Bora - Stein der Winde von Scarla ================================================================================ Kapitel 1: Game Over -------------------- »Ein letzter Schlag noch.« Justin atmete einmal ruhig mit geschlossenen Augen durch. Er bemühte sich, einen Augenblick lang zur Ruhe zu kommen, dann schaute er den Bildschirm wieder an. Dabei lag Entschlossenheit in seinem Blick und er fletschte die Zähne. Schließlich verließ er das Menü und spielte weiter. Er hackte dabei auf seinem Kontroller herum, als ginge es um sein Leben. Konzentriert analysierte er die Bewegungsmuster seines Feindes, wich aus, schlug Finten, nur um den Augenblick, auf den er die letzten Wochen hingearbeitet hatte, perfekt zu machen. Doch plötzlich schrie er auf. Eine kleine Unachtsamkeit und schon war es geschehen. Blutrot leuchteten die acht Buchstaben auf, die er mit Abstand am wenigsten sehen wollte. »Game Over… Nein! Das kann doch nicht sein! Ich hatte ihn doch schon fast besiegt!«, jammerte er und wirkte den Tränen nahe. Eine ganze Weile starrte er einfach nur fassungslos vor sich hin, dann klopfte es an der Tür. Ohne auf seine Antwort zu warten, öffnete eine junge Frau mit braunem Haar. Sie trat nicht ein, schaute stattdessen mit gerümpfter Nase über das Chaos, das er als sein Zimmer bezeichnete. »Mam lässt fragen, ob du heute nicht mehr zur Schule musst«, erklärte sie ihr eintreten. »Ja, nein, vielleicht. Spielt es denn überhaupt eine Rolle? Schließlich habe ich eben die Arbeit der letzten Stunde zunichtegemacht«, seufzte Justin und schaute die junge Frau an, als hätte er soeben einen tief bewegenden Schicksalsschlag erlitten. Doch sein Gegenüber schien das anders zu sehen. Sie schnaubte abfällig und musterte dann kritisch den Bildschirm. »Du hast auch nichts Besseres zu tun, als Videospiele zu spielen, oder?«, erkundigte sie sich und schüttelte voll Unverständnis den Kopf. »Das ist nicht nur ein Spiel, Helen, aber das verstehst du mit deinem beschränkten Denkvermögen eh nicht«, brummte er. »Jetzt werd’ mal nicht frech, Fuchsgesicht!«, fauchte Helen. »Ich verstehe immerhin, dass Videospiele Zeitverschwendung sind!« Justin wollte eben eine passende Antwort geben, als eine Frau mittleren Alters dazu kam. »Mam, Helen nervt!«, rief er sofort, kaum das er wusste, das sie in Hörweite war. »Das stimmt doch gar nicht!«, widersprach Helen entrüstet. »Justin, mich interessiert, wie immer nicht die Bohne was deine Schwester angeblich tut. Eigentlich seid ihr ja alt genug, dass ihr euch nicht ständig streiten müsst und trotzdem benehmt ihr euch noch immer wie Kinder!«, schimpfte Ginny, die Mutter der beiden. Daraufhin wagte keiner etwas zu antworten, doch die Blicke, die sie wechselten, machten deutlich, dass die Sache noch nicht erledigt war. »So und was ist jetzt mit dir? Musst du heute noch mal in die Schule oder ist der Unterricht für heute Nachmittag ausgefallen?«, wandte sich die Frau an ihren Sohn. »Nein, der findet statt, aber es ist doch erst-« Justins Blick war auf den Wecker gefallen, der auf seinem Schreibtisch stand und mit leuchtend roten Ziffern verkündete, dass die Stunde in fünf Minuten beginnen würde. »Jetzt an?«, beendete Helen den Satz schadenfroh und erntete dafür einen eisigen Blick ihres Bruders. »Na los, beeile dich«, meinte seine Mutter dazu, dann ging sie wieder zurück in den unteren Teil des Hauses und Justin stand auf, um sich fertigzumachen. »Na los, beeile dich, sonst kommst du zu spät«, bemerkte Helen mit einem gehässigen Grinsen. »Komme ich sowieso, da brauche ich mich jetzt auch nicht mehr beeilen«, fand ihr Bruder und ging, als hätte er alle Zeit der Welt, an ihr vorbei. Er lief gemächlich die Treppe hinunter und zog sich ruhig die Schuhe an. Dann nahm er seine Schultasche auf und verließ das Haus ganz so, als habe er keinerlei Zeitdruck. Doch kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, rannte er los, wie der Teufel. Vor seiner Schwester hatte er sich nicht die Blöße geben können zu zeigen, wie wenig er zu spät kommen wollte, doch jetzt, wo sie ihn nicht mehr sah, da konnte er loslegen. Justin war ein sportlicher junger Mann. Er wohnte nicht weit von der Schule entfernt, und wenn er sich richtig ins Zeug legte, konnte er sogar noch rechtzeitig da sein, das wusste er. Er hätte es tatsächlich noch geschafft, doch auf dem Brunnen vor dem Haupteingang saß sein Verderben. Sally, das Mädchen, das neben ihm wohnte, schien nur genau auf ihn gewartet zu haben. Kaum hatte sie ihn erspäht, sprang sie auf und rief schon von Weitem nach ihm. Dabei leuchteten ihre Augen und sie strahlte über das ganze Gesicht. »Hey, Juss! Na endlich, ich habe schon auf dich gewartet! Ich muss dir etwas erzählen, das glaubst du mir nie!