Bleeding Hearts von RubyRose (Bis(s) dass der Tod uns nie mehr scheidet) ================================================================================ Kapitel 7: Auf dem Winterball ----------------------------- Es war Mitte Dezember und der Winterball unserer Schule stand an. Natürlich hatte Victor mich eingeladen, und auch Lilly hatte ein Date für diesen Abend. Ich hatte wochenlang nach einem passenden Kleid gesucht, das ich würde anziehen können. Ewig lang habe ich die Läden durchstöbert, Kataloge durchblättert und mich durch diverse Internetshops gewühlt, bis ich es schließlich gefunden hatte. Es war nicht gerade billig, aber ich hatte noch etwas Geld von meinem Sommerlohn übrig, und Victor gab mir noch etwas dazu. Ich war zu Lilly gegangen um mich zurecht zu machen, mir dabei helfen zu lassen und auch meiner Freundin zu helfen. Wir hatten uns schon mittags die Haare gemacht. Lilly wollte ihre Haare geglättet haben, meine wurden erst auf große Lockenwickler gedreht und dann später zu einer schönen Hochsteckfrisur aufgetürmt. „Du wirst aussehen wie eine Prinzessin, Stella!“ „Na, das hoffe ich doch“, kicherte ich als Antwort. Bei der Schminke trug ich viel dicker auf als gewöhnlich. Lilly schminkte mir Smokey Eyes. Sie hatte sich bei Youtube Videos dazu angesehen, damit sie wusste wie das ging. Und es klappte auch ziemlich gut. Meine Lippen wurden tiefrot, so rot wie Blut. „Ich liebe den Schneewittchen.Look“, sagte Lilly und betrachtete mich zufrieden. „Jetzt fehlen nur noch die Kleider.“ Diese lagen schon ausgebreitet auf Lillys Bett, bereit dazu angezogen zu werden. Lillys Kleid war dunkelgrün, ging ihr bis zu den Knien und hatte vorne eine große Schleife an der Taille. „Du siehst so toll aus“, rief ich begeistert, als ich Lilly fertig in ihrem Zimmer stehen sah. Auch ich schlüpfte in mein Kleid. Ich hatte es im Internet gesehen und mich sofort darin verliebt. Ich hatte auf der stelle gewusst, dass ich es haben musste. Entweder dieses Kleid oder gar keines. Es war schwarz und schulterfrei. Der Tellerrock ging mir bis knapp über die Knie, und darunter ragten die Spitzen eines Unterrockes aus Tüll hervor. Der ganze Rock war mit schwarzen Strasssteinen besetzt, die funkelten wie lauter Sterne am Nachthimmel. „Das ist ein Traum“, rief Lilly aus, und ich gab ihr recht. Das Kleid war nicht nur schön, es war auch sehr bequem. Nun fehlten nur noch die roten Pumps, um die Farbe des Lippenstifts aufzugreifen, ein schwarzes Schultertuch gegen die schlimmste Kälte, und ein schwarzes Handtäschchen aus Satin. Lilly und ich drehten uns beide abwechselnd vor ihrem Spiegel hin und her und waren mit uns und der Welt zufrieden. „Also, wenn unsere Freunde uns jetzt nicht absolut toll finden, dass müssen sie blind sein.“ Lillys Mutter fuhr uns zur schule, wir sollten mit unseren hochhackigen Schuhen nicht durch die Gegend laufen müssen, hatte sie behauptet. Unsere Füße würden uns schon früh genug weh tun. Ich verstand was sie meinte, meine Füße schmerzten ja jetzt schon, obwohl ich mir extra Geleinlagen gekauft hatte. Ich würde heute oft und lange auf einem Stuhl sitzen müssen, befürchtete ich. Mir fehlte einfach noch die richtige Übung, um es in hohen Schuhen lange auszuhalten. Der Ball fand in unserer Turnhalle statt, die ganz in weiß geschmückt war. Ballons, Luftschlangen, glitzernde Schneeflocken, die von der Decke hingen, es war einfach wunderschön. „Wo ist Henry?