, keine Wochen. Auch hier wird die Lage immer angespannter, das ist auch der Grund, warum ich dich um Hilfe bitten möchte. Ich weiß, du fragst dich jetzt vermutlich, was das, was gerade hier passiert, mit dir zu tun hat, aber du musst mir einfach vertrauen. Ich kann dir leider keine näheren Informationen geben, nur das Versprechen, dass alles irgendwie zusammenhängt. Die Organisation die du beschattest, der Killer mit seinen mystischen Apparaten, die nicht nur aus der Vergangenheit, sondern aus einer vollkommen fremden Welt zu stammen scheinen, zwischen ihnen besteht eine Verbindung. Ich bitte dich, falls du eine Möglichkeit findest, dich dort einzuschleusen, was ich natürlich hoffe, obgleich meine Angst, du könntest diesen schrecklichen Ort nie wieder verlassen, mit jedem Tag wächst, Augen und Ohren offenzuhalten. Du bist vielleicht unsere einzige Chance den Laterna-Magica-Mörder aufzuspüren. Vielleicht unsere letzte. In Liebe, Jodie Nachdem er den Brief nun zum dritten Mal gelesen hatte, legte Shuichi ihn nachdenklich zur Seite. Als er ihn erhalten hatte, war er mehr als überrascht gewesen, ja ungläubig hatte er den Postboten angestarrt, als er ihm das Dokument überreicht hatte. Zwar war es leichtsinnig von Jodie gewesen, ihm zu schreiben, aber glücklicherweise war er noch kein Teil der Organisation, sodass man ihn auch nicht überwachte. Vermutlich war es sogar klüger gewesen, einen altmodischen Brief zu schicken, als eine E-Mail, die selbst gelöscht wieder hergestellt werden konnte und deren Ursprungs-Account ebenso unsicher war, wenn man das Know-How der Organisation bedachte. Er hatte noch nicht allzu viel über sie in Erfahrung bringen können, aber mit Akemis Hilfe war nach und nach ein immer deutlicheres Bild entstanden. Sie arbeiteten in der Dunkelheit, erregten so wenig Aufsehen wie möglich. Zeugen und mögliche Spuren wurden stets mit akribischer, ja fast paranoider Genauigkeit beseitigt, ihr Oberhaupt, das sie selbst Anokata, jene Person, nannten, zeigte sich nie. Auch wenn Akemi bestätigen konnte, so vermutete er stark, dass die Organisation sich in verschiedene Bereiche gliederte, in einen, der für die niederen Aufträge und die Beseitigung der Spuren, aber auch Mordaufträge, zuständig war und in einen anderen, der sich mit der Forschung und Entwicklung neuer Methoden oder Waffen befasste. All das unterstand mit ziemlicher Sicherheit dem geheimnisvollen Anokata – ihrem Ziel. Ihm war klar, dass es, selbst wenn er sich Zugang zur Organisation verschaffen konnte, alles andere als einfach sein würde, ihn zu erreichen, vielleicht sogar unmöglich, hierbei war es wohl besser, sich keine Illusionen zu machen. Zum Glück war es nicht unbedingt notwendig, tatsächlich Anokata aufzuspüren. Nach ausgiebiger Rücksprache hatten sie entschieden, dass es reichte, ein hochrangiges Mitglied in ihre Gewalt zu bekommen. Bevor es die Möglichkeit hatte, sich umzubringen, würden sie ihm die Chance bieten, als Kronzeuge auszusagen und ihm völlige Immunität gewähren. Da die Organisation mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Sekte war und somit auch keine religiösen Motive hatte, war es auch möglich, dass ihre Mitglieder käuflich waren – vor allem, wenn es im wahrsten Sinne des Wortes um Kopf und Kragen ging. „Kennst du irgendwelche hochrangigen Mitglieder?“ Zwar hatte Akemi selbst keinen der Codenamen, die laut ihres Wissensstandes alle wichtigen Mitglieder trugen, doch womöglich konnte sie dennoch nützliche Informationen haben, weshalb er beschlossen hatte, sie zu befragen und so viele Informationen wie möglich aus ihr herauszuholen. Schließlich war sie seine einzige Verbindung zur Organisation. Leider durfte er ihr nicht die Wahrheit über seinen Einsatz sagen, immerhin bestand das Risiko, dass man sie foltern könnte, falls irgendetwas schief ging und er ihr Misstrauen auf sich zog – etwas, das er unter keinen Umständen riskieren konnte. Aus diesem Grund hatte er behauptet, er wäre bereit, sich einzuschleusen, um ihre Schwester rauszuholen. Ihre Information war wirklich wie ein Wink des Schicksals gekommen und hatte sie so einfach, wie es nur möglich war, zu einer wichtigen Verbündeten gemacht. Sie hatte ihn mit freudestrahlenden Augen angesehen, als könnte sie ihr Glück kaum fassen. Hatten in ihren Augenwinkeln nicht sogar Tränen geglitzert? Umso mehr schmerzte ihn der Gedanke daran, dass er sie benutzen musste. Er würde versuchen, ihrer Schwester zu helfen, das war sowohl seine Pflicht, als auch sein persönlicher Wunsch, aber oberste Priorität hatte etwas anderes. Wenn er wirklich etwas gegen die Organisation ausrichten oder überhaupt erst einmal mehr über erfahren wollte, musste er sich eines hochrangigen Mitgliedes bemächtigen, etwas, das ihre Schwester ihrer Aussage nach leider nicht war, obgleich sie einen Codenamen trug. Offenbar war sie von klein auf in der Organisation gefangen gehalten und von ihnen aufgrund ihrer hohen Intelligenz auf ihren Forschungsjob gedrillt worden, Akemi hatte nur ein paar wenige Möglichkeiten gehabt, ihre Schwester überhaupt zu sehen – hauptsächlich, als sie noch in den USA lebte, um dort zu studieren. Anscheinend war die Organisation der Meinung gewesen, Umgang mit ausgewählten anderen Menschen käme ihrer Tarnung zugute, doch Akemi hatte unter Schluchzen erzählt, dass man sie ständig überwacht hatte, damit Sherry auf keinen die Chance bekam, auszubrechen und sich Hilfe zu holen. Nachdem sie zurück nach Japan gegangen war, hatten sich die beiden kaum noch gesehen, was auch der Grund gewesen war, warum Akemi sich schweren Herzens dazu entschieden hatte, der Organisation beizutreten. Sie wollte ihrer verlorenen Schwester nahe sein und sie von dem schwarzen Monster, das sie gefangen hielt, befreien. Und der edle Ritter ist jetzt ja auch da, dachte er spöttisch. Ein feiner Ritter bist du, nutzt die Prinzessin als Köder um den Drachen zu erlegen. Ging die Geschichte nicht mal anders? „Gin und Wodka. Die beiden haben mich damals rekrutiert. Aber Gin ist der Höherrangige der beiden, da bin ich mir sicher.“ Sie sprach Gins Namen beinahe angewidert aus, wobei ihm aber auch ein furchtsamer Unterton nicht entging, so mussten die Menschen im Mittelalter wohl den Namen des Teufels ausgesprochen haben. „In welchem Bereich ist er tätig?“ „Äh… Auftragsmorde und Vertuschung, glaube ich.“ Je länger sie darüber sprachen, umso deutlicher wurde es, dass ihr das Thema nicht behagte, vor allem Gin schien sie mit Grauen zu erfüllen. Hat er ihr etwas angetan? Oder ihrer Schwester? „Kennt deine Schwester diesen Mann?“ „Ich…“ Bingo. „Schon gut, du musst nicht weiter darüber reden, wenn es dir unangenehm ist.“ Er lächelte entschuldigend. „Wäre es möglich, Gin zu kontaktieren? Ich möchte mich ihm gerne vorstellen, als ehemaliger Polizist, der bereit ist, für die Organisation zu arbeiten und ihnen pikante Informationen zu liefern.“ Sie schluckte. „Meinst du, das funktioniert? Gin ist sehr scharfsinnig, du wirst ihn nicht einfach täuschen können. Außerdem läuft alles, was neues Mitglieder betrifft, über Anokata.“ „Das dachte ich mir schon. Aber wenn ich ihnen beweisen kann, dass ich nützlich und loyal bin, bin ich drin?“ Sie nickte. „Ja, aber das dürfte ganz sicher nicht leicht werden…“ „Ich weiß. Deshalb müssen wir vorher noch einen kleinen Schritt machen, damit mein Plan funktioniert.“ Seine Augen funkelten kampfbereit. „Kannst du mich zu Vermouth bringen?“ Sie hatte ihm versprochen, zu tun, was sie konnte, aber die Erleichterung auf ihrem Gesicht hatte Bände gesprochen. Sie glaubte selbst daran, dass er es schaffen konnte, sie glaubte, dass ihre Schwester eine Chance hatte, der Organisation mit seiner Hilfe zu entrinnen. Er fühlte sich schrecklich deswegen. Zwar war er immer jemand gewesen, der bereit war, für seine Ziele einzustehen, ganz gleich, welche Opfer es forderte, solange sie dem Erfolg nicht überwogen, aber dieses Mädchen war so vertrauensselig und unschuldig, dass er das Gefühl hatte, ihr mit seinen Lügen das Herz bei lebendigem Leibe rauszureißen. Er hatte vieles falsch gemacht in seinem Leben, viele Fehler begangen, aber sie zu benutzen, sie zu hintergehen, das erschien ihm auf einmal als das Schrecklichste, was er jemals getan hatte. Verliebe ich mich etwa gerade in sie? Er dachte an das etwas schüchterne, aber so ehrliche Lachen, das lange schwarze Haar, die kobaltblauen Augen… ärgerlich verdrängte er das Bild aus seinem Kopf. Wäre das nicht das Gleiche? Nichts weiter als ein grausames Ausnutzen ihrer Gefühle? Kannst du sie dafür strafen, dass du dich einsam fühlst? Womöglich vermisste er Jodie einfach und sehnte sich deshalb nach etwas Nähe, so ging es doch vielen Männern, die ihre Frauen betrogen, oder nicht? Es geht um Nähe, um Abenteuer, Leidenschaft, nicht um Liebe. So ist es doch, oder? Bitte lass es so sein. Seufzend strich er über das anonyme Standardpapier, auf dem der Brief verfasst worden war. Black hatte ihm beiläufig von dem neuen Killer erzählt, da er vermeiden wollte, dass er sich unnötig beunruhigte. Es war schon schwer genug gewesen, die Ermittlungen im Fall Salamander abzubrechen und sich auf diese Mission zu konzentrieren, ein zweiter Mörder im Hinterkopf hätte dem Ganzen sicher nicht mehr gedient. Umso mehr hatte es ihn überrascht, als er von Jodies Verdacht las. Konnte es wirklich möglich sein? Konnte zwischen der Organisation und dem Killer eine Verbindung bestehen? War er womöglich ein Mitglied? Aber hier stellte sich natürlich die Frage, was er bezwecken wollte. Die Organisation hatte kein Interesse daran, das FBI oder die Polizei auf sich aufmerksam zu machen. Warum also spielt er mit ihr? Natürlich durfte er nicht seine Mission aus den Augen verlieren, aber dennoch sprach nichts dagegen, in mehreren Gewässern zu fischen, vor allem, wenn womöglich viele Menschenleben davon abhingen. Vielleicht sogar ihres, dachte er schluckend, immerhin scheint sie seiner Identität gefährlich nahe zu kommen. Er wäre nicht der erste Serienkiller, der aus seinem Muster ausbricht, nur, um Spuren zu verwischen. Um sich selbst oder die, die er liebt, zu schützen, ist der Mensch beinahe zu allem fähig. Pass auf dich auf, Jodie. „Warum bist du zum FBI gegangen?“ Überrascht sah er sie an. „Nun… ich hatte mehrere Gründe. Aber wollen wir jetzt wirklich über die Arbeit reden? Manchmal hab ich das Gefühl, du denkst an nichts anderes.“ Er strich sanft über die zarten Härchen in ihrem Nacken. „Nein…ich.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig, was ihn mit Genugtuung erfüllte. Er war sich seiner Wirkung auf sie durchaus bewusst und genoss es, sie dahinschmelzen zu sehen. „Aber gut.“ Er blickte ihr fest in die Augen. „Warum bist du zum FBI gegangen?“ Ihr Lächeln schien auf einmal angespannt und falsch zu sein, gar zu bröckeln wie das aufgemalte Grinsen einer alten Holzmarionette. Vollkommen unerwartet lief ihm ein Schauer über den Rücken. Warum zitterst du wirklich? „Wegen meinem Vater. Er war auch beim FBI.“ „Tatsächlich? Davon wusste ich ja gar nichts. Ich dachte, du bist in England aufgewachsen?“ „Das ist eine lange Geschichte. Tut mir leid, dass ich davon angefangen habe. Ich war nur neugierig… Ich weiß doch so wenig über dich.“ Sie machte ein betretenes Gesicht. „Ach je.“ Mit einem reumütigen Lächeln zog er sie an sich und küsste sie sanft. Das nervöse Zittern verschwand langsam und er spürte, wie sich wohlige Wärme in ihrem auf einmal so zart und zerbrechlich wirkenden Körper breitmachte und auf ihn übersprang. „Ich verspreche dir, du wirst mich kennenlernen. Ich will auch wissen, wer du bist.“ Er küsste sie erneut. „Ehrlich?“ „Von ganzem Herzen.“ „Das ist Andre Camel. Eigentlich war er für die Japanmission vorgesehen, doch da Shuichi noch keine Möglichkeit gefunden hat, Zugang zu erhalten, setzen wir ihn vorerst beim Laterna-Magica-Fall ein.“ Jodie blickte Black irritiert an, Mel schien nicht weniger verwirrt zu sein. „Warum erzählen Sie uns das?“ „Nun, der Salamander-Fall spitzt sich immer mehr zu, deshalb kann ich mich nicht mehr auf beide Fälle konzentrieren, ich möchte, dass Sie beide die Leitung der Abteilung übernehmen. Camel wird Sie so geht es geht unterstützen.“ Camel nickte bestätigend und reichte ihnen die Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ „Er ist vor allem im Außeneinsatz ein Spezialist, hat aber auch so ein exzellentes Nervenkostüm und kann Ihnen sicher bei der Zeugenbefragung und der Fahndung helfen.“ „Ich verstehe.“ Mel nickte. „Überlassen Sie das einfach uns, Mr. Black, wir haben alles im Griff.“ Black wischte sich den Schweiß von der Stirn, was sicher nicht nur an der anhaltenden Hitze lag. Die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. „Sehr gut, ich verlasse mich auf Sie.“ „Bitte kümmern Sie sich darum, die Informationen zu überprüfen.“ Jodie reichte Camel gerade die Liste mit den Einkäufen der einzelnen Bauteile der Laterna-Magica, sowie der potenziellen Käufer, als Mel den Raum betrat. Ihr attraktives Gesicht wirkte noch strenger als sonst und in ihren Augen lag ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. „Kann ich dich mal kurz sprechen?“ „Natürlich, was gibt es?“ „Allein.“ „In Ordnung.“ Sichtlich verwirrt folgte Jodie Mel in ihr Büro. Auf einmal war nichts mehr von ihrer freundlichen Art zu spüren, die Szene erinnerte sie augenblicklich an die seltsame Situation kurz nach einem ihrer gemeinsamen Mittagessen, die sich aus irgendeinem Grund fest in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Weißt du, wer Janus ist? „Warum hast du ihm geschrieben?“ Alles hatte sie erwartet, aber sicher nicht das. „Was? Woher...?“ Sie warf ihr einen frostigen Blick zu. „Nun, nachdem du dich so merkwürdig verhalten hast, hielt ich es für günstiger, dich ein wenig unter die Lupe zu nehmen.“ „Du hast mich ausspioniert?“ Fassungslos schnappte sie nach Luft. „Black hat mir seine Einwilligung gegeben.“ „Das würde er nicht tun, er vertraut mir.“, fauchte sie ungläubig. „Du weißt, dass ihr keinen Kontakt haben dürft, oder? Es ist zu riskant.“ „Natürlich… aber ich…“ „Kein aber. Du hast eine wichtige Mission gefährdet! Auch beim Laterna-Magica-Fall verhältst du dich extrem unprofessionell. Geht es dir wirklich nur darum, deine Freundin zu übertreffen? Ist für dich das alles nur ein scheiß Spiel?“ Sie hat mich auch damals schon ausgehorcht, durchzuckte es sie plötzlich. Es ging nie darum, Freundschaft zu schließen. Alles, was sie wollte, war meinen Schwachpunkt zu finden. Aber wofür? Was will sie? „Was willst du?“ „Ich?“ Sie hob die Augenbrauen, was ihr einen arroganten Ausdruck verlieh. „Gar nichts. Nur, dass du dich professionell verhältst, sonst bin ich gezwungen, weitere Schritte gegen dich einzuleiten. Das ist alles.“ Mit diesen Worten stand sie auf und deutete auf die Tür. „Du sollst wissen, ich habe Black nicht darüber unterrichtet, was du getan hast, weil Akai noch nicht bei der Organisation ist und somit noch kein großes Risiko besteht, solltest du dir aber noch mal etwas in dieser Richtung leisten, wirst du es bitter bereuen, dafür sorge ich.“ Vollkommen sprachlos stolperte Jodie aus dem kleinen Büro. Wie konnte sie mich nur so täuschen? Wie um alles in der Welt bin ich so leichtgläubig geworden? Ohne, dass sie es wollte, traten plötzlich Tränen in ihre Augen. Was mache ich nur falsch? Kapitel 7: Hinter den Spiegeln ------------------------------ Just being honest, we’re playing for both sides. It’s easy to deceive but it’s hard When the trust that’s broken is mine. For better, or for worse, For the happy, for the hurt. Es zuckt und zittert, windet sich und wimmert, fleht in einer fremden Sprache, einem hysterischen Piepsen, das deinen Ohren ebenso inhaltlos wie nervtötend erscheint. Am liebsten würdest du dem Ganzen gleich ein Ende bereiten – nur, um deine Ruhe zu haben – aber du weißt, dass das nicht geht. Vorsichtig packst du es an den Ohren und drängst es zurück an seinen Platz. Mit weit aufgerissenen, blutroten Augen, sieht es dich an. Die weiche Schnauze schnüffelt hektisch und du glaubst beinahe zu sehen, wie das kleine Herz bei seinen panischen Schlägen immer wieder gegen den Brustkorb donnert. Reiß dich zusammen. Was wäre das für eine absurde Geschichte, in der das weiße Kaninchen getötet wird, bevor es Alice erreichen kann? Das fände wohl nicht einmal der Hutmacher komisch. Du lachst über deine gelungene Metapher, mit Worten konntest du schon immer umgehen. Von neuem Ehrgeiz ergriffen, machst du dich daran, das Kaninchen zu skizzieren, fein säuberlich setzt du zarte Linien auf das alte, leicht vergilbte Papier und beginnst dann damit, sie mit einem Kohlestift zu schattieren, ihnen Leben und Tiefe einzuhauchen, bis man das Gefühl hat, das Wesen auf dem Papier ist das Lebendige und nicht das elende blutende Bündel, das vor dir auf dem Boden kauert. Bald schon, denkst du, bald schon kann sie dein ganzes Manifest bewundern, sie wird von deiner Magie umschlungen werden und ins Wunderland gehen, wo sie ihr Wahnsinn auffrisst, denn das hat sie wahrlich verdient. Zufrieden lehnst du dich zurück und betrachtest dein Werk. Arme, kleine Alice, bald schon wirst du erkennen müssen, dass wir alle verrückt sind. „Es gibt ein neues Opfer.“ Camel und Jodie starrten beide fassungslos auf Mel, die mit verschränkten Armen vor ihnen stand, das dunkle Gesicht seltsam blass. „Ist das wahr?“, fragte Jodie. Bislang hatte sie vermieden mit Mel zu sprechen und wenn waren nur ein paar kalte, flüchtige Worte aus ihrem Mund hervorgekrochen, doch nun konnte sie weder Angst noch Neugierde verbergen. „Wo haben sie es gefunden?“ „In einem Hotel etwa eine Meile von hier. Es handelt sich um Jeff Sanders, einen Geschäftsmann aus New York, der für ein paar Tage in L.A. war. Er wurde scheinbar willkürlich ausgewählt, wie die anderen Opfer auch.“ „Wie wurde er umgebracht?“ „Wieder das gleiche Spiel. Der Mann wurde erschossen und in seinem eigenen Blut zurückgelassen, daneben stand einer unserer magischen Freunde.“ Jodie schluckte. Es gab also eine neue Laterna Magica. Eine neue, schreckliche Bildfolge, die sie sich bald ansehen mussten, wieder und wieder. Was hat sie diesmal mit mir zu tun? „Ich habe bereits dafür gesorgt, dass wir die Aufnahmen bekommen, wir können sie uns gleich im Konferenzraum 3 näher unter die Lupe nehmen.“ Immer noch sichtlich angespannt, fanden sie sich wenig später zusammen mit ein paar anderen Mitarbeitern aus ihrem Team im Konferenzraum wieder. Der Projektor surrte bereits bedrohlich, als könne er es nicht erwarten, ihnen gleich die scheußlichen Bilder an den Kopf zu werfen. Mel stand direkt daneben, in der Hand eine Fernbedienung. Ihre Augen glitten ruhelos durch den Saal und blieben einen kurzen Moment an Jodie hängen, dann blinzelte sie und begann die Besprechung. „Hier sehen Sie zunächst ein paar Bilder des Tatorts. Der Mord fand im Costa Blanca statt, einem noblen und bei Geschäftsleuten sehr beliebten Hotel. Das Opfer heißt Jeffrey Sanders, ist 47 Jahre alt und Geschäftsführer einer Computerfirma.“ Die Bilder wechselten unter stetigem Klicken, man sah verschiedene Ansichten der Leiche und konnte hinter ihm schon den unheimlichen Apparat erahnen, den der Mörder auch diesmal zurückgelassen hatte. Der Tatort schien eins zu eins dem zu entsprechen, was man vom Laterna-Magica-Killer erwarten würde, doch auf einmal stutze Jodie. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und auf Mels Gesicht erschien ein zynisches Lächeln. „Wie Ihnen an diesem Foto auffallen sollte, gibt es eine Abweichung.