« Justin hätte einfach an Sally vorbeilaufen können. Er hätte einfach weitersprinten können. Sally wäre niemals in der Lage gewesen, ihm zu folgen. Doch seine Mutter bestand darauf, dass er nett zu ihr war. Es war ja auch nicht gerade so, dass er Sally nicht mochte. Sie war ein paar Jahre jünger als er, aber dennoch verstanden sie sich ausgezeichnet. Nur in solchen Momenten wünschte er sich, sie nicht zu kennen, denn Sally war ein kleines Klatschweib. Und sie musste ihre neusten Geschichten immer sofort unter die Leute bringen. Leider machte sie bei Justin keine Ausnahme. Er hatte also die Wahl weiterzulaufen, rechtzeitig zu kommen und dafür den Unmut von Sally und seiner Mutter auf sich zu ziehen, oder er blieb stehen und bekam dafür ärger mit seiner Lehrerin. Er entschied, dass seine Lehrerin lange nicht so Furcht einflößend war, wie eine wütende Ginny und eine noch viel wütendere Sally. Mit einem Seufzen blieb er stehen. »Sally hör mal, ich muss in die Klasse, die Stunde beginnt gleich. Kannst du mir das nicht nachher erzählen?«, versuchte er an ihrer Vernunft zu appellieren, obwohl er es besser wusste. »Nur ganz schnell!«, antwortete Sally sofort. Und Justin seufzte, ergab sich einfach seinem Schicksal. Sogleich begann Sally ihm etwas zu erzählen, doch er hörte gar nicht zu. Die Schulglocke unterbrach das Mädchen schließlich. Sie wirkte irritiert, als hätte sie damit nicht gerechnet. »Oh, wir sind zu spät«, bemerkte sie. »Ach«, meinte er spitz, aber mit einem leichten Lächeln. »Okay, wir sehen uns dann nach dem Unterricht, ja?«, fragte sie gut gelaunt und lief davon, ohne auf seine Antwort zu warten. Justin lief ebenfalls ins Schulgebäude. Er kannte die Gänge, er durchwanderte sie schon seit Jahren. Jetzt beeilte er sich wirklich nicht mehr, denn für seine Lehrerin spielte es keine Rolle, ob er eine Minute zu spät kam, oder eine Stunde. Schließlich betrat er seine Klasse, ohne sich lange mit anklopfen aufzuhalten. »Bitte entschuldigen sie die Verspätung, Frau Chang. Ich bin aufgehalten worden«, erklärte er. »Oh, Herr Malek, wie schön, das sie trotz ihrer selbst definierten Unterrichtszeiten noch zu uns gestoßen sind«, antwortete seine Lehrerin. »Sally aus der Klasse von Herrn Rainer hat mich aufgehalten«, erklärte er kleinlaut, wohl wissend, dass es völlig egal war, was er jetzt sagte oder tat. »Hinsetzen, Mund halten«, erklärte seine Lehrerin auch sofort mit einem zuckersüßen Lächeln. Justin lächelte zurück und setzte sich auf seinem Platz. Sogleich fuhr seine Lehrerin mit der Stunde fort und für eine Weile folgten auch alle dem Unterricht, doch dann rutschte sein Tischnachbar Timo näher an ihn heran. »Hat sie dich abgefangen?«, fragte er leise und Justin wusste sofort, was er meinte. »Ja, auch. Ich wäre aber sowieso fast zu spät gekommen. Ich habe Dragons World gespielt. Und sogar beinahe den Endboss besiegt«, flüsterte er zurück. »Du bist schon beim Endboss?« Ein Junge aus der Reihe vor ihm kippelte mit dem Stuhl, sodass er mit der Lehne an seinem Tisch anlehnte und nicht umfallen konnte. »Ich bin halt schnell«, grinste Justin. »Aber er hat mich ausgeknockt, als ich für ein paar Sekunden unaufmerksam war.« »Dann kannst du mir garantiert weiterhelfen«, flüsterte ein Junge aus der Reihe hinter ihm. »Ich komme da nämlich bei dem Rätsel nicht weiter …« »Wie wäre es, wenn die Herren sich dem Rätsel widmen würden, das an der Tafel steht?«, erkundigte sich ihre Lehrerin spitz und stand plötzlich mitten unter ihnen. »Ja Frau Chang!