“ Henry war Lillys aktueller Freund. Ich fand ihn zwar furchtbar langweilig, aber im Grunde war er ganz in Ordnung. Und man konnte ja schließlich nicht jeden mögen. Ich erstrahlte, als ich Victor nahe beim Eingang stehen sah, neben ihm, wie üblich, sein Bruder Jason. Dieser jedoch schien ohne Begleitung zu sein, und ich fragte mich was er dann überhaupt hier auf dem Ball machte. Aber die beiden Brüder waren ständig zusammen, vielleicht war das einfach nur normal. Endlich hatte auch Victor mich gesehen und kam lächelnd auf mich zu. 2Du siehst wunderschön aus, wie ein schwarzer Engel.“ „Vielen dank“, sagte ich, schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn innig. Ich hätte ihn wahrscheinlich stundenlang küssen können, wie immer. Denn ich liebte es einfach das mit ihm zu tun. „Wartest du schon lange auf mich?“ „Es geht. Das macht aber nichts. Willst du dich erst einmal umsehen und unsere Freunde begrüßen?“ Ich nickte und ließ mich von Victor von einem Grüppchen Schüler zum nächsten führen, um mich zuerst ein wenig zu unterhalten, bevor wir richtig anfingen zu feiern. Jason folgte uns die ganze Zeit mit ein bisschen Abstand. Man hätte meinen können, dass er heute den Bodyguard spielte. Aber so wirkte er eigentlich immer, er sprach so selten. „Was ist mit deinem Bruder eigentlich los?“ Ich hatte Victor bisher nie danach gefragt, es war mir immer unangenehm gewesen. Und ich wollte nicht so wirken als würde ich Jason wie einen totalen Freak darstellen. Aber langsam konnte ich meine Neugierde nicht mehr im Zaum halten. Jason benahm sich immer ganz merkwürdig, nicht so wie man es von einem Jungen erwarten würde, der an der ganzen schule total beliebt war. Wieso er das überhaupt war, war mir immer noch ein Rätsel. Normalerweise wurden die Schüler, die immer so ruhig waren, doch immer an das untere ende der Rangordnung geschubst, weil sie niemanden an sich ran ließen. Zur Antwort zuckte Victor nur mit den Schultern. „Er ist halt immer so.“ „Ja, aber wieso denn? Das muss doch einen Grund haben.“ Ich ließ nicht locker, ich wollte es jetzt wissen. Nicht unbedingt weil Victors Bruder mir irgendwie wichtig war. Aber er gehörte eben zu Victor dazu, und ich verbrachte sehr viel Zeit mit allen beiden. Hatte ich da nicht auch das Recht zu erfahren was mit Jason nicht stimmte? Victor beugte sich zu mir hinab und sagte mit gedämpfter Stimme, so dass sein Bruder ihn nicht hören konnte. „Er ist unglücklich verliebt.“ „Ehrlich?“ Ich war ganz erstaunt. Ehrlich gesagt hatte ich große Mühe damit mir vorzustellen, dass Jason Gefühle haben konnte. Aber das war eigentlich albern. Natürlich hatte jeder Mensch Gefühle. Nur bei manchen konnte man es sich eben nur sehr viel schwerer vorstellen als bei anderen Personen. „Und ich wen ist er verliebt? Na los, erzähl schon! Du hast mich jetzt ganz neugierig gemacht.“ Victor lachte kehlig über meine Antwort. „Ihr Mädchen seid doch alle gleich. Nein, ich meine das nicht böse, du brauchst gar nicht so das Gesicht zu verziehen. Aber ihr wollt immer alles ganz genau wissen und in den Leben anderer Leute rumschnüffeln.“ Ich schob meine Unterlippe vor und schmollte. Ich wusste, dass das bei Victor immer zog. „Oh nein, bitte nicht die Schnute! Na gut, ich kapituliere. Er ist in ein Mädchen verliebt, dass er schon sehr sehr lange kennt.“ „Wie lange denn schon? Schon seit seiner Kindheit?“ „Nicht ganz, aber das kommt der Wahrheit vielleicht am nächsten.“ „Und wieso sagt er ihr das nicht? Kann sie ihn vielleicht nicht leiden? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“ Ich stieß meinem Schatz in die Seite und verlangte, dass er mehr Informationen über seinen Bruder von sich preis gab. „Na ja, das ist immer so eine on-off-Beziehung, sozusagen. Es ist schwierig zu erklären. Im Moment weiß das Mädchen noch gar nicht, dass sie ihn eigentlich liebt, denn das tut sie, das weiß ich ganz genau. Aber Jason...“ Victor seufzte. „Jason hat einfach aufgegeben. Er hat es in der Vergangenheit schon so oft versucht, aber es ist immer irgend etwas schief gegangen. Und nun, na ja, er hat eben keine Hoffnung mehr, dass das jemals noch etwas mit ihnen beiden wird.“ „Das ist aber traurig.“ Jetzt konnte ich schon viel besser verstehen, warum Jason immer so einen mürrischen Eindruck auf mich machte. „Und wer ist dieses Mädchen?“ Victor verzog sein Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. Der sonst so fröhlich wirkende Junge war nun auf einmal ganz betreten. „Das kann ich dir nicht sagen.“ „Wieso nicht? Kenne ich sie etwa?“ „Nein, das nicht.“ „Du verschweigst mir doch etwas....“ „Nein, wirklich nicht. Ich kenne sie ja selber nicht. Jason hat mir nie gesagt um wen es sich handelt. Ich habe das Mädchen auch noch nie gesehen. Ich würd es dir ja erzählen, wenn ich es wüsste. Aber ich weiß es leider nicht.“ Ich glaubte Victor zwar nicht so ganz, denn so wie er aussah verschwieg er mir da etwas. Aber es war nichts mehr aus ihm herauszubekommen, so sehr ich ihm auch zusetzte, ihn bat mir etwas mehr zu verraten. Selbst die Nummer, dass ich beinahe wütend wurde und ihn 5 Minuten lang mit eisigem Schweigen strafte zog bei ihm nicht. Nun, ich würde es hoffentlich doch irgendwann einmal herausfinden. Aber bis dahin wollte ich mein Zusammen sein mit Victor genießen, ohne dass sich etwas zwischen uns stellen sollte. Wir hatten so furchtbar viel Spaß an diesem Abend. Wir tranken (natürlich) alkoholfreie Bowle, wir tanzten und zwischendurch quatschten wir mit unseren Freunden, denn Victors Freunde waren mittlerweile auch die meinen geworden. Manchmal gab es Momente, in denen mir so richtig bewusst wurde, was für ein Glück ich eigentlich gehabt hatte, dass sich alles so zum Guten gewendet hatte. Victor entschuldigte sich irgendwann, weil er draußen vor der Turnhalle eine Zigarette rauchen wollte. „Bleib du ruhig hier drin, Stella. Draußen ist es viel zu kalt. Ich will ja schließlich nicht, dass du dich erkältest.“ Das war so schrecklich lieb von ihm! Auch wenn ich es ziemlich eklig fand, wenn er mich küsste, nachdem er eine Zigarette geraucht hatte. Ich selber rauchte nicht. Ich hatte es einmal versucht, weil ich genau so cool sein wollte wie die anderen aus der Gruppe, aber ich hatte ganz schrecklich husten müssen, und alle hatten mich ausgelacht. Das war mir vielleicht peinlich gewesen! Und geschmeckt hatte das absolut grässlich. Ich konnte nicht verstehen, wie man freiwillig rauchen konnte. Aber ich konnte es Victor ja schließlich nicht verbieten, und solange er sich hinterher ein Kaugummi in den Mund schob konnte ich noch damit leben. Aber selber rauchen, nein, niemals! So verzweifelt zu sein auf cool zu machen konnte ich gar nicht sein. Ich blickte Victor noch nach, wie er sich einen seiner besten Freunde schnappte und nach draußen verschwand. Ich nutze die Gelegenheit sofort mich auf einen der freien Stühle zu setzen. Lillys Mutter hatte wirklich recht behalten, meine Füße schmerzten als hätte ich ein Fußbad in flüssiger Lava genommen. Eine Weile lang beobachtete ich meine Mitschüler, was sie alle so trieben. Weiter hinten auf der Tanzfläche konnte ich Lilly mit ihrem Freund sehen, wie die beiden versuchten zu tanzen und sich gleichzeitig zu küssen, was die beide ordentlich