“ Eine Mischung aus entsetztem Aufstöhnen und verblüfftem Raunen ging durch den Raum. „Ein Kaninchen.“, flüsterte Camel entrückt. Direkt vor der Laterna Magica, die ein munter hüpfendes Kaninchen zeigte, lag ein eben solches, allerdings war es nicht halb so lebendig, wie das Pendant auf der Leinwand. Es lag direkt vor dem Gerät, alle Viere von sich gestreckt, als wäre es eine humoristische Karikatur eines schlafenden Tieres. Sein Bauch war auf groteske Weise aufgerissen worden, als hätte ein Hund das arme Geschöpf erlegt und die Organe quollen in einer schleimig verknoteten Masse heraus. Das Abbild des Kaninchens begann auf einmal auf den Hinterläufen zu tanzen und griff mit den kleinen Pfoten nach dem eigenen Bauch. Wie in Zeitlupe schien es diesen langsam an unsichtbaren Nähten aufzuziehen und etwas herauszuholen. Jodie versuchte mit aller Kraft den Blick abzuwenden, doch sie konnte es nicht. Zu fesselnd war das makabre Szenario, zu fesselnd der grausige Todestanz des bemitleidenswerten Tieres. Kurz bevor die Aufnahme sich wiederholen sollte, zog es eine goldene Taschenuhr hervor und grinste verschmitzt. Don’t be late, don’t be late, oh Alice. Look at the rabbit, he’s running out of time. Do you know who can defy? Without an answer, you should run. I don’t know a thing that won’t be done. Won’t vanish like a rotten tree, Like the paper getting mellow And the rivers getting shallow. Progress’s changing old words’ sound, But not the People they are bound. You want to save a lonely heart, It’s at a brave early world, where you start. Mad Hatter Auf einmal schien es schrecklich kalt geworden zu sein. Mel legte den Zettel behutsam zur Seite und richtete ihren Blick erneut auf Jodie, die immer noch krampfhaft versuchte, das Gehörte irgendwie zu verarbeiten. „Wie Ihr wisst, teile ich mir die Leitung der Ermittlungen mit Agent Starling und Agent Camel, Jodie, was sagst du zu diesem Statement des Laterna-Magica-Mörders, oder besser gesagt des verrückten Hutmachers, wie er sich nun zu erkennen gegeben hat?“ Alle Augen sahen nun gespannt auf sie, Jodie räusperte sich unsicher. Will sie mich wieder testen? Mel hatte sich vor der Konferenz nicht die Mühe gemacht, sie zu informieren, sodass sie keine Chance gehabt hatte, sich vorzubereiten. Das schrie beinahe danach, dass sie sie bloßstellen wollte, doch sie würde ihr diese Freude ganz sicher nicht machen. Lächelnd stand sie auf. „Nun, ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine Anspielung auf Lewis‘ Carrolls bekanntes Werk „Alice im Wunderland“. Hier kommen sowohl eine Alice, als auch ein weißes Kaninchen und ein Hutmacher vor. Das Kaninchen wird logischerweise von dem toten Albino-Kaninchen am Tatort symbolisiert, für den Hutmacher hält er sich selbst.“ Was bedeutet, die Botschaft richtet sich an Alice. Sie ist es, die er herausfordert, nicht Salamander, wie wir annahmen. „Bravo.“, Mel lächelte spöttisch. Jodie kniff ärgerlich die Augen zusammen, ganz gleich, was sie sich geleistet hatte, Mel hatte kein Recht, sie vor ihren Kollegen zu demütigen – schon gar nicht, wenn es um ein solch ernstes Thema ging. „Wir glauben nicht, dass es sich bei Alice um Salamander handelt. Das Gedicht thematisiert eindeutig die Vergänglichkeit, weshalb wir glauben, dass das Feuer für den Prozess des Verfalls steht. Vermutlich ist der Täter davon fasziniert und tötet deshalb.“ „Aber warum wendet er sich dann direkt an Alice?“, warf Camel ein. „Findest du nicht, es wirkt wie eine Herausforderung?“ „Oder eine Drohung, ja... Wir glauben, bei Alice könnte es sich um eine Geliebte oder ein Familienmitglied handeln, eine Verbindung zur Außenwelt, die der Killer kappen muss. Unsere Psychologen meinen, er sieht sich als eine Art Kunstfigur und will so eine Vollkommenheit erreichen, die über den Verfall und die Vergänglichkeit erhaben ist. Dazu darf aber Alice, die ein Teil der normalen Welt ist, nicht mehr existieren.“ „Du meinst, Alice soll das wahre Opfer sein? Die anderen Morde sollen das nur verschleiern?“ Jodies Stimme klang zunehmend belegter, während sie ihre Gedanken weiterspann. Der Killer jagt Alice, das Mädchen auf den Bilder, das Mädchen, das ihrem Vater Orangensaft brachte, das Mädchen, das in den Flammen hätte sterben sollen… „Aber das ist doch nicht gesichert, nicht wahr? Findest du nicht, wir interpretieren hier sehr viel hinein? Womöglich soll uns Alice nur verwirren.“ Sie deutete auf den Bildschirm, auf den der Brief mittlerweile in riesigen Lettern projiziert wurde. „Die letzten beiden Sätze erscheinen mir ebenfalls sehr interessant.“ „Nun, wir wissen, dass er ein Künstler ist und seine Taten stets mit Pathos ausgeführt werden, was es somit nicht abwegig macht, dass er auch derart romantische und filmreife Motive hat. Er ist ein Künstler, der sich inszeniert.“ „Wir sollten uns trotzdem nicht zu sehr auf Alice fixieren. Findest du nicht, die letzten beiden Sätze klingen irgendwie gekünstelt im Vergleich zum Rest?“ „Findest du?“ Sie hob die Augenbrauen. „Meiner Meinung nach passen sie perfekt ins Bild der Vergänglichkeit, ein einsames Herz, das in einer frühen, besseren Welt auf Rettung wartet. Womöglich bezieht er sich hier auf sein altes Ich.“ „Könnte es ein Hilferuf sein?“, wandte ein Agent ein. „Womöglich will er unterbewusst aufgehalten werden.“ „Vielleicht, das psychologische Gutachten ist gerade in Arbeit, seine Botschaft spricht aber auf jeden Fall dafür, dass er uns herausfordert oder mit uns spielen will. Zunächst hat er es nur angedeutet, doch jetzt ist es offiziell – er mordet, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen.“ „Wie gehen wir jetzt weiter vor?“ Mel, die inzwischen wieder die Kontrolle an sich gerissen hatte, nickte Camel gönnerhaft zu. Dieser begann mit seinem Bericht, allerdings nicht, ohne ihr einen etwas pikierten Blick zuzuwerfen. Offenbar gefiel ihm ihre Arbeitsweise genauso wenig wie Jodie, was ein gutes Zeichen war. So konnte sie sich immerhin auf einen Verbündeten verlassen. „Nun, mittlerweile haben wir die Listen mit den Einkäufen, sie sollen eingängig überprüft und die Leute befragt werden. Außerdem haben wir unsere besten Psychologen, sowie die kryptologische Abteilung auf den Brief angesetzt, da wir es nicht ausschließen können, dass es sich hierbei um einen Code handelt. Sonst werden wir die Buchreihe von Lewis Carroll auf Parallelen zu Tatorten und den Inhalten der Bildern untersuchen, um der Vorgehensweise des Täters etwas näher zu kommen.“ „Ich möchte auch, dass ihr eine potenzielle Alice sucht, das hat oberste Priorität. Diese Person kennt mit ziemlicher Sicherheit die Identität des Mörders, ich bin mir sicher, dass es sich bei den Laterna Magica um Hinweise für sie handelt.“ Sie warf Jodie einen eigenartigen Blick zu, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie weiß es, dachte sie plötzlich. Das ist der wahre Grund, warum sie mich hasst. Sie glaubt, dass ich Alice bin. „Das dürfte sich etwas schwierig gestalten.“, meinte Camel inzwischen sichtlich verärgert. „Solange wir die Identität des Mörders nicht kennen, können wir vermutlich auch diese Alice nicht finden, alle Personen auf der Liste zu überprüfen dürfte eine Ewigkeit dauern, Zeit, die wir vielleicht nicht haben.“ „Dann fangt besser schnell damit an.“, fauchte sie. „Nehmt euch zuerst die Personen vor, die die größten Mengen an Material erworben haben, sowie die, die es am häufigsten taten, auch wenn wir davon ausgehen sollten, dass er es an verschiedenen Orten tat und regelmäßig seine Identität änderte. Ich verlasse mich auf euch.“ Camel nickte widerwillig und verließ mit ein paar Leuten, die ihm zugeteilt wurden, den Saal. Sie hatten nun vermutlich endlose Zeugenbefragungen vor sich, wofür ihn Jodie nicht gerade beneidete. Nun war auch für die restlichen Teilnehmer die Besprechung beendet, doch Jodie war kaum in der Lage, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Vor ihrem inneren Auge tanzte immer wieder der selbstmörderische Hase, der untermalt von einem monotonen Gackern das obskure Gedicht in einer Endlosschleife aufsagte. Don’t be late, don’t be late, oh Alice. We’re running out of time… Die Dunkelheit in der Gasse fühlte sich seltsam an, irgendwie unnatürlich, wie ein schwarzer Vorhang, den man zwischen den Häusern gespannt hatte, um alle Lichter der Stadt auszusperren. Die vereinzelten Laternen vermochten es nicht einmal ansatzweise, sie zu durchdringen. Behutsam legte sich seine Hand um seine Waffe, der kalte Stahl gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Das Risiko unbewaffnet aufzutauchen, hatte er sich nicht leisten wollen, dafür kannte er sie zu gut. Diese Frau war mit allen Wassern gewaschen, das hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung schmerzhaft feststellen müssen. Angespannt blickte er in Richtung der größeren Straße, von der sich das kleine Gässchen abzweigte. Ein Auto hatte er schon länger nicht mehr fahren sehen, offenbar war die Stadt langsam dabei, ihre nächtliche Ruhe zu finden. „Wartest du schon lange?“ Erschrocken wirbelte er herum, die Hand am Abzug seiner Waffe, bereit dem Angreifer zuvorzukommen. Als er jedoch eine hübsche, blonde Frau in einem schwarzen Stoffmantel erblickte, ließ er sie wieder sinken. „Schön, dich wiederzusehen, Vermouth.“ Sie lachte glockenklar. „Die Freude ist ganz meinerseits. Ich war schon etwas überrascht, als die gute Akemi mich darum bat, mich mit dir zu treffen. Reichlich riskant, wenn man bedenkt, dass du mir so gewisse Verbindungen aufzeigst.“ Ihre Stimme hatte einen lässigen Plauderton, als wären sie zwei alte Freunde, die sich gerade in einem Café auf einen Plausch getroffen hatten. Ohne Eile zündete sie sich eine Zigarette an, wobei sie ihn beinahe übertrieben offensichtlich aus den Augen ließ. Ich habe keine Angst vor dir. „Möchtest du auch eine?“ Als sie seinen misstrauischen Blick bemerkte, hielt sie ihm mit einem etwas amüsierten Ausdruck in den Augen die Schachtel hin. „Nein danke. Was Akemi angeht, musst du dir keine Sorgen machen, ich werde dafür sorgen, dass sie keinesfalls gefährdet wird.“ „Inwiefern? Willst du mich etwa beseitigen, da ich die einzige bin, die weiß, wer du wirklich bist, Shuichi Akai?“ Sie lachte wieder, diesmal lauter. Ärgerlich biss er sich auf die Lippe, um wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken klarer werden zu lassen. Momentan war alles von dem Wunsch beseelt, dem Aas eine Kugel in den Kopf zu jagen. Glaub mir, ich täte nichts lieber als das. „Ganz im Gegenteil, ich möchte dir einen Handel anbieten, er betrifft auch Akemi.“ Sie hob erwartungsvoll die elegant geschwungenen Augenbrauen. „Ja?“ „Zuerst muss ich dir eine Frage stellen. Du wusstest auch damals schon, dass ich gegen die Organisation ermittle und dennoch hast du mir geholfen. Warum?“ In der für eine Großstadt ungewöhnlichen nächtlichen Stille vergingen ein paar stumme Augenblicke, bevor sie antwortete. „Weißt du, ich bin kein Mensch, der anderen Leuten Loyalität schwört, das passt einfach nicht zu mir. Du solltest mich wie eine Katze sehen, bekommt sie das richtige Futter und ihr Wünsche erfüllt, wird sie bleiben, behandelt ihr Herrchen sie schlecht, so unterwirft sie sich nicht wie ein Hund, sondern geht erhobenen Hauptes.“ „Etwas Ähnliches hast du damals schon gesagt.“ „Ja und deshalb bist du hier, nicht wahr?“ Sie hat mich von Anfang an durchschaut, dachte er nicht ohne Bewunderung. Vermouth hatte offensichtlich schon längst geahnt, in welche Richtung dieses Treffen gehen würde. „Ich hab dich unterschätzt.“ „Beinahe wie ein Déjà vû, nicht wahr?“, schmunzelte sie. „Vermouth.“, begann er erneut und ging einen Schritt auf sie zu. Würde jemand das hören, was er zu ihr sagte, konnte das fatale Folgen haben – für alle Beteiligten. „Ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Du weißt, mein Ziel ist es, die Organisation zu zerstören und du weißt auch, dass ich die Mittel und die Gerissenheit habe, die dazu benötigt wird.“ „Ist das so, Silver Bullet?“ Ärgerlich kniff er die Augen zusammen. „Du sollst mich nicht so nennen.“ „Schon gut, sprich weiter.“ Sie blies etwas Rauch in seine Richtung, der im fahlen Licht einer fernen Straßenlaterne gespenstisch waberte. „Du weißt aber auch, dass ich das nicht allein schaffe, ich brauche jemanden, der für mich aussagt.“ „Ich habe dir schon gesagt, dass ich nicht aussagen werde.“, schnitt sie ihm kühl das Wort ab. „Du verschwendest deine Zeit, ich will nichts mit der Polizei zu tun haben.“ „Darum geht es nicht.“, zischte er. „Ich kenne deine Prinzipien gut, aber du bist auch nicht mein Ziel. Ich möchte selbst ein Teil der Organisation werden, so kann ich mir ein hochrangiges Mitglied angeln.“ „Eine gefährliche Art zu fischen.“ „Genau deshalb brauche ich deine Hilfe.“ Für einen Moment erhellte ein vorbeifahrendes Auto ihr Gesicht und enthüllte ein eigentümliches Lächeln, was ihm aus irgendeinem Grund augenblicklich ein äußerst unbehagliches Gefühl verlieh. Sie sieht aus wie eine Raubkatze. Aber auf wen will sie sich stürzen? „Na gut. Gehe ich richtig in der Annahme, du willst, dass ich dich in die Organisation schleuse?“ Ihre Stimme hatte nun auch einen schärferen Unterton als zuvor. Er nickte. „Ich werde dir helfen, aber nur unter einer Bedingung, ich will vollständige Immunität. Sobald du hast, was ich will, bin ich raus aus der Sache, niemand befragt mich, niemand nimmt mich fest und sollte die Organisation zerschlagen werden, bin ich eine freie Frau, die nichts und niemand damit in Verbindung bringt.“ Er lächelte. Sie war nicht die Einzige, die den Verlauf der Dinge vorhersehen konnte, auch ihm war es nicht sonderlich schwergefallen einzuschätzen, wie sie sich verhalten würde. Immerhin kannten sie sich schon eine Weile und mit den Ratten verhielt es sich immer gleich – wenn das Schiff sinkt, sind sie die ersten, die springen und den Kapitän in seinem falschen Stolz ertrinken lassen. Zwar schmeckte ihm der Gedanke nicht, doch sie hatte recht, es war eine gefährliche Art zu fischen. Wer so etwas auf sich nahm, konnte sich nicht leisten, alles wegen ein paar kleineren Fischen aufs Spiel zu setzen. Rette dich nur, Vermouth. Du hast deine Strafe ohnehin schon erhalten. „Einverstanden. Bring mich sobald wie möglich in die Organisation.“ Kapitel 8: Von Schmerz und Schatten ----------------------------------- There is a place. Like no place on Earth. A land full of wonder, mystery, and danger! Some say to survive it: You need to be as mad as a hatter.[/align] Kann ein Mensch seiner Identität vollständig entfliehen? Sich neu erfinden, seinen Namen, sein Gesicht, alles abstreifen wie der Magier seinen Umhang und ein neues Leben beginnen? Von vorne anfangen? Spöttisch schürzt du die Lippen, ob dieser Gedanken, allerdings kann ein Teil von dir nicht leugnen, dass die vollständige Metamorphose einen Reiz hat. Wie könnte es auch anders sein? Ärgerlich beißt du die Zähne zusammen und versuchst dich zu sammeln. Es ist zu früh, immer noch zu früh. Du musst die Kontrolle behalten, damit alles nach Plan verläuft, damit du auch sicher bekommst, was du willst. Das was du dir zurecht gelegt hast ist einfach, einfach aber genial, wie man so schön sagt. Es ist wie ein Klavierstück, eine dunkle Symphonie, die lautlos begonnen hat und sich nun immer weiter steigert um in einem Knall, einem furiosen Finale zu enden. Du hast alles darauf vorbereitet, auf diesen einen Tag, an dem es wahr werden wird, diesen Tag, an dem du ihnen zeigen wirst, was für ein Magier du wirklich bist. Der Tag, an dem die Laterna Magica nur ihre Tränen zeigt. But not the People they are bound. You want to save a lonely heart, It’s at a brave early world, where you start. „Was zur Hölle soll das bedeuten?“ Grimmig starrte Jodie auf das Papier vor ihr auf dem Schreibtisch. Ein kleines, unscheinbares weißes Papier, das mit unschuldigen schwarzen Buchstaben bedruckt war. So unschuldig und nichtssagend, dass sie es am liebsten angezündet und dabei genüsslich daran gedacht hätte, wie der Urheber dieser Botschaft in Flammen aufging. Aber leider würde ihnen das genauso wenig weiterhelfen, wie den Hutmacher innerlich für seine Taten zu verfluchen. Es mochte befreiend sein, aber es brachte sie ihm leider genauso wenig näher wie der verdammte Code, der seinen Schlüssel einfach nicht preisgeben wollte. Mit gerunzelter Stirn hob sie das Blatt hoch und versuchte es, in einem anderen Winkel zu betrachten, drehte es auf den Kopf, wollte Spiegelungen, Anagramme und wirre Buchstabenfolgen erkennen, aber nichts half. Der Text blieb, was er war, ein zweitklassiges Gedicht, das sie zu verspotten schien. Dummerweise waren Mels Anweisungen eindeutig gewesen. Sie verlangte von ihrem Team volle Konzentration auf den Text mit der lächerlichen Absicht Alice zu finden oder eine Verbindung zu Salamander zu entlarven, Jodie erschien beides wie eine falsche Fährte. So sehr sie der Gedanke erschreckte, dass sie Alice sein könnte, so sehr konnte sie nicht glauben, dass es wirklich um Alice ging. Ging es nicht um den Hutmacher selbst? Brauchte der Hutmacher Alice überhaupt? Das Feuer war keine Verbindung zu Salamander, es war eine Verbindung zu ihr, etwas, das sie immer noch schwer schlucken ließ. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, sie konnte nicht aufhören, die Verbindung zu hinterfragen, darüber nachzugrübeln, ob der Mörder denjenigen kannte, der ihren Vater getötet hatte, ob sie vielleicht sogar eine Person waren oder gemeinsam diese Gräueltat ausgeheckt hatten und über das dumme Mädchen lachten, das ohne es zu wissen vor den Flammen geflohen war. Orangensaft? Ja, Orangensaft. Haha. Natürlich hätte sie das erwähnen sollen, hätte sagen sollen, wen sie in den Bildern erkannte. Das schlechte Gewissen nagte an ihr wie schon an dem Tag, an dem sie den Brief an Shuichi abschickte und sie wusste, dass sie damit begonnen hatte, sich zu verändern. Jetzt musste sie sich entscheiden, wer sie sein wollte, eine FBI-Agentin wie ihr Vater oder ein kleines Mädchen, das davonlief, ein kleines Mädchen, das immerzu in das brennende Gesicht ihres Vaters starren musste. Warum hast du mich im Stich gelassen? Sie schluckte und fuhr damit fort, immer und immer wieder den Text zu untersuchen. Zwar war das eigentlich die Aufgabe darauf spezialisierter Abteilungen, doch bei Serientätern war es wichtig, sich so intensiv wie es nur möglich war, mit ihnen auseinanderzusetzen. Man durfte seinen Geist nicht verschließen, den Blick angewidert abwenden, man musste die Augen aufreißen und alles aufsaugen, was es an Informationen an Bildern, ja an nicht greifbaren Ahnungen gab, denn eigentlich war alles da, man musste es nur finden. „Wer bist du?“, hauchte sie tonlos, während sie Wort für Wort scannte. Du bist der verrückte Hutmacher, eine Anspielung auf ein Kinderbuch. Hohn? Wahnsinn? Gefällt dir der Gedanke einer solchen Welt? Einer Welt in der nichts unseren Erwartungen entspricht? Du sprichst von Vergänglichkeit als wärst du ihr überlegen, als würdest etwas verstehen, das wir nicht verstehen, etwas sehen können, das uns verborgen bleibt. Fühlst du dich unsterblich, wenn du tötest? Die letzten Zeilen passen nicht. Irgendwas wirkt falsch, künstlich, als wärst du ein Kind, das versucht, ein Gedicht zu schreiben und belanglose Reime bildet, um in das Schema, das in seinen Augen Poesie ist zu passen. Ist das Absicht oder verspottest du uns nur? It’s a brave early world, where you start. Wir beginnen am Anfang, aber warum so? Womit sollen wir beginnen? Was ist das für eine Welt, die du uns zeigen willst? Das Wunderland, flüsterte es unwillkürlich in ihr. „Jodie?