Bora - Stein der Winde von Scarla ================================================================================ Kapitel 6: Der fremde Mann -------------------------- »Sag mal, was ist denn heute mit dir los?« Justin ließ den Isländer, mit dem er ausritt, anhalten. »So nervös kenne ich dich ja gar nicht.« Das Pferd schnaubte und bockte und schien keine Lust zu haben, diesen Weg entlang zu laufen. Das war ungewöhnlich. Justin ritt mit dem Wallach oft diesen Weg und er hatte nie zuvor Probleme gehabt. Er hatte noch nie mit einem Tier überhaupt Probleme gehabt. Er hielt an und kletterte aus dem Sattel. Er trat vor den Wallach und strich ihm beruhigend über die Stirn und die Nüstern. Dabei sprach er leise mit dem Pferd und das Tier wurde sogar etwas ruhiger. »Du solltest jetzt auch ruhig bleiben«, sprach eine Stimme hinter ihm und kalter Stahl erschien an seinem Hals. Justin sog scharf die Luft ein, hielt sie aber erschrocken an, als der Stahl leicht seine Haut berührte. »Wenn du schreist, bist du tot«, erklärte die Stimme kalt. »Gut«, keuchte Justin. »Ich lass dich gleich los. Du wirst dich langsam umdrehen. Kein Schrei, keine hastigen Bewegungen. Bleib ganz normal. Solange du nichts Unüberlegtes tust, werde ich dir nichts tun«, versprach die fremde Stimme. Justin wagte nicht zu antworten, aber das schien dem Fremden zu reichen. Der Dolch verschwand von seinem Hals und er spürte, wie sich jemand einige Schritte entfernte. Langsam drehte er sich um und war nicht einmal wirklich erstaunt, als er den Mann erkannte, der ihn die letzten Tage verfolgt zu haben schien. Doch heute trug er keinen Mantel, kein Hut und auch keine Sonnenbrille, sondern Kleider aus Wolle und Leder, die gut in einem Mittelalterfilm hätten entstammen können. Rötliche Bartstoppeln verdunkelten sein Kinn, sein Haar war aber dunkel, was Justin ein wenig irritierte. Eine alte Narbe zog sich über die rechte Wange, die war Justin bisher nicht aufgefallen. Seine Augen waren von einem dunklen Blau, seinen Blick konnte Justin nicht deuten. Er war ein wenig wie der seines dunklen Zwillings in seiner ersten Vision. Kalt, mitleidlos, und doch voller wärme und einem tief versteckten Leid. Er war auf eine verquere Art und Weise widersprüchlich und doch vollkommen eindeutig. »Warum verfolgst du mich?«, fragte Justin und wich noch einen Schritt zurück, sodass er nun neben seinem Pferd stand. Der Isländer war seltsamerweise wieder völlig ruhig, als gäbe es nichts Bedrohliches in der Nähe. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich nehme an, Melody hat mittlerweile mit dir gesprochen?«, fragte der Mann und schob seinen Dolch wieder zurück in seine ledernde Hülle. Justin registrierte das mit einem gewissen Erstaunen. Jetzt hatte sein Gegenüber kein Druckmittel mehr und Justin war sich sicher, dass er ihm ohne Weiteres entkommen konnte, wenn er es nur wirklich wollte. Als wenn der Dolch nur eine Art Requisit gewesen wäre, als wenn der Fremde damit etwas Bestimmtes erreichen wollte und jetzt, wo er es erreicht zu haben schien, nicht mehr brauchte. »Melody?«, fragte Justin und beobachtete den Fremden jetzt noch genauer. Irgendetwas war seltsam an ihm und irgendetwas war Justin vertraut. Wenn er nur darauf kam, was es war. »Die Elbe mit den Flügeln. Du hast in der Eisdiele mit deinem Freund über sie gesprochen«, antwortete der Mann, während sein Blick unstet umherwanderte. Er vermied Blickkontakt und er schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. »Melody heißt sie also. Ja, ich habe mit ihr gesprochen, aber was hast du damit zu tun?«, wollte Justin wissen. Im selben Augenblick wurde es ihm klar. Natürlich, er war ihr Helfer in dieser Welt, den sie erwähnt hatte. »Das braucht dich nicht zu interessieren. Hat sie dir Bora gegeben?« Das machte Justin abermals misstrauisch. Wenn er ihr verbündete war, müsste er das wissen. »Vielleicht«, antwortete er deswegen ausweichend. Das schien nicht die Antwort zu sein, die sich der Fremde wünschte, sein Blick verdüsterte sich. »Nimm das vermaledeite Ding und schmeiß es in den tiefsten See, den du finden kannst. Es wird dir nur Unglück bringen«, knurrte er. »Du warst also nicht damit einverstanden, dass ich den Stein erhalte«, schloss Justin. »Ich bin nicht damit einverstanden, dass sie jemanden in Gefahr bringt, der mit dieser ganzen Sache nichts zu tun hat.« »Warum verfolgst du mich, wenn ich mit alledem nichts zu tun habe?« Für einen Augenblick wirkt der Fremde überrascht und er schien auch keine Antwort zu haben, denn lange antwortete er darauf nicht. »Ich verfolge dich nicht, Justin«, antwortete er schließlich mit sanfter Stimme. »Ich versuche nur, dem Feind einen Schritt voraus zu sein. Und Melody daran zu hindern, etwas zu tun, das unschuldige Leben zerstören könnte.