aus dem Takt brachte. Ich freute mich sehr für Lilly, und das beste an der Sache war, dass wir nun beide miteinander über unsere Beziehungen quatschen konnten, wie glücklich wir waren und wie sehr wir unsere Freunde liebten. Plötzlich schob sich mir ein dunkler Schatten in mein Blickfeld. Ich schaute hoch und sah direkt in Jasons blaue Augen, die ebenso sehr Saphiren glichen wie die seines Bruders. Das war ja auch kein Wunder, denn schließlich waren die beiden Zwillinge. Und trotzdem hatten sich die beiden völlig unterschiedlich entwickelt. „Was ist los?“ Ich versuchte zu lächeln, aber der Kerl war mir trotz der ganzen Zeit, die ich schon mit ihm verbracht hatte, immer noch ein wenig unheimlich. Zunächst starrte mich Jason nur finster an, aber dann hielt er mir seine Hand entgegen und fragte: „Würdest du mit mir tanzen?“ Ich riss erstaunt meine grünen Augen auf. „Du willst mit MIR tanzen?“ Jason nickte stumm. Ich zuckte mit den Schultern. Wieso nicht? Vielleicht würde das ja helfen, dass wir uns ein bisschen besser verstehen würden. Also nahm ich seine Hand und ging mit ihm auf die Tanzfläche, obwohl meine Füße so sehr weh taten. Auf einen Tanz mehr oder weniger würde es wohl kaum noch ankommen. Zuhause würde ich meine Füße in eine Wanne mit eisig kaltem Wasser stellen, so viel war schon mal klar. Aus der Anlage ertönte ein langsames Lied. Es war irgend etwas von David Bowie, glaubte ich, aber sicher war ich mir da nicht. Es musste schon ein ziemlich altes Lied sein, in den Charts hatte ich es in den letzten Jahren zumindest nicht gehört. Aber schlimm war das nicht. Es klang trotzdem ganz schön. Jason legte seine rechte Hand um meine Taille und nahm mit der linken meine rechte Hand. Meine linke legte ich auf seinen rechten Arm. So hatte ich noch nie getanzt, aber ich kannte das aus Filmen. Deswegen wusste ich, wie meine Haltung sein musste. Die Schritte kannte ich zwar nicht, aber es ging schon irgendwie. Zuerst starrte ich auf Jasons Füße, damit ich wusste, wo ich meine eigenen bei den einzelnen Schritten hinsetzen musste. „Du brauchst nicht da unten hinzugucken. Es ist egal, wo du deine Füße hinsetzt, sofern du mir nicht auf die meinen trittst. Mach dir einfach keine Gedanken, lass dich von mir führen.“ Und ich tat, was Jason mir befahl. Er führte mich ziemlich gut, es machte mir unheimlich viel Spaß mit ihm zu tanzen. „Du tanzt aber sehr gut. Hast du irgendwann mal Unterricht genommen?“ Ich wusste ja so gut wie gar nichts über den Bruder meines Freundes, deswegen versuchte ich ihn ein wenig besser kennenzulernen. „Ja, hatte ich. Aber das ist schon ewig lange her. Ich habe schon ziemlich lange nicht mehr getanzt.“ „aber du kannst es immer noch sehr gut“, sagte ich anerkennend.“Und immerhin sehr viel besser als ich.“ „Ach, das lernst du bestimmt noch, falls du das noch öfter machst.“ „Hast du denn früher viel getanzt“, wollte ich von Jason wissen. Dieser schien kurz zu überlegen, dann antwortete er mir: „Ja, früher. Aber wie ich schon gesagt habe, ich habe schon sehr lange nicht mehr getanzt.“ „Wieso nicht? Hattest du nie Lust dazu?