“ Erschrocken legte sie die Nachricht zur Seite. Sie war so versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, dass jemand in ihr Büro getreten war. Als sie Mel sah, versteifte sie sich augenblicklich. „Guten Morgen.“, sagte sie eisiger, als sie wollte. Zwar war sie wütend auf Mel, aber der vernünftige Teil von ihr, die Agentin, musste einsehen, dass sie durchweg korrekt gehandelt hatte, da sie ein Risiko gewesen war, ein Risiko, das manchmal über Leben und Tod entscheiden konnte. Dennoch, während die Agentin sie zur Besonnenheit ermahnte, kochte Jodie vor Wut. „Morgen.“ Mel lächelte, aber es wirkte etwas gezwungen, als könnte auch sie die Ereignisse der letzten Tage nicht ganz abschütteln. Dennoch rechnete Jodie es ihr an, dass sie es zumindest versuchte. „Ich möchte dich bitten ins Sunshine zu fahren. Ich weiß, du hast hier zu tun, aber ich möchte dir die Chance geben, einmal rauszukommen und den Fall von einer anderen Seite zu betrachten.“ Jodie runzelte die Stirn. „Aber der Mord fand doch im Costa Blanca statt? Das liegt gut drei Meilen vom Sunshine weg, wenn ich Zeugen befragen, oder den Tatort inspizieren soll…“ Mel schnitt ihr das Wort ab. „Das Sunshine ist das Hotel in dem Sanders Frau derzeit untergebracht ist, sie hat es sich nicht nehmen lassen nach L.A. zu fliegen und sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass ihr Mann ermordet wurde.“ „Oh.“ Wenig später quälte sie sich mit grimmiger Entschlossenheit durch den morgendlichen Arbeitsverkehr der in schleppendem Tempo wie ein träger Wurm durch die Landschaft kroch. Morgens in L.A. zu sein, war wirklich kein Spaß, sobald man zu einer normalen Zeit auf die Straße fuhr, hatte man das Gefühl, mehr geschoben und gezogen zu werden, als tatsächlich zu fahren. Es kam ihr fast wie ein Wunder vor, als sie schließlich das mit einer strahlenden Sonne gekennzeichnete Sunshine sah, das inzwischen ein bei Touristen beliebtes Beach-Hotel war. Behutsam schlängelte sie den Wagen aus dem Verkehr und stellte ihn auf dem hoteleigenen Parkplatz ab. Sie spürte, wie sich ihre Organe verknoteten, als sie ausstieg. Es war eine Sache, in einem hübschen Büro zu sitzen und über den Abschaum dieser Welt nachzugrübeln, während man eine Tasse Kaffee trank, aber eine ganz andere, den Menschen in die Augen zu blicken, die diesen Abschaum am eigenen Leib erlebt hatten, denen geliebte Menschen entrissen wurden und die nichts weiter tun konnten, als auf die Menschen zu vertrauen, die gemütlich dort saßen und über Dinge redeten, die ihr Leben zerfetzt hatten, als wären sie ganz gewöhnlich, nichts weiter als der Alltag. Und sie verstehen nicht einmal, warum sich die Welt überhaupt weiterdreht. „Guten Tag, ich möchte zu Caroline Sanders.“ Der südländisch aussehende Portier nickte und kritzelte eine Zimmernummer auf einen Zettel. „Sie erwartet sie bereits, Agent Starling.“ Immer noch nervös – obwohl sie schon oft mit Zeugen oder Familienmitgliedern der Opfern gesprochen hatte, kam es ihr jedes Mal vor, als wäre es wieder das erste Mal – stieg sie in den Fahrstuhl. Mrs Sanders hatte sich ein kleines Zimmer im ersten Stock genommen, entgegen der Wahl ihres Mannes war es schmucklos und bescheiden, als hätte sie mit ihm auch seinen Lebensstil beerdigt. Oder sie braucht keinen Prunk, weil die Trauer alles ausfüllt, weil sie die Welt ohnehin unsichtbar und jeden Luxus bedeutungslos macht. Nichts bringt die Toten zurück. „Mrs Sanders? Darf ich reinkommen?“ Zunächst schlug ihr nur Stille entgegen, doch dann vernahm sie eine sanfte Frauenstimme, leise und müde, aber doch ungebrochen. Caroline Sanders Äußeres bestätigte diesen ersten Eindruck, sie sah aus, als hätte sie viel geweint und wenig geschlafen, aber ihre Augen wirkten aufmerksam und stark. Sie war eine Frau, die alles verloren hatte, aber sie war eine Kämpferin, sie wollte den Tod ihres Mannes begreifen können. Und sie wollte Rache. „Guten Tag, Sie müssen die Agentin sein, die man zu mir schicken wollte.“ Ein leichtes Lächeln erschien auf ihren Lippen, allerdings blieben ihre Augen misstrauisch, etwas das Jodie noch weiter von ihrer Stärke überzeugte. „Ja, ich soll mit Ihnen über den Tod ihres Mannes sprechen.“ Sie nickte leicht und schwieg einen Moment, um sich zu sammeln. Vermutlich kostete es unbeschreibliche Kraft, auch nur darüber nachzudenken, geschweige denn davon zu sprechen. „Jeff war nicht so, wie die anderen Männer.“, begann sie stockend. „Viele behaupten, er sei ein Arschloch gewesen, korrupt und geldgeil wie alle Männer und das war er vermutlich auch. Aber das hatte er nicht verdient.“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich selbst ermutigen, weiterzusprechen. „Er war immer lieb und zuvorkommend, hat mir niemals Vorwürfe gemacht. Selbst, als sich herausstelle, dass ich keine Kinder bekommen konnte – dass es niemanden geben sollte, dem er seine Firma vererben konnte, hat er nur gelächelt und mich geküsst. Er hat gesagt, dass er mich immer lieben würde, ganz gleich, was geschieht, weil wir zusammengehören, kitschig nicht?“ Die Frau sah nicht aus, als wollte sie tatsächlich eine Antwort hören, also schwieg sie und hörte weiter aufmerksam zu. „Er ist auf eine Geschäftsreise gegangen – wie so oft. Viele dachten deshalb, er sei ein schlechter Ehemann, weil ihm seine Karriere wichtiger war, als alles andere, aber ich glaube, er hat es für mich getan, damit ich die Leere füllen konnte, die an dem Platz in meinem Herzen geblieben war, der immer für ein Kind reserviert war. Er schrieb mir Nachrichten. Wunderbar romantische SMS und E-Mails, als wären wir verschämte Teenager, die nur so ihre Gefühle ausdrücken können. Manchmal schickte er mir auch Pakete mit Kleinigkeiten, Leckereien oder Bildern von dem Ort, an dem er war, gab mir kleine Rätsel auf oder erzählte mir Geschichte, er war ein wundervoller, aufrichtiger Mann.“ Nun war ihr Lächeln ehrlich und so furchtbar traurig, das Jodie einen Moment lang glaubte, sie könnte es nicht länger in diesem Raum aushalten. Ihr war danach, nach draußen zu rennen und die Welt anzuschreien für ihre sinnlose Grausamkeit und ihre lächerlich abscheuliche Ungerechtigkeit. Auf einmal fühlte sie sich umso schuldiger für ihr fehlerhaftes Verhalten, vermutlich war das genau das, was Mel letztendlich bezwecken wollte, aber das war ihr egal. Falscher Stolz war in diesem kranken Spiel unangebracht, genauso wie persönlicher Schmerz, Menschen wie Caroline Sanders, die die Morde unscheinbar wie Schatten, blutend und doch stark und unbeugsam zurückließen, mussten sich auf sie verlassen können. Es gab keine Ausflüchte mehr. Jodies Blick war nun voller Entschlossenheit. „Ich weiß, Mrs Sanders. Alle seine Opfer waren unschuldig, Menschen wie Ihr Mann, die einfach aus dem Leben gerissen wurden. Aber ich verspreche Ihnen, dass es keine weiteren Opfer mehr geben wird. Der Mörder mag sich für überlegen halten und unglaublich gerissen, aber es gibt kein perfektes Verbrechen.“ Als sie Mrs Sanders zweifelnden Blick spürte, fuhr sie unbeirrt fort. „Ich weiß, das muss für Sie wie eine hohle Phrase klingen und ich kann Ihnen nicht versichern, dass wir ihn tatsächlich schnappen, das stimmt. Es gibt genug scheußliche Kreaturen, die immer noch unerkannt rumlaufen und hinter ihren Masken lachen, aber sobald sie an die Öffentlichkeit treten, werden sie früher oder später geschnappt, denn je mehr sie offenbaren, desto mehr wissen wir auch über sie. Ihr Fluch ist, dass sie den Nervenkitzel, das Spiel lieben, aber ein Spiel funktioniert nur mit Regeln und Chancen, auch für den Gegner. Deshalb werfen sie uns Krümel hin, deren Spur wir schließlich folgen und die uns früher oder später ans Ziel führt.“ „Und der Mörder meines Mannes hat das getan?“ Die Skepsis in ihrem Blick war eine trügerischen Hoffnung gewichen, zart und unsicher wie ein kleiner Trieb, der zum ersten Mal aus der Erde stieß und eine ebenso endlose Dunkelheit erwartete. Mit festem Blick sah Jodie sie an. „Davon bin ich überzeugt. Wir werden den Mörder Ihres Mannes zur Rechenschaft ziehen.“ „Und, wie geht es dir mittlerweile?“ Sie stellte eine Tasse duftenden Tee vor ihm auf den Tisch und schenkte sich dann selbst ein. „Es ist beängstigend, nicht wahr?“ Er lächelte geheimnisvoll, während er einen Schluck der angenehm warmen Flüssigkeit trank. „Ein wenig. Aber ich bin dankbar, dass Vermouth es tatsächlich geschafft hat.“ Sie nickte, runzelte dabei aber leicht die Stirn, wie sie es immer tat, wenn sie über etwas nachdachte, das ihr Sorgen machte. „Ich hoffe, du weißt, was du tust. Die Organisation ist nichts, womit man spaßen kann, glauben sie, dass du nicht loyal bist, haken sie nach und wissen sie es, bringen sie dich um.“ „Mach dir keine Gedanken.“ „Das muss ich aber, du nimmst das alles auf dich, nur um mir und meiner Schwester zu helfen!“ Während er sie ansah, quälte ihn die Frage, ob das wirklich alles war, was sie dachte. Vertraute sie ihm wirklich so sehr? Fast wünschte er sich, sie würde zweifeln, würde sich fragen, warum ein angeblicher Ex-Polizist für zwei ihm unbekannte Frauen seinen Hals hinhielt, warum so jemand Vermouth kannte? Aber nichts davon schien sie zu beunruhigen, alles woran sie dachte war, dass er in Gefahr geraten könnte und das zerriss ihm schier das Herz. „Schon gut.“ Etwas unbeholfen strich er ihr übers Haar, was ihre Wangen zum Erröten brachte. „Ich verspreche dir, ich weiß ganz genau, worauf ich mich einlasse und bin vorsichtig.“ Sie nickte immer noch etwas verunsichert, schenkte ihm aber dann ihr bezauberndstes Lächeln, ein Lächeln, das so einnehmend war, dass er alles um sich herum vergaß. Nur der Klang seines Herzens blieb unnatürlich laut und nah. Poch. Poch. Er wusste, dass er nicht daran denken sollte, dass er es nicht durfte. Seine Gedanken sollten sich um sein Treffen mit Vermouth drehen, um ihre Forderungen, um das was darauf folgte, seine Überprüfung, seine Eingliederung in die Organisation auf Vermouths Empfehlung hin und die Prüfungen, die noch folgen würden, um seine Loyalität und seine Verderbtheit zu beweisen. Wobei nicht einmal das wirklich stimmte. Hier konnte er sich entschuldigen, konnte sagen, er wollte sich ablenken, sammeln, sich bereitmachen, eine perfekte Maske zu gestalten, die ihn näher an ein hochrangiges Mitgliedbrachte, vielleicht sogar an Gin, aber sie konnten nicht verhehlen, dass er bewusst einen ganz bestimmten Gedanken vermied. Den Gedanken an Jodie, der immer öfter von Akemis Lächeln , überlagert wurde, als wäre er nichts weiter als ein Schatten vergangener Tage. „Ich geh mal kurz eine rauchen, okay?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und ging nach draußen. Auf einmal fühlte er sich eingeengt und hatte das dringende Bedürfnis nach frischer Luft und stillem Alleinsein. Akemi blickte ihm nachdenklich hinterher, ihr war nicht entgangen, dass etwas in seinem Blick härter geworden war, dass er sich auf eine seltsame Art und Weise verwandelt und die magische Verbindung, die sonst so mühelos zwischen ihnen entstand, abgeblockt hatte. Warum, fragte sie sich zum hundertsten Mal. Warum bist du manchmal so abweisend und dann wieder so warm und freundlich? Was verbirgst du vor mir? Sie schämte sich für diese Gedanken, wollte sie ihm doch glauben, was er sagte, wollte sie ihm eine Chance geben und ihm vertrauen. Aber ein Teil von ihr fühlte sich merkwürdig, enttäuscht und bitter, als hätte sie ein Recht darauf zu erfahren, wer er wirklich war und was er dachte und als würde er ihr dieses Recht bewusst verwehren. Blödsinn, dachte sie und ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen. Vielleicht würde sie so auf andere Gedanken kommen. Kaum hatte sie ihren Kopf etwas freigemacht, stellte sie überrascht fest, dass etwas weißes aus der Tasche seiner Jacke ragte, die er über seinen Stuhl gehängt hatte. Neugierig griff sie danach, auf einmal wieder beherrscht von all den zweifelnden Gefühlen, die sie eben erfolgreich verdrängt hatte. Der Zettel fühlte sich komisch an, wie etwas, das man zerknüllt, wieder geglättet und viel mit sich herumgetragen hatte – was vermutlich sogar der Fall war, so wie er mittlerweile aussah. Unschlüssig betrachtete sie ihn von allen Seiten und faltete ihn schließlich auseinander. Im selben Moment, in dem sie es tat, bereute sie es auch schon, denn es handelte sich um einen Brief. Einen persönlichen Brief, den man ihm geschrieben hatte, etwas, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Dennoch konnten die Gewissenbisse sie nicht davon aufhalten, weiterzulesen, zu unerwartet, zu fremd war der Inhalt. Seit du gegangen bist, scheinen Wochen vergangen zu sein… Die Organisation, die du beschattest… Ein Killer… Laterna-Magica-Mörder. In Liebe, Jodie. Fassungslos ließ sie den Brief sinken. Die schreckliche Frage danach, wer dieser Mann wirklich war und was für ein Spiel er spielte, quälte sie, doch da war noch etwas ganz anderes, etwas Tieferes, Kälteres, das sie erschaudern ließ. In Liebe, Jodie. Auf einmal war sie erfüllt von Bitterkeit. Kapitel 9: Dissonanz -------------------- We´ve got the fire who´s got the matches? take a look around at the sea of masks and come one come all welcome to the grand ball when the strong run for cover and the weak stand tall „Ach, wen sehe ich denn da?“ Ein aufmunterndes Grinsen huschte über Camels kantiges Gesicht, als er ihr einen angenehm warmen Kaffeebecher reichte. „Hat man sich etwa dazu entschieden, dich endlich aus der Quarantäne zu entlassen?“ Jodie schnaubte nur und trank einen großen Schluck. Ihr Kreislauf hatte einen kleinen Push-Up jetzt bitter nötig. „Anscheinend war das Treffen mit Mrs. Sanders ein Test, dem Mel und Black mich unterzogen haben. Sie wollten sehen, ob ich noch einsatzfähig bin, nach allem, was bisher in diesem Fall etwas… unglücklich verlaufen ist.“ Obwohl sie sich bemühte, konnte Jodie nicht allen Trotz aus ihrer Stimme nehmen, sie lächelte entschuldigend. „Hey, ich weiß, wie du dich fühlst. Niemand war begeistert, von der Art, wie Mel den Fall übernommen hat, aber Black scheint ihr blind zu vertrauen und ich habe zumindest gehört, dass sie eigentlich sehr fähig sein soll. Sie hat eine ausgezeichnete Quote und…“ „Ich weiß, ich kenne sie.“, schnaubte Jodie nun doch etwas ungehalten. „Ich weiß auch, dass ich mich nicht korrekt verhalten habe, aber ich war schon auf dem Weg der Besserung! Es kamen einfach ungünstige Umstände zusammen, das hatte nichts damit zu tun, dass ich nicht in der Lage bin, für das FBI zu arbeiten.“ Es waren nur die Bilder, diese gottverdammten Bilder, die direkt aus einem Gruselkabinett zu stammen scheinen. Einer kleinen, horrormäßigen Freakshow, die so lange in meinem Gehirn aufgeführt wird, bis ich den Verstand verliere. Wir bitten um Applaus! „Jodie…?“ Sie zuckte unwillkürlich zusammen. „Ja? Entschuldige.“ Seufzend warf sie den leeren Kaffeebecher in einen bereits bedrohlich überfüllten Mülleimer, wo er gerade so auf einem Haufen Fast-Food-Tüten liegen blieb. „Du bist echt ganz schön durch den Wind, oder?“ Erschrocken sah sie ihn an. „Andre, wenn du-“ „Keine Panik, ich renne nicht gleich zum Chef deswegen.“ Er lächelte wieder. „Mel und Black mögen recht damit haben, dass bei dir gerade nicht alles glatt läuft und du dir einige Schnitzer geleistet hast – vielleicht solltest du zu einem Psychologen gehen, wenn das hier vorbei ist – aber wir jagen Serienkiller, keine Kleinkriminellen, sondern Menschen, für die selbst die schrecklichsten Albträume noch nicht schlimm genug sind und deren Existenz uns alle am liebsten zu Trinkern und Zynikern machen würde. Aber wir sind auch nur Menschen und wir können eben nur ein gewisses Maß an Schrecklichkeit ertragen, vor allem, wenn man noch nicht lange dabei ist, ist das ganz normal. Du hast bislang ja noch nicht viel in dieser Abteilung gearbeitet, oder?“ Sie schüttelte stumm den Kopf. Sie war schon von klein auf besessen von der Idee gewesen, zum FBI zu gehen, nicht zuletzt, um Mörder zu jagen und ihren Vater zu rächen. Ein dummer, kindischer Grund, aber auch ein tröstlicher Gedanke, der sie stark machte und ihr den Willen gab, das College und ein Kriminologie-Studium zu meistern. Mit knapp über zwanzig hatte sie sich dann beim FBI beworben und mit mehr als zusammengebissenen Zähnen die Ausbildung eher durchlitten als durchlebt. Zwar versuchte man, fortschrittlicher zu denken, aber dass Frauen es viel leichter in so einem Beruf hatten als früher, war immer noch ein Irrglauben. Vermutlich hätte ich es ohne meinen Vater nicht geschafft. Hätte mich nicht diese wütende, eiskalte Lust auf Rache angetrieben, wäre ich wohl gescheitert. Sie versuchte nicht daran zu denken, was für ein trauriger Grund das war, doch man sah Camel an, dass ihre Augen es deutlich zeigten. Schäme ich mich dafür? „Ich habe neben Kriminologie auch ein umfangreiches Sprach-, Journalismus und Rhetorikstudium absolviert, weshalb man mich erst mal in die Öffentlichkeitsarbeit steckte. Erst, als ich ein paar Kontakte knüpfen konnte, kam ich zu Entführungs- und Sexualdelikten und dann schließlich zu den Serienmorden. Aber auch, wenn ich erst seit kurzem hier arbeite, habe ich schon viel Schlimmes gesehen, glaub mir.“, fuhr sie hastig fort, um das peinliche Schweigen zu überspielen. Sein Lächeln verlor jede Freude. „Ich weiß, manchmal wünscht man sich sogar, die Opfer wären gestorben. Dann müssten sie nicht länger mit der Wahrheit leben.“ Wenn ich stark genug gewesen wäre, damit zu leben, wäre ich dann hier? Kann ich es nicht loslassen, weil es das einzige ist, das mich am Leben hält? Einen Moment lang verfielen sie erneut in Schweigen, dann zuckte Jodie mit den Schultern. „Wir sollten reingehen.“ Camel nickte und sah sie noch einmal schief an. „Denkt nicht so viel nach, okay? Du bist verdammt stark, Jodie, du packst das.“ Sie lächelte, während in ihrem Kopf dieselben Gedanken unaufhörlich wie ein Jahrmarkt-Karussell rotierten. Wäre ich beim FBI, wenn mein Vater noch am Leben wäre? „Agent Starling, Agent Camel.“, ein hochgewachsener, aber dennoch recht unscheinbarer Beamter nickte ihnen zu. „Gut, dass sie da sind.“ Sie folgten dem hageren Mann durch das protzige Foyer des Costa Blanca, das mit so viel Zierrat und Falschgold ausgestattet war, das man glauben konnte, das Hotel würde nur hohe Staatsgäste empfangen. Die elegant zurecht gemachte Empfangsdame musterte sie ein paar Augenblicke lang prüfend, widmete sich dann aber wieder irgendwelchen Unterlagen. Jodie schluckte, als sie den Aufzug betraten. Nach dem Gespräch mit Mrs. Sanders schien der Gedanke auf einmal unerträglich, den Ort zu betreten, an dem man ihren Mann regelrecht abgeschlachtet hatte. Jetzt war Sanders nicht nur ein gesichtsloses Opfer für sie, auf einmal hatte er die Züge eines Menschen bekommen, eines Menschen, der nicht perfekt war und Fehler hatte, aber wie sie alle darum gekämpft hatte, das Richtige zu tun. Zumindest bis man ihn umgebracht hat. Allerdings machte gerade diese Unerträglichkeit es unmöglich für sie wegzusehen. Als sie das geschmacklose Zimmer betraten, spürte Jodie regelrecht, wie ihr Jagdtrieb geweckt wurde und ihre Augen suchend durch den Raum huschten und alles abspeicherten, was sie sahen. Blut. Weiße Markierungen. Die Laterna Magica. So viel Blut. Man konnte einem Täter kaum näher kommen als durch den Tatort, den Ort des Verbrechens. Man sah, was er gesehen hatte, schmeckte die gleiche Luft, fühlte vielleicht sogar eine ähnliche Anspannung. Solche Orte trugen die Signatur eines Mörders, vielleicht auch seine Unachtsamkeit, seine Fehler, die ihm schließlich das Genick brechen würden. Jodie bereute es sehr, nicht an den vorherigen Tatorten gewesen sein zu können, immerhin bestand ein gewaltiger Unterschied dazwischen, Bilder anzusehen und Berichte zu lesen und selbst dort zu sein, wo der Mord begangen wurde. Sie fragte sich unwillkürlich, ob sie vielleicht mehr wissen würde, wenn James sie früher hinzugezogen hätte. Andererseits dürfte der Fall zunächst im Zuständigkeitsbereich des LAPD gelegen haben, bevor man herausgefunden hatte, dass es sich um einen Serientäter handelte. Vermutlich spielte es keine große Rolle, dass James ihr nicht früher vertraut hatte, wichtig war nur, dass sie ihm jetzt zeigen konnte, dass er sich voll auf sie verlassen konnte. Na los, du hast deinen Tatort. Jetzt beweise ihnen, dass du immer noch eine Agentin bist. Zusammen mit Camel ging sie hinüber zur Markierung – Jeff Sanders hatte auf dem Rücken gelegen, der beige Teppich war hier immer noch blutgetränkt. „Können Sie mir ein paar Einzelheiten verraten?