« »Klingt nicht gerade überzeugend«, fand Justin. »Woher kennst du überhaupt meinen Namen?« Darauf lächelte der Fremde, doch es war kein wirkliches Lächeln, es war vielmehr ein Verziehen der Lippen, das all sein Leid ausdrückte. »Nicht jetzt, nicht hier. Irgendwann werde ich dir einmal mehr davon erzählen, aber die Zeit dafür ist noch nicht reif.« »Also werden wir uns wieder sehen?«, fragte Justin. »Wenn das Schicksal es so will, ja. Und ich hoffe inständig, dass sich bis dahin die Umstände grundlegend verändert haben.« In dem Moment sprang ein schwarzer Hengst aus dem Unterholz und trabte zu dem Fremden. Justin erkannte es sofort und plötzlich viel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sein Gegenüber war der Mann aus seiner Vision, nur ein paar Jahre älter. »Ich hab dich früher schon einmal gesehen«, brach er aufgeregt hervor. Der Fremde lächelte traurig, während er die Zügel griff. »Ja, in einem früheren Leben«, antwortete er leise, dann schwang er sich auf den Pferderücken. Der temperamentvolle Hengst tänzelte, schien sofort losstürmen zu wollen, doch der Fremde hielt ihn zurück. »Versprich mir, dass du Bora loswirst. Das Schicksal von Läivia braucht dich nicht zu interessieren. Wenn du so klug bist, hältst du dich von dieser dreifach verdammten Welt fern und wirst so schnell wie möglich alles wieder los, was dich mit ihr verbindet«, erklärte er und griff hart in die Zügel. »Das war’s schon? Für diese paar Worte setzt du mir ein Messer an den Hals?« Irgendwie war Justin enttäuscht. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber ein paar wage Andeutungen und vermeintlich kluge Worte waren es ganz sicher nicht. »Glaub mir Justin, ich würde nichts lieber tun, als dir alles zu erklären. Ich wünschte mir, ich könnte dir auch nur die Hälfte von dem erzählen, was ich weiß und ich würde meine Seele an den Teufel verkaufen, wenn er mir nur mehr Zeit verschaffen könnte«, erklärte der fremde Mann und Justin glaubte ihm. Es war etwas in seinem Blick, das von tiefer Sehnsucht sprach und das flehende Zittern seiner Stimme tat ein Übriges. »Aber diese wenigen Augenblicke sind schon gefährlicher, als du es dir in deinen schrecklichsten Albträumen ausmalen kannst. Zeit ist ein kostbares Geschenk, von dem ich leider nicht besonders viel habe. Ich weiß nicht, wann wir uns wieder sehen werden, aber ich flehe alle Götter jeder mir bekannten Welt an, dass es erst sein wird, wenn sich die ganze Situation zum Guten gewendet hat. Ich kann dich nur noch einmal inständig darum bitten, diesen verdammten Stein so schnell wie möglich loszuwerden und diese ganze Sache zu vergessen, um deinetwillen. Bitte.« Justin wollte noch etwas sagen, doch der Fremde zwang seinen schwarzen Hengst in einen engen Zirkel, warf ihm noch einen letzten, flehenden Blick zu, setzte dann über den Graben, der den Weg vom Unterholz trennte, und war im Wald verschwunden. »Ich fühle mich gerade ein bisschen, wie bei der versteckten Kamera«, überlegte er laut an niemand bestimmten gerichtet. Der Wallach an seiner Seite schnaubte zustimmend. Doch auch wenn das alles wirkte, wir eine bewusste Inszenierung, um ihn in den kompletten Wahnsinn zu treiben, ahnte Justin, dass da etwas mehr hinter steckte. Alleine der Stein, der in seiner Hosentasche lag, bewies ihm, dass das alles kein Jux war und irgendwo eine Wahrheit lag, von der die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnten. Und langsam reifte in ihm ein Entschluss. Er wusste nicht, wohin das alles letzten Endes führen würde, aber er ahnte, dass es an der Zeit war, aktiv in das Geschehen einzugreifen. Und das konnte er nicht hier. Es wurde an der Zeit, diese fremde Welt zu suchen. Er wusste, dass Bora ihn führen würde. Und so war es beschlossen. Er hatte keine Ahnung, wo er mit der Suche beginnen musste, doch auch das würde sich finden. Daran glaubte er fest. Er begann damit sich zu überlegen, was er alles für seine Reise benötigen würde und wie er am besten an diese Dinge herankam, während er wieder auf den Pferderücken kletterte und langsam des Weges ritt. Heim, nur um zu einem Abenteuer aufzubrechen, dessen Ausmaß er nicht kannte. Hätte er geahnt, was auf seinem weiteren Lebensweg geschehen würde und wie sein Ende aussehen sollte, so hätte er wohl den Rat des Fremden befolgt und Bora in den nächstbesten See versenkt. Doch er wusste es nicht und so machte er sich frohen Mutes auf zu seiner Reise, die alles verändern sollte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)