“ Jason schnaubte nur und zeigte mir damit, dass er anscheinend nicht weiter über dieses Thema zu sprechen gedachte. Ich versank ganz in der Musik, und von meinem Tanzpartner so sanft über die Tanzfläche geführt zu werden ließ mich in eine leichte Art Trance geraten. Es fühlte sich sehr angenehm an. Ich blickte Jason ins Gesicht und lächelte vorsichtig. Er schien ja doch kein ganz so schlimmer Miesepeter zu sein, wie ich es immer gedacht hatte. Irgendwann bemerkte ich, dass er seine Lippen bewegte. Er sagte etwas, aber so leise, dass ich es zunächst nicht verstehen konnte. Fragend blickte ich ihn an, aber Jason achtete überhaupt nicht auf mich. Er blickte mich zwar an, schien aber durch mich hindurchzusehen, als wäre ich überhaupt nicht da. Als wäre alles um uns herum für ihn in diesem Augenblick überhaupt nicht existent. Aber er tanzte immer noch unverändert mit mir zu diesem Song, den ich nicht kannte. Die Worte, die er beinahe lautlos hauchte waren in irgendeiner merkwürdigen Sprache, die ich nicht verstand. Ich hatte auch keine Ahnung, was das sein könnte. „Jason? Jason, ist alles ok mit dir?“ Ich schüttelte vorsichtig an seinem Arm, aber er reagierte nicht. „Jason?“ Ich versuchte es noch einmal, diesmal aber mit etwas mehr Nachdruck. Das schien ihn zurück in die Realität zu befördern. „Was war denn gerade los mit dir?“ Ich fand das sehr komisch von ihm und war verwirrt. Das bisschen Verbundenheit zu ihm, die ich gerade noch verspürt hatte, war einem merkwürdigen Gefühl gewichen. Ich wollte nichts mehr als von ihm weg zu kommen, doch er hielt mich immer noch fest. Immer noch ein wenig gedankenverloren blickte er nun an mir vorbei auf einen unbestimmten Punkt hinter mir. „Tut mir leid“, murmelte er. „Ich war kurz in Gedanken.“ „Jason“, flehte ich, „lass mich bitte los, ich möchte nicht mehr tanzen.“ Er reagierte nicht. „Jason, lass mich los!“ Ich war mittlerweile so laut geworden, dass sich schon die ersten Leute zu uns umdrehten, weil sie unbedingt wissen wollten, was denn da wohl los war. „Jason, bitte...“ Meine Wangen wurden ganz warm und ich spürte wie mir heiße Tränen in die Augen stiegen. Nicht mehr lange und ich würde hier vor allen anderen losheulen, und das wollte ich nun wirklich nicht. Da Jason nicht auf mich reagierte riss ich mich einfach von ihm los und nahm ein paar Schritte Abstand. „Mach das nie wieder“, rief ich laut, machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete auf die Mädchentoilette. Dort stellte ich mich vor den Spiegel und betrachtete mich. Mein Gesicht war ganz rot angelaufen, genau so wie meine Augen. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür zu dem Raum geöffnet und Lilly stürmte hinein. „Um Gottes willen, Stella, was war denn da eben los mit euch?“ Ich warf mich stürmisch in die Arme meiner Freundin und begann zu schluchzen. Ich war einfach noch so erschrocken, ich musste unter Schock stehen. Es war zwar nichts passiert, aber Jason hatte mir so eine unheimlich große Angst eingejagt! „Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit ihm los war“, schluchzte ich. „Er hat sich auf einmal ganz komisch benommen...“ „Wieso? Was hat er denn gemacht“, wollte Lilly wissen. „Um ehrlich zu sein.... Ich kann es mir ja selber nicht erklären. Ich kann es nicht verstehen.“ „Ja, aber was hat er denn jetzt gemacht?“ Ich war total durcheinander, aber Lilly brachte mich dazu alles noch einmal zu erzählen, was da vorhin zwischen Jason und mir passiert war. „Ich hab erst in der Ecke hinten gesessen, weil mir die Füße so weh getan haben. Diese Schuhe sind echt furchtbar. Wenn sie nur nicht so gut aussehen würden...“ Lilly nickte verständnisvoll. Sie kannte dieses Problem selber nur zu gut. „Und plötzlich war Jason da. Victor war kurz nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen, und dann kam sein Bruder und hat mich gefragt, ob ich mit ihm tanzen wolle. Ich dachte, ok, kann ich ja mal machen.“ „Ich dachte immer du magst Jason nicht so besonders.