«, ertönte es daraufhin wie aus einem Mund und alle machten sich wieder an die Aufgaben. Den Rest der Stunde herrschte Schweigen. Bis zum Ende dieses langen Schultages wagte es keiner mehr, sich mit ihrer Lehrerin anzulegen. Doch schließlich ertönte die Schulglocke und verkündete, das Ende eines anstrengenden Tages. Wie üblich ging Justin gemeinsam mit seinen Freunden nach Hause. Mit dabei waren nicht nur Timo und Sally, sondern auch Nadia und Charly, zwei seiner besten Freundinnen. »So Leute, wer hat lust auf einen Ausritt?«, erkundigte sich Nadia gut gelaunt und hielt ihr Gesicht in die Sonne, um sich an den letzten Sonnenstrahlen des Altweibersommers zu wärmen. »Ich kann nicht. Ich bin dann erst um elf zu Hause und mal ganz davon abgesehen, dass dann meine Eltern vermutlich ausrasten, habe ich noch zu tun«, erklärte Timo sogleich und man sah ihm deutlich an, dass er es wirklich bedauerte. »Ganz klar, falsche Eltern und eindeutig ungünstiger Wohnort«, kommentierte Charly gut gelaunt. »Kommst du denn mit?«, erkundigte sich Nadia sogleich bei ihr, doch das Mädchen verneinte. »Babysitten. Einer meiner Lieblingsjobs«, grinste sie. »Sally? Justin? Was ist mit euch?« Nadia wirkte nicht, als wenn sie ein Nein gelten lassen würde. Dennoch schüttelte Sally den Kopf. »Keine Lust«, meinte sie und auch Justin verneinte. »Keine Zeit«, antwortete er und lächelte milde. »Ach, ihr seid doch alle blöd«, brummte Nadia und schaute auf die Uhr. Sie waren bei der Bushaltestelle angekommen und wie üblich warteten sie gemeinsam, bis die Busse kamen, in denen Nadia und Timo nach Hause fuhren. »Heute ist nur eben der falsche Tag«, erklärte Justin sanft. »Morgen gerne, jeden anderen Tag gerne, aber donnerstags habe ich nie Zeit.« Darauf herrschte bedrücktes Schweigen. Sie alle wussten, warum Justin keine Zeit hatte und keiner von ihnen wusste, wie er mit diesem Thema umgehen sollte. Deswegen wichen sie auch immer aus. »Kommt dann vielleicht morgen jemand zu reiten?« Nadia fackelte nicht lange und wechselte sofort zu einem unbefangeneren Thema. Es herrschten wieder einige Sekunden Schweigen. »Wir sehen uns.« Justin hob unvermittelt die Hand zu einem Abschiedsgruß und verließ dann die Gruppe, um nach Hause zu gehen. Seine Freunde schauten ihm nach. »Meint ihr, er ist sauer?«, fragte Charly leise. »Möglich. Aber was sollen wir denn tun? Wir können doch schlecht ständig über einen Toten sprechen«, fand Timo. »Vielleicht will er auch gar nicht ständig darüber reden. Vielleicht will er sich nur einmal alles von der Seele sprechen und er kann es nicht, weil wir immer abblocken«, überlegte Charly. »Er wollte damals auch mit niemanden darüber sprechen, warum sollte er es jetzt tun?«, fand Sally. »Weil es jetzt zwei Jahre her ist. Manchmal braucht man eben erst etwas Zeit, bis man über ein Thema sprechen kann. Ging mir zumindest so, als meine Mutter starb. Und Justin hat weit mehr verloren als jeder andere von uns. Vielleicht ist er jetzt bereit dazu, darüber zu sprechen. Kann sein, dass du recht hast, Charly«, überlegte Nadia. In dem Moment kam ihr Bus, und bevor sie das Thema weiter ausführen konnten, musste sie einsteigen. Die anderen schauten ihr nach. Schließlich seufzte Timo. »Justin kriegt sich schon wieder ein«, meint er, wirkte aber besorgt. »Er ist anders seit damals«, fand Charly. »Und in letzter Zeit verändert er sich ebenfalls. Wisst ihr, was ich meine?« »Er sagte letztens, dass ihm etwas Wichtiges fehlt. Er hat etwas Wichtiges verloren, aber er weiß nicht mehr, was es gewesen ist. Und dann war er wieder normal. Egal was gerade mit ihm passiert, es ist nichts Alltägliches und es macht mir sorgen. Ich denke aber nicht, dass es mit Frederyc zu tun hat«, meinte Timo und sah, dass auch sein Bus kam. Er verabschiedete sich von Charly und Sally, wobei ihm auffiel, dass gerade letztere ungewöhnlich still gewesen war. Doch er dachte nicht weiter darüber nach. Er freute sich einfach nur noch auf sein zu Hause nach einem anstrengenden Schultag. (Falls jemandem ein Titel für das Kapitel einfällt, dann wäre ich dankbar, wenn er ihn mir mitteilt, mir fällt nichts ein xD) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)