“, wandte sie sich an den Forensiker, der sich als Peter Rhodes vorgestellt hatte. „Nun, Sanders ist vor zwei Tagen ermordet worden. Die Kugel stammte aus einer Glock 37, weder die Waffe noch irgendwelche Fingerabdrücke konnten sichergestellt werden. Unser Täter war auch hier wieder sehr gründlich. Alles, was einen Anhaltspunkt bietet, ist diese seltsame Maschine, die er an jedem Tatort aufstellt, wir gehen davon aus, dass er sie selbst baut, da es keine vergleichbaren Modelle zu kaufen gibt – höchstens in Museen, aber die sind in der Regel gut gesichert.“ Camel nickte. „Das stimmt. Wir sind mittlerweile auch mit der Analyse seiner Einkäufe durch und haben festgestellt, dass er gestohlene Kreditkarten verwendet hat. Wir überprüfen die Besitzer gerade.“ „Wunderbar.“ Rhodes lächelte freundlich. „Sie können sich hier aber gerne umsehen, die Berichte müssten sie zwar schon vorliegen haben, aber es schadet sicher nicht, sich den Tatort noch einmal genauer anzusehen, um mit dem Modus Operandi des Täters vertrauter zu werden.“ Während Camel weiter mit Rhodes über die anderen Tatorte sprach, begann Jodie damit, sich den Raum genauer anzuschauen. Für ein Einzelzimmer war der Raum relativ groß, allerdings nicht übertrieben geräumig. Dass er sich bewusst für ein Einzelbett und kein Doppelbett entschieden hatte, sprach für ihn, es zeigte, dass er nicht einmal daran gedacht hatte, seine Frau zu betrügen. Die etwa quadratisch angeordneten Wände waren mit einer kitschigen Tapete überzogen und von der Decke hing ein kleiner Kronleuchter. Während die Möbel in dunklen Holztönen gehalten waren, lag über dem Bett eine beige Überdecke. Die gleiche Farbe fand sich auch in dem großen, teuer wirkenden Teppich wieder, der nun über und über mit dunkelroten und braunen Flecken überzogen war wie ein groteskes Kunstwerk. An sich zeigte der Raum keinerlei Auffälligkeiten, es war ein gewöhnliches Zimmer, wie man es in Hotels fand, in denen vor allem die obere Mittelschicht und bisweilen auch die Oberschicht logierte. Auch der Blick auf die großen Fenster brachte keine neuen Erkenntnisse, die schweren Brokatvorhänge waren zum Zeitpunkt des Verbrechens zugezogen gewesen, sodass es auch von draußen unmöglich gewesen war, einen Blick ins Zimmer zu erhaschen und eventuelle Zeugen ausfielen. Was den Täter anging, bestand die Möglichkeit, dass er selbst im Hotel eingemietet gewesen war, weshalb man bereits mit der Überprüfung der Gäste begonnen hatte. Leider gestaltete sich dieser Teil der Ermittlung etwas zäh, da das Hotel sehr viel Wert auf seinen nun ohnehin schon angekratzten guten Ruf und den Schutz der Daten seiner Gäste legte. Das war natürlich nichts Ungewöhnliches, aber durchaus lästig, da ein Gerichtsbeschluss die Ermittlungen unnötig verzögern würde. Jodies Blick glitt erneut über die Stelle, an der man Sanders Leiche nachgezeichnet hatte. Auch hier wirkte auf den ersten Blick nichts eigenartig, alles passte wunderbar ins Bild. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen. Komm schon Jodie, denk nach. Es ist alles zu gewöhnlich, zu perfekt. Dieser Typ ist ein Irrer, seine Nachricht zeigt, dass er Aufmerksamkeit will. Er spielt mit uns. Würde so jemand tatsächlich einen sauberen Tatort hinterlassen? Zwar war die Laterna Magica für sich schon etwas sehr Persönliches, aber irgendwie konnte sie nicht glauben, dass das alles sein sollte. Es war inzwischen alltäglich für den Täter geworden, eine spöttische Signatur zweifellos, aber etwas, dass er immer hinterließ. Und trotzdem schreibt er einen Brief. Das reicht ihm nicht. Hatte er sich nicht am Tatort, sondern an der Leiche zu schaffen gemacht? Gerade wollte sie ich erneut an Rhodes wenden, um ihn über die pathologischen Einzelheiten zu befragen, als ihr etwas ins Auge sprang. Direkt gegenüber der Stelle, an der Sanders gestorben war, entdeckte sie ein kleines Tischchen an der Wand, auf dem ein unscheinbares Kästchen stand. Neugierig trat sie näher heran, zunächst war es ihr nicht aufgefallen, doch je länger sie es betrachtete, desto unpassender kam es ihr vor. Im Vergleich zu der übergroßen Laterna Magica verschwand es zwar beinahe, aber man konnte nicht leugnen, dass es nicht zur Einrichtung des Hotels passte. Im Gegensatz zu den Hochglanz-Möbeln wirkte das Holz beinahe morsch und zerfressen. Als sie vorsichtig Handschuhe überzog und es aufhob, entdeckte sie, dass es sich eigentlich um eine Spieluhr handelte. Manchmal schickte er mir auch Pakete mit Kleinigkeiten von dem Ort, an dem er war, gab mir kleine Rätsel auf oder erzählte mir Geschichte, er war ein wundervoller, aufrichtiger Mann. Behutsam öffnete sie die Spieluhr. Drinnen tanzte eine grobgeschnitzte Figur, die offensichtlich eine Ballerina in einem furchtbar kitschig, der amerikanischen Flagge nachempfundenen, Kostüm darstellen sollte. Die Melodie, die ertönte, war eine leicht dissonante Version von „…And a song for Los Angeles“ von She Wants Revenge. Jodie lächelte. Ein kleines Geschenk. Aber für wen? Für Mrs. Sanders oder für uns? Von den Klängen aufgeschreckt, traten Camel und Rhodes zu ihr. „Was gibt es Jodie?“ „Guckt euch das mal an, kommt euch diese Spieluhr hier nicht verdächtig vor?“ Camel musterte sie nachdenklich. „Sie gehört zu Sanders persönlichen Gegenständen, wir haben im Papierkorb einen Beleg gefunden, dass er sie hier in L.A. gekauft hat.“ Jodie nickte. „Ja, als Mitbringsel für seine Frau.“ „Das nahmen wir an.“ „Aber warum steht sie hier so offen rum? Er hat alle seine Gegenstände längst verpackt.“ Sie deutete auf den vollen Koffer, der immer noch unschuldig in einer Ecke des Raumes stand und auf eine Reise wartete, die er niemals antreten würde. „Die Spieluhr sieht zerbrechlich aus, wäre es nicht ratsam, sie unter oder zwischen die Kleidung zu packen, um sie zu schützen? Stattdessen steht sie hier offen rum und fürs Handgepäck scheint sie mir zu groß zu sein.“ „Vielleicht hat er sie einfach vergessen?“ „Das könnte natürlich sein, aber seine Frau hat mir erzählt, wie wichtig es ihm war, sie an seinen Reisen teilhaben zu lassen. So etwas würde er nicht einfach liegen lassen. Außerdem beschäftigt mich, dass der Tatort bislang einfach zu perfekt war. Die Spieluhr passt so sehr nicht ins Bild, dass mehr dahinter stecken könnte.“ Die Anspannung in den Gesichtern der beiden wuchs augenblicklich, als sie ihren Gedankengängen folgten. „Lasst uns das Ding sofort überprüfen.“ Jodie begann damit, den Deckel abzuheben, der sich überraschend leicht lösen lies. Als sich hier nichts fand, entfernte sie die Platte, auf der die eigenartige Ballerina munter ihre Kreise drehte. Sofort verstummte die Melodie und ließ eine beinahe bedrückende Stille zurück. Unter der Platte fanden sich ein kleiner Antrieb und ein Hohlraum, allerdings keine Spur von einer Botschaft oder einem fremden Gegenstand. „Hmm…“, machte Rhodes und beugte sich vor. Plötzlich stutzte er und deutete mit dem Finger auf eine kleine Stelle am Rande es Holzbodens. „Schaut mal da, könnt ihr die Kratzspuren sehen? Es könnte sein, dass man das Kästchen hier geöffnet hat. Vielleicht gibt es einen doppelten Boden.“ „Ein Klassiker.“, spottete Camel, wurde aber sofort wieder ernst, als Jodie versuchte, den Boden abzuheben. Tatsächlich ging auch dieser nach einigem Ruckeln ab und offenbarte ein schmales Fach knapp über dem Sockel der Schatulle. Wie gebannt starrten die drei auf einen kleinen, unscheinbaren Zettel, der mit Sicherheit nicht Teil der Spieluhr war. „Oh mein Gott.“, entfuhr es Jodie, als ihre Augen hastig über den Text flogen. Eine weitere Botschaft des Hutmachers. Schwarz. Rabenschwarz. Nachtschwarz. Pechschwarz. Je mehr Zeit Shuichi in der Organisation verbrachte, desto elektrisierter fühlte er sich. Obwohl er die Dunkelheit gewohnt war und sich in ihr ebenso leicht, wie ein Schatten bewegte, kam er nicht umhin, zuzugeben, dass sie durchaus etwas Bedrohliches hatte. Er fühlte sich wie ein Fisch, der weit unten in der Dämmerzone lebte, er war ein Geschöpf der Nacht, aber die Tiefsee mit all ihren Schrecken verkörperte nun einmal eine vollkommen andere Art von Dunkelheit. Ohne jedes Streulicht war sie endgültig. Nachdem alle notwendigen Formalitäten geklärt waren, hatte Vermouth ihn in eine Basis der Organisation gebracht. Mittlerweile war man nach Überprüfung seiner falschen Identität – Dai Moroboshi – zu dem Schluss gekommen, dass er vertrauenswürdig war. Die erste Hürde seines Undercover-Einsatzes war also bereits geschafft. Er wusste nicht genau, wie viele Basen die Organisation innerhalb von Japan oder vielleicht auch im Ausland besaß, aber er wagte es nicht, innerhalb der düsteren Betonmauern danach zu fragen, da man vermutlich alles überwachte. Anokata schien äußert gründlich zu sein, was die Auswahl seiner Untergebenen anging, es wäre also nicht verwunderlich, wenn er auch nach ihrer Aufnahme nicht damit aufhörte, sie immer und immer wieder zu überprüfen und zu testen. So sind die Raubfische hier unten. Schwimmst zu tief in die Dunkelheit, fressen sie dich. Bei dieser Basis handelte es sich um Räumlichkeiten unter einem großen Bürokomplex, die wohl einst eine Tiefgarage gewesen waren. Shuichi vermutete, dass sie das Gebäude gekauft hatten und es pro forma als Unternehmen weiterlaufen ließen, während die Räume hier unten von allen Karten verschwunden waren. Was genau sich hier unten befand, konnte er selbst nicht sagen, vermutlich gab es neben Verhör- und Besprechungsräumen, Waffenlagern und Computeranlagen noch weitaus schrecklichere Dinge. Unwillkürlich musste er an Akemis Schwester denken, die irgendwo in einem kalten Labor eingesperrt war und die Aufträge dieser finsteren Haie ausführen musste. „Nett hier, nicht wahr?“ Vermouth zwinkerte ihm amüsiert zu. Anscheinend war sein Gesicht bei diesen Gedanken nicht ganz so ausdruckslos geblieben wie sonst. „Ja, durchaus.“ Einen Hauch von Ironie konnte er sich einfach nicht verkneifen. Bitte vergib mir, Anokata. Vermouth lächelte immer noch. „Na schön, jetzt bist du also hier. Um dich ein wenig zu testen, wirst du fürs erste kleinere Aufgaben bekommen, das hier ist auch nur ein bedeutungsloser Stützpunkt, keine Sorge, nahezu gar nichts hier unten lässt sich tatsächlich mit uns in Verbindung bringen. Die Geheimhaltung erfolgt, lässt man Anokatas Paranoia beiseite, eigentlich nur aus Platzgründen.“ Er nickte nur. „Du wirst ein kleines Büro bekommen und die Aufgabe bekommen, Dinge für uns zu überprüfen. Treffpunkte mit Händlern, Leute, die für uns interessant sein könnten, Profile erstellen und so weiter und so fort. Alles klar soweit?“ „Keine Sorge, ich bin sicher, ich bin qualifiziert genug für diesen Job.“ Vermouth lachte. „Glaub mir, wenn es nach mir ginge, würdest du sicher andere Aufgaben kriegen.“ Er hob die Augenbrauen. „War das ein Flirtversuch?“ „Nur nicht so abgehoben, du bist hier immer noch der kleine Handlanger.“ Sie führte ihn einen anonym wirkenden Gang entlang, der von schmalen Stahltüren gesäumt war. Als sie bei der vorletzten Tür angelangt waren, öffnete sie sie mit einer Karte, von der er selbst bereits am Morgen eine Version erhalten hatte und führte ihn in ein fensterloses Büro, das den Charme einer Gefängniszelle versprühte. „Bitteschön. Ich wünsche dir einen erfolgreichen ersten Arbeitstag.“ Kaum war Vermouth gegangen, fuhr Shuichi den PC hoch und gab die Anmeldedaten ein, die man ihm übermittelt hatte. Es erschien augenblicklich ein Desktop mit einigen Ordnern, die mit Zahlencodes von Daten und Orten beziffert waren. Im Geiste zählte er ein paar Minuten ab, dann stand er auf und schlich sich aus dem Büro. Es war nicht zu vermeiden, dass die Kameras ihn aufnahmen, allerdings würde er sich dadurch erklären können, dass er eine Toilette gesucht hatte. Außerdem hatte er ja Vermouths Schutz, solange ihr etwas daran lag, aus der Organisation rauszukommen, würde sie ihn sicher nicht einfach ans Messer liefern. Die Gänge glichen sich alle wie ein Ei dem anderen, sodass es ihm schwer fiel, nachzuvollziehen, in welche Richtung Vermouth gegangen war. Jeder Tür war mit einer Tafel und einem Kartenschloss versehen, wie zu erwarten funktionierte seine Karte nur für seine eigene Bürotür und die allgemeinen Eingänge. Aber das spielte erst einmal keine Rolle, wichtig war nur, dass er ein Bild des unterirdischen Labyrinths bekam, um sich im Notfall schnell zurechtzufinden. Gerade wollte er in einen weiteren Gang abbiegen, als er irgendwo eine Tür quietschen hörte. Neugierig folgte er dem Geräusch und sah gerade noch einen blonden Haarschopf verschwinden, während sich der automatische Mechanismus die Tür langsam schloss. Geistesgegenwärtig packte er die Tür und zog sie selbst soweit zu, bis nur noch ein winziger Spalt übrig blieb. Der Raum einigermaßen gut beleuchtet, allerdings hatte sich Vermouth ihrem Computer zugewandt und bemerkte nicht, dass sich die Tür nicht ganz geschlossen hatte. Shuichi wusste nicht genau, wohin das führen sollte, aber es konnte nicht schaden, sich ein wenig hier umzusehen. Offenbar war es eines von Vermouths Büros und offenbarte womöglich einen Hinweis auf Anokatas Identität. Immerhin schien Vermouth näher an ihm dran zu sein, als jeder andere. Das Zimmer war ebenso spärlich eingerichtet wie sein kleines Reich, es gab lediglich einen Schreibtisch und ein paar metallene Aktenschränke. Wäre ja auch zu schön gewesen. Gerade als er sich zurückziehen wollte, entdeckte er jedoch etwas in einer Ecke des Zimmers, das ihn stutzig machte. Das Objekt wirkte auf den ersten Moment befremdlich, wie ein Apparat aus einem Kinofilm oder einem Museum. Er konnte sich nicht erinnern etwas dergleichen schon einmal gesehen zu haben, doch plötzlich kam es ihm seltsam vertraut vor. Die Organisation die du beschattest, der Killer mit seinen mystischen Apparaten, die nicht nur aus der Vergangenheit, sondern aus einer vollkommen fremden Welt zu stammen scheinen, zwischen ihnen besteht eine Verbindung. Konnte es möglich sein? Fassungslos starrte er auf den Apparat, dessen Zweck ihm schlagartig klargeworden war. Man kann damit Bildfolgen abspielen, früher wurde es genutzt, um kleine Filmchen zu erzeugen, jetzt benutzt es der Mörder, um dem FBI einen Teil seines Horrorkabinetts zu präsentieren. Wieso zur Hölle fand sich so etwas in Vermouths Besitz? Bedeutete das etwa…? „Tut mir leid, falls dir das Teil gefällt, es ist unverkäuflich.“ Als er seine Augen erschrocken von der Laterna Magica abwandte, blickte er direkt in den Lauf einer Waffe, hinter der Vermouths blaue Augen angriffslustig funkelten. Kapitel 10: Die Büchse der Pandora ---------------------------------- Three blind mice, three blind mice, See how they run, see how they run They all ran after the farmer’s wife Who cut off their tails with a carving knife Did you ever see such a thing in your life, As three blind mice? Gefällt Ihnen mein kleiner Reim? Ich muss sagen, die drei blinden Mäuse waren eine geradezu vortreffliche Metapher für Ihre Suche nach mir. Um ehrlich zu sein, ich hatte gehofft, sie hätten zumindest den Sinn hinter meinem doch sehr schlichten Gedicht bereits entdeckt und wir könnten mit dem Spiel fortfahren. Ich hatte wirklich große Hoffnungen in Sie gesetzt! Umso mehr schmerzt es mich, dass sie es immer noch nicht geschafft haben. Doch trotz Ihres schmachvollen Versagens, bin ich bereit, Ihnen entgegen zu kommen. Unter dieser kleinen Ansprache finden sie ein weiteres Gedicht, das Ihnen nahebringen soll, wie Sie mit dem Hinweis aus dem ersten Gedicht (den Sie leider immer noch nicht gefunden haben) fortfahren sollen. Bedenken Sie, das ist Ihre letzte Chance, wenn Sie das Rätsel nicht innerhalb von 24 Stunden gelöst haben, wird es ein weiteres Opfer geben. P.S. Beste Grüße an meine geliebte Alice, wir alle vermissen sie schrecklich im Wunderland! Alice found eternity in a cup of tea In the tea, there was the key Salty-sweety poison Melting on her tongue Alice drank her treason Dreaming rabbits dancing. Mad Hatter Jodie warf Mel, die mittlerweile ebenso blass und erschöpft wirkte wie sie selbst, einen beunruhigten Blick zu. Trotz ihres dunklen Teints wirkte sie fast weiß um die Nasenspitze. Nachdem sie in höchster Eile die Nachricht übergeben hatten, waren alle Konflikte unter den erschütternden Neuigkeiten begraben worden und erschienen ihnen allen auf einmal absurd und unwirklich. Niemand von ihnen hatte so recht gewusst, wo sie anfangen sollten, hatten sie jetzt doch bereits zwei Gedichte des Hutmachers vor sich liegen, die es zu deuten galt. Leider hatte er nicht Unrecht, keiner von ihnen wusste wirklich, wonach genau sie suchen sollten. Man hatte bereits alle möglichen Tests durchgeführt und auf Hinweise im Buch „Alice im Wunderland“ gesucht, aber bislang war keine Theorie haltbar gewesen. Erschreckender waren zweifelsohne zwei andere Dinge, die Mel schließlich schluckend aussprach, womit sie alle Blicke im Raum auf sich zog. „Wir haben ein – nein zwei Probleme. Erstens, woher bekommt der Hutmacher seine Informationen? Schließt er wirklich nur daraus, dass wir ihn noch nicht gefasst haben, dass wir den ersten Teil des Rätsels nicht gelöst haben oder hat er irgendwo eine Quelle?“ „Ich denke, er muss von irgendwoher Informationen über die laufenden Ermittlungen erhalten. Immerhin sagt er deutlich, dass das erste Gedicht nur ein Hinweis darauf ist, wie sich das zweite lösen lässt, aber das hatten wir bis vor kurzem noch nicht. Somit konnte er eigentlich nicht wissen, ob wir es gelöst haben oder nicht, schließlich haben wir keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren.“ Jodie spürte, wie die Anspannung im Raum abrupt anstieg. Die Lüftungsschächte schienen plötzlich jeglichen Sauerstoff einzusaugen und ein wasserähnliches Gemisch zurückzulassen, das auf ihre Lungen drückte und ihre Glieder taub und müde machte wie die eines Tauchers, der wusste, dass die Oberfläche in bedrohlich weite Ferne gerückt war. Es gibt einen Maulwurf. Entweder das oder er war hier. Kein besonders angenehmer Gedanke. Niemand sprach den Gedanken aus, doch das war gar nicht nötig, kaum hatte Jodie geendet, hatten die Augen ihrer Kollegen sich verengt und Misstrauen hatte die Müdigkeit in ihnen verdrängt. Jodie wünschte sich einen Moment lang sehnlichst, Anna würde neben ihr sitzen. Sie war eine Meisterin darin, die Stimmung aufzulockern und gegensätzliche Parteien an einem Tisch zusammenzuführen, doch weder sie noch ihr Sinn für Diplomatie waren momentan verfügbar, weshalb sie, in stummem Entsetzen vereint, mitansehen mussten wie ihre Arbeit gerade noch mal ein gutes Stück erschwert wurde. Allerdings war das bei weitem nicht das Schlimmste, das der Hutmacher ihnen hinterlassen hatte. Eine weitere schockierende Tatsache, die ans Licht kam, war, dass man die Schatulle keineswegs übersehen hatte. Den Ermittlern war bereits bei der ersten Untersuchung des Tatortes aufgefallen, dass die kleine, unscheinbare Kiste so gar nicht ins Zimmer passen wollte und hatten einen Hinweis in ihr vermutet. Dummerweise hatte sie sich lediglich als kitschiges Souvenir, aber keineswegs als hilfreich erwiesen. Noch nicht. Was das bedeutete, war allen auf Anhieb klar gewesen. Der Hutmacher war spielte mit ihnen. Er war dreist und vollkommen dem alten Klischee entsprechend, zum Tatort zurückgekehrt und hatte ihnen eine Botschaft hinterlassen, nachdem sie alles untersucht und abgesperrt hatten. Three blind mice, three blind mice, See how they run, see how they run… Wütend ballte Jodie die Hände zu Fäusten. Ihre Nägel gruben sich unangenehm in ihre Handflächen, doch sie bemerkte es kaum. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder den tanzenden Hasen und dann die drei Mäuse, die zu blind waren, die Wahrheit zu erkennen. Der Mörder machte sich über sie lustig, für ihn war es nur ein dämliches Spiel. Mr. Sanders ist tot, aber hey, es ist doch nur ein Spiel, oder? Und was ist mit den anderen Opfern? Tot, tot, tot… Natürlich wusste sie, dass es immer so gewesen war, schließlich würde wohl niemand diese Morde so inszenieren, wenn er nicht eine perverse Freude dabei empfand. Dennoch schmerzte der Gedanke sie seit den neusten Erkenntnissen, seit sie Mrs. Sanders getroffen hatte, noch tiefer. Sie hatte das Gefühl, dass es jetzt zu etwas Persönlichem geworden war, etwas, dem sie mit allen Mitteln den Kampf ansagen musste. Oder war es das schon die ganze Zeit und ich habe es nur nicht bemerkt? P.S. Beste Grüße an meine geliebte Alice, wir alle vermissen sie schrecklich im Wunderland! Der letzte Satz des Briefes ließ sie Schaudern. Nach allem, was passiert war, schien die Möglichkeit, dass jemand anderes mit Alice gemeint war, verschwindend gering. Aus irgendeinem Grund wollte der Mörder, dass sie mit ihm spielte, dass sie ihn jagte. Er kannte sie, er wusste Dinge über sie, die sonst keiner wusste, als würde sie etwas verbinden, das bislang niemand benennen konnte. Als hätte sie, ohne zu wissen wie, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Wer bist du? Woher kennen wir uns? Obwohl der Gedanke sie erschütterte, wusste sie, dass es auch ein Geschenk sein konnte. Es konnte eine Spur, ihre einzige Möglichkeit, den Killer zu finden, falls sie seine Rätsel nicht lösen konnten, sein. Auch kein angenehmer Gedanke. „Also gut, sie alle sind darüber informiert, dass der Hutmacher uns eine Deadline gesetzt hat.“ Aufgrund der brisanten Neuigkeiten, hatte James Black wieder die Führung übernommen. Mit gerunzelter Stirn stand er am Ende eines großen Konferenzsaales und versuchte seine Autorität zu nutzen, um zu retten, was noch zu retten war. In Anbetracht der Ereignisse wären sie ohne Anleitung vermutlich zu einer Horde kopfloser Schafe geworden, Professionalität hin oder her, Misstrauen machte jedes noch so gute System ineffizient. Jodie musste zugeben, dass es dafür als Schachzug umso genialer war, der Hutmacher setzte sie unter Druck, zeigte ihnen aber auch, dass er sie kannte und sie bis zu einem gewissen Grad kontrollieren konnte. Er hatte es geschafft ihre FBI-Dienststelle zu einem äußerst explosiven Gemisch zu machen, das jederzeit hochgehen konnte. Bleibt nur zu hoffen, dass er mit uns in die Luft fliegt, dachte Jodie bitter und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Black zu, auf dessen Stirn kleine Schweißtropfen das Licht wie Diamanten reflektierten. Es war offensichtlich, dass auch er nicht ganz so zuversichtlich war, wie er sich gab, die Tatsache, dass er nun zwei Serienkiller gleichzeitig jagen musste, von denen einer tödlicher war als der andere, schien über ihm zu hängen wie ein Damoklesschwert. Mel räusperte sich und ergriff das Wort. „Genau. Außerdem spricht er Alice nun direkt an, was für mich darauf hindeutet, dass sie tatsächlich eine reale Person ist und sich noch dazu…“ Sie warf Jodie einen langen Blick zu, der sie frösteln ließ. „…hier beim FBI befindet. Anders lässt sich nicht erklären, warum er sie in einem Brief an uns direkt anspricht.“ Black nickte. „Das ist ein wichtiger Punkt, wenn wir wissen, wer Alice ist, können wir vielleicht auch eher seine Motive und seinen Modus Operandi nachvollziehen. Melinda, ich möchte, dass Sie sich weiterhin darum kümmern, die Identität der Alice zu klären und Nachforschungen anstellen.“ Wieder waren da diese kalten Augen, die sie musterten. Jodie wusste, dass es unverantwortlich wäre, ihre Vermutungen länger zurückzuhalten, doch irgendetwas hielt sie davon ab, sie auf der Stelle kundzutun. Waren es Mels eisige Blicke? Die feindselige Atmosphäre? Oder fürchtete sie sich davor, dass die anderen sie anstarren würden wie eine Aussätzige? Hör auf mit dem Mist, du bist eine FBI-Agentin und kein Schulkind. Wenn Mel mit einer Sache recht hatte, dann damit, dass du dich zusammenreißen musst. Jedes persönliche Problem sollte irrelevant sein, wenn du nur Ergebnisse liefern kannst. Aber wäre ich denn zum FBI gegangen…? flüsterte wieder die tückische Stimme in ihr. Bin ich dem überhaupt gewachsen oder ist es nur die Rache, die mir Kraft gibt? Wenn ich vergebe, was bleibt mir dann? „Neben Alice gibt es noch zwei weitere entscheidende Punkte: die Gedichte und wie Hutmacher uns infiltrieren konnte.“ Erschrocken stellte Jodie fest, dass Black bereits fortgefahren war, wenn sie jetzt einbrachte, was sie über Alice wusste, würde es ein äußerst schlechtes Licht auf sie werfen – etwas, das sie sich nicht leisten konnte, nachdem sie schon durch den Brief negativ aufgefallen war und Black ohnehin an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifelte. Zähneknirschend beschloss sie, Black und Mel gleich nach der Konferenz alles unter vier Augen zu erzählen, womöglich würden sie verstehen, dass es ihr nicht leicht fiel, offen über das zu sprechen, was ihr widerfahren war. Sie kam sich immer noch ein wenig kindisch vor, aber sie fühlte sich so müde und kraftlos wie schon lange nicht mehr, fast so, als würde der Hutmacher ihnen nach und nach alle Energie aussaugen und sie in sein verrücktes Wunderland zerren. Sein Wunderland, das Chaos, das er in unseren Herzen schafft. Für uns ist es der blanke Horror und für ihn eine wunderbare Spielwiese. „Ich möchte, dass sich weiterhin unsere Kryptologen zusammen mit Agent Starling um die Gedichte kümmern, ich habe vollstes Vertrauen in Sie. Des Weiteren werde ich einige zusätzliche neutrale Agenten und Überwachungsmaßnahmen anfordern, ich weiß, das ist eine äußerst unangenehme Situation für Sie alle, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir wenig Zeit haben und momentan nahezu jeder verdächtig ist, also bitte ich Sie um Verständnis.“ Ein paar Gesichter verhärteten sich noch ein wenig mehr, sodass sie beinahe wirkten wie aus grobem Stein gemeißelt, doch niemand widersprach. „Mr. Black, haben Sie kurz Zeit für mich?“ James Black drehte sich flüchtig um, blieb aber nicht stehen. „Jodie, es tut mir leid, ich habe gleich ein wichtiges Meeting. Ich verspreche, gleich danach komme ich auf Sie zurück.“ Bevor sie auch nur den Mund öffnen konnte, um ihm zu sagen, dass es um Alice ging, war er schon verschwunden. Jodie hatte ihn noch nie so gehetzt erlebt. Sie setzte an, ihm zu folgen, blieb dann aber stehen und blickte ihm nachdenklich hinterher. Es ging höchstwahrscheinlich um den Killer und war somit womöglich genauso wichtig wie ihre Vergangenheit, weshalb es von Vorteil war, wenn er sich erst mal auf eine Sache konzentrierte. Vor ihrem inneren Auge tauchte wieder sein müdes, von kleinen Schweißperlen bedecktes Gesicht auf, das seit diese schrecklichen Geister es heimsuchten, viel älter wirkte, als es eigentlich war. Sie seufzte. Auch wenn es ihre Pflicht war, Black zu informieren, würde sie sich zuerst an Mel wenden. Immerhin war sie zuständig für das Projekt "Alice" und ihnen allen lag etwas daran, dass dieses Trauerspiel möglichst schnell über die Bühne ging. Ärgerlicherweise machte ausgerechnet Mel ihr einen Strich durch die Rechnung, da sie zu Recherchezwecken das Haus verlassen hatte, weshalb Jodie nichts anders übrig blieb, als sich an die Gedichte zu setzen. Um effektiver arbeiten zu können, hatte man ihnen und den Zuständigen von der kryptologischen Abteilung einen Raum zugeteilt, in dem Jodie sich nun immer noch angeschlagen und sichtlich ratlos wiederfand. Die Profis saßen schon eine Weile an ihren Computern und ließen den Text durch alle möglichen Programme laufen. „Wie schon beim ersten Gedicht scheint er keine Verschlüsselungsmethode verwendet zu haben, es wirkt lediglich wie einfaches Gedicht und dazu nicht mal ein besonders gutes.“ Die Agentin seufzte. „Wir glauben immer noch, dass es sich um eine Anspielung oder ein Wortspiel handelt, allerdings lassen sich keine greifbaren Parallelen zu „Alice im Wunderland“ finden und bis auf die etwas holprige Sprache existieren stilistisch oder inhaltlich sonst auch keine Auffälligkeiten.“ „Was ist mit der letzten Zeile des ersten Gedichtes?“, fragte Jodie und ließ ihre Augen noch einmal über den Text wandern. „Das ist selbst unter Berücksichtigung künstlerischer Freiheit noch kein besonders gutes Englisch.“ Die Agentin, die sie eben über den Stand der Dinge informiert hatte, strich sich grüblerisch übers Kinn. „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen, allerdings ist er kein großartiger Dichter, womöglich ist ihm einfach nichts Besseres eingefallen.“ „Vielleicht, oder er versteckt hier einen Hinweis. Ich bin zwar kein Experte, aber der Rest des Gedichtes kommt mir besser vor.“ „Es wäre durchaus wichtig, zunächst den Hinweis im ersten Gedicht zu finden – sonst sehe ich für das zweite schwarz“, warf ein kahlköpfiger Agent ein. „Okay, also, die letzte Zeile lautet: „It’s at a brave early world, where you start.”, das könnte eine Anspielung auf „Brave New World“ von Aldous Huxley sein – allerdings findet sich sonst nicht wirklich etwas, das diese Hypothese bestätigen würde. Wahrscheinlich hat er sich aus einem anderen Grund gerade für diese Wendung entschieden.“ „Er spiel auf den Beginn an, es ist also etwas, das wir zuerst tun müssen, bevor wir ihn finden können, oder?“ Zustimmendes Gemurmel. „Wir müssen mit der „brave early world“ anfangen, aber was bedeutet das? Sollen wir in den Geschichtsbüchern nach ihm suchen?“ „Das wäre möglich. Es gab schon genug Verrückte, die sich für Nachfahren von berühmten Personen hielten und daraus ihre Berufung zu den Verbrechen, die sie begangen haben, ableiteten.“ „Aber hätte er das nicht erwähnt? Wenn man davon überzeugt ist, so einen glorreichen Stammbaum zu haben, dann brüstet man sich doch damit, oder? Vor allem, wenn man so auf Aufmerksamkeit aus ist wie unser Killer.“ „Es passt nicht wirklich in sein Muster, nein. Es sei denn, er will uns selbst darauf kommen lassen oder irgendetwas zwingt ihn dazu, aber ich stimme Ihnen zu, dass solche Leute normalerweise anders damit umgehen. Zumal uns das immer noch nicht wirklich hilft, ihn zu finden.“ Jodie ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken, während die Kryptologen weiterdiskutierten und starrte angestrengt ins Leere. It’s at a brave early world, where you start. Warum formuliert er es so komisch? Warum besteht er auf dieses „at“? „it’s a brave early world, where you start“ klingt doch zumindest etwas besser. Also warum? Warum gerade „at“? Weil gerade das der Hinweis ist. Plötzlich durchzuckte es sie wie ein Blitz. „At web!“ Verdatterte Blicke musterten sie. „Bitte was?“ „Das @-Zeichen! Es ging nie um einen Ort, sondern um das Zeichen, das man benutzt, um eine Webadresse einzugeben, es wird „At“ gesprochen.“ Die Augen der Agenten hellten sich auf, auf einmal fand sich statt Resignation ein kampflustiges Leuchten darin wieder. „Natürlich! „Brave early world“, wenn man die Anfangsbuchstaben rückwärts liest, ergibt es „Web“, also das Worldwide Web. Die Spur, die er uns liefert, ist eine Internet- oder E-Mail-Adresse.“ Der Glatzkopf zwinkerte ihr zu. „Gute Arbeit Agent Starling, Sie wollen nicht zufällig in unsere Abteilung wechseln?“ Zum ersten Mal an diesem Tag lachte sie und es klang beinahe unbeschwert. Kapitel 11: Antwort ------------------- Is this the final scene in our tragic play To many curtains remain to fall There's no reason left to stay in this play We move backwards against the wall Conversation's over, communication's down The monologue is taking over „Jodie, kommst du mal kurz?” Überrascht hob sie den Kopf. Auf einmal schien die beinahe schon ausgelassene Stimmung einer schwer greifbaren Anspannung platzgemacht zu haben, die jetzt die Atmosphäre im Raum mit der Gewalt eines Raubtieres an sich riss, dass geduldig im Schatten auf die richtige Gelegenheit gewartet hatte. Jodie schluckte und stand auf, wohlwissend dass Mels zu schmalen Schlitzen verengte Augen nichts Gutes bedeuten konnten. „Wir haben Fortschritte gemacht bei der Nachricht des Hutmachers, es ist…“ „Ich werde mich gleich darum kümmern.“, schnitt Mel ihr ungerührt das Wort ab. „Es ist etwas für dich abgegeben worden.“ Daher weht also der Wind. Es fiel ihr wahnsinnig schwer, das aufkeimende Gefühl der Freude zu unterdrücken und stattdessen eine schockierte Miene aufzusetzen. Mels Reaktion konnte nur eines bedeuten, die Nachricht war von Shuichi. Es war eine verbotene Nachricht, eine Gefährdung ihrer Ermittlungen, ein weiterer Fehler, ja vielleicht sogar ein Todesurteil. Jodie hasste sich dafür, aber in ihrem Inneren nahm nichts davon einen großen Platz ein, alle diese Gedanken waren unscheinbare kleine Blätter, die unbeachtet zu Boden fielen, während in ihrer Mitte ein prächtiger Baum wuchs. Er denkt noch an mich. „Wie zur Hölle konnte das passieren? Wir haben bei dir ein Auge zugedrückt, weil es dir in letzter Zeit nicht gut ging, aber Akai sollte im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte sein. Also warum in aller Welt antwortet er dir? Selbst, wenn sie nur seine E-Mails überwachen, ein Brief ist keineswegs sicherer! Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“ Nun sprühten ihre braunen Augen regelrecht Funken, was ihr erst recht das Aussehen einer wütenden Raubkatze verlieh. Die Hand, die den unscheinbaren Briefumschlag umklammerte, war an den Knöcheln bereits bedrohlich weiß verfärbt. „E-es tut mir leid. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er sich meldet, es war nur eine Botschaft…“, versuchte Jodie verzweifelt, sich zu verteidigen, obwohl sie wusste, wie sinnlos es war. Wir stecken verdammt tief in der Scheiße. Mel würgte sie erneut ab, indem sie den schon sehr mitgenommen wirkenden Brief auf den Tisch knallte. Selbst der Teil des Teams, der sie bislang aus Höflichkeit ignoriert hatte, hob nun mit einer Mischung aus neugierigem Interesse und sichtbarer Beunruhigung den Kopf. „Öffne ihn. Danach werden wir ein ausführliches Gespräch mit Black führen.“ Jodie nickte stumm und versuchte, niemanden anzusehen. Ihr wurde übel bei den Gedanken daran, noch nicht mit Black gesprochen zu haben, kam jetzt auch noch das Problem mit Shuichi dazu, würde das dem Fass sicher den Boden ausschlagen. Black war zwar immer geduldig mit ihr gewesen und hatte sie unterstützt, aber sie wusste nur zu gut, dass er sie sofort fallen lassen würde, sollte sie dem FBI oder seinen Ermittlungen schaden. Mit zittrigen Fingern öffnete sie das schmucklose Couvert und holte einen spärlich bedruckten Zettel hervor. Hallo Jodie, ich weiß, dass ich euch nicht kontaktieren darf, selbst mit Black darf ich nur im äußersten Notfall in Kontakt treten, um die Operation nicht zu gefährden. Ich habe hier etwas gefunden, dass für euch interessant sein könnte. Etwas, das unter Umständen alles verändern kann und unsere ganzen Ermittlungen in Zweifel zieht. Deshalb schreibe ich auch gezielt an dich. Jodie, du musst ihnen die Wahrheit sagen, dass die Organisation eine solche Laterna Magica in ihrem Besitz hat, wie sie bei den Tatorten gefunden wurde, kann bedeuten, dass das alles viel größer ist, als wir angenommen haben. Ihre anfängliche Aufregung wandelte sich augenblicklich in Angst und bittere Enttäuschung. Oder war sie wütend? In ihrem Kopf schwirrten plötzlich viel zu viele Gedanken durcheinander, Fliegen zwischen Ekstase und Panik, die gemeinsam einen tödlichen Walzer über den Überresten ihrer Existenz vollführten. „Was hast du dazu zu sagen?“ Die Organisation, die Shuichi beschattet, hat eine Laterna Magica. Wissen sie es? Gehört der Hutmacher zu ihnen? Zu jenen, die meinen Vater ermorden ließen? Bin ich deshalb Alice? „Ich rede mit dir.“, fauchte Mel ungehalten. Erneut tauchte das Bild der Raubkatze vor ihrem inneren Auge auf. Und die Beute sitzt nun endgültig in der Falle. „Ich muss mit Black reden, ich glaube, das könnte eine heiße Spur sein.“ „Ich denke auch, es wird Zeit, dass du ihm Rede und Antwort stehst.“, blaffte sie und führte Jodie unsanft aus dem Raum. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, von einer Sekunde auf die andere schien alles zerbrochen zu sein, selbst ihr Erfolg war in weite Ferne gerückt, verborgen hinter nachtschwarzen Gewitterwolken. Warum hatte Shuichi die Nachricht an das FBI geschrieben, obwohl er wusste, dass das ihre Entlassung bedeuten konnte? Wollte er verhindern, dass sie weiter an dem Fall arbeitete, um sie zu schützen? Oder schlimmer, vertraute er ihr nicht? Hatte er angenommen, sie würde die Wahrheit weiterhin totschweigen? Oder hasst er mich, weil ich sie ihm verschwiegen habe? Weil ich ihn wie alle anderen belogen habe, obwohl ich ihn angeblich so sehr geliebt habe? Obwohl ich ihn liebe? „Papa, was ist mit dir? Warum bewegst du dich nicht? Du wollest mir doch eine Gutenachtgeschichte vorlesen! Das hast du fest versprochen.“ Das kleine Mädchen stemmte seine Fäuste energisch in die Hüften und stampfte demonstrativ mit einem Fuß auf, wie sie es immer tat, wenn sie einen ihrer launischen Momente hatte. Was fiel ihrem Vater eigentlich ein um diese Zeit zu schlafen? Zu allem Überfluss hatte er sich auch noch sein Hemd mit Nudelsoße bekleckert. Sie schüttelte seufzend den Kopf. Manchmal waren Erwachsene wirklich wie Kinder. „Papa, jetzt steh auf!“ Komisch, sonst schläft er nie so fest. „Keine Sorge, Kleines. Dein Vater hatte einen anstrengenden Arbeitstag, deshalb ist er jetzt müde und muss sich ausruhen.“ Überrascht fuhr sie herum, das war nicht die Stimme ihres Kindermädchens. „Wer sind Sie? Was machen Sie in unserem Haus?“, fragte sie ängstlich, ohne die hochgewachsene, schwarze Gestalt aus den Augen zu lassen. „Man könnte sagen, ich bin eine Arbeitskollegin von deinem Vater… oder so ähnlich zumindest.“, lachte die Frau. Jodie entspannte sich etwas. „Dann jagen sie auch Verbrecher?“ „Oh ja, ich jage gern.