“ „Er ist halt ein bisschen komisch, weil er immer so ruhig ist, ja. Aber ich hab ja viel mit ihm zu tun wegen Victor. Du weißt ja, dass die beiden dauernd wie die Kletten aneinander hängen. Und da dachte ich mir, dass ich ja mal versuchen könnte mich gut mit ihm zu verstehen. Das schadet bestimmt nichts. Wir haben dann also getanzt, und irgendwann hat er so komisch geguckt und angefangen irgendwelche Worte zu sagen. In einer anderen Sprache, und ich habe übrhaupt nicht verstanden, was er da gesagt hat! Er hat durch mich hindurchgeschaut, als wäre ich gar nicht da. Oder vielmehr als wäre er in einer völlig anderen Welt.“ „Und was ist dann passiert“, hakte Lilly nach. „Es wurde mir einfach viel zu unheimlich, und dann habe ich ihn gebeten, dass er mich doch bitte loslassen soll, aber das hat er nicht. Ich glaube er hat gar nicht mitbekommen, was ich von ihm wollte. Da hab ich Panik gekriegt. Das war so unheimlich, Lilly!“ Meine Freundin legte einen Arm um mich und tröstete mich. „Es ist ja nichts passiert.“ „Aber ich mag jetzt gar nicht mehr rausgehen. Ich weiß gar nicht wie ich Jason gegenüber reagieren soll.“ Lilly winkte ab. „Mach dir da mal keine Gedanken. Jason ist nämlich gegangen. Er hat so verwirrt ausgesehen irgendwie. Na ja, als du gegangen bist. Und dann hat er die Turnhalle verlassen. Vielleicht ist er ja nach Hause gefahren. Aber für dich gibt es absolut keinen Grund den Rest des Abends hier auf dem Klo zu verbringen. Ich bleibe bei dir und passe auf dich auf, ok? Mach dir keinen Kopf.“ „Aber das versaut dir doch bestimmt den Abend! Das geht nicht. Was ist denn mit deinem Date?“ „Ach der. Der kann sich auch mal ein bisschen alleine unterhalten.“ Lilly hielt nichts davon, wenn ein Paar wie eine Klette aneinander hing. Ich tat das zwar mit Victor, und sie nahm das natürlich auch hin, aber selber würde sich Lilly nie so benehmen. Sie war einfach unabhängig, und das mussten ihre festen Freunde akzeptieren, wenn sie mit der Rothaarigen zusammen sein wollten. „Na los, lass uns wieder raus gehen.“ Lilly nahm mich am Arm. Aber bevor wir die Toilette verließen rieb sie mir noch einmal über die Wange. „Deine Schminke war ein bisschen verschmiert. Das kommt davon, wenn man weint.“ Sie lächelte mich fröhlich an und zog mich wieder hinaus in den großen Raum der Turnhalle. Wieder einmal mehr war ich froh, dass ich sie als meine beste Freundin hatte. Sie tat mir immer so gut, und niemand konnte so gut trösten und beraten wie sie! Lilly hatte ihrem Freund bescheid gegeben, dass sie jetzt ein bisschen bei mir bleiben wolle, und wir setzten uns gemeinsam auf die Stühle, die extra für die Schüler waren, die schon zu müde waren, oder die ebenso unbequeme Schuhe hatten wie ich. Warum konnten Schuhe denn nicht schön UND bequem sein? So etwas sollte endlich mal jemand erfinden, dachte ich bei mir. „Kommt Victor gar nicht wieder? Der ist aber ganz schön lange rauchen.“ Ich wurde langsam missmutig, weil ich es nicht leiden konnte, wenn mein Freund mich so lange alleine ließ. Und vor allem jetzt, wo ich mich bei ihm aus jammern wollte. Ich wusste nur nicht so recht für wen Victor Partei ergreifen würde, wenn ich ihn vor die Wahl stellen würde. Ich war zwar immerhin seine feste Freundin, aber Jason war schließlich sein Zwillingsbruder. Ich wüsste zumindest nicht für wen ich mich in so einer Situation entscheiden sollte. „Da ist er ja!“ Lilly zeigte auf die Eingangstür, wo ich sofort den hellen Haarschopf meines Schatzes entdeckte. „Gott sei Dank“, murmelte ich. „Ich dachte schon, dass er gar nicht mehr wieder kommt.“ Victor sah sich suchend um, dann entdeckte er mich und kam auf mich zu. Ich stand auf und ging ihm entgegen, um ihm einen Kuss zu geben. „Ich dachte schon du hättest mich vergessen“, sagte ich und musste lächeln. Ich musste immer lächeln, wenn ich meinen Freund ansah. „Weißt du eigentlich wie sehr ich dich liebe?“ Victor lachte leise bei meiner Frage. „Ich denke doch mal, dass du mich sehr liebst.“ „Da hast du recht. Und wie sehr liebst du mich? Na?“ Victor tat so als müsse er lange überlegen. „Ich glaube“, sagte er schließlich und rieb sich nachdenklich über das Kinn, „dass ich dich mindestens genau so sehr liebe.“ „Na dann ist es ja gut“, rief ich bis über das ganze Gesicht strahlend. „Sag mal, was war denn vorhin los? Meine Jungs“, er wies auf seine Freunde beim Eingang der Turnhalle, „habe mir erzählt, dass du Probleme hattest. Ist etwas passiert?“ Ich verzog das Gesicht, denn eigentlich wollte ich die Sache am liebsten vergessen. Es war doch eh nichts passiert. Aber Victor blickte so besorgt drein, da wollte ich es ihm doch erzählen. „E war nichts Schlimmes. Ich hab mit deinem Bruder getanzt. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm tanzen würde, und dann habe ich dem zugestimmt. Zuerst war auch alles in Ordnung und wir haben uns gut verstanden. Aber dann wurde er auf einmal so komisch, sein Blick war ganz glasig, und es schien als wäre er in seinen Gedanken ganz woanders. Und dann hat er so komische Sachen gesagt...“ „Was hat er denn gesagt?“ „Ich weiß es nicht, ich konnte es nicht verstehen. Es war in irgendeiner anderen Sprache, die ich nicht kannte. Es ist eigentlich nichts passiert, aber ich war einfach nur so erschrocken, so kenne ich Jason überhaupt nicht. Da hab ich ein bisschen Angst bekommen, aber jetzt ist alles wieder gut.“ „Hm...“ Victor blickte mich komisch an und dachte anscheinend über irgendetwas nach. Ich hätte gerne alles Geld, das ich hatte, für seine Gedanken gegeben. „Was ist denn mit Jason? Ich habe ihn danach nicht wieder gesehen. Ist mit ihm alles in Ordnung?“ „Das weiß ich nicht...“ Victor schien nun leicht abwesend zu sein. Ich vermutete mal stark, dass er jetzt an seinen Bruder dachte, was mit ihm wohl los war. „Vielleicht sollte ich gehen und ihn suchen.“ „Hat er so etwas öfter?“ „Ja, manchmal. Aber normalerweise sieht das niemand. Er möchte das auch nicht.“ Ich nickte verständnisvoll. „Das kann ich verstehen. Das ist ja auch irgendwie gruselig, wenn er so ist.“ Mein Schatz schob mich von sich, hielt mich aber immer noch an den nackten Armen fest. Ich spürte die Kühle seiner Hände auf meiner Haut. Dass er nicht fror, das wunderte mich immer wieder. Victor war immer so kalt... „Ich werde mal nach ihm sehen und ihn fragen was los war mit ihm. Bleibst du hier?“ „Natürlich werde ich das. Ich werde auf dich warten, bis du wieder da bist.“ „Und mach mir keinen Blödsinn, ja? Kein Flirten mit anderen Jungs.“ Ich wusste, dass er das scherzhaft gemeint hatte. Ich würde im leben nicht auf die Idee kommen meinen Freund, den ich über alles liebte, zu betrügen! Nicht einmal in Gedanken würde ich es wagen, dazu liebte ich ihn einfach viel zu sehr. „Im Leben nicht“, antwortete ich. „Es sei denn du kommst niemals wieder. Schließlich will ich nicht für den Rest meines Lebens alleine bleiben. Aber ich werde dich stets in guter Erinnerung behalten.“ „Du bist ein Scherzkeks, Stella.“ Er gab mir noch einen Kuss auf die Stirn, dann winkte er seinen Freunden und zusammen zogen sie los um nach Jason zu sehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)