“ Jodie nickte begeistert. Wenn diese Frau das arbeitete, was ihr Vater tat, dann war alles in Ordnung. Aber warum schläft er dann so fest? Die Frau zeigte ein Lächeln, das Jodie niemals vergessen sollte. Eleganten Schrittes ging sie an ihr vorbei, griff nach der Brille, die ihrem Vater von der Nase gerutscht war und reichte sie Jodie. „Hier, er wollte, dass du auf sie aufpasst. Außerdem hätte er gerne noch etwas zu trinken, Orangensaft, wenn ich mich nicht irre, das hatte mir das Hausmädchen ausgerichtet, bevor sie gegangen ist.“ Immer noch lächelnd legte sie den Finger an ihre Lippen. „Aber shhh, sag bitte niemandem, dass ich hier war. Ich bin in geheimer Mission unterwegs.“ Warum wacht er nicht auf? Warum? „Aber warum schläft Papa überhaupt? Er wollte mir etwas vorlesen!“ „Keine Sorge, ich bin sicher, er wird sich sehr über den Saft freuen, dann ist er auch sicher ausgeruht genug, um dir eine Geschichte zu erzählen.“ Warum? Der Mond schien durch das Fenster und hüllte das Gesicht der blonden Frau in neblig blasses Licht, das sie fast geisterhaft wirken ließ. Als wäre sie überhaupt nicht da. „Warum sind Sie hier?“ Die Frau lachte. „Du bist aber ein neugieriges Kind. Aber lass es mich so sagen…“, erneut legte sie einen Finger an ihre Lippen und zwinkerte ihr zu, was die Pose wie für ein Foto gestellt wirken ließ. „A secret makes a woman woman, vergiss das nie.“ Niemals vergessen. Verlassen. Orangensaft. Flammenhölle. Tod. Tod. Tod. Tod. „Jodie, was ist nur los mit Ihnen? Hören Sie mir überhaupt zu?“ Erschrocken zuckte sie zusammen. Blacks Stimme war so dumpf, als würde er aus weiter Ferne zu ihr sprechen, wie ein kleines Luftbläschen, das langsam vom Grund des Ozeans an die Oberfläche stieg. „Entschuldigen Sie bitte, ich bin etwas durch den Wind.“ „Das sind wir alle momentan, fürchte ich.“, erwiderte Black fast freundlich, doch sie konnte deutlich die Härte in seinem Blick spüren. Er misstraut mir. Sie wusste, dass ihr nun nicht mehr viele Möglichkeiten blieben, unter Umständen konnte dieses Gespräch ihre letzte Chance sein, überhaupt noch etwas zu diesem Fall und vielleicht sogar zum FBI als solchem beitragen zu können. Sie hatte sich den Anweisungen ihrer Vorgesetzten widersetzt und eine andere Operation gefährdet, womöglich konnte man sie sogar wegen Behinderung der Justiz und allerlei anderer netter Kleinigkeiten anzeigen. Ihr lag nichts daran, sich herauszureden, sie wusste nur zu gut, dass es keinen Sinn hatte und alles womöglich nur noch schlimmer machen würde. Abgesehen davon spielt es keine Rolle mehr. Sie haben Recht, ich bin keine gute FBI-Agentin. Wäre ich überhaupt eine geworden, wenn nicht…? Allerdings gab es dennoch etwas, das ihr keine Ruhe ließ. Etwas, dass selbst ihr Ende zu nichts weiteren, als einer unscheinbaren Luftblase im Ozean machte. Weit weg. Bedeutungslos. „Ich bin mir bewusst, dass ich Fehler gemacht habe und ich werde auch die Konsequenzen dafür tragen. Aber es ist wichtig, dass wir für Shuichis Sicherheit sorgen.“ Black hob die Augenbrauen. „Akai kann sehr gut auf sich selbst aufpassen, jeder Kontakt zu ihm kann, wie du weißt, seine Arbeit dort gefährden.“ Der Unterton und der Blick, den er zuerst ihr und dann dem Brief in ihrer Hand zuwarf, waren mehr als deutlich. „Ja, ich weiß, bitte hören Sie mir zu.“ Zu Jodies Leidwesen klang ihre Stimme nicht halb so sicher und selbstbewusst, wie sie es sich wünschte. Mel runzelte die Stirn. „Ich bin Alice. Ich weiß, das klingt erst einmal sehr merkwürdig, aber der Grund, warum diese Bilder mich so belastet haben, ist, dass ich glaube, dass sie mich darstellen. Der Hutmacher kennt mich und weiß von damals, weshalb eigentlich nur eine Person dafür verantwortlich sein kann, nämlich die Mörderin meines Vaters.“ Auf einmal wurde es schrecklich still im Raum, sowohl Mel, als auch Black starrten sie einfach nur an, ohne durch ihren Blick auch nur einen einzigen Gedanken zu verraten. Nun sind wir wohl auf dem Grund des Ozeans angekommen, vollbepackt mit Steinen und anderem Ballast, ohne Hoffnung darauf, jemals wieder den Himmel zu sehen. „Ich habe in diesem Fall ermittelt, auch wenn er schon längst zu den Akten gelegt wurde. Mein Vater war der Organisation, die Shuichi infiltriert hat, auf der Spur, deshalb hat sie ihn getötet!“ „Das ist bedauerlich.“ Die Kälte in Mels Stimme ließ selbst Blacks Augen für einen Moment zu ihr zucken. „Aber was hat das mit unserem Fall zu tun? Selbst, wenn der Mörder mit der Organisation in Verbindung stellt, wie sollen sie wissen, wer Shuichi wirklich ist? Wir haben die Operation exzellent vorbereitet.“ Jodie spürte, wie sie wütend wurde. Warum sahen sie es denn nicht? Es war doch so offensichtlich. „Aber der Brief! Shuichi und ich waren ein Paar, verdammt! Welcher Partner schreibt so einen Brief, so schmucklos und leer, beinahe förmlich? Und dann die Sache mit der Wahrheit, woher kennt er sie überhaupt?“ Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen und schluckte die salzige Flüssigkeit hinunter. „Der Hutmacher, er muss es ihm erzählt haben. Vielleicht ist Shuichi seine Geisel, vielleicht ist er sogar schon tot, ich bin sicher, der Hutmacher – diese Frau – will von sich selbst ablenken, indem sie die Morde mit der Organisation in Verbindung bringt, was es fast aussichtslos macht, den Täter tatsächlich zu stellen. Das ist ihr Plan! Aber eigentlich ist sie nichts weiter als eine Serienmörderin, vielleicht nutzt sie die Organisation auch nur als Tarnung, sie…“ „Genug davon!“ Black vergrub sein Gesicht in den Händen. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ist dir klar, wie verrückt das klingt? Wie unglaubwürdig aus dem Mund einer Frau, die gerade eine Beziehung zu einem Kollegen offenbart hat, die ihren Verstand zu vernebeln scheint? Die gerade zugegeben hat, das FBI jahrelang belogen zu haben? Die einen Hinweis auf ein Verbrechen zurückgehalten hat, das unter Umständen wichtig für die aktuellen Ermittlungen sein könnte, die sie wiederum behindert hat? Muss ich diese Liste wirklich noch fortführen?“ „Aber Shuichi, er…“ „Genug davon. Ich werde Akai darüber in Kenntnis setzen, aber ich werde ihn auf keinen Fall abziehen und unsere einzige Chance, der Organisation näher zu kommen, gefährden. Von Ihnen verlange ich, dass sie Mel einen ausführlichen Bericht über die Ereignisse von damals und ihre heutigen Erkenntnisse bezüglich Alice abgeben. Dann werden Sie einem anderen Fall zugeteilt werden.“ Überrascht sah sie ihn an. „Ich bin nicht entlassen?“ Black seufzte. „Ich hätte wirklich große Lust dazu, an Ihnen ein Exempel zu statuieren, aber wir haben gerade zwei Serienmörder, die auf freiem Fuß sind und somit alle Hände voll zu tun. Sie haben, was den Hutmacher betrifft, einige Erfolge erzielt, ich kann es mir nicht leisten, Sie komplett zu verlieren.“ Jodie war beinahe gerührt über diese Worte, zeigten sie doch, dass Black irgendwo tief drinnen immer noch an sie glaubte und sie für eine fähige Agentin hielt. „Danke, ich werde Sie nicht enttäuschen.“ Obwohl sie sich immer noch schrecklich fühlte, spürte Jodie die Erleichterung deutlich, als sie den Raum verließ. Es war noch nicht alles verloren, Shuichi lebte sicher noch, die Frau würde jemanden brauchen, um mit ihnen kommunizieren zu können, im Notfall vielleicht eine Geisel. Das war der Grund, warum er so geschrieben hat, so kalt und sachlich. Nicht, weil er mich nicht mehr liebt. „Da hast du ja nochmal Glück gehabt, was?“, tönte eine spöttische Stimme von hinten. Jodie fuhr herum und blickte direkt in zwei braune, wohlbekannte Augen. „Mel, es tut mir wirklich leid. Ich werde von jetzt an alles tun, um die Ermittlungen zu unterstützen.“ Sie lachte verächtlich auf. „Ab jetzt? Das ist aber wirklich großzügig von dir, dass du ab jetzt deinen Job machst.“ „Ich weiß, ich hab Scheiße gebaut und es gibt keine Möglichkeit der Entschuldigung oder gar Rechtfertigung, darum ging es mir auch gar nicht.“ „Ganz recht, darum ging es nicht. Es ging darum, dass du absolut unfähig bist, für das FBI zu arbeiten. Du bist nur aus einem Grund FBI-Agentin geworden, nämlich weil du den Namen deines beschissenen Vaters trägst, das ist deine einzige verdammte Qualifikation.“ Ehe sie wusste, was geschah, hatte Jodie ausgeholt. Ihre Hand knallte dumpf auf Mels Wange, deren Augen sich vor ungläubigem Entsetzen weiteten. Erneut waren sie auf dem Meeresgrund gefangen und diesmal spürte Jodie deutlicher denn je, wie ihr die Luft knapp wurde. „Oh Gott, es tut mir leid, ich wollte nicht…“ Doch Mel lachte nur, ein Laut, der so bitter und voller Schmerz war, dass Jodie unweigerlich an die Frage denken musste, die Mel ihr ganz zu Anfang gestellt hatte. Kennst du Janus, den Gott mit den zwei Gesichtern? Sieht aus, als hätten wir beide mehr als eines. „Natürlich wolltest du das nicht, kleine Jodie. Genauso, wie dein Vater nicht wollte, dass die Ermittlungen öffentlich werden, an denen auch mein Vater beteiligt war. Aber das wurden sie, weißt du das? Er hat sich verplappert und eine Journalistin schrieb einen riesigen Artikel über die geheimnisvolle Organisation, die bei zahlreichen Verbrechen im Hintergrund die Fäden zog. Der dunkle Marionettenspieler, so nannte sie sie.“ „Was meinst du damit?“ A secret makes a woman woman, weißt du, Jodie? Es sind die Geheimnisse, die uns begehrenswert machen. „Es ist seine Schuld, dass er gestorben ist, dass man sie umgebracht hat. Dein Vater hat sich selbst und meinen Vater ermordet! Und du bist verdammt nochmal genauso wie er, vermutlich hast du auch die Informationen an den Hutmacher weitergegeben!“ Orangensaft, hol Orangensaft für mich. Dann wacht er wieder auf… Jodie sank wie in Zeitlupe zu Boden. Erst knickten ihre Knie langsam ein, dann folgten ihre Arme wie bei einer Puppe, die zu einer steifen Verbeugung ansetze. Ihren Tränen ließ sie ungeniert freien Lauf, während sie durch ihren Schleier dumpf wahrnahm, dass Black Mel anschrie. Dann beugte er sich zu ihr hinunter, den Blick seltsam traurig und leer wie der eines Vaters, der erkennen musste, wer das Kind, das er aufgezogen hatte, wirklich war. Er hat sie umgebracht, so wie du uns umbringen wirst. „Es tut mir Leid, Jodie, du bist bis auf weiteres suspendiert.“ Kapitel 12: Ab durch den Kaninchenbau ------------------------------------- “Begin at the beginning," the King said, very gravely, "and go on till you come to the end: then stop.” „Was für ein Spiel wird hier gespielt?“ Er glaubte, ein großmütiges Lächeln im Augenwinkel erkennen zu können, allerdings verschwand der eiskalte Lauf der Waffe keineswegs aus seinem Nacken. Mit der Großmütigkeit konnte es also nicht weit her sein. „Welches Spiel meinst du denn? Das Spiel, das wir beide spielen? Das, das die Organisationen spielen? Oder das, das wir alle spielen?“ Trotz der Beiläufigkeit, mit der sie sie ausgesprochen hatte, blieben die Worte einen Moment lang haften und strichen wie bedeutungsschwere Schatten durch den Raum. Das Spiel, das wir alle spielen. Solange bis wir keine Kraft mehr dazu haben. In seinem Nacken schien das Metall noch eine Spur kälter geworden zu sein. „Was hat es mit diesem Apparat auf sich?“ Sie lachte leise. Offenbar genoss sie das kleine Fragespiel, das zu beginnen sicher nicht seine Entscheidung gewesen war. Shuichi hasste nichts mehr als diese dämlichen Spielchen, vielleicht war das ja der Grund, warum man ihm stets Außeneinsätze, aber keine Verhöre oder Befragungen anvertraut hatte. Er war jemand der handelte, zwar konnte er geduldig sein, wenn es darauf ankam, aber sich in Gedanken wie zwei Raubtiere zu umtanzen, nur um letztendlich doch zu handeln, erschien ihm als bloße Zeitverschwendung. Der direkte Angriff war eher sein Stil. „Hast du diese Menschen umgebracht? Bezahlst du jemanden, der sie für dich tötet, während du dich in Japan versteckst?“ Ihr Lachen verstummte. Fast erwartete er, ins Schwarze getroffen zu haben, doch Vermouths vor spöttischer Anerkennung strotzender Pfiff sprach eher für das Gegenteil. „Ehrlich jetzt, Sherlock? Denkst du wirklich, ich habe so viel Freizeit, dass ich mir so etwas erlauben kann? Mal abgesehen davon, dass ich schneller tot wäre, als ich Anokata sagen könnte.“ „Immerhin sind wir jetzt beim Thema, oder?“, erwiderte er trocken. Solange man sein Ziel erreichte, kam es nicht auf den Weg dorthin an. „Na schön.“, seufzte sie. „Wie ich sehe, bist du immer noch der alte Spielverderber. Allerdings wendest du dich in diesem Fall an die völlig falsche Person.“ „Dann willst du mir also erzählen, diese Laterna Magica hier hat nichts mit der aktuellen Mordserie in den Staaten zu tun?“ „Doch, selbstverständlich. Soll ich dir die genaue Adresse des Mörders geben oder reicht der Name?“ „Vermouth!“ „Schon gut, keep calm darling. Ich weiß nichts über diese Morde, ich habe meine Vermutungen, aber die haben wir alle, oder nicht? Alles, was ich dir geben kann, sind ein paar sehr alte Geschichten.“ „Wenn sie mit dem Fall zu tun haben, dann möchte ich sie hören, egal, wie alt sie sind.“ Shuichi verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust und wünschte sich heimlich, Vermouth würde endlich die Waffe von seinem Kopf nehmen. Langsam wurde es durchaus ungemütlich, immer in der gleichen Position zu verharren. Natürlich tat sie ihm diesen Gefallen nicht. „Möchtest du zuerst die schöne oder die traurige hören?“ „Ist mir gleich.“ „Also gut, dann beginnen wir doch mit der fröhlichen Geschichte. Du weißt doch, dass ich gut darin bin, mich zu verkleiden?“ Leider nur zu gut. „Nun ja, ich habe das damals von einem bekannten Magier gelernt, der selbst ein Verkleidungskünstler war – sein Name war Toichi Kuroba. Er hegte damals große Sympathien für mich, weshalb er mir ein Geschenk machte, das mich immer an meine Zeit dort und die Magie, die uns umgab, erinnern sollte.“ „Die Laterna Magica?“ Obwohl er sich nicht umdrehen konnte, glaubte er, ein Nicken zu erkennen. „Aber was hat das mit dem Serienmörder zu tun?“ „Habe ich je etwas in dieser Richtung behauptet?“ „Du hast es auch nicht abgestritten.“ „Also schön, ich will mal nicht so sein. Schließlich quäle ich dich schon genug, oder?“ Shuichi überlegte kurz, ob sein Ellbogen schnell genug ihre Nase zertrümmern würde, bevor sie den Abzug drücken konnte, entschied sich dann aber dagegen. Es war einer dieser Momente, in denen man geduldig sein musste. „Kommen wir zur zweiten Geschichte. Es gibt eine Verbindung zwischen mir, dem Fall und der Laterna Magica, die du hier siehst. Das ist das Großartige an solchen Spielen, alles hängt irgendwie zusammen.“ „Was für eine Verbindung soll das sein?“ „Du kennst sie, ihr Name lautet, wenn ich mich recht entsinne, Jodie Starling.“ Shuichi erstarrte, als sich der Name wie eine der eiskalten Kugeln aus dem Lauf hinter ihm in seinen tauben Körper bohrte. Jodie… Tick-Tack. Tick-Tack. Der Zeiger glitt so langsam über das Ziffernblatt, dass sie beinahe fürchtete, er würde jeden Augenblick stehen bleiben und mit ihm die Zeit zum absoluten Stillstand bringen. Nicht, dass es sie gekümmert hätte. Sie wusste nicht genau, wie lange sie schon so dalag oder wie spät es war und das, obwohl sie seit Stunden die unscheinbare Uhr auf ihrem Nachtkästchen anstarren musste. Wer hätte gedacht, dass es einmal so enden würde? Ihre müden Ohren nahmen ein leises Surren wahr, das klang, als würde es von einem sehr großen und sehr aufgeregten Insekt stammen. Habe ich vergessen den Wecker auszumachen? fragte sie sich unwillkürlich, wobei sie einen misstrauischen Blick nach oben warf. Die Uhr tickte weiter in ihrer unschuldigen Langsamkeit, keine Spur von den penetranten Alarmsignalen und Leuchtzeichen, die sie sonst von sich gab. Als es nun schon zum vierten oder fünften Mal brummte, registrierte Jodie, dass das Geräusch irgendwo aus ihrem Bett kam. Entnervt durchwühlte sie ihre Decke, wobei sie deren Wärme leider verlassen musste und fischte ihr Handy zwischen zwei Kissen heraus. „Hallo?“ Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Stimme ebenso rau und kraftlos klang, wie sie sich fühlte. Zwar hatte es jetzt keine Bedeutung mehr, doch der mickrige Rest ihres Selbstwertgefühls zwang sie, sich zu räuspern und die Frage noch einmal energischer zu wiederholen. „Jodie? Wie geht es dir?“ „Camel? Also, ich- “ Ja, wie geht es mir? Ich bin gerade entlassen worden, weil ich meinen Job nicht richtig machen konnte und eine Kollegin verprügelt habe. Bestens, einfach toll. „Geht schon.“, antworte sie stattdessen resigniert. Hunderte Fragen brannten ihr auf der Zunge, aber sie hatte bei jeder einzelnen Angst, sie zu stellen. Bei einer ganz besonders. „Es gibt gute Neuigkeiten. Eigentlich darf ich nicht mit dir darüber sprechen, aber keiner hier ist glücklich mit der Situation.“ Er lachte leise. „Du wirst nicht glauben, wie aufgebracht Anna war. Sie hat Black angeschrien, kannst du dir das vorstellen?“ Obwohl ihr gar nicht danach war, musste Jodie bei dem Gedanken an eine fuchsteufelswilde Anna schmunzeln. Auch wenn ihr Ausbruch vermutlich alles nur noch schlimmer machte, kam Jodie nicht umhin, eine jähe Dankbarkeit für ihre Freundin zu verspüren. „Ich versuch‘s. Aber was sind das jetzt für Neuigkeiten?“ Bitte, lass ihn seine Meinung geändert haben. Wenn er es nicht akzeptiert hat… „Der Hutmacher hat sein Versprechen gehalten. Zwar waren wir mit dem zweiten Teil etwas zu spät dran, aber offenbar hat es ihm gereicht, dass du das mit der E-Mail-Adresse herausgefunden hast, er hat niemanden mehr umgebracht.“ Jodie atmete tief aus vor Erleichterung und spürte, wie ein kleiner Teil des riesigen Brockens, der sie wie einen Käfer zu erdrücken ersuchte, absplitterte und in den imaginären Ozean, der sie umgab, stürzte. Er hat niemanden mehr getötet. „M-moment mal.“, stutzte sie plötzlich. „Was meinst du mit dem zweiten Teil? Ihr habt das Rätsel komplett gelöst?“ „Gut aufgepasst.“, fast glaubte sie, sein Lächeln hören zu können. „Ja, das zweite Gedicht ist mittlerweile auch entschlüsselt, anscheinend war dein Team nach deinem ersten Erfolg hochmotiviert. Allerdings sind wir immer noch meilenweit davon entfernt, den Täter tatsächlich zu identifizieren.“ Aber es ist ein Anfang. Sie spürte, wie sie mit jedem Wort wacher wurde, wie eine Eisskulptur, die nach und nach dem Frühling nachgab und auftaute. „Und wie lautet die Lösung?“ „Wir haben wieder mal den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Nach deiner Entdeckung glaubten wir, dass das zweite Rätsel Aufklärung darüber gibt, wie genau die Adresse lautet – und tatsächlich ergeben die Anfangsbuchstaben einen Satz.“ Jodie versuchte angestrengt, sich an den Text zu erinnern, jedoch flimmerten lediglich kleine Wortfetzen durch ihre dunkle Gedankenwelt. „A is mad, oder eher Alice is mad war in dem Gedicht versteckt. Gerade überprüfen wir, welche E-Mail-Adressen es mit dieser Kombination gibt und versuchen, sie zurückzuverfolgen.“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Alice is mad. Alice ist verrückt. Da könntest du gar nicht mal so Unrecht haben. „Was meinst du damit? Was hat Jodie mit alledem zu tun?“ Shuichi war so verblüfft, diesen Namen aus ihrem Mund zu hören, dass er kaum registrierte, wie Vermouth die Waffe herunternahm und langsam um ihn herumschritt. „Hat Jodie dir erzählt, welche Hinweise der Hutmacher auf den Laterna Magica hinterlassen hat?“ Er schüttelte den Kopf, wobei er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. „Nein und woher weißt du davon?“ „Sagen wir, ich habe so meine Quellen.“ Shuichi schnaubte. „Jedenfalls zeigte der Hutmacher die Geschichte, die ich dir erzählen wollte – die Welt ist so klein, nicht wahr?“ „Und diese Geschichte hat etwas mit Jodie zu tun?“ „Ganz richtig, es geht um die Ermordung ihres Vaters.“ Sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, doch in Shuichis Kopf brodelte das Chaos wie ein wütendes, schwarzes Meer. Was hatte der Mörder mit Jodie zu tun? Was verband ihn mit Vermouth? Und was wollte er wirklich? „Jodie war damals noch ein Kind. Ihr Vater war FBI-Agent, wie sie jetzt auch und steckte seine Nase womöglich zu tief in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen, jedenfalls wurde er umgebracht und sein Haus ging in Flammen auf. Das waren die Bilder, die der Hutmacher den Agenten zeigte.“ Er überlegte fieberhaft, wie das alles ins Bild passte. War Jodies Vater hinter der Organisation her gewesen? War das die Verbindung zu Vermouth? Aber warum sollte der Mörder ihres Vaters Kontakt zu Jodie aufnehmen? „Hat der Hutmacher ihn umgebracht?“ Ihr Lachen machte ihn wütend. Wieder einmal spielten sie ein Spiel ganz nach ihrem Geschmack. „Nein das hat er nicht, aber warum glaubst du kontaktiert er das FBI?“ „Weil Jodie beim FBI ist? Er weiß, wer ihren Vater umgebracht hat?“ „Möglich. Aber wenn er schon sagt, wo die Verbindung liegt, warum weiß es dann das FBI nicht?“ Ihre Blicke trafen sich. Obwohl es leichtsinnig war, schloss Shuichi einen Moment lang die Augen. Seine Schläfen begannen unangenehm zu pochen. Weil Jodie es ihnen verheimlicht. Sie weiß es, aber sie kann es nicht sagen. Weil sie sonst wüssten, warum sie zum FBI gegangen ist, warum sie wirklich Agentin geworden ist. Weil sie es nicht ertragen kann, vor ihnen ihr Gesicht zu verlieren. „Jodie verschweigt ihnen die Verbindung, oder?“ „Tragisch, oder?“, seufzte Vermouth theatralisch. „Unsere vielversprechende Agentin legt so viel Wert auf ein bisschen Kosmetik in ihrem Lebenslauf, dass sie lieber verschweigt, dass ein armseliger Rachefeldzug ihr Antrieb ist, bevor sie zugibt, dass eine Verbindung zwischen ihr und dem Killer besteht.“ Das ist lächerlich. Jodie weiß, dass es zwar negativ auffallen, aber letztendlich keine Rolle spielen würde, solange sie ihre Arbeit gut macht. Es geht doch nicht um das Warum, sondern um das Wie. Doch in einem kleinen Teil des Meeres, das noch düsterer als der Rest war, hallten Vermouths Worte wider und fanden schließlich ihren pechschwarzen Nährboden. „Warum sollte Jodie das FBI so belügen? Warum sollte sie riskieren, dass noch mehr Leute sterben?“ „Vielleicht erpresst er sie? Vielleicht hat sie Angst? Oder aber sie ist zu stolz? Du kennst sie besser als ich. Aber ich dachte, du solltest vielleicht wissen, dass die heißeste Spur des FBIs in ihren eigenen Reihen sitzt.“ Jodie, warum? Warum lässt du zu, dass er so mit dir spielt? Warum kannst du nicht zu dem stehen, was du bist und deine Vergangenheit hinter dir lassen? „Wenn ich du wäre, wüsste ich, was ich mit diesen Informationen machen würde.“ „Du weißt rein gar nichts über mich.“, knurrte er und wandte sich zum Gehen. Er wusste, dass sie ihn nicht aufhalten würde. Genauso wie er wusste, dass er genau das tun würde, was sie von ihm erwartete. Willkommen im Spiel, wie klein die Welt doch ist. Solange, bis uns die Kraft ausgeht. Alice is mad. Alice is mad. Wie ein unheimliches Mantra wiederholte Jodie die Worte immer wieder, bis ihr der Kopf schwirrte. Ihre Untätigkeit machte sie wahnsinnig. So antriebslos sie vor dem Anruf auch gewesen war, jetzt hätte sie alles dafür gegeben, in die FBI-Zentrale fahren zu können. Allerdings ist das leider unmöglich. Mit einem frustrierten Seufzer stand sie auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Vielleicht würde sie das heiße Gebräu ja etwas aufheitern. Nachdem die Maschine ihr mit einem Piepsen bedeutet hatte, die Tasse entgegen zu nehmen, setzte sie sich vor ihren altersschwachen PC und öffnete eine Suchmaschine. Ein bisschen Recherche kann ja nicht schaden. A-L-I-C-E-I-S-M-A-D tippte sie in die dazu vertraut klackernde Tastatur. Obwohl sie nicht viel Wert auf technischen Schnickschnack legte, hatte sie aufgrund ihrer Arbeit viel mit Computern zu tun. Leider half das ihrem Computer auch nicht dabei, schneller zu arbeiten. Jodie verfluchte sich zum gefühlt hundertsten Mal, dass sie sich immer noch nicht dazu aufgerafft hatte, sich einen neuen zu kaufen. Hauptsächlich weil sie es hasste, sich an solche Neuerungen gewöhnen zu müssen. Es würde ewig dauern, bis sie mit dem neuen Modell so klar kam, wie mit ihrem vertrauten Gefährten, vor dem sie schon so manche Nacht mit müden Augen nach Verbindungen gesucht hatte, die ihr tagsüber noch verborgen geblieben waren. So langsam war er allerdings noch nie gewesen. Ärgerlich klickte sie mehrmals mit der linken Maustaste, wie sie es immer tat, wenn sie befürchtete, die Internetverbindung sei mal wieder eines tragischen Todes gestorben oder der PC habe sich aufgehängt. Dummerweise schien das diesmal nicht die beste Idee gewesen zu sein, denn das Ladesymbol des Bildschirms erstarrte zunächst, dann wurde dieser schlagartig schwarz. Na großartig. Warum musst du gerade jetzt den Geist aufgeben? Gerade wollte sie frustriert dem Rechner den Strom abschalten, als plötzlich ein kleines Fenster auf dem schwarzen Bildschirm erschien. # Are you there? Irritiert blinzelte Jodie. Wie hatte sich einfach so ein Chat öffnen können? Eine Ahnung, die ihren Puls in die Höhe schießen ließ, beschlich sie. # Who are you? # A friend. Jodies Anspannung wuchs mit jedem Moment. Jeder Gedanke daran, was sie in der FBI-Schule zum Täterkontakt gelernt hatte, war plötzlich wie weggeblasen. # What do you want? # You. # Why? # Meet Me. # No. # You can ask me your question. # What would you know about my questions? # About your father. In Jodies Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte das Rätsel gelöst. @Web spielte nie auf eine E-Mail-Adresse an, sondern auf einen Chatroom. Einen, den nur sie erreichen konnte, weil der Hutmacher ihren Computer manipuliert hatte. Er ist bei mir eingebrochen. Er war hier, als ich geschlafen habe oder als ich bei der Arbeit war, vielleicht als ich gerade mit Mel Kaffee getrunken oder mit Frau Sanders gesprochen habe. Sie musste dagegen ankämpfen, sich zu übergeben. Aber beinahe genauso schrecklich war, dass sie die ganze Zeit über Recht gehabt hatte. Sie war Alice und es hing alles mit den Ereignissen von damals zusammen. Mit dem Mord an ihrem Vater. # Who killed him? # Meet me. # Where? # It’s your choice. Jodie wusste, dass das einzig Vernünftige gewesen ware, den Chat abzufotografieren und Camel zu verständigen. Wenn sie den Hutmacher traf, musste das FBI dabei sein, sie musste verkabelt sein, beobachtet von Scharfschützen und absolut gesichert – keine Eventualität durfte offen bleiben. Aber manchmal ist man nicht vernünftig. Manchmal gibt es etwas, das alles überschattet, das eine Entscheidung für einen trifft und einen Weg, den man immer fürchtete zu beschreiten in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Als eine Notwendigkeit. # We meet at the Los Angeles Mall. In 1 hour. # I’ll be there. Jede Entscheidung, die wir treffen, beeinflusst unser Leben. Sei es nun eine Entscheidung die still und heimlich getroffen wird oder eine, die wir guten Gewissens in die Welt hinausschreien. Stolz und Angst liegen oftmals ebenso nah beieinander wie Erfolg und Niederlage und Schmerz und Erlösung. Jodie schloss ihren Wagen ab und ging auf die trotz der frühen Uhrzeit schon gut bevölkerte Mall zu. Der alles entscheidende Sieg kann so eingeläutet oder aber unser Schicksal besiegelt werden. Angespannt sah sie sich um, wobei sie sich schmerzlich bewusst wurde, dass sie sich in der Aufregung viel zu sehr in eine passive Rolle begeben hatte. Der Hutmacher war es, der sie erkennen konnte – schließlich war inzwischen erwiesen, dass er selbst beim FBI spioniert hatte oder zumindest einen Kontaktmann dort gehabt hatte – sie hingegen hatte nicht einmal ein Phantombild, das sie zur Hilfe nehmen konnte. Am gravierendsten sind jedoch die Entscheidungen, die wir allein treffen – Auf einmal glaubte sie, einen Luftzug hinter sich zu spüren, etwas Warmes, Feuchtes – Atemluft? – tanzte in ihrem Nacken. „Wer ist da?“ Und die endgültig sind. Das letzte, was sie spürte, als sie zu Boden ging, war ein dumpfer Schmerz an ihrem Hinterkopf. Ohne Rückweg, wie ein Sturz in ein tiefes, dunkles Loch. Kapitel 13: Das Urteil des Paris -------------------------------- Tonight you will see things you won’t believe, Don’t trust your eyes or minds for they’re about to be deceived. Don’t search for the white rabbit, he ain’t got time for you, The Great Barzoni’s got him up his sleeve. „Weißt du, was seltsam ist?“, flüsterte eine verstohlene Stimme in ihrem Ohr. „Obwohl Paris den Apfel der schönsten Frau versprochen hat, bist du nicht so schön, wie ich gedacht habe. Nein, du bist genau wie dieser Apfel, die Unsterblichkeit hat dich faulen lassen. Nur die Schale ist geblieben, eine lächerliche goldene Schale, aus der die Dunkelheit langsam herauswelkt. Merkst du nicht, wie du von Innen verfaulst? Tut das nicht weh?“ Ein groteskes Lachen durchschnitt die Stille, das Jodie an einen jaulenden Hund erinnerte, es war gleichsam bedrohlich und leidend, als wäre ihrem Gegenüber gerade eine schmerzliche Wahrheit bewusst geworden. Die Art von Wahrheit, die dich nie wieder umkehren lässt. Schaudernd öffnete sie die Augen und strich sich über die viel zu kalten Arme. Die Härchen hatten sich aufgestellt und kitzelten unangenehm die Wunden an ihren Fingern. Sie hatte sich die vielen Schürfwunden zugezogen, als sie stundenlang verzweifelt versucht hatte, ihre Fesseln zu lösen, die nun auf wundersame Weise verschwunden waren. Trotz dieser durchaus erfreulichen Entwicklung, die sie sogar in ihrem dämmerigen Zustand zur Kenntnis nahm, musste sie schlucken. Sie war vollkommen allein in ihrer dunklen Zelle, weder wusste sie, wie lange das der Fall gewesen war, noch ob die unheimlichen Worte ihrem Unterbewusstsein entsprungen waren oder ob sie diese Konversation tatsächlich einmal gehabt hatte. Dunkel erinnerte sie sich an schnarrende Schritte, an Augen, die kurz in der Schwärze aufblitzten, an… Warum musste es nur so dunkel sein? Und warum sind meine Augen nur so schwer? Damit sie nicht einfach herauskullern, weißt du…? Jodie blinzelte irritiert, da war wieder diese Stimme. Eine Stimme die wie aus einer anderen Welt wirkte, fern und doch deutlich, irgendwie schnarrend, als würde das Lachen ihr immer noch im Halse stecken. Vermutlich hing das mit dem Geruch zusammen. Ihr Gefängnis war stets mit einem unglaublich süßlichen schweren Geruch wie von Tee und frischem Gebäck erfüllt, der wie große schwarze Katzen um sie zu schleichen schien, sich auf ihrer Brust niederlegte und ihr langsam aber sicher die Luft abzudrücken drohte. Oder bilde ich mir das nur ein? Werde ich langsam verrückt? Wir sind hier alle verrückt, das weißt du doch Alice… Lachen. Los, nimm deinen Tee mit uns ein. Wir alle sind nur hier um mit dir zu feiern. Eine ganz besondere Party… Die Stimmung auf der Feier war ausgelassen. Überall unterhielten sich Leute, manche fast schon so laut, dass es die Schwelle der angemessenen Diskretion zu überschreiten drohte. Das das mochte an den alkoholischen Erfrischungen liegen, die das Personal zu bringen nicht müde wurde. Obwohl Shuichi solche Veranstaltungen hasste, musste er schmunzeln. „Ganz schön nobel für eine Studentenfeier.“ Akemi, die ihren zarten Arm um seinen geschlungen hatte, lachte vergnügt. „Ja, ich weiß, es ist furchtbar übertrieben. In meinem Jahrgang haben einige reiche Unternehmer als Eltern, die sich bei sowas als Sponsoren nicht lumpen lassen.“ Trotzdem verblassen sie alle neben dir, dachte er seltsam fasziniert. Akemis Kleid wirkte, als wäre es nur für sie und diesen Abend gemacht worden, es saß an ihr wie eine zweite Haut. Sie war makellos. Alles ist perfekt, nicht wahr? Sie zwinkerte ihm zu, als sie seinen Blick bemerkte. „Soll ich uns etwas zu trinken besorgen?“ Shuichi nickte, froh um einen Moment der Ruhe. Zwar genoss er die Zeit, die er mit Akemi fernab der Organisation verbringen konnte sehr, allerdings wich die Anspannung, die von seiner Mission ausging, nie völlig von ihm. Wie ein Damoklesschwert hing die Furcht über ihm und begleitete ihn auf Schritt und Tritt wie ein zweiter Schatten. Was wenn sie die Wahrheit herausfinden? Was wenn sie alle töten, die ich liebe? Was wenn… Wenn sie es längst wissen… Er seufzte und ließ seinen Blick über die Tanzfläche schweifen. Keines der tanzenden Paare oder den herumstehenden Grüppchen dort wäre in der Lage, seine Gemütslage zu erraten. Shuichis Innenleben blieb stets ein gut verborgener Schatz, eine geheime Tür die nur ein geübtes Auge erkennen konnte. Manchmal, wenn Akemi ihn mit ihren großen Augen ansah, glaubte er, zu spüren, wie sie vor dieser Tür stand, wie sie nach der Klinke griff und es nur noch Sekunden dauern würde, bis sie alles erkennen würde, jeden Herzschlag, jeden Atemzug, jeden Gedanken. Er fürchtete diesen Moment fast noch mehr als die Organisation. Vielleicht weil er langsam spürte, dass sie ihn ebenso gefangen nahm. Vielleicht weil sie ebenso unaufhaltsam nach ihm griff und ihn in ihre Welt zog, eine pechschwarze und eine leuchtend bunte Welt die nebeneinander schwebten und miteinander konkurrierten wie zwei überehrgeizige Schwestern. Vielleicht, weil es sich falsch anfühlt, flüsterte es irgendwo tief in ihm. Eine Stimme, aus einer dritten, längst vergessenen Welt, die einmal die seine gewesen war und ihm nun aus der Ferne ein trauriges Lächeln zuwarf. Es tut mir so… „Bitteschön! Ich hoffe du magst Bowle.“ Er nickte und erwiderte ihr Lächeln so freundlich, wie es ihm möglich war. Akemi stutzte. „Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so abwesend.“ Und ihre Hand greift nach der Klinke… „Ich weiß, du redest nicht gern über solche Dinge, aber von mir aus müssen wir nicht hier sein. Wir können einfach irgendwohin gehen und reden. Über diese Sache, die dich so sehr belastet, dass ein Teil von dir immer woanders ist. Was quält dich so, Dai?“ Sie ruckelt daran, wieder und wieder. Mach sie auf, flüstert es, macht sie auf und lass Licht herein. Es ist so dunkel hier. „Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist?“ Sie wurde gegen ihren Willen rot. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen cool zu bleiben. Die Lässige zu spielen. Was eben in den Filmen immer großartig funktioniert, im wahren Leben aber furchtbar albern rüberkommt. Nicht, dass sie sich mit ihrem schrecklich unangemessenen Kleid nicht schon lächerlich genug gemacht hatte, sie war noch nie gut darin gewesen, einzuschätzen, wann etwas angemessen und wann es absolut overdressed war. Er lachte. „Und so clever, eine gute Idee, die Hautfarbe dem Kleid anzupassen.“ „Hey!“, schnaubte sie, während sie ertappt das Gesicht wegdrehte. „Das liegt nur am Licht.“ Heimlich strich sie über ihre Wangen und ärgerte sich über die Hitze, die sie erfüllte. Wie alt bin ich bitte, vierzehn? Schluss mit dem albernen Teenagergehabe, Jodie! „Schon gut, ich mache nur Spaß.“ Er griff nach ihrer Hand. „Ich freue mich wirklich heute mit dir hier zu sein.“ Seine grünen Augen streiften für einen kurzen Moment ihren Blick, dann zog er sie sanft in den Saal. Jodie erinnerte sich später noch lange an diesen Augenblick, weil er ihr zum ersten Mal das Gefühl gegeben hatte, dass sie und Shuichi etwas verband. Selbst, wenn es nur dieser lächerliche Blick war, ein gemeinsamer Tanz, ein Lachen, es gab etwas wie eine Brücke zwischen ihnen, einen Faden, der zwischen ihren Herzen gespannt war und die aufgeregten Schläge synchronisierte. Dort wo immer diese Stille gewesen war, dieses Fragende, die Geheimnisse, die sich wie kaltgraue Mauern zwischen ihnen aufgetürmt hatten, war nun etwas Neues, aufregend Lebendiges. Vielleicht kann es doch funktionieren, dachte sie bei sich. Vielleicht sind wir füreinander geschaffen. Oder wenigstens für diesen einen Tanz. „Möchtest du tanzen?“ Akemis Blick blieb besorgt. „Ganz sicher?“ Er nickte. „Ich bin hier um Zeit mit dir zu verbringen, nicht um über alles Mögliche nachzugrübeln.“ Am allerwenigsten die Vergangenheit. Als hätte die Musik geahnt, dass die beiden sich nun auf die Tanzfläche wagen würden, schwenkte sie ein getragenes Stück um, das den unbeholfenen Tänzern gnädig war. Immer wieder drehten sie sich sanft während die sanften Klänge wie Wassertropfen an ihnen herabliefen und immer wieder neue Melodien zu formen schienen. Letzten Endes können wir nicht kontrollieren wer wir sind. Wir können uns wünschen jemand zu sein, darauf hinarbeiten, uns so entscheiden, wie diese Person sich entscheiden würde. Aber die Gleichung wird niemals aufgehen, wenn wir nicht alle Faktoren kontrollieren können. Es gibt immer dieses X, die große Unbekannte, die dich in den Abgrund reißt oder in den Himmel ziehen kann. Und drei Welten sind nun mal zwei zu viel. Selbst für einen einzigen Augenblick. „Oh nein!“, erschrocken blickte Jodie auf den Fleck, der sich langsam auf seinem Hemd ausbreitete. Wie konnte es nur möglich sein, dass der Bruchteil einer Sekunde einen ganzen Abend ruinierte? Ganz toll, kurz angetäuscht und voll versenkt, die Menge applaudiert dir. Zerknirscht blickte sie zu ihm auf und machte sich bereit, einen Wutanfall oder schlimmer, peinliche Floskeln und dann endlose Stille zu ertragen. Doch nichts dergleichen geschah. Shuichi Akai lachte. Es war ein volles, lautes Lachen und das Wundervollste, das sie jemals gehört hatte. Unerwartet und frisch wie das Plätschern von Wasser in der Trockenheit, ein belangloses, banales Geräusch, das in nur auf einer besonderen Bühne seine wahre Magie entfaltet. „Mit dir wird es auch nie langweilig, oder?“ „E-es tut mir leid.“, stammelte Jodie immer noch etwas verlegen. „Ich kann das Hemd morgen in die Reinigung bringen, die bekommen eigentlich alles wieder hin – und glaub mir, da spreche ich aus Erfahrung.“ „Ach, ehrlich? Darauf wäre ich gar nicht gekommen.“ Nun musste auch sie lachen. „Und jetzt?“ Anstatt zu antworten ergriff er ihre Hand erneut und wirbelte sie so schwungvoll herum, dass Jodie für einen Moment die Luft wegblieb und ihre Füße kaum noch den Boden zu berühren schienen. „Was schon? Wir tanzen solange weiter, bis der blöde Fleck getrocknet ist.“ Während Drehung um Drehung folgte, verschwamm die Welt um sie herum. Jodie blinzelte. Sie war sich sicher, dass sie es sich nur einbildete, nein, das konnte nicht stimmen, das wäre doch zu absurd. Die Tische um sie herum erschienen auf einmal unnatürlich groß – oder war sie unnatürlich klein geworden? – und wie Wände wölbten sich in grotesken Fischaugenformen nach außen. Was passiert hier? „Du kommst zu spät! viel zu spät!“ Ein weißes Kaninchen mit tiefroten Augen hüpfte vorbei, die kleinen Vorderpfoten fest um eine goldene Taschenuhr geschlossen. Deutlich konnte sie die blutigen Nähte an seinem Bauch erkennen. Die Laterna Magica, flüsterte es in ihr. Uns läuft die Zeit davon. „Tick-Tack, Alice, Tick-Tack, schau wen der Hutmacher dir mitgebracht hat… Die Herzkönigin besucht uns zum Tee, möchtest du ihr nicht die Hand schütteln?“ Sei ein braves Mädchen, Alice… „Ah, ich sehe, du bist wach.“ Erschrocken fuhr Jodie herum. Der Ballsaal vor ihren Augen explodierte und ließ sie erneut auf eine flimmernd schwarze Zelle blicken, die wie eine Bildstörung immer wieder kurz aufblitzte und dann wieder in der Dunkelheit verschwand. Deutlicher denn je spürte sie den Drang, sich zu übergeben, ob all der Süße, die in der Luft lag. Jodie würgte. „Keine Sorge, das ist nur der Tee. Seine beruhigende Wirkung kann zunächst auch etwas… beunruhigend sein.“ Er lachte gackernd. „Ich war auch schon sehr besorgt, dass du dich hier fürchten musst, so ganz allein, wo doch alles dunkel ist, meine Hübsche. Deshalb habe ich mir erlaubt, noch jemanden zu unserer Tee-Party einzuladen, es geht doch nichts über gute Gesellschaft, nicht wahr?“ Ihre schweren Augenlider hoben sich, das Bild vor ihr schien immer noch zittrig und unscharf, aber es brannte auf ihrer Netzhaut wie Zitronensäure. Das Letzte, was sie sah, bevor sie sich auf den rauen Steinboden erbrach war ein skurril gekleideter Mann, der einer jungen Frau den Mund zu hielt, deren vor Schrecken geweitete Augen direkt in ihre starrten. Tick-Tack, Alice, die Zeit läuft ab… Kapitel 14: Tanz mit dem Teufel ------------------------------- Nightmares exist outside of logic And there's little fun to be had in explanations. They're antithetical to the poetry of fear Begleitet von einem unangenehmen Knall fiel die Tür hinter dem Mad Hatter ins Schloss. Ungläubig starrte Jodie auf ihre neue Mitbewohnerin, die ihren Blick ebenso fassungslos erwiderte. „Jodie, oh mein Gott!“ Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie ihr schluchzend um den Hals fallen, doch dann besann sie sich ihrer Rolle als seriöser Bundesagentin und strich stattdessen den Staub von ihrem Jackett, was Jodie in der Dunkelheit lediglich ein paar hektische Wischlaute offenbarten. „Mel…? Wie in aller Welt kommst du hierher?“ „Das Gleiche könnte ich dich fragen.“ Mel trat etwas an sie heran, sodass Jodies Augen, die sich inzwischen an die Nichtfarben der Nacht gewöhnt hatten, registrierten konnten, dass sie die Nase rümpfte. Vermutlich roch Jodie mittlerweile ähnlich abstoßend wie ihr Verließ, doch das war momentan wohl ihr geringstes Problem. „Wie in aller Welt konnte er dich schnappen, Jodie? Du warst vom Dienst befreit, du hättest auf dem Sofa sitzen und America’s Next Topmodel schauen sollen und nicht auf eigene Faust nach Serienmördern suchen! Wir sind hier nicht bei irgendeiner CSI-Show wo das vielleicht okay ist…“ „Sind die ganzen Fernsehvergleiche wirklich notwendig?“, schnaubte Jodie gereizt, ihre letzte Begegnung noch gut vor Augen. Vielleicht war das nicht der richtige Moment für Streitereien, aber es war schwer zu vergessen, wie sehr sie sie bloßgestellt hatte, wie sehr sie sich gewünscht hatte, sie möge versagen und dem FBI für immer den Rücken kehren. Und heimkehren zu meinem Vater, der vielleicht unser aller Blut an den Händen trägt. „Nun, ich denke, du hast verstanden worauf ich hinaus will, oder?“ Jodie sog scharf Luft ein. „Ja, ich weiß, dass es schrecklich dumm war, okay? Aber uns lief verdammt nochmal die Zeit davon und das FBI tappte immer noch im Dunkeln…“ „Du hättest uns einfach anrufen können!“ „Mel, du weißt wie schlau er ist, er wäre vermutlich niemals aufgetaucht, wenn…“ Sie stutzte, „Moment, woher weißt du überhaupt, dass ich es war, die zu ihm kam? Er hätte doch auch einfach bei mir einbrechen können. Und wie konnte er dich schnappen?“ Wie tief steckst du in diesem Spiel? Bist du der weiße Hase, der Alice auf den rechten Weg führt oder die Herzkönigin, die ihr den Kopf abschlägt? „Ich habe Kameras in deinem Haus installiert.“ „… Du hast WAS?“ „Ja, Kameras, es tut mir leid. Als dieser Fall losging wusste ich, dass du früher oder später austicken würdest. Ich hab Vorsichtsmaßnahmen getroffen, das ist alles.“ Fassungslos schüttelte Jodie den Kopf. „Moment, das bedeutet, du wusstest von Anfang an, worauf der Hutmacher anspielt? Du hättest vielleicht Leben retten können, Mel!“ „Ich hatte eine Vermutung, keine Beweise, die hättest du mir liefern sollen, Alice.“ Unwillkürlich erschauderte Jodie und wich einen Schritt zurück. Auf einmal schien es, als wäre es gleich ein ganzes Stück kälter geworden in ihrem höhlenhaften Gefängnis, während der süßliche Geruch immer ekstatischer zu wabern schien. „Nenn mich nicht so.“, zischte sie und fixierte Mel. Wer bist du? Für einen Augenblick erwartete sie fast, Mel würde sie angreifen, so angespannt war ihre Haltung, so zornig ihr Blick. Doch dann lockerten sich ihre Muskeln und ihre Schultern sanken müde nach unten. „Es tut mir leid, Jodie.“ Jodie glaubte einen Moment lang Tränen auf ihren Wangen glitzern zu sehen, bevor die Schwärze wieder die Oberhand gewann und sie sich anstrengen musste, um mehr als flimmernde Aschekörner wie in einem kaputten Fernseher wahrnehmen zu können. „Dieser Fall ist ziemlich außer Kontrolle geraten. Als die ersten Morde passierten, fing ich an, das alte Tagebuch meines Vaters zu lesen. Ich wusste nicht genau, warum ich es tat, ich hatte nur diese leise Ahnung, dieses Gespür, vielleicht meine Begabung als Detektiv oder es war einfach nur Glück - auf jeden Fall beschäftigte ich mich nach langer Zeit das erste Mal wieder mit seiner Arbeit, der Jagd nach einer Verbrecherorganisation, die für die meisten nur ein Hirngespinst war. Aber er und dein Vater sahen mehr darin, sie waren davon überzeugt, dass all diese Morde einen Sinn haben, dass sie zusammenhängen und dass es jemanden gibt, der im Hintergrund die Fäden zieht.“ Mels Stimme war auf einmal auf eine faszinierende Art ruhig und kräftig, als erzählte sie etwas unfassbar Wichtiges. „Jedenfalls erkannte ich die Zusammenhänge, nicht die Laterna Magica waren wichtig sondern das, was sie zeigten, das Mädchen dass nur die Tochter des Mannes sein konnte, der Bescheid wusste.“ „Mel, das weiß ich alles, aber…“ „Nein, du weißt gar nichts! Ich meine, glaubst du wirklich diese Botschaft richtet sich an Alice?“ Verblüfft blickte Jodie sie an, nun war ihr langsam wirklich schleierhaft, worauf Mel hinauswollte. „Das stimmt nur teilweise. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dann ging es ihm zwar darum, Alice zu erreichen, aber Alice ist nicht das Mädchen, du bist nicht Alice.“ Okay, langsam befinde ich mich in einer mittelschweren Identitätskrise. „Aber er spricht mich doch an oder nicht? Ich meine, all der Kram mit „Alice is mad“, die Nachrichten, was hat das dann zu bedeuten? Mit wem versucht er zu kommunizieren…?“ Wer ist die einzige Person in diesem Spiel, die kein Gesicht hat? Die Person, die mit allen verbunden und doch unsichtbar ist? Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Er kontaktiert den Mörder oder? Den Mörder meines Vaters! Ist es möglich, dass er ebenfalls nach ihm sucht?“ Mel atmete kraftlos aus, erst jetzt bemerkte Jodie, dass sie in ihrer Überraschung gar nicht darauf geachtet hatte, ob Mel vielleicht verletzt war. „Ja, das glaube ich zumindest. Das könnte erklären warum er erst dich und dann mich entführt hat, wir sind die einzige noch lebende Verbindung zu dem Fall damals, Spuren, die der Mörder zurückgelassen hat, ob aus Mitleid oder warum auch immer und nun eventuell beseitigen will.“ „Du meinst also, wir sind ein Köder? Der ganze Aufwand mit den Serienmorden nur um uns zu schnappen und zu benutzen, um einen größeren Fisch ins Netz zu kriegen?“ Der Gedanke behagte ihr ganz und gar nicht. „Ich weiß es nicht, ich habe das Gefühl uns fehlt noch ein Puzzleteil, ein Missing Link, der alles miteinander verknüpft.“ Etwas, das alles miteinander verknüpft, wie der Orangensaft der dafür sorgte, dass ich das Haus verließ und den Verlauf des Schicksals ändern sollte. Oder ihm gegen jede Logik folgte? Wer bist du, Hutmacher? Warum jagst du den Mörder meines Vaters? Warum hast du uns in deine Falle gelockt? Und wer ist der, der die Fäden zieht? Wer ist der Puppenspieler, dessen Schatten in den Laterna Magica für uns tanzt? Und unermüdlich lacht? Sie hatte nun viel Zeit zu reden. Und das taten sie, denn Reden war das Einzige, das ihnen dabei half, die Dunkelheit ein wenig zu vertreiben und die enervierende Penetranz des Verwesungsgeruches ein Stück weit zu verdrängen. Mel hatte Jodie beobachtet, die ganze Zeit, hatte gesehen, wie sie mit dem Hutmacher korrespondiert und schließlich zum Treffpunkt gefahren war. Sie hatte selbstverständlich sofort das FBI alarmiert, doch das Glück war nicht auf ihrer Seite gewesen. Die viel zu dicht befahrenen Straßen von Los Angeles hatten sich stur geweigert einen Weg freizugeben, doch zu viel Aufsehen zu erregen wäre fatal gewesen, war es doch ihre letzte Chance Mad Hatter in eine Falle zu locken, bevor er wieder mordete. Natürlich waren sie zu spät gekommen, Jodie war verschwunden und Mel tat etwas, das ihr zum Verhängnis werden sollte, sie gab kurz nachdem man Jodies Wohnung nach Hinweisen auf eine Verbindung zum Täter durchsucht hatte, erneut das Passwort ein und versuchte den Entführer zu orten. Dieser hatte sich jedoch unglücklicherweise in der Nähe des Hauses befunden, sodass das nächste, was Mel nach ihren hoffnungslosen Aufspürungsversuchen zu Gesicht bekam ein in Chloroform getränktes Tuch war. „Na schön, nun wissen wir also beide, wie wir hierhergekommen sind.“ Jodie lief nun schon seit geraumer Zeit unruhig auf und ab, es war zweifellos eine Wohltat nicht mehr gefesselt zu sein. Sie konnte sich immer noch nicht ganz erklären warum, vielleicht dachte er, es würde keine Rolle mehr spielen, wenn sie zu zweit waren, da Mel ohnehin nicht gefesselt gewesen war und ihre Fesseln dafür umso leichter hätte öffnen können. Womöglich hatte er ja Angst, dass wir uns mit dem Strick erdrosseln, dachte sie bitter. Und das will ja schließlich keiner. „Aber die Frage ist, wie wir jetzt wieder rauskommen.“ „No shit, Sherlock?“ Jodie verkniff sich eine Antwort und fuhr fort. „Hast du irgendwas gesehen, als er dich hergebracht hat? Irgendeinen Hinweis darauf wo wir uns befinden oder zumindest wo im Gebäude Ausgänge sind?“ Mel überlegte kurz. „Er hatte mir die Augen verbunden, aber als ich zwischendurch versucht habe, mich loszureißen, ist sie kurz verrutscht. Ich glaube, wir befinden uns in einem Bürogebäude oder so.“ „Ja, mir kamen die Flure auch zu weitläufig für ein Wohnhaus vor, aber das macht es nicht unbedingt leichter zu entkommen.“ Ein bitteres Lachen folgte als Antwort. „Du denkst wir können hier abhauen? Wie willst du das anstellen? Wir könnten auch in einem hübschen Einfamilienhaus sitzen, Stahltür ist Stahltür.“ „Er ist nur einer und wir sind zu zweit. Außerdem muss er uns doch irgendwann was zu essen bringen, oder?“ „Ja, da dürfte er auch überhaupt nicht wachsam sein, ist ja nicht so, dass das der Anführer der Top-Ten-Ausbruchstricks ist.“, bemerkte Mel sarkastisch. Jodie war inzwischen sehr beeindruckt von ihrem Maß an Selbstbeherrschung, dass sie Mel noch nicht an die Gurgel gegangen war, bewies doch wohl allemal, dass sie die Nerven einer waschechten Agentin besaß. Hey, Moment mal… „Wir prügeln uns.“ „Wie bitte?“ „Ganz einfach, wir schaffen eine Situation in der er die Zelle betreten muss, ohne es vorher geplant zu haben. Er kann sich nicht leisten, dass wir uns gegenseitig umbringen, also muss er schnell eingreifen und wir können die Chance nutzen zu entkommen.“ „Hmm, na gut, einen Versuch ist es wert, schätze ich.“ Mel klang weiterhin skeptisch, doch Jodie kannte sie inzwischen gut genug, um zu erkennen, dass es nun auch für sie kein Zurück mehr gab. Der Hutmacher saß gerade auf einem äußert unbequemen Stuhl und trank einen Schluck Bier. Eigentlich hätte er um das Bild perfekt zu machen, Tee trinken müssen, aber er hasste Tee, weil seine Mutter ihn gezwungen hatte, jeden Morgen eine Tasse des faden Gebräus zu sich zu nehmen. Wenn das Leben schon so kurz ist, warum trinken wir dann auch noch Dinge, die uns nicht schmecken? Sie hatte immer gesagt, er solle doch Zucker hineintun, dann würde der Tee ganz wunderbar schmecken und gesund war er obendrein auch noch. Das ist doch wirklich lächerlich, warum können wir nicht einfach hinnehmen, dass etwas nicht schmeckt? Irgendwann werden wir noch Scheiße mit Puderzucker bestreuen und genüsslich hinunterschlucken. Die ist doch soooo gesund… Gerade als er einen weiteren Schluck zu sich nehmen wollte, hörte er auf einmal ein scharrendes Geräusch. Vorsichtig stellte er das Bier auf den klapprigen Glastisch vor sich und hob nervös den Kopf. Ein Klopfen folgte. Was stellen diese dummen Hühner denn jetzt an? Er seufzte. Vermutlich hätte er sie einfach gleich umbringen sollen, aber bis vor kurzem war es ihm noch schlauer erschienen sie mürbe zu machen, solange zu schwächen, bis sie ihn anflehen würden, sie endlich zu töten, bis sie ihm die Wahrheit verraten würden, nur um ihm entfliehen zu können. Bis du mir dein wahres Gesicht zeigst, Alice. Bis du mich ins Wunderland führst. Je näher er der großen Tür kam, desto deutlicher hörte er Schreie und dumpfe Klänge, die sich zu einem undefinierbaren Brei vermischten. Da der Kellerraum relativ gut isoliert war, war es zwar relativ leise, allerdings galt seine Sorge keineswegs dem Umstand, dass man sie hören könnte, schließlich befand sich das Gebäude irgendwo auf einem stillgelegten Industriegelände im Umkreis von LA, das so verfallen und vergiftet aussah, dass niemand, der noch bei voller geistiger Gesundheit war, auch nur daran dachte, es zu betreten. Verletzte oder gar Tote konnte er allerdings nicht gebrauchen. Er hatte darauf verzichtet, sie zu fesseln, damit sie sich schneller erschöpfen würden, damit sie schneller demütig, schneller schwach und willenlos werden würden. Hast du Fesseln, hast du etwas, das dich beschäftigt, du kannst versuchen, sie zu lösen, allein der Gedanke, dass sie loszuwerden nicht unmöglich ist, hält dich bei Laune, stark und wachsam. Mit einem ausbruchssicheren Raum sieht es da schon anders aus, es sei denn, du bist so verzweifelt, dass es dir egal ist, wie viel Kraft du an ihn verschwendest. Damit, dass sie sich gegenseitig angreifen würden, hatte er nicht gerechnet. Ganz gleich welche Konflikte zwischen ihnen bestanden, ein solches Erlebnis musste doch zusammenschweißen, oder? Ach wie er Menschen doch hasste. „Halten die Klappe! Es ist mir vollkommen gleichgültig was ihr einander antut und ich werde sicher keinen Arzt holen. Wenn ihr also nicht unter Schmerzen dahinvegetieren wollt wie angeschossene Tiere, würde ich schnellstens damit aufhören!“ Er hämmerte kräftig gegen die Tür, um seine Worte noch einmal zu untermauern. Einen Augenblick lang wurde es still, weshalb er sich mit einem zufriedenen Lächeln zum Gehen wandte, doch dann hörte er einen spitzen Schrei der ihm durch Mark und Bein ging. „Ich bring dich um, du elendes Miststück!“ Verdammter Dreck… Wütend tastete er nach dem Schlüsselbund an seiner Hose und schloss fluchend die Schlösser auf, seine Hände schwitzten stark. „Ich hab gesagt, ihr sollt…“ Fassungslos starrte er auf eine junge Frau, die allein in der Mitte des Raumes lag und schrie wie am Spieß. Bevor ihm bewusst werden konnte, was gerade passierte, wurde er mit der Wucht eines Football-Spielers von den Füßen gerissen. Hastige Schritte entfernten sich vom Verließ, direkt Richtung Ausgang. „Scheiße!“, brüllte er, während er sich aufraffte. „Ich knall dich ab, du dreckige…“ Doch noch bevor er den Satz beenden konnte, fiel ihm ein, dass seine Pistole immer noch in dem schmutzigen Büroraum lag, in dem er sie zurückgelassen hatte. Direkt neben einer Flasche abgestandenen holländischen Biers. Hastig besann er sich darauf, das Beste aus seiner Lage zu machen, es war noch nicht alles verloren. Die zweite Frau durfte nicht entkommen, nicht sie. Jodie sah, dass Mad Hatter bereits dabei war, wieder aufzustehen, sich aber noch benommen den Kopf rieb. Im grellen Weißlicht des Flurs wirkte er keineswegs mehr so bedrohlich, wie in dem Moment, als er Mel zu ihr gebracht hatte, er musste etwa Mitte 50 sein, hatte ein gebräuntes, grimmiges Gesicht mit buschigen Augenbrauen und schwarzen Haaren, die bereits von grauen Strähnen durchzogen waren und an einigen Stellen bereits auszufallen schienen. All das registrierte sie innerhalb von wenigen Sekunden, während sie aufsprang und versuchte, an ihrem Entführer vorbeizusprinten. Tatsächlich schaffte sie es an ihm vorbei in den Flur, allerdings hörte sie deutlich hinter sich sein Keuchen. Der Abstand ist viel zu klein, verdammt, er verfolgt mich bereits. Entkräftet durch die Zeit mit wenig Schlaf und noch weniger Nahrung, spürte Jodie, wie sie schon nach wenigen Metern vollkommen außer Atem war. Panisch sah sie sich nach einer Waffe um, vielleicht konnte sie ihn ja überwältigen, wenn sie ihm schon nicht davonlaufen konnte – doch dann war der Atem plötzlich ganz nah. „Wohin läufst du denn, Alice?“ Er lachte rasselnd, während er ihre Handgelenke ergriff und ihre Arme brutal hinter ihrem Rücken umdrehte. Jodie unterdrückte einen Schmerzensschrei und sank auf die Knie. „Die Teeparty ist doch noch gar nicht zu Ende.“ „Was hast du jetzt vor?“ „Wie meinst du das?“ „Hast du Feuer für mich?“ Er seufzte und steckte ihr die Zigarette an, genüsslich nahm sie einen Zug. „Wegen deiner kleinen Freundin… wie hieß sie noch, Jodie?“ „Black wird schon wissen, was zu tun ist.“, antwortete er ausweichend. Es passte ihm ganz und gar nicht, dass Vermouth nun Bescheid wusste, zu sagen, es wäre naiv ihr zu vertrauen, war noch ein Euphemismus. „Nun, das sollte er besser, denn ihnen läuft langsam die Zeit davon. Vielleicht solltest du lieber heimkehren und ihnen helfen? Was hält dich auf?“ Er hob die Augenbrauen und nahm selbst einen Zug von seiner Zigarette. „Ich vertraue Jodie, außerdem bin ich der Einzige, der herausfinden kann, ob der Mörder, den sie suchen, wirklich mit der schwarzen Organisation zu tun hat.“ „Aber sie schreibt nicht zurück, oder?“ Vermouth lachte leise. Shuichis Augen verengten sich. „Woher…?“ Verdammte Hexe. „Nur gut geraten. Aber du solltest dich fragen, was das bedeutet. Entweder sie sie liegt hübsch aufgeschnitten wie eine Sushi-Platte in einem Hotelzimmer oder aber das FBI hat sich selbst um sie gekümmert – schließlich hast du sie im Prinzip ans Messer geliefert, oder? Böser Akai.“ Sie zwinkerte ihm vergnügt zu. Shuichi drückte seinen Zigarettenstummel so fest aus, dass seine Knöchel ebenso weiß wie die Asche waren. „Ich hab das nur getan um sie zu schützen. Wenn Jodie Informationen zurückgehalten hat, weil sie sich schämte, so hat sie sich selbst in Gefahr gebracht und das kann ich nicht zulassen. Aber sie ist dennoch eine hervorragende Agentin, das FBI wird einen Teufel tun und sie dauerhaft aus dem Amt entfernen.“ Es tut mir leid, Jodie. Aber es war das einzig Richtige. Ich kann nicht zulassen, dass du dich und andere in Gefahr bringst, nur weil du einem Gespenst nachjagst. Dein Vater ist tot und wird es immer bleiben, also versuch nicht Mächte zu beschwören, die du nicht kontrollieren kannst. „Ist das so? Oder ist das deine Ausrede, um dein Gewissen zu erleichtern?“ Auch sie drückte ihre Zigarette nun aus, allerdings auf eine sehr viel elegantere Art, während Rauchschwaden ihr Gesicht umtanzten und ihr eine mystische, ja fast magische Aura verliehen. „Wie meinst du das?“ „Nun, sie wird dich dafür hassen, nicht wahr? Aber du bist trotzdem der strahlende Held, der tragische Ritter, der seine Chance auf Liebe opfert um seine Angebetete zu retten. Aber wenn sich eine Tür schließt öffnet sich bekanntlich die nächste…“ „Halt den Mund, du…“, zischte er. Doch weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick nahm er undeutlich wahr, dass sich eine Gestalt aus dem Schatten löste und langsam auf sie zuging. Ihr langes Haar wiegte sanft ihm Wind und er glaubte, auch wenn es sehr besorgt und müde war, ein Lächeln auf ihren Lippen erkennen